ARCHIV FÜR
KRIMINOLOGIE
Iii
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4RCHIV
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KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
UND
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
Prof. Dr. HKM €IB0SS
zwölf m BAJfD.
MIT 23 ABBILDUNGEN IM TEXT.
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL*
1903
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J
^
Inhalt des zwölften Bandes.
Erstes Heft
ausgegeben 4. Juni 1908.
Original -Arbeiten. saita
I. Die Donnwiteor "Rrlliulo in dpn .Tnbmn und 1S04. Von Alfred
Ain^ehl, k. k. < >lM [l:in(K's^cric'litsr:ttii luul Staatsanwalt in (ira^ . 1
^ . . — ^ ,
II. Ein Bi'itrai,'' zur Würdi^^un^ dci- Aiissa^'o t inos Kindes, das in einem
Strafverfahren wegen eine« Verbrochens nach § 176 Abs. 3 des
Strafgesetzbuchs als Zeuge '\'en)oii)men •wimlc
25
III. Ein eigcnthiimlicher Fall eines pl«jtzlichen Todes. Mitgctlieilt von
SS
IV. Laien al^ Straf richttT. Von llauptinann-Auditor I>r. (icurg Li--
4t
V. Was ist heute noch von der Oaunerspraohe im praktischen Gebrauch?
Von L>r. VV. Schütze, Cierichtsassessor in Rostock
55
Zweites und Drittes Heft
ausgegeben 1(5. Juli 1903.
Original- Ar betten.
VI. üeber Daktyloskopie. Von Camillo Windt, k. k. PoHzcirath in
Wien. (Mit 17 Abbildungen) 101
VII. Siclitbannaehen latenter I'in^^ r- und Fussabdrficke. Von Friedrich
Paul, k. k. Gerichtssecretär in OlmOtz 124
VIII. L>a9 Rpformatorium vonElmim. ]^fit^''ctliciltv()nPr.Witry in Bamberg 180
IX. Meinungsdissonanzen der t*ac)i\ ei-ständigen Psychiater. Von Primar-
arzt Dr. Josef Bcr/.c in VVion 134
X. Veranch der Todtung eines Kindes durch ein kaltes Bad. Von Dr.
jnr. Rudolf Mothes in Dresden 153
XI. Beiträge zur Begutachtung alkoholistiscber Störungen in foro. Von
Dr. Po Iii tz, dirigirendcr Arzt der Irrenabtheilung der königl.
Strafanstalt zu ^Munster i. W 155
XII. Zur Kenntnis» der Zeichen des Erhängungstodes. Von Prof. S tra ss-
m an n- Berlin 170
XIII. Die Technik des Stcmpelfalschers und das Arbeitshans als seine
technische Hochschule, sowie einige Vorschläge zur Abhülfe. Von
Dr. W. Sc h fitze, Rostock i. M. (Mit 6 Abbildungen) .... 175
XIV. Zur Frage der Vtiruiitersucliung. Von Hans Gross 191
ly InhaltBvcrzcicbnifis.
XV. Sind wir dem anatomischen Sitze der ^Vcrbrechenieiprung'* wirklich
näher gekommen, wie Lombroso glaubt? Vnii Medieiiialrath Dr.
P. Näckc in Hnbcrnisbuig 218
XVL EinflusH in-igcr Kccllt^'an^^( hainingeii bei der Begehung von Ver-
brcdien. Von I>r. jur. Hudo If M otliea 129
XVII. Znr Finge der Stiafpioce^bieform. ^'on Hauptmann-Auditor Dr.
Georg Lclewer in Wien 284
XVIII. Rechtsanfänge bei den Grönländern nach Sverdrap. Von.D. F. Baron
Oefnlo in Xeuonahr 840
XIX. üeber Gedankenlesen. Von Hans Schneickert, Rechtspraktikant
in Mfinphftn 343
XX. Aberglaube, Wahiyagcrei und Kun)fuschcrci. Von Dr. W. Schütze,
Oeric'litsas>jeg.sür in Rot'took i. M 252
Kleinere M i 1 1 h c i 1 u n g e n :
1. Der Vail lielinert. (Näcke) 259
2. In Sachen des Fanatismus. (Xacke) 260
3. Ueber Selbstenttnannung. (Nücke) 263
4. Ilat^thiscli und Verbrechen. (Näcke) 265
5. Traurige Folgen einer Suggestion bei einem Kinde. (NScke) 266
6. Tliici(|uiiierei und Aborglaultcn. (Nücke) 267
7. Wichtigkeit einer genauen pHydiiutrischen Expertise bei ge-
wissen Verbrechern. (Xacke) 267
8. Ueber den Einflusa schlechten Schlafes aaf die Zengenauseagen.
(NScke) • 269
• 9. Ein Selbstmord. (Siefcrt) 269
10. Blutiger Aberglaube. (Hahn) 270
Bflc herb esp re eil u ng en v(in Medicinalrath Dr. P. Näcke;
1. Möbius. T'eber die Wirkuiigi ii der Cnstration . . . . . 271
2. Kluge, Männliclics und weibliches Denken 271
8. V. Bühren, Das Geschlechtsleben in England n. 8. w. . . . 272
4. Liebmann und Edel, Die Sprache der Geisteskranken nach
stenographischen Aufzeichnungen 273
5. Politisch-anthropologische Revue 278
6. M. Hirschfeld, Der umischo Mensch 274
7. Schnitze, Die Stellungnahme des Reichsgerichts zur Ent-
mündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwache
(S6. Abs. 1. B.G.]{.) un<l /ur Pflegschaft i§ 11*10, B.G.B.)
nebst kritischen Bemerkungen 275
Bflcherbesprechungen von Hans Gross.
8. Golden weiser, Zurechnung und strafrechtliche Verantwort-
lichkeit in positiver Beleuchtung 275
276
11. Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
276
277
13. V. Marek u. Kloss, Die Staatsanwaltschaft bei den Land- und
277
14. A r t h u r D i X , Die Jugendliehen in der Social- u. Kriminalpolitik
278
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Inh<fiverz6ichnis8.
V
15. rif'rirhtliclio Modinn
finita
278
Iß r)r I>po Muffolmann Dar Prcihlpm flor W5llonRfr**ilii*it in
der neuesten deiitJM'hen Philosophie ....
279
17. Flescli. GeschU'rhf.skrankheiten und Rcchtsschut/ . . . .
279
l*» Willonssfreilieif und Stnif recht" ... .....
280
19. Münz. Kitualmord und Eid
2S0
20. Reeherehes evtit^rimeiitftlp'» '•ur In nathoc/'nte de l.i niort n.ir brrt-
Iure iiar Dr. Enj?t'ne Stocki-* a-isistt'Ut i\ l'l"iii\ei"^it<'' do I.ii'ifo
281
21. Bindinp, I^chrbuch des gemeinen Deutsclien Strafrechtes .
29 1
282
ZA, V onrai^e unu Despreciiuii^en UDcr -nxjw iv.n8i8 Qcs i/arwiuiB*
nnis**. Die •*oeiiiletln"»ehe Tie<leiitiinn' der MnM*^. Zur Er-
kpnntniftKtlioorii* ilor S'^tlirf Kclim Kritik "
2S2
24. W. Lexis, Abliandlun/j^en zur Theorie der Bevölkenings- und
Moraistatistik -
25. Richard Bröbneck, Die Arten des Masochismas ....
284
284
27. M. E. Mayer. Die allf?enieinen Strafvei^härfungsgründe des
285
2S. V. Bar, Die Refonn des Straf rechte« 286
Viertes Heft
ausgegeben 18. Aagust 11(03.
Ori pinal- Arbeiten.
XXI. Zur I'hysio-Psycholopio der Todesstnnde. Von Medidnalrath Dr.
287
XXII. Die Verfolf^uufr flüchtifTor Vcrhrcclier. Von Landrichter Ilaussner
in Zwickau
909
XXTII. Zur St.itistik der Sittlirhkeit«verbrechen. Von Medieinalrath Dr.
316
92Q
XXV. Genie. Dandysni und Verbrecherthum. Eiui{?c psychologische An-
322
XXVI. Zur Frage vom pi^yciiopnthischen AberKlaaben. Von Hans Gross
384
841
Kleinere Mittheilungen:
1. Adnexe für ine \'erbreclier an Strafanstalten oder an Irren-
342
842
3. Die Kosten einer (Jrossstadt für ihre Verbrecher. (Nückel .
»43
4. Immer frecheres (Jebalircn auf dem sexuellen Verkehrs-Markte.
344
345
Büchcrbesprceh ungen v(»n .Med. -Rath Dr. P. Nitckc.
346
2. Braunschweig, Das dritte Geschlecht (geschlechtliche Liebe)
349
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\l Inbaltävcrzcichniss.
8. Schultzc, 1. Wiclitifro EiitprlK'i<lnn<ron auf doni GcVticto der
Soito
g'erichtlic lion cliiatrii-. 2. Kntlassunp-zwaiig uud Ableliuung
849
350
5. Mendes-Hartins, Justadcft-sa.lcerca da^SocioIoji^iacriramal''
350
6. II och 0 , Ucber die leichteren Formen des periodiHchcn Irreseins
351
7. IIa ecke, Die transitoriw'ii.lJcwussteeiusstörunjjend. Epileptiker
351
352
Bttcherbesprechun^on von Oberarzt Dr. Kellner
353
10. Heilbronner. rcbor Fugiic und Kupieszustündc ....
355
11. Bolte, L'eber einif^c Fälle von Simulation .......
35G
Büchcrbosprechungfcn von Med.-R. Dr. Matthaes.
857
BQchc rbesprcchungcn von Ernst Loh»inf?:
13. 1. n»»jriislawski, Die Antiduollbewegunp. 2. Gräser. Für
deu Zwcikami)f. 3. KltMii-Luinmasch, Die Verbesserung
des Ehrenechatzee. 4. Der Minutaur der .„Ehre**
357
362
Bficberbcsprecliangcn von Hans Gross.
15. Friedmann, Ueber Wahnideen im Vnlkprleben
363
16. Biberg, Ucber lit'iöte»»törungen in der Armee zur Frieden»-
364
17. Braun schweig, Das dritte Geflciüocbt^ Gleicbgescblcchtliche
364
19. West, Die Prostitution bei allen Völkern vom Altertbom bis
zur Xcnzeir
365
365
21. Ilaf ter, Die Itechts- und Straffähigkeit der Personenverbände
365
866
366
24. Reissig, Medicinisn-he Wissenschaft und Kurpfuscherei . .
367
25. Dr. Ma .\ riial . MuttcTrecht. Fraucnfra^rv und Woltaiificliauung
26. Aschaf fcnburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung .
36^>
Google
1.
Die Donawiteer Brtnde in den Jahren 1893 nnd 1894
Von
Alfred Amsohl,
k. k. ObnlulMgMlaktmdk ud Stutninnlt in Out.
Oft vernimmt man, und auch von den höchsten Gerichtsstellen,
die Behauptun^^ das Motiv einer .Strafthat sei für deren rechtliche
lieurtheilung ohne Belang-. In dieser Allgemeinheit kann dem aus-
gesprochenen Satze nicht heigepflichtet werden. Mag auch das Motiv
für die rechtliche Beurtheilung der That, für deren Unterstellung
unter ein positives Gesetz in der Regel gleichgültig sein: die Er-
gründung des Motives ist für die Beurtheilung des Thäters, des psy-
cholog^ischen Zusammenhanges zwischen That und Individuum, für
die Straffrage und nicht zuletzt auch für die Beweisfinge von ^osser
Wichtigkdt DaaB in Tvkok Behwem FSJÜen aaf di« Kburiegung des
MotiTes vcfzicbtet werden musB, beweist niehts ftr seine Bedentnngs-
longkeit In vielen Fällen wiid das Motiv zur That als YeidaehtB-
moment, ja sogar als Beweismittel wiohtig sein. Wir verweisen nur
Mf den sogenannten Industriebrand. Dass der Brandstifter durch
seine Handlung sieh die Versiofaerungssumme zu erwerben strebt,
bÜdet nicht nur das Motiv seines Handelns, sondern auch einen her-
vorragenden Beweis für seine Thäterscbaft.
Gerade beim Verbrechen der Brandlegung wird das Motiv oft
räthselbaft bleiben, oft nicht aufzuklären sein. Der Untersuchungs-
richter aber, der deshalb von vornherein auf den Versuch, den
Beweggrund zu erforschen, verzichteti wird seiner Aufgabe nicht
gerecht.
Besonders im Stadium des Vorverfalirens hat man nach dem mög-
lichen Motiv zu forschen, weil es einen Fingerzeig bieten kann,
welcher Person, oder unndestens welchem rersoneiikreis die Thäter-
scbaft zugemuthet werden soll. Ein unabsehbares Feld breitet sich
da vor dem Auge des Untersuch uugsricUters aus} er darf sich durch
Arahir flr KrinlubBlkiopologto. ZIL 1
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2
UebemBehnngoi ebensowenig veiblQffeii als dnreh Enttäusehungeii
Ifihmen lassen. In der Eauptverhandlang allerdings sinkt die Be-
deutung des Motives herab, weil ohne weitere Beweise die Hantrt-
yerhandlnng an sieh nnmOglioh wäre nnd weil Bttdcsiohten anf Pro<
cessökonomie nnd Zeftersparniss ein tieferes Eindringen in das Hotir,
das ist in die Fsyehologie des Einzelfalles, hemmen.
Lengnet der Besohnldigte^ der allein rerlXssliehen AuCsehlnss Uber
den Beweggrund seines Handelns geben könnte, dann wird in ein-
zdnen, allerdings sehr seltenen Fällen die Aufhellnng des Motives
ihn snm Geständnisse bringen. Verharrt er bis zum Schluss im
Leugnen, dann wird das Motiv zur That in stetes Dunkel gehüllt
bleiben, wenn er sieb nicht später einmal in der Strafanstalt zu einem
Geständniss lierbeilässt, das dann zwar keinen Werth mehr für die
einzelne Strafsache besitzt, um so grosseren Werth aber für den
Kriniinalpsychülo^cn. Allein auch die Geständnisse in der Straf-
anstalt bieten keine Gewähr für ihre unbedingte Glaubwürdigkeit.
Selbst hier noeli werden sie einireschränkt; selbst hier noch wird der
That ein Mäntelchen uingehäni:! , um sie woniflglich in anderem
Licht erscheinen zu lassen. Sehen, dass so ein («eständniss unum-
wunden ist. Handelt es sich um eine einzige That, so wird sie nicht
in Abrede gestellt, allein Begleitumstände und Motiv verschwimmen
im Lichte der Darstellung. Handelt es sich um eine Mehr-
heit von Thaten, — es ist durch die Erfahrung bestätigt, dass
znm Mindesten eine daron abgeleugnet bleibt. Warum? — das
Ifisst sieh allgemeui nnd objeetiv nicht erklftren. Die grösste BoUe
spielt die Eitelkeit auch hier wie fiberall im Menschenleben nnd es
Hesse sieh ein ganz interessantes Bnch ttber Yerbreohereitelkeit sn-
sammenstellen. Aber auch andere Umslftnde verschleiern die Wahr-
heit: Scham, sei es echte oder falsche Scham; Schonnng noch nicht
entdeckter Mitthäter; Hofitnnng anf Gnade oder Wiederanfnahme,
welch letztere in den Strafanstalten einen ftnsserst günstigen Nähi^
boden findet, weil die Strttflinge sich gegenseitig oder durch Ver-
mittdung freigehender Genossen Entlastungsbeweise zu verschaffen,
wissen; schliesslieh auch das Streben, die durch die Strafthat ge-
wonnene Beute zu sichon.
Immerhin ist es ausserordentlich interessant, den Strüflinir ül»er
seine Strafthat zu hören. In Oesterreich fungirt der Staatsanwalt als
Localaufsichtsbehörde über die selbstständigen StrafaustaUen, eine Ein-
richtung, die für die Strafrcchtsiille;:;e — abgesehen vom Verwaltungs-
standpunkt — die grössten Vortheile bietet und den Staatsanwalt
unablässig mahnt, dass er nicht blos öffentlicher Ankläger, sondern
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Die Donawitser Brinde in den Jahrm 1S98 nud 1S94.
8
Hüter des lüclites, Walirer des öffentlichen Interesses und aus-
schliesslich OrjLi^an zur I']rforschunj^ der Wahrheit sein soll. Welche
Fülle von Erfahrung-en steht ihm zu Geh(»te, wenn er dem Angeklajrten
nicht nur im Gerichtssaal, sondern 8])äter wieder in der Strafanstalt
begegnet, woselbst der Sträfling mit seinen Anliegen, Wünschen und
Beschwerden an ihn sich wendet! Wie manches Fehlurtheil konnte
durch diesen Verkehr, durch diese Doppelf unction beseitigt; wie
manches anscheinend gewagte Urtheil hierdurch bestätigt werden!
Und hier 5ffnet eich die liobtqaeUe, die so nuinche dunkle Thak e^
hellt, so mancfaeB riUhselhafte Motiv enihttllt, so manche LQeke fflUt
und in die Vorzüge der Beobtspflege, sowie in ihre MSngd hinein«
lenohtet Allerdings lassen sieh diese Erbhmngen nicht, oder nnr
schwer yerwerthea. Oft aber wlirden sie snr Berahigong der Bichter
und Qeecbworenen, der AnkUger und Vertheidigeri insbesondere aber
des PnhlioamSi nm dessen willen ja alle diese Personen ihrer Aemter
walten, mächtig beitragen. Oft erschlössen sie dem üntersnchungs-
lichter einen unerschöpflichen Born der Belehrung, der weder durch
theoretische Gr&belei, noch durch die Bontine des Werktages ersetzt
werden kann.
Es ist der Vorzog unseres ^Archives", durch Schilderung ein-
zelner Fälle dem Untersuchunfrsrichter die Fährte zu weisen, die ihn
auf den Wep; der Dia^ose führt. Dass er oft und oft den richtigen
nicht zu finden weiss, darf ihn ebenso wcniir beirren jils den Arzt,
Da wir hier euRii Fall von Brandlegung vorführen, sei es ge-
stattet, auf die vorzüglichen Arbeiten von Gross (Handbuch für Un-
tersuchungsrichter, III. Auflage, XIX. Abschnitt, Seite 712 ff.) und
Wein gart (Handbuch für das Untersuchen von Brandstiftungen) zu
verweisen. Weingart unterscheidet drei Klassen von Motiven:
1 . Solche, die aus einer Verstandesthätigkeit hervorgehen (Eigen-
nutz, die Absicht durch den Brand Verbrechen zu ermöglichen oder
zu Tcrdecken, politische Zwecke).
2. Gernttthsbewegungen, Affecte, (Bachsaoht« Eifenmeht, Uium*
firiedenheit^ Heimweh, lYurcht, Huthwillen).
3. Motive bei Qeisteeknmken (pathologische HotiTe).
SdbstFersliiidlich sind damit die.MotiTe ebensowenig erschöpft,
als sieh die Tiefe der menscblichen B^ehe ganz ecgrilndea IM.
Es giebt Motive, die sicher einen pathologischen Zug aufweisen, aber
noch lange nicht auf Geisteskrankheit schliessen lassen. Schon die
Frende am Anblick eines grossen Brandes, die Erregung des Schauens
bei seiner Betrachtung, die Lust an der Entfesselung des dämonischen
Elemeotes kann als Motiv dienen 4ind hat schon oft als solches ge-
i*
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I. Ajuohl
dient. Aber auch die Freude am Manövriren der Feuerwehr, die
Passion, sich selbst am Löschen zu bethätip^?n, der eitle Dran^, als
Retter gepriesen und bewundert zu werden, hat Brände verursacht.
Mir ist ein P^all bekannt, da.ss ein frut beleumundeter, dem Handels-
stand angehöriger junger Mann in Obersteier Brand gelegt und sich
dann an den Löschungsarbeiten übereifrig betheüigt hat, was auffiel
und sehfienKoh ni seifier Enflaryiiiig fOhile. Er gestand, den Band
gestiftet zu. haben, um aioh bei den Bettimgeaxbeiten herronnthnn.
In einem anderen FUle stiftete ein Feaerwehrhomist in Kirnten etpra
zwanrig Brilnde, nnr nm steh an seinen Homsignalen xn ergSiien.
In einem dritten FUl ans üntoisteier seichneto sich bei dner grossen
üeberscbwemmnng ein schSner jnnger Mann im Jahie 1851 cbdoreh
ans, dass er sahlreidien Menschen mit Lebensgefahr ihr Leben rettete.
Wo es galt, ans Gefahren mit eigener Gefährdung zu retten, war der
brave TIelft r zur Stelle. Naeh Jahren folgte in seinem Wohnort
Brand auf Brand; der Mann war stets auf der Unglflcksstätte m
finden, unermüdlich im Helfen und Retten, bis endlich seine Rettungs-
wuth auffiel und den Verdacht der Thäterschaft auf ihn lenkte. Dass
solches Handeln einen Stich in's Krankhafte verräth, wird nicht zu
bezweifeln sein. Das Rudiment zu krankhaften Erscheinunijen findet
sich in jeder Menschenseele. „In dvr Brust eines jeden Menschen
schläft ein entsetzlicher Keim von Wahnsinn. Ring:t mittelst aller
heiteren und thätigen Kräfte, dass er nie erwache!"' sagt Feuchters-
ieben in seiner Diätetik der Seele. Ebenso schlummert in jeder
Menschenbrust der Keim zum Verbrechen. Diese P^rkenntniss verleitet
leicht zu Uebertreil)nn,iren. Sie hat auch die Irrlehre vom geborenen
Verbrecher geweckt. Folgerichtig wäre dann jeder Mensch ein ge-
borener Veihrecher, aber auch ein geborener Narr.
Besonders schwierig gestaltet sich die Ergründung des Motires
sowie die Bnnittelang des ThXters bei Massenbiandlegnngen. Es ist
eme Thatsache der Erfahrung, dass derartige Verbrechen beispiel-
gebend nnd ansteckend wirken vnd so hat man anftngÜeh nie die
Gewahr, ob die Brände von Einer Hand, von einem Complott oder
von veisohiedenen, einander selbst nicht bekannten Thttem heiriUiren.
Diese üngewissheit henschte, als im Sommer 1893 die Bewohner
von Leoben, Donawitz nnd den angrenzenden Gemeinden durch zahl-
reiehe Schadenfeuer beunruhigt wurden, die ihre verheerende Wir-
kung meist an kleineren Objecten des Hüttenwerkes übten, jedoch
auch Baalichkeiten benachbarter Grundbesitzer einäscherten.
Wer von unseren TiCsern sollte den steirischen Ersberg nicht
kennen, der mit seinen röthiich-granen Stufen gleich einer ftgypti-
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Die ]>oiuiwitur Biinde in den Jahrm 1898 nnd 1894.
6
sehen Pyramide zwigclien Vordernberp: und Eisenerz (vormals Inner-
berg jrenannt) emi)orragtV Sein Erzgehalt scheint unersehr»pf]ieh und
trotz riesenhafter Ausbeutung liefert er unerniesslielie Men^^en an das
benachbarte Hüttenwerk der alpiuen Montanj!:eaellsehaft in Donawitz,
einem Vorort der reichen Bergstadt Leoben. ^Im Nord und Süd von
ziemlich hohen waldi^ren Ilüf^elketten bep^renzt, bildet Donawitz ein
kleinem Königreich für sich. Rathlog blickt der fremde Besucher,
faUs er nicht gerade Ingenieur und Faebmaim ist, in das rerwirrende
DonMaandor tob unfnrmlioliQii rUfliiwIhaftwi Baligebilden, ragenden
Sehloten, Ton ghithioth oder elektiiBoli-bUliüieh erleaehteteii Belrieba-
itamen , regelloe sieli kreosendeD SebieBeoatiiDgeii und aeeh dahin*
eilenden kleinen Dampfmaaehinen. Heute Teremigt sieh an dieaer
Stttle die geiatige &aft Eniopaa und Amerikaa, nm die wunder-
baren Ermngensehaften der teehniaehen Wiaaeaaehaften in Eisen und
Gold unumaetieii. Aus dem Hooholen eigieaat sieh ein feox^ Strom
gCBcbmoIzenen Erzes unmittelbar in eine Reibe von Eisenbabnlowriei^
welche das flüssige Roheiaeo in die Kessel der ilartinshtUte bringen.
Nach wenigen Stunden strömt dasselbe Eisen geläutert und geklärt
durch geheimniasvolle Kräfte abermals in feurigem Sturze in grosse
Oussformen, die auf unterirdischer Dampfbahn zum Trägerwalzwerk
geführt werden. Dort hebt ein mächtiger Krahn die glühenden Blöcke
wieder zum Licht empor und in einigen Minuten werden sie hier
mit nn^'lauhlicli wenigem Zuthun von Mensehenluind durch die ge-
walli^'en Walzen in fertige regelmässige Schienen und Triiger ver-
wandelt. Von hier führt man uns in die Drahtzieherei, wo frische
junge (iesellen, that.sächlich jeden Augenblick in ihrem Lehen be-
droht, umsaust von wahrhaft betäubendem liirm, den Draht fertigen
helfen, jenen Draht, der auf Flügeln der Elektricität den Gedanken
und das Wort über iJinder und Meere trägt." (Dr. Max Reich,
Leoben. Wanderungen durch Stadt und Umgebung. Veriag der
k. k. BeqjiakademiBohai Budhbandinng Ludwig NOssler in Leoben, 1901.
Seite 16 fL).
Eb iat begreiflieb, daaa die lortgeeetalen Brinde in diesem wich-
tigen Induatrieoentmm im ganaen I^nd und darttber hinaus das
grOsste Aufeehen regten nnd im Monate Februar 1894 den Be-
wohnern Ton Donawiti und Leoben den hSobateii Grad von Unmhei
Erregung und Beaorgnisa einfitaten.
Einerseits stellten sieh alle Anstrengungen, irgend eine Spur vom
gebeimnissvoUen Thäter zu finden, schon ans dem Qmnd als erfolglos
dar, weil in einem industriellen Etablissement grössten Stiles, dessen
Gebiet Aber aweitanaend Arbeiteifamilien rereinigt, schon die Hasse,
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L AiiBcm.
in der ein Verbrecher leicht spurlos verscliwindt t , seine Erniittt'lurig
erschwert, — andererseits aber musste die Bevölkerung der Gedanke
mit Entsetzen erftillen, dass der Brand eines NachtB die grossen
Werksobjecte eigieifen, ja das ganze Werk yemichten könnte. Die
Schreckntaae, die ein derartiges Ereignias im Gefolge haben mlisste,
jienen rieh kaum besekreiben. Dazu gesellte sieb nocb die ün-
gewiasbeit Uber das Hotiy. Es blieb so rftthselhafi wie die Person
des Tbflters. Zahlreiche Combinadonen erregten die Phantasie der
Bewohner. Man apiaeb von anarchistischen Complotten und von
Pyromanie; yon Bacli sucht Uber inhumane Behandlung der Arbeiter
und von Zorn über ein im Sommer 1893 ergangenes Verbot, inner-
halb des Werkes Schweine und Schweineställe zu halten.
Die meisten dieser Conibinationen erwiesen sich in der Foh^t' als
mehr oder minder unhaltbar, alle aber als raüssig angesichts dir
Thatsache, dass bei auffallenden und Aufsehen erregenden Verbrechen
so häufig auf die Ergründung eines speciellen Motives verzichtet
werden niuss, dass aber allen in der Regel das gencrene Motiv der
Lust an bösem Thun, an Schaden, Furcht und Schrecken der Mit-
menschen und moralische Unzulänglichkeit des Thäters zu Grunde
liegt.
Die Reihenfolge der Brände in Donawitz stellt sich folgender-
uia^uiäen dar.
1. Am Abend des 21. August 1893 brannten im Dachraume
der Holzhfltte zwiachoi Hans Nr. 70 und 72 gegenüber der Werks-
restauration Nr. 71 alte Fetzen und Stroh vorrSthe. Der Brand wurde
sofort bemerkt und gdöscht Die rings um die Holzhtttte gelegenen
Gebäude waren entBchiedener Feuersgefabr ausgesetzt Die Art, wie
das Feuer entstandeui schliesst jeden Zweifel an absichtlicher Brand- .
Stiftung aiiB. Ein Schade ist nicht entstanden.
2. Am 1 6. Oetober 1893 Abends brannte gegenüber der Waks-
restauration der an das in der Coloniegasse gelegene Haus Nr. 70
angebaute Stall nieder. Die umliegenden Oebäude schwebten in
grÖBSter Feuersgefahr. Der Schade belief sich auf 580 fl. 40 kr
Dem Arbeiter Peter Zischka verbrannten Heu- und Strohvorrathe,
dann 8 Strohsäcke im Werthe von 5 fl.
3. Am 8. November 189 3 gegen 7 Uhr Abends brach im
Dachraum des zu dm Coloniehäusern in der Langen Hasse gehö-
rigen StallgebiiiKit s Feuer aus. Dachstuhl und innere Kiiirichtung
wurden t in^iiisrlK rt , die Mauern beschädigt, die umliegenden Ge-
bäude grosser I Viu-rsgefahr ausgesetzt.
Der Schade der alpinen Moutangesellschaft belief sich auf 630 fl.
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Die Douawitzcr Brande in den Jahren lb93 und lb94
7
tO kr. Dem Arbeiter Peter Zischka Terbnumten Heu- und Strobvorräthe
und 61/2 me Futter im Wertbe tou 30 fl. Dem Arbeiter ÄDton
Jemest 2 Ziegen, 1 Eitz, 2 Kanineben, 1 Katze, 4 mo Heu, Strob,
HandtOeber, 1 Sebaf und eine Heugabel im Wertbe von zneammen
62 fl. 70 kr.
4. Am 19. Januar 189 4 Abends brach im Dadiraunie der
zwischen dem Werksspitale und der Gasanstalt an der (Gemeinde-
Strasse gelegenen Kalkhütte Feuer aus. Der Brand wurde recht-
zeitig bemerkt und gelöscht Die Auslagen von Löschkosten beliefen
sich auf 12 fl. 10 kr.
b. Am I. Februar l'^94 i'Fnschinfrsonnta^') zwischen 9 und
10 Ulir Abends brannte das Matt rialma^Mzin der Werksmaurer näelist
dem Martinofen vollständig niech'r. Xiclit nur in Donawitz, sondern
auch in der Stadt Leoben verursachte dieses Feuer den grüssten
Schreck.
Auch diesmal brach das Feuer im Dach räum aus, woselbst
StnkatuiTohr aufgeschichtet dalag, also ein Zündstoff, der den Aus-
brach und die Wdterrerbreitung des Feuers erbebtich begünstigt.
Nur ein in diesem Theil des Werkes selbst beschäf-
tigter Arbeiter konnte diesen Brand legen; ohne die ge-
naueste Localkenntniss schien dies unmöglich, zumal da
der Portier den Eingang überwachte, ein Fremder daher
gar nicht Zutritt gefunden hfttte.
Nach Ausführnng des Verbrechens verschwand der TbSter in
den gegen den Vordembergerbach gelegenen Garten. Im Schnee
fanden sich verwischte Fussspuren eines männlichen Individuums.
Die gesammten nördlichen Anlagen und der Gasometer waren
auf das Höchste gefährdet} 5V2 Schritte vom Brandobject entfernt
steht ein grosses Uolzmagazin, unmittelbar daran die grosse Martins-
hütte. Die jenseits des Haches l)efindlichen Wohntrebäudo, der "VVald
an der Strasse schwebten ebenso in (iefahr als zalilreiche Menschenleben.
Der Schade belief sich auf 4VtU5 fl. 42 kr.
6. Drei Ta^r*' später — am 7. Februar 1S9 4 — <rab es wieder
Feuerlärm im Werk. Es brannte wieder in derselben Kalkhütte, an
der schon am 19. Januar Brand «relefjt wonlen war. Der Brand
kam beim Zie<;enstalle der Arbeiterfamilie Trinkl nächst dem l*er-
sonalliuuse Xr. 47 zum Ausbruch, wurde aber unterdrückt. Die ver-
riegelte Eingangsthür der Kalkhütte war uufj^erissen , vom Fenster
des Trinkl'schen Zicgenstalles der vorgehängte läppen weggehoben,
das Diahtgitter umgebogen und durch die so erstandene Oeffnung
der Zündstoff in's Stroh geworfen worden.
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I. AMiK;ilL
Da die Ealkhfltte vom laoliiqiUale nur 9 und von deo Arbeite^
wobnnngen nnr 10 Schritt eotfernt lat, war grosae Gefahr für Men-
aohenleben and fremdee Ei^thom Torhanden.
Der Schade betrog 51 H 20 kr.
7. Etwa 100 Schritt Ton der Kalkhütte entfernt, liegt das Per-
sonalhaua Nr. 43, in dem seit Herbst 1899 wiederholt Einbmchs-
diebstähle yerübt und versucht worden waren.
In diesem Hanse fanden am 8. Februar 1894 die beiden Ar-
beiter Josef Wagrner und Franz Erler etwa 2 Fuss von der Treppe
entfernt in einer Dachluke eine runde Papiersehaelitel mit Sä'resiiähnen
und darauf einen mit einem brennenden Lappen iiniwundeuen Besen.
Dem Zufall, der diese Arbeiter rechtzeitiL' herbeiführte, ist es zu
danken, dass d^r Brand im Keim err^tickt wurde, iin anderen Falle
hätte das Feuer zunächst das hölzerne Stiegenhaus er^^Tiffen und die
zahlreichen, in den beiden ^'rossen Dachwohnungen schlafenden Ar-
beiter zum Opfer frefordert. \Uvt auch alle benachbarten Objecte
waren der prüsstcn (Jcfahr ausgesetzt.
8. An demselben Abend wurde in einer zu den Endrcs'schen
Personalhäusern in Douawitz gehörigen Ilolzläge Feuer gelegt, das
zwar ausbrach, jedoch von selbat verlosch.
9. Die seit dem 4. Februar 1894 in der Bevdlkemng herrschende
Panik errdi^te ihren Höhepunkt, als am 10. Februar Abends der
etwa 10 Hinuten ausserhalb des Werkes Donawitz in der Biehtnng
gegen den vulgo Gigeri am Galgenbeig gelegene^ isolirte Heustadel des
Grundbesitzers Alois Tranawieser sammt einer anstossendeiiy der Ge-
meinde Donawitz gehörigen TorfinuUhütte an Baab der Flammen wurde.
Der Sehade Traunwiesev's, dem auch Heu im Werthe von 88 fl.
verbrannte, beträgt 308 fl, jener der Gemeinde Donawitz 25 iL, die
Löschkosten beliefen sieh auf 5 fl. 3U kr.
Die begreifliche Aufregung in der Bevölkerung und die Frechheit
der geheimnisvollen Brandleger machten TesBchärfte Sicherheitsmaass-
regeln noth wendig.
Seitens der Werksdirection waren bis nun schon über looo fl.
tür Streif- und Nacbtwachen und Feuerbereitschaft verausgabt worden.
Auf die Erirrcifunir des Thäters wurde ein Preis von loüfl. gesetzt
und alles vorgekehrt, was zur Abwendung weiterer Scliäden und Ge-
fahren zweckdienlich schien. Nicht minder hat die Gemeindevor-
stehung Donawitz durch Aufstellung von Wachen, durch Kund-
machungen an die Bewohner und durch Xacliforseliiingen nach den
Urbeljern der Bräude zu deren Bewältigung beigetrugen, was in ihren
Kräften stand.
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Die Donawitzer Biinde in den Jahren 1808 and 1894.
9
Am 11. Februar 1S94 Vormittags 11 Uhr wurde auf dem Garten-
zaun des Hauses Nr, 57 ein angebefteter Zettel ij:efunden. Daiaof
Stauden, mit Bleistift unortho^^rapliisch f^esclirieben, die Worte:
„Achtun^r, hall) Douawitz muss noch im Feuer geben!
Unser Commando lautet: H. Od. M. D. J. T. B. II."
Am 15. Februar waren in Leoben zwei Briefe an den Werks-
director Ferdinand llauttmann und an den Ingenieur und Feuerwebr-
hauptiuann Franz Ciudera zur Post gegeben worden, welche folgenden
Wortlaut aufweisen:
„Achtang! Halb Friedan (d. l ein Tbeil Ton DonawiU) muss
mit Dynamit in die Loft und Fener gelien mit Dureetorliaiui! Unser
Gommwido, alte DonawUier gewesen. H. 6. W. 0. J. D. F. —
„AGfatnngt die Feuerwehr bekommt GescbAfte! Nocb geang Stallungen
müssen im Feaer stehen mit alt gewesene Donawitier. H. G. W. 0*
J. D. F. W.«
Für jeden lAten war sofort kennbar, dass beide Briefe, auf
linürtem weissem Papier geaehrieben, von ein«r und derselben Hand-
sehrift herrührten, und zwar Yon jener, die auch der am II. Febmar
vorgefundene Drobzettd trug.
Auffallen nuisste, daas die Brände, insbesondere jene des Jahres
1894, sammt und sonders iwisoben 7 und 9 Uhr Abends, und zwar
meist in den Dach räumen ausbrachen, dass sie sich auf ein eng
umschriebenes Territorium beschränkten, genaueste Localkennlniss
verriothen und — Im auf den Magazinsbrand Tom 4, Februar — sich
auf uiinderwertliige 01)jecte erstreckten.
Alle diese Umstände und vor Allem aucl) die Handschrift der
Dnjlibrit'fe und ihr Stil Hessen darauf schliessen, dass die Brand-
stifter einbeimische, wahrscheinlicli jugendliche Personen sein
müssen, die vielleicht aus (iefallen an Feuer, aus Behagen an den
Manövern der Feuerwehr, oder um diese zu chieaniren, oder
aus Abneigung gegen ihre l*fliclit als Mitglieder der Feuerwehr, —
auf jeden Fall aber um Schrecken und Furcht zu errege und, ge-
trieben von einem zum Tbeil auf moralisebem Defeete bemh^deii
Hange sum Yerbrecben, ihrem freTleriscbem Treiben fröbnten.
Am 13. Februar waren von der k.k. Beairksbauptmannsehaft
unter Intervention der k. k. Staateanwalisebaft an Ort und Stelle poli-
zeiliobe Erbebungen gepflogen worden, am 17. Februar fand der ge-
riditliohe Augenschein, gleiohfaUs unter staatsanwaltachafttidier Intern
vention, statt.
10. Gewissermaassen als höhnisohe Antwort auf den gerichflichen
Augenschein biach Sonntaip den 18. Februar 1 894 zwischen 9 und
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10 L AxscHz.
10 Uhr Nachts in der Zeughütte für die Verlader Feuer aus, das
reell tzeitig bemerkt und gelöscht werden konnte, so dass kein Schade
entstund.
Dieser Brand sollte aber zur selbstgestellten Falle werden, in der
der Tliäter sicli fin^,'.
Scliun einige Zeit schöpfte man Verdacht gegen den Werks-
arbeiter Wenzel Querser.
Dieser, am 27. September 1873 in Kaplitz (Bölimen) als ehelicher
Sohn des Hausknechtes Johann Querser und der Anna Pils geboren,
besuchte bis zum 14. Lebensjahre in Kaplitz die Volksschule, kam
dann in Böhmen als Halterbub zn TenohiedeBeii Baaem, später als
Znieiclier bei Maurern mit seiner Matter nach Wien nnd Innsbruck
und wurde am 11. Kovember 1890 als Platzarbeiter in den Dienst
des Donawitzer Hüttenwerkes aufgenommen.
Vom 11. Norember 1890 bis 24. Juni 1891 wobnte er im Per-
sonalhanse Nr. 73 nächst der Werksrestauration, dann bis 18. Octo-
ber 1893 im Burschenzimmer Kr. 2 des Personalbauses Nr. 43, dann
bis 30. November 1893 im Paddlerhause Nr. 45. Seit 30. November
bediente er den Ma^fazinsbeamten Ferdinand Doringer und wohnte in
der diesem zng:ewiesenen Villa jenseits der Endres-achen Personalhäuser.
Anfangs December wurde Doringer aushiUfsweise nach Schwechat
bei Wien versetzt. Bis zu seiner am 5. Januar 1894 erfolgten Rück-
kehr bewohnte Querser allein die Villa, wohin man vom Werke
an den Endres'schen Häusern vorüber (Brand vom s. Februar ISO J
Nr. 8) gelanf^t, den Traunwieserstadl (Brand vom 10. Februar 1894
Nr. 9) genau sieht und in wenigen .Minuten erreichen kann.
In der Zwischenzeit hatte er trotz des aiisdrücklicben Verbotes
Dorin^ers dessen Revolver zu sich gesteckt, ohne Warfeni)ass herum-
getragen und auch drei Patronen verschossen. Fernrr schwindelte
er am 20. Februar von Maria Radek in der Farracher Biernieder-
lage 6 halbe und l ganzen Liter Bier im Werthe von S4 kr. auf
Nauien seines Herrn heraus.
An demselben Tage wurde der k. k. Staatsanwaltsebaft als Schrift-
probe Queiser's ein von ihm an die Arbeiterstochter Ansstasia Papou-
schek gerichteter Liebesbrief, daürt Donawitz, 15. Februar 1894^ über-
reicht Die Schriftzfige verriethen auf den ersten Blick, dass sie von
derselben Hand herrtthrten, wie die 2 Drohbriefe an Hauttmann and
Oudera und der Drohzettd. Auch die Vorliebe f&r Abkürzungen
mit grossen Anfangsbuchstaben, insbesondere die Schreibweise des
W. oder M. und so viele andere oharakteristiBche Züge sprachen für
die Identität der Handschriften.
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Die Donawitzfflr Btlnde in den Jahrai and 1894.
11
Die Sachverständigen im Schriftfache erklärten unter ihrem Eide
auf Grund der sorgfähij^ston und gewissenhaftesten Prüfung, das»
die Drohbriefe und der Drohzettel ganz unzweifelhaft von Wenzel
Quer:>er herrühren. Xun war der Beweis erbracht* dass Queiser mit
den Firänden in Zusammenhange stehe.
An demselben Tage, 20. Februar 1S94, begab ich mich mit dem
Untersuchungsrichter an Ort und Stelle nach Donawitz zur Verhaftung
Querser's und zur Vornahme einer Hausdurchsuchung. Wir trafen
Querser nicht im Werk. Er war verschwunden, angeblich in die
Stadt gegangen, nach Meinung Anderer geflohen * da er von seiner
Verfolgung Wind bekommen. Wibrend der üntersnobungBricbter
sieb mit dem Scbriftffibrer und den Gendannen in Qaenei'B Wob*
nnng begab, bielt ich micb in den Werksiftnmen anf nnd lieas mir
den Weg zeigen , den Qnener am 18. Febmar znrttcklegte, als er
mit der Waaserflaaebe bis zur V6rlad6^Z6ngbtttte lief. Da trat plötz-
lich ein Arbeiter anf mich zn und meldete mir, daas Qnener soeben
in das Weik znrflckgekehrt sei nnd sieh vm nähere Ich schritt
auf ihn zu, fragte ihn nach seinem Namen, den er mir, die Htktze
in der Hand, nannte, und veranlasste seine Verhaftung.
Bei d^ Hausdurchsuchung fand man das gleiche liniirte Brief»
papier vor, auf dem die Drohbriefe geschrieben sind; dn Heft mit
Stilübungen und Entwürfen von Liebesbriefen, die so recht seinen
phantastischen und überspannten Charakter blosslegten.
Durch die Aussage Doringers sowie durch (^Uiersers Geständnis»
ist erwiesen, dass dieser am 1 5. Februar, am Tage der Aufgabe der
Briefe in Leoben, thatsächlich in Leoben war und über Auftrag seines
Herrn Kleider in dem gegenüber vom Postgebäude gelegenen Ge-
schäfte des Schneiders Seimann abholen musste. Dit^ Tinte erwies
sich als jene, die im Foyer des Postgebäudes den Parteien zur Ver-
fügung steht. Die Briefe waren von (Querser, somit offenbar im Fost-
gebäude selbst, geschrieben und aufgegeben wurden.
Es bandelte sich noch um den Beweis, dass Quersers verbre-
cherische Thätigkeit nicht anf die Drohungen beschränkt blieb, son-
' dem daas er der Brandleger selbst sei
Wie bereits erwähnt, bat Querser über ein halbes Jahr im Per-
sonalbanse Nr. 73 gewohnt In der Wateestannition Nr. 71 war
er anf FriIhstQck, Mittag nnd Abendessen abonnirt Zu Letzterem
erschien er gewöhnlich nm 6 Uhr hemm. In der Nähe dieser beiden
Hänser stand die Holzläge, in der am 21. Augnst 1893 das erste
Fener anfflammte.
Ans dem Drohbrief an Gndera, wo es heisst, dass noch Stal-
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12
L Ammhl
lungen ^vim^ in Feuer stehen müssen, f^eht hervor, dass der Schrei-
ber des Briefes auch die Stallung:en bei Nr. 70 nnd am Ziegelplatz,
erstere zur früher erwähnten Werksrestauration «rohr.nir, am IG. Oc-
tober und 8. November 1893 an^a'züiulet liabt^ Zeugen Fruh-
niann und Iluber bestätigen, dass Querser ao diesoa beiden Abenden
nicht zu Hause war.
Als Maurer, Platzarl)eiter, Schickbursclie und Ilandlanger besass
Qnerser die genaueste Localkenntniss bis in 's kleinste Detail.
In der am Id. Januar und 7. Februar 1894 ?om Brande
heimgesuefaten Kalkbfitte war Qaeraer mh nnd oft bcschiftigt Das
Tenain kannte er ToUkommen, da die Kalkhfltte in nnmitlelbaier
NShe des PcrBonalhannB Nr. 43 nofa befindet
Dort hatte er, wie erwShnt, vom 24. Jnni 1891 bis 18. Oe-
tober 1890, abo länger ab swei Jafare^ gewohnt
Er war dort Zimmergenosse der Arbeiter Josef Wagner, Gustav
Bgger und des Manrers Wenzel Leksa.
Dieser hatte am IS. October Mittags sein Geld abgezählt, in
die Schublade gelegt, das Vorhängesehloss der letsteren sngesperrt
nnd den Schlüssel zu sich gesteckt
Am Abend dieses Tages, an dem Qnerser aus dem Hause
Nr. 43 auszog, fand Leksa das Schloss von seinem Kasten weggerissen,
diesen aufgesprengt, und von seinem (»elde 24 fl. gestohlen. Das
Burschenzimmer war versperrt gewesen, allein (kr ^olilüssel hing an
der Wand im Vorhause. Ein Fremder konnte den Diebstahl
nicht verübt haben.
Damals wurden die Arl)eiter Alois Scliweigliardt und Josef
Fruhmann dieses Diebstahls beschuldigt, Frulmiaiin sogar verhaftet.
Bald aber hatte sich ihre Schuldlosigkeit licrausgL'stellt.
Jetzt erscheint es ausser Zweifel, dass Querser diesen Diebstahl
begangen. Ueber zwei Jahre hatte er neben Leksa geschlafen. Er
kannte genau den Aufbewahrungsort des lOmmenehlfisseis und des
Geldes, hatte immer Geld, trotzdem er bei der Ausrahlung oft nur
einige Kreuzer herausbekam, schlug sieh gerne mit MäddieB hemm;
lebte Behr. flott, kam oft Mb Höngens betrunken nach Hause und
zahlte im Oetober 1893 dem Sdineider KoTalsehitseh fttr einen neuen
Book sammt Weste 13 fl. 60 kr. haar aus.
Schon Im Herbste 1893 war dem Josef Wagner ans verspOTtem
Kasten ein Geldbetrag von 20 fl. weggekommen. Eines Tages hatte
Qnerser Wagner's Geld beobachtet Wiederholt begab er sieh von
der Schicht allein in's Burschenzimmer und hatte dort Gelegenheit zur
Ausübung der Diebstähle^ deren Niemand verdächtigt wird als Qnenwr.
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Die Donawitzer Brände in den Jaliren IbUä uud ISM.
18
Eode September 1803 wnide dem Aibdter GmteT Egger tau
dem gleioben Locale nnd, gieieh wie dem Lekaa und Wagner, ans
yersperrtem, wahrscheinlich mitteiit KacbiolilitaBeb geöffneten Koffer,
eine Rrieftasche mit 8 fl. gestohlen.
Nachdem Querser am IS. October 1893, am Tage des Diebstahls
an Lekaa, das Personaihaus Nr. 43 verlassen hatte, mied er es lange.
Geraume Zeit darnach erschien er wiodor dort mit seinem Freunde
Gottfried Ep:laner, dessen spttter £rwähnnag gesolleben wird, am
Karten zu spielen.
Am Lichtmessta^e, den 2. Februar 1S94 zwischen 4—5 Uhr
Nachniitta^rs, spielte Querser dort Karten. Der Arbeiter Heinrich
Neubauer zählte sein Geld, wobei ihn Querser in auffallender Weise
beobachtete.
Neubauer sperrte seinen Kasten ab und steckte den Schlüssel
zu sich.
Tags darauf, am 'A. PY'hrimr, fand er den Kasten aufgebrochen,
den Rock herausgenommen und auf's Bett gewuifeu. Glücklicher
Weise hatte der Einbrecher die im ßocke verwahrte Baarschaft von
3 IL mobt gefunden.
Nenbaner und sein Kanemd Jobann Sonnberger beieichneten
sofort Qnener als den Dieb, weil er allein den Ersteren bdm Oeld-
ziblen so vefdächtig belanert batle.
DasB Qamßt mit Vorliebe eich an SehlOeser und fremde Seblllssel
beranmaobte, beweisen folgende Mittbeilnngen Dorioger^:
Kaobdem dieser im Januar t894 yon Sebweebat sariiekgekehrt
war, konnte er die Thilr»i seiner veispeiTten KSsten niebt öffnen, so
dass er einen Soblosser holen lassen mnsste; dieser erklSrte, es müsse
jemand mit Sperrwerkzeugen an den Schlössern herumprobirt haben.
Bei einer Durchsuchung der Habseligkeiten Querser's fand Do-
ringer Mitte Februar in dessen Werktagsblonse einen fremden Schlüssel,
der zu Doringer's Ueberraschung seinen zweiten Keller sperrte.
Querser gesteht, dass er sich diesen Schlfissel habe machen lassen,
angeblich um den Waschkessel säubern zu können.
Niemand konnte an Doringer's Sclilrvssem herumprobirt haben
als Querser, der dessen Villa Monate lang allein bewohnte. Diese
Handlungsweise (Querser's bestätigt den Verdacht, dass Niemand
anderer als er die Schlösser an den Kästen und Koffern Wagner's,
Egger's, Ixksa's und Neubauer's erbiuchen habe.
Und in der That — erwägt man, dass (Querser schon als Kind
wegen Diebstahls gestraft worden; dass die Art der N'erübung bei
allen diesen Diebstählen genau die gleiche war; dass Querser himn
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L AMiCBL
<lie erfunkrliche Gelegenheit, die nr»thi^'e Kenntniss des Grkllifsitzes
und des Aufbewahrungsortes der Baarschaften besass; dass er zu
jener Zeit Ausgraben machte, die seine Einnahmen weit überstiegen
und dass Niemand anderer dieser Diebstähle geziehen werden kann,
flo «roeheint Qneiwr der Thttenchalt.htnlingUQh yefdSobtig.
£b ist httohst auffallend, dasB wenige Tage nach dem Diebatahle-
vefBueh an Kenbaner, am 8. Februar 1894 — unmittelbar hinter
dem Yon QneiBer so lange bewohnten BnrBobenzimmer Kr. 2 jener
Brand gelegt wurde, den die Arbeiter Wagner nnd Erler — Ersterer
«ner der Beetohlenen — entdeckt hatten. Es bedarf wohl keiner be-
aonderen Begrflndnng, wamro man in allen dieeen ▼erbrecherisehen
Handlungen, aneh in dem am nämliehen Tage bei Endres ge-
legten Brande (musste doch Querser, um von der Villa Doringer*8
in's Peraonalhaus Nr. 43 zu kommen, an den Endres'schen Häoaem
▼orbei) eine und dieselbe Hand erblickt — die Hand des Einzigen,
dessen Gebahren an diesem Verdachte heranafordert, — die Hand
<iuerser's.
Diesem war insbesondere djis am 4. Februar eingeäscherte
l^laterialdepot wohlbekannt, da ihn seine Arbeit oft und oft in alle
Bäume und Schlupfwinkel dit ses Gebäudes rief.
In derselben Nacht schickte Gudera den Querser nach seiner
in Friedau gelo^^enen Wohnung. Gudera's Magd Amalia Schachner
jammerte, dass man sich jetzt jede Nacht vor Feuer fürchten müsse
und wünschte dem Thäter, dass man ilin scliiesse und dann in den
Schmelzofen werfe, worauf Querser erwiderte: „Hier wäre Ihnen ja
so nichts geschehen!*^ Sein wortkarges und sonderbares Benehmen
und seine S^en, in Oadam*s Wohnung einzutreten, fiel der Magd
aofort anl
Noch anfallender war Qnerser^s Benehmen anlisslich des Bran-
des des Trannwieserstaders am 10. Februar.
Der Zimmermann Josef Thonhofer hatte Feuerwache. Gegen
8 Uhr Abends besuchte ihn der Arbeiter Peter Schopitsch. In der
ITähe des Sebert*sohen Hauses sahen sie am Zaun einen Mann stehen.
Als sie auf ihn zu gingen, kam er ihnen pchon entgegen. Sie er-
kannten Querser, der ihnen mittheilte, da.ss er heute nirgends als
Feuerwache autgestellt sei; erst um 10 Uhr Nachts mfisse er antreten,
das passe ihm heute durchaus nicht.
Unmittelbar darauf rief er: „Da ist Licht!'' und wies gegen den
vulf^o Giperl am Gal^^enhor«::. Auf die Einwendunjr, dass dies ein
Halinwächtersignal sei, erwiderte Querser: „Das ist weiter drüben!
dort brennt's! Ich gehe melden.'' — Da das Licht nicht grösser
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Die Donawitzer Brände in den Jahren 189S und 1694. 16
war ah ein Laternliclit, mahnte Thonhufer ab, denn man dürfe die
Leute nicht in s lilaue hinausjagen.
Erst als er mit Schopitsch gegen das neue Stbert'sche Haus lief,
iialim er wixklieb eine Feuersbnmst wahr, denn die Flammen achla-
gen gerade ans dm Fugen des Traanwieser'selieii Stedeh hinaiu.
Dem Thonhofer und dem Sohopitseh fiel sofort anf^ dass Qneraer,
der merkwürdiger Weise bei den Blinden immer der Eato oder emer
der Ersten anf dem Platie war» ihnen das Feuer aagekOndigt hatte^
be7or es noch siobtbar schien. Sie sohöpflen eogleioh Verdacht gegen
ihn und machten dem Fenerwehrhanptmann Gndera Mitth^lnng.
Dieser stellte Qnerser zur Rede, der sich dahin Terantwoitete, dass
er Uber Auftrag Doringer's in dessen Wohnung um einen Kock habe
gehen mflssen und über die Wiese am rechten Tbalbacbufer an den
Zaun gekommen sei, woselbst er sich eine Cigarette angezündet habe
nachdem er unterwegs den £odres'Bohen Feuer Wächter liudwig Bainer
getroffen und goijrüsst
Doringer und Rainer erklären diese Verantwortung für unwahr.
Von der Cigarette hat weder Thonhofer noch Schopitsch etwas ge-
sehen.
Auf die Widersprüclie zwisclien seinen und den Angaben der
von ihm angerufenen Zeugen aufmerksam fjemacht, erwiderte Querser,
er habe sich von Düringer weg zum Kaufmann Ila^iiel begeben, dort
Cigaretten gekauft, im Vorübergehen den Uhrnuiciier Jäger gegrüsst
und sei, die neue Gemeindestrasse entlang, an jene Stelle gekommen,
wo ihn Thonhofer und Schopitsch getroffen.
lYans Jäger stellt jedoch eine Begegnung mit i^uciätr entschieden
in Abrede. Querser's ganzes Benehmen am 10. F^ruar rsefatfertigt
den Verdacht, dass er den Stadel Traunwieser's in Brand gesteint
habe.
Die wider ihn erhobene Anklage wird am krftftigstea unterstfitst
durch die Vorgange des 18. Februar.
Querser erschien damals freiwillig im Feuerwehriocale, dort
legte er die Feuerwehrmontur ab und vertauschte sie mit OiVUklei-
dung. Gegen '/i 10 Uhr Abends sah ihn Gndera mit einer leoren
^^Literflasche an den Generatoren der neuen Martinshütte TorQber
gOgen d&a Hüttenplatz geben. Der Arbeiter Heinrich Sommerauer,
beim Aufzuge des Martinofens beschäftigt, sah ihn von der Thüre
nächst der Portierloge her den Hüttenraum l)etroten und bis zur Kreu-
zung des Normalgeleises mit dem schmalsimrigen Schienenstrange
gehen. Dort kehrte Querser plötzlich um und lief die Eisenbahn-
«Waggons entlang bis zur Zeughütte der Verlader.
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L Amscul
DureetionsgebSnde sich Idem Feaerwehidepot nfihem. Kanm haitte
Qnflraer es betreten, als aaoh die ZenghOtte der Verlader flcbon brannte.
Gndaa tweifelte mm nicht l&nger, dass Qnener diesen Brand
gelegt babe. Qaerrar bebanptet, er wollte Wasser holen vnd habe
sieh „Teigaeht^ gib den Weg Terfeblt), sei irithttmlieh snm Martin-
ofen gekommen und denselben Wsg wieder znrttekgegangen.
Diese Verantwoftang entbehrt jeden Haltes, denn einmal ist es
ansgeschlossen, dass ein Mensch wie Querser, der sich in allen Win-
keln des Werkes genauestens anskennt, den koraen nnd geraden, ihm
80 wohlbekannten Weg vom Fenerwehrdepot zum Brannen pIdtzUeh
Yorfehlen und nnbewusst eine ganz andere Kichtoag einschlagen
werde, dann aber hätten ihn Gudera und Sommerauer unfehlbar
sehen müssen, wäre er von der Martinshütte zurQok bmkUS nnd längs
des Directionsgebäudes zum Hrunnen gelaufen.
Seit 2(1. Februar befindet sich Querser in Haft.
Thatsache ist, dass die Brände seit dieser Zeit aufgehört hatten.
Das Gefühl der Sicherheit kehrte vvieder und nicht ungerechtfertigt
erscheint es, wenn der Stillstand der Brände seit Querser's Festneh-
mung als sehr erhebliches Verdachtsmoment für seine Schuld in die
Wagschale geworfen wurde.
Da unterbrach am 12. April Nachts ein neuer Brand die be-
.reits eingetretene Rahe.
In der Nihe der WeiksgieBSoroi liegt das Wohnhans Nr. 34.
Vier Schritte davon steht die zu diesem Hanse gehörigei ans Brettern
erbaute nnd mit Brettern gedeekte Holzlige mit 4 Abtbeilnngen, jede
mit einer Bretterthfir TcrschlosBen. An der ndrdliehston Abtheilnng
wurde gegen Mitternacht der Brand gelegt» der die Seitenwinde der
Holzlige stark beschftdigte« die in dieser Abtheilnng befindlichen
FlascheiH, Holz- nnd StrohTOirSthe ▼emiehtete nnd die vmliegendea
Hänser nnd das Leben ihrer Bewohner gefährdete.
Die alpine Montangesellschaft erlitt einen Schaden von 53 fL Die
Farmcher Brauerei einen solchen von 25 fL
Am 15. April erhielt Feuerwehrhauptmann Gudera mit der Post
einen in Donawitz am 14. April aufgegebenen anonymen Drohbrief,
dessen Schreiber sich als den Brandstifter vom 12. April
bekennt.
Der Brief lautet :
Donawitz, 13. April 1">9 1. — Euer Wohlg:el)üren !
Ich mache euch anffnt'iksaui, die F'ciu'rwehr wieder aufzustellen, in-
dem ich und meine Coliegen jetzt das Brandlegen wieder beginnen
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Die Duuawitzcr Brände in den Jahren 1898 und 1894.
17
aber in gFSaserar Wdse. Diesen kleinen Brand vom 12. anf
den 13. April habe ich nm 9 Uhr Abends gelegt Lieber
Herr Fenerwehrhanptmann, die Wache aber mit Vorsicht anstellen
nnd bitte Ihnen, diesen Brief in Herrn Director vorzulegen, dass ich
nicht einen zweiten Brief schreiben braoche. Ich ersuche in Horm
Director, den 1. Mai feiern zu lassen; wenn er nicht gefeiert ^^ir(l,
so werde ich einige Bomben und mehrere Sprengstoffe von mehreren
Anarchisten aus einer grösseren Stadt mit List bringen lassen und
sie auf die gefährlichsten Stellen schleudern, besonders in Herrn
Hauttmann sein Geniacli hinein. Also bitte diesen Brief ihm vor-
zulegen, dass er sich zu richten weiss, llir habt mir es zu verdanken,
dass ieh euch früher davon schreibe, denn meine Collegen smd in
wüthendein Zorn.''
Bald gelang es, den Schreiber dieses Briefes, der sich für den
Brandleger vom 12. April erklärt, zu entdecken.
Am 22. April wurde der schon früher genannte intime Freund
Onersei^s, Gottfried Eglauer, vom Gemeindeamte Donawitz, als
mehrerer Dlebstfthle verdächtig, dem Bezirksgerichte Leoben eingeliefert
Da ich Verdacht schöpfte, dass %lauer mit den Bränden in
iigendwelchem Zusammenhange stehen könnte, betbeiligte ich mich
an der Hauptverhandlnng vor dem Bezirksgerichte. Daselbst fand
sich Anlass, dem Eglaner emige Worte in die Feder zu dictiren. Die
Aehnlichkeit mit den Schriftzflgen des Drohbriefes vom 13. April 1894
schien augenfällig.
Die Folge davon war Eglauer's Ueberstellunjr an den Unter-
suchungsrichter. Die Yergleichung der Uandsobrif ten durch
Sachverständige ergab, dass Eglauer zweifellos der
Schreiber des Drohbriefes vom 13. April und somit auch
nach seinem eigenen Geständnisse im Briefe der Tbäter
der Brandlegung vom 12. April sei.
Gottfried Eglauer, am 3. September 1873 in Mühlthal als un-
ehelicher Sohn der Maria Eglauer, derzeit unbekannten Aufenthalt» s, ge-
boren, zuständig nach (Jai, wurde von 1874 — 1892 von seinem natür-
lichen Vater, dem Sch weisser Anton Oessler in Donawitz, aufer/ogen
und verpflegt. Bis zum 11. Lebensjahre besueiite er in Donawitz
die Volksschule und kam dann, gleich Querser, als Maurer in's Werk.
Im Jahre 1892 erklärte er seinem Vater, dass es ihn daheim nicht
mehr freue nnd dass er lieber in's Burschenzimmer kommen möchte.
Er kam dann 1892 wirklich in*s Personalhaus Nr. 73, in dasselbe,
worin Querser seiner Zeit gewohnt Dort schlief Eglaner neben den
Arbeitern Ferdinand Wohhnuther und Josef Beischi.
liddr Mr Crimlnakafkiiiipola^ ZU. 2
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18 1. Amüchl
Eine Woche vor Wöbaaeliteii 1893 worden dem Ersteren aus
seinem Boeksacke eine Brieflasche im Werthe von 20 kr. saromt 6 fl.
Inhalt, am 31. März 1894 aus dem gleichen Bocke 5 fl. und in
der Nacht vom 17. znm 18. April 2fl. gestohlen.
Schon zn Allerheiligen 1893 war dem Beisehl, während er schlief^
ans seiner Hosentasche 1 fl., am 12. oder 13. April ans seinem Geld-
täschchen ein Betrag von 20 kr. und am 20. April 1899 sdn Geld-
täschchen im Werthe von 20 kr. eammt 2 fl. 30 kr. Inhalt gestohlen
worden.
Der Verdacht fiel sofort auf l^^^lauei , denn ein Fremder ver-
mochte in (las Hurschenzimmer niclit zu dring^en, weil jeder Arbeiter
einen Sclilüssel dazu besass. Zudem hatte Eglauer die beste Ge-
le^enlii'it zu diesen Diebstählen, er wusste irfnau, wo die beiden Ar-
beiter ihr (leid zu verwahren jjflefjten. st ni Kasten stand neben dem
Wohluiutber's, sein Bett g'egenlibcr dem lieischTs.
i^glauer iresteht selbst, dem Wohlniutlier vor Weibiiaelitcn 6 fl.
und dem Ivci^ehl am 20. April 1S94 2 fl. 30 kr. g-estohlen zu haben,
leugnet al>er die übrij^en Diebstähle. Nach den> vorhin (iesa^^tin
jedoch müssen ihm auch diese zur Last j^elej^t werden, da Niemand
anderer diesfalls verdächtigt werden kann und er, der Freund (^uer-
ser's, gleich diesem von der Arbeit weg ohne Grund oft in die Burschen-
zimmer lief, obwohl er dort nichts zu thnn hatte, dann aber weil er
noch anderer Diebstähle verdächtig ist
Sein Vater selbst schildert ihn als einen gleichgültigen Menschen,
der sich aus dessen Lehren nie etwas gemacht hat Kleinere Dieb-
stähle hat er schon begangen, als er noch beim Vater lebte. Der
Vater selbst hatte deswegen Anstände, eine Anzeige wurde jedoch
niemals erstattet
Vor etwa 2 Jahren hatte sich Eghiner drei dem Werke gehörige
Pinsel angeeignet Er redet sich zwar auf Vergesslichkeit aus, allein
er niusste wissen, dass die Arbeiter derartiges Handwerksgeräth nach
der Arbeit jedesmal an den eigens hierzu bestimmten Aufbewahrungsoit
abzugeben haben.
Am 10, April IS91 Nachmittags ging er in Begleitung des Franz
Reisenbofer über den Ilauptplatz in Leoben und stänkerte die Passanten
grundlos an. Vor dem (iewölbe des Kaufmanns Ki])fel stahl er bei
helllicbtem Tag einen Stock im Werthe von 10 kr. aus dem Auslage-
ständer, wiewohl ihn lleisenhofer von diesem Diebstahl eindringlich
abgemahnt hatte.
Auch dieses Diebstahls ist Eglauer geständig. Was den Brand
vom 12. zum 13. April betrifft, so beruft er sich auf Alibizeugen.
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Die Don&witzer Brihide in den Jahren 189S und 1894. 19
In der That bc3täti.c:t n die Arbeiter Wenzel Razak und Alois Kofler,
daas E^lauer. als der Feueralarm ertfmte, in seinem Bette lag, Alois
Kofler überdies, dass er vor 10 Uhr nacii Hause j^^ekomnien sei.
Es ist nun g^anz gut mög:lich, dass Eglauer, nachdem er den
JJrand g:elee^t — und im Drohbriefe bezeichnet er \) Uhr als
die Stunde — nueli Hause gekommen sei und sicli niedergelegt
habe. Zudem war das Materi«al ein solches, das den Ausbruch des
Brandes mehrere Stunden nach dem Anstecken gestattete. Anderer-
floHs 18t aber aneb die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Eglaaer
deb, wihrend Beine Kamenden, mttde yon der Aibeit, fest sobliefen,
«Dtfeml^ den Brand gelegt and dann sieb wieder anf sein Lager be-
geben habe.
Sein Leugnen der ürbeberschafl des Drohbriefes eiscbdnt gegen-
fiber dem Gntaebten der Saebyeisttndigeo nnd den Yorliegenden
Schriftproben belanglos.
Am 10. Hai brannte es wieder in der Eegelstätte. Ob es sich
hier um einen Znfall, nm Unvorsichtigkeit oder um ein Verbrechen,
vielleieht nm einen sogenannten Decknngsbiand handelte, blieb für
immer unanfgekiärt.
Querser leugnet mit Ausnahme des Kevolrertragens nnd des
Herausschwindeins von Bier alles rundweg ab.
Sein Benehmen vor dem Untersucimngsrichter ist ein halsstarriges
und freches, keineswejrs das Benehmen eines Schuldlosen. Nur wenn
ihn die Wuelit der l^eweise drückt, wird er kleinlaut. Er gehört zu
jenen exaltirten, moralisch defecten Typen, die in der kriminellen
Casuistik die Hauptrolle spielen. Eglauer selbst schildert ihn als
einen „damischen", ohne Ursaclie in Zorn gerathenden Menschen, der
oft i^rundlos nach seinen Kameraden Eisentriimnier und Holz|)rii^^rl
schleuderte. Doringer erklärt ihn als lügenhaften, uuvcrlä^^slichen,
Neubauer als ausgelassenen Menschen, dem nichts heilig ist, und
hQrls eines Tages, wie Querser einem Knaben znrief: „Wenn icb
kOnntf, mOcht* ieh wem was aathnn!** Naeh dem Zeugnisse Früh-
mann^s nnd anderen Kameraden war Querser vorher ein lustiger,
leichtiebiger Nachtsehwfirmer. Seit Herbst 1893 aber hatte er sieh
anfCallend veilndert Still und in steh gekehrt, mied er jede Gesell-
schaft Ohaiakterislisch ist auch die Hast und Bnhelosigkeit, das
Fabiige und Unstete seines Wesens. Leonhard Petschnig sah ihn
zweimal bei nfichflicher Beobachtung „alle Augenblicke Sprilnge
• machen'', Martin Peter schildert ihn als menschenscheuen Burschen,
der nirgends Bast und Buhe hatte und immer hin und her lief. Ein
anderer Zeuge sagt von ihm, „er gebt nie, sondern hiuft oder stehf*.
2*
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20
I. Ajucbi,
Einmal <lii, t inmal dort, flackerte er wie ein Irrlicht herum. Der
Zimnu riiiifseher Geurg Haider hat ihm nie recht {.,'etraut, weil Queraer
ihm nie recht in's Gesicht schauen konnte. Als in den Burschen-
zimmem die Diebstähle ruchbar wurden, hegte er sofort gegen Querser
Verdacht, schon aus dem Grunde, weil er diesen yon der Schiebt
wef bald in diesesy bald in jenes Bursebenzinimer gehen sah, wo er
niehtB asn Baohen hafte. Dem Quaitiermeister Franz Leskovar fiel ee
auf, dass Qnener in der letzten Zeit bei jeder Begegnung immer
yefdftchtig zur Seite sah, als wenn er sieh nicht getraut hStte, jemand
in*8 Geeicht zu schauen.
Was die Verbindung Eglauer's mit Qnener betriffti so kann ihnen
verabredete Zusammenrottung nicht nachgewiesen werden. Gtteioh-
wohl beweist die Aehnlichkeit des Inhaltes der Drohbriefe, dass sie
von einander wnssten, — ihr intimer VeriLcfar, dass das Treiben des
Emen dem Anderen nicht verborgen war. Ein unmittelbarer Zu-
sammenhang zwischen Eglancr und den Bränden vor dem 12. April
erscheint nach dem geschilderten Sachverhalte ausgeschlossen. Das
böse Beispiel Querser's reizte ihn zum Drohbrief an und das Bestre-
ben, seinen Freund zu entlasten, zur Bnuidle^unt^ vom 12. Aiiril.
Am 12. und 13. Juni 1S91 fand die Hauptverhandlung vor dem
Kreis- als SchwurjL^erichte T.pnhcn stiitt. Eglauers erinnere ieh mich
heute nicht mehr: sein Benehim n !)ot nichts Benierkenswerthos. Wohl
aber fiel bei Querser auch im X'erhandlungssaale sein unstetes, flackern-
des Gehaben auf. Er stand nie ruhijLr, wiegte sich beim Sprechen
auf den Zehen, iresticulirte lebhaft und blieb niemals auf einem Fleck
stehen. Eine inilitäiische Habt-Acht-Stellung wäre ihm unmöglich
gewesen. Er und Eglauer leugneten die Brände und Drohbriefe hart-
nfickig ab und bellieneften ihre Unschuld.
Den Geschworenen wurden 26 Fragen vorgelegt, die sie folgender-
maassen beantworteten:
1. Querser, Brandlegung am Holzgebftnde vor der Werkarestau*
ration am 21. August 1893: 12 Stimmen nein.
2. Querser, Brandlegung an dem zur Weiksrestauzalion gehdrigen
SchwdnestallgebSnde am 16. October 1893: 12 Stimmen nein.
3. Querser, Brandlegung an dem zu den Peisonalhäusm ge-
hörigen SchweinestaUgebäuden am 8. November 1893: 12 Stimmen
nein.
4. Queiser, Brandlegung an der Kalkhütte am 19. Januar 1894:
12 Stimmen nein.
5. Querser, Brandlegung: im Materialroagazin der Werkamaurerei
am 4. Februar 1694: 12 Stimmen nein.
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Die Donawiber Biflnde in den Jaluren 1893 und 1894. 21
6. Querser, Brandlegong in der Kalkhütte am 7. Februar 1894:
12 Stimmen nein.
7. Querser. Rrandlcf^un^r an Fetzen und Sä^eiji)ähnen in einer Dacb-
lucke des Personalhauses Nr. am 8. Februar 1894: 12 Stimmen nein.
8. Querser, Brandle^amji^ in einer IlolzUige im Endresseben I'er-
sonalbause am 8. Februar 1891: 12 Stimmen nein.
9. Querser, Brandle^^ung am Henstadl des Alois
Trannwieser am 10. Februar 1894: 12 Stimmen ja.
10. Qnereeri Brandlegung an der Verladerzengh litte
n&ohst der Directionskanzlei am 18. Februar 1894:
12 Stimmen ja.
11. Hat Qaeraer mehr als anmal Brand gelegt? 1 2 Stimmen ja.
* 12. Qnerser, Drohung mitBrandlegong in dem am ll.Febmar 1894
gefondenen Zettel: 12 Stimmen ja.
13. Qneroer, Drohung mit Brandlegung in dem am 15. Fe-
bruar 1894 an Vtmz Gudeia gerichteten Briefe: 12 Stimmen ja.
14. Querser, Drolmn^ mit Mord und Brandlegung in dem am
15. Februar 1894 an den Werksdirector Hauttmann gerichteten Briefe:
12 Stimmen ja, jedoch mit Auschluss der Worte ^mit Mord"".
1 5. Querser, Diebstahl Ton 20 fl. an Josef Wagner im Herbste 1893:
12 Stimmen nein.
1 6. Querser, Diebstahl einer Brieftasche mit 8 f l an Gustav Elgger
Ende September 1893: 12 Stimmen nein.
17. Querser, Diebstahl von 24 fl. an Wenzel Leksa am 18. Oc-
tober 1893: 12 Stimmen nein.
18. Querser, Diebstablsversuch an Heinrich Neubauer am 2. Fe-
bruar 1S94 durch Aufbrechen eines Kastens: 12 Stimmen nein.
19. Querser, Betrug durch Herausschwindeln von Bier im Wertbe
▼on 84 kr. von Maria Ratteg am 20. Februar 1894: 12 Stimmen ja.
20. Quener, unbefugtes Tragen eines Berolrers: 1 2 Stimmen j a.
2t. EglaneTf Brandlegung an der zum Hanse Nr. 34 gdiOrigen
Holzhfitte am 12. April 1894: 12 Stimmen nein.
22. üglauer, Drohung mit Brandlegung in dem 14. April 1894
an Feuerwehrhauptmann Gudera geriehteten Briefe: 12 Stimmen nein.
23. Eglauer, Diebstahl yon 3 Finsehi: 10 Stimmen ja, 2 Stim>
neu nein.
24. Eglauer, Diebstahl von Geld zum Nachtheile des Josef
Beiflohl u. z. Anfangs November 1893 1 fl., am 12. oder 13. April 1894
20 kr., am 20. Ai)ril 1894 ein Geldtäsohehen im Werthe yon 20 kr.
mit 2 fl. 30 kr. Baarschaft: 11 Stimmen ja, 1 Stimme nein.
25. EglaueTi Diebstahl von Geld zum Nachtheile des Ferdinand
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22
L Amkihl
Wohliiiiither ii. z. um Weihnachten lh93 ein Geldtäschchen im Werthe
von 20 kr. mit 6 fl., am 31. März 1894 5 fl. und am 17. April 1894
2 fl.: 12 Sti 111 iiien ja.
2(). Ej^luuer, Diebstahl eines Stockes aus dem Auslagekaäten des
Kaufmanns Kipfel am 10. April 1894: 12 Stimmen ja.
Auf Grund dieses Wahrspruehes wuide Wenzel Querser Ton
da Anklage wegen sammilicher Diebfltalilsfiusten und wegen der
Biünde am 21. August, 16. Oetober, 18. Korember 1893, 19. Januar,
4., 7., 8. und 9. Februar 1894 frdi^rochen, dagegen Bchuldig e^
kannt des Verbrechens der Brandlegung am Heuatadl des Aloia
Ttaunwieeer und an der YerladeneugliGtte am 10. und 18. Fe-
bruar 1894, des Verbreehens der gefSbrliehen Drohuxig, der Ueber-
tretung des Betruges und des unbefugten Waffentragens ; Gottfried
Eglauer wurde freigesproehen von der Anklage wegen Brandlegung
und 'gefährlicher Drohung, sowie wegen Diebstahls von 7 fl. an
Wohlmuther, dagegen schuldig erkannt der Uebertretung des Dieb-
Stahls von 3 Pinseln, dann eines Stockes, femer von 3 f l. 70 kr. an
Keiscbl und von 6 fl. 20 kr. an Wohlmuther. Hierfür wurde ver-
urtheilt Querser unter Anwendung des ausserordentlichen Milde-
rungsrechtes zu 15 Jahren sclnvcren Kerkers, crg:änzt durch ein-
same Absperrung' in dunkler Zelle mit Fasten ;un 15. Februar und
15. Aug:ust jedes Jahres, Eglauer zu 14 Tagen ätrengen Arrestes,
verschärft durch einen Fasttag wöchentlich.
Zwei Briefe, im ersten Straf jähre Querser's aus der Strafanstalt
an einen Donawitzer Freund gerichtet, mögen hier, in lesbare Schreibart
übertragen, Kaum finden. Sie mögen als Beispiel dienen, wie man
in Strafanstalten denkt und schreibt
Der erste ist tou Querser selbst geschrieben und lautet: „Beater
Freund, ich grOsse Dich yidmals und ersuche Dich schreibe mir, ob
Gottfried Eiglauer schon eingerfickt ist Wissen thust es eh, wie*s mir
geht Das »nage ist, dass lYeiheit nicht ist, denn ich habe schon
alles yergessen, ich denke nicht einmal hinaus! Hier wird man ge-
scheit^ die Dummheit yergeht, denn die Jahre werden bald abgebogen
sein, nachher wird man vernünftig. Büch kriegst nicht mehr dran.
Einestbeils freut es mich, dass ich eingesperrt bin. Wenn man jung
ist, ist man dumm. Mir vergehen hier ein paar Monate früher, als
draussen 14 Tage, weil ich Arbeit genug habe. Ich bin bei der Bild-
hauerarbeit So vergeht die Zeit; denn 8 Stunden Arbeit, 2 Stunden
Schule, und der Tag ist vorbei. So vergeht eine Minute um die
andere und die Zeit wird kommen, Oesund bin ich wie Eisen. Ich
grüsse meine Collegen. Servasl Ai^el Lebe wohl!*'
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Die Donawitser BrSiide in den Jahren 1898 nnd 1804.
28
Ein späterer Brief stuinnif von der Ilaiul eines ircwisson Alois
F^clnvt'i^'lianlt. eines 32jäliri;_'-en Donawitzer Werksarlx-iters, der we^^en
Xollizucht, verübt an U kleinen Mädclien, vom vScIiwur^renehte lA'oben
am 21. Au^rust 1S04 zu } jäliriirem schweren Kerker ij^'leicli <^Hierser
Vom Verfa.sser anpreklai^ti verurtlitült worden war nnd seine Strafe
ia derselben Strafanstalt (Graz) verbiisate, wie Wenzel l^uerser. Dieser
Brief trägt das Datum 30. Deoember 1 894, ist an die gleiche Adresse
gerichtet wie Qneiser's früher wiedergegebener Brief und lautet:
„Bester Freund! Ich grfisse Dich vielmals nnd wünsche Dir glück-
liches Neujahr, indem wir uns schon lange von DonawiCz ans kennen,
obwohl ich nicht so oft mit Dir verkehrt habe wie Dein Freund
Wenzel Querser, weil wir nicht in einem Zimmer bei einander waren
und auch nicht soviel Gelegenheit gehabt haben miteinander zu ver-
kehren, da Du weisBt, in was fflr eine Gelegenheit ich auch gefallen
bin, indem ich es mir nicht gedacht hitte^ derweil ich noch als Zeug-
wart und Maurergebttlfe beim Czerwenka war, so miiss ich Dir fol-
gendes von Deinem alten Collegen und Freunde Wenzel Querser
mittbeilen, weil ich früher nicht dazu gekommen bin wie jetzt liier,
indem wir alle Tage beisammen waren. Das Geschäft, was er gehabt
hat, weisst so, indem Du ihm letzthin einen Hrief f^'eschrieben hast,
den er mir hat lesen lassen. Er hat Dir nicht zurückfreschrieben,
denn er ist den d»tten Tag darauf nacli St. Kujjrecht oder wie es
heisst, zur Kirchenrejiaratur i^^ekommen. Vorher waren wir noch Itoi-
sammen und hat er mir noch was geschenkt, damit ich Dir zurück-
schreiben möchte, dass er Deinen lirief erhalten hat und viele Grüsse
an Dich, an die Juliane Papouschek, halt an alle Bekannten. Weil
sich dies zugetragen hat, so bin ich hier erst dazu gekommen, zu
schreiben, indem ich nicht gern schreibe, aber weil er mich dafür be-
lohnt hat und das zugetroffen ist, muss ich Difs sehreiben, damit
ich meine Sache ausgerichtet habe. Er ist auch zur Reparatur mi^
gekommen und wie er ein verwegener Mensch ist, bat er eine Dumm-
heit gemacht Der Betriebsfahrer hat ihm darauf eine Ohrfeige ge-
geben, denn er hat es schon so im Brauch gehabt Der Wenzel aber
hat dn Messer erwischt und hat ihm*s hineingestochen und hat aus
Zorn ein Viertel Spiritus ausgetrunken, was er selbstverständlich bei
der Hand gehabt hat, weil sie es beim Goldveizieren gebraucht haben.
Denselben Tag ist er in*s Spital gebracht worden und gestorben. Es
hat geheissen, er ist in's Irrenhaus gekommen. Das war eine Lüge.
Der Spiritus hat ihn verbrannt, er ist seit 14. October 1894 todt, der
Betriebsführer, den er gestochen hat, ist nach 3 Tagen gestorben.
Vorher hat der Wenzel noch von seinen Gollegen aus Donawitz Geld
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24 L Ambchi., Die Donawitcer Brinde in den Jahren 1893 und 1894.
bekommen, von jedem 3 Gulden. Er hat mir die Briefe lesen lassen,
dass sie ihn schön p^rüssen und niemals verlassen werden und das.s
einer noch bei der Feuerwehr sei. Wer sie waren, hat er mir nicht
gesagt und unterschrieben waren sie aucii nicht. Ich hab' ihm ge-
sagt, Du bist eh glücklieb, dass Dir die Collegen auch Geld schicken!
Die Ton der Post die Kellnerin hat ihn auch in Giaz anl^noht
Daas er mit dem oidentlichen MSdchen im VerbiltniflB war, hatte ich
nicht geglaubt, wenn ich es selber nicht gesehen hitte. Der Werk-
meister hat ihm oft gute Worte gegeben. Er hat es ihm angekaanl^
daas ibm um sein Leben nichts ist Er ist und war ein gleichgültiger
Mensch. Sdne Antwort war: „Hab* ich früher nicht gelebt, braach*
ich jetzt auch nicht zu leben; wenn ich mir nicht selber was anthne,
so mnss ich noch lange leben 1*^ — Jetzt red' mit so einem Menschen!!
— I^sen wir ihn rub'n! Wie er sich es gewünscht hat, ist's ge-
schehen. Vielleicht hast es schon gehört, er ist seit 14. October todt
Adje, lebe wohl! Das siebst, dass ich kein Schönschreiber bin! In
die Schule war' ich in Donawitz lanjre irenug geganpren. Schreiben
brauchst mir nicht Hab' eh' erst einen Brief von meiner Mutter ge-
kriegt. Was Neues ist, weiss ich so. Ich frriissc Dicli vielmals und
alle ])ekannten, Zimmcr^^enossen Wagner, halt alle Bekannten. Viel-
leicht sehen wir uns noch einmal. Adje, lebe wohl!"
Die Mittheilungen über Querser's Tod und «die ?>nior(iuug des
Betriebsfiihrers waren vom Anfang bis zum Ende erlogen. Augen-
scheinlich hat Querser selbst diesen Brief inspirirt, sei es, dass er
sich keine Briefe mehr erwünschte; sei es, dass er sich interessant
machen; sei es, dass er seine früheren Freunde zum Besten haben
wollte. Dem Leser der Urschriften fiUlt die gleiche Schreibweise
gewisser Wörter anf. In beiden Briefen wird der Baebstebe j dnreh
1 ersetzt: „letzt und adle*' statt ,Jetzt und a^je*'. Schwdgbardt war
eüi OberBtdrer, Qneiser ein Böhme, der nach dem Gehör den Zungen-
fehler „1** statt ^'^ graphisch zum Ausdruck brachte.
Hehr als 8 Jahre nach seuier Verurtheilnng gestand er mir, die
BrSnde, wenn auch nicht alle, gelegt zu haben. Auf die Frage
warum er dies gethan, erwiderte er: »Weil mir das Ausrücken der
Feuerw^r Fkeude machte !**
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IL
Ein Beitrag zur Würdigung der Aussage eines Kindes,
das in einem Strafverfahren wegen eines Verbrechens
nach § 176 Abs. 3 des StralgeBetzbachs als Zeage yer-
nommen warde.
Der 1859 geborene, unverheirathete Franz Bergmann arbeitete
seit dem Jahre 189G aU Schreiner in einer Maschinenfabrik der Stadt
N. Seine Arbeitsleistungen entsprachen; er theilte aber die üble Ge-
wohnheit vieler Arbeiter, nach der Niederloijung der Arbeit am Sams-
tage das Zechen zu bci^innen, es am Sonnta^re fortzusetzen und den
Montag, manclimal noch drii Dienstag, in Trunk und Müssiggang zu-
zubringen. Seitdem Bergmann in der Maschinenfabrik beschäftigt
war, wohnte er als Miether im Hause Xr. tJ der nur aus einigen Häu-
sern bestehenden Hofstrasse in N. Dieses Haus geliört den Kutschers-
eheleuten Bruckner. Betritt man es, so gelangt man uiunittelhar vom
Hausthore weg zur linken Seite an die Stiege, die in die zwei oberen
Stockwerke des schmalgebauten Hauses führt, und man hat zur rech-
ten Hand die Thüre, die sich in das einzige Zimmer des Erdgeschoases
df&iet Längs der dieser Tbfire gegenftberfiegenden Wand dieees
Zänunen stehen em Sopha nnd ein Bett Das Sopba befindet sich
in der KShe des emen der swei auf die Strasse hinaosgebenden
Fenster; das Bett ist gegen den Uintergnind des Zimmers gerüeki
An der Wand Aber dem Sopba hingen nm den Spiegel hemm
mehrere Bilder. Das Zimmer des Erdgesobosses war an Bemann
Yenmetbet Im ersten Stocke des Hanses wohnen die Eheleate
Bruckner, bei denen der 1892 geborene Knabe einer Schwester der
Ehefrau Bruckner lebt. An das Hans Nr. 6 der Eheleute Bruckner
stitest das Haus Nr. 8 der Uofstrasse. Auch dieses Haus hat eine
schmale Vorderseite. Betritt man es, so gelangt man links vom Haus-
thore zur Thüre des einzigen Zimmers des Erdgeschosses und man
bat rechts die Stiege, die in die oberen Stockwerke leitet Das Zimmer
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Ein Beitrag zur WQi-diguog der Aussage eines Kindes.
des Erdgeschosses des Hauses Nr. 8 ist an die Holzhauerswittwe
Sehleeht yermiethet, bei der die Geliebte ihres Sohnes Johann Schlecht,
eines Holzhaners, wohnt, der in einem anderen Theile der Stadt znr
Mietbe sitzt In der besseren Jahreszeit stehen anf den Anssenbrettem
der zwei Fenster des Zimmers im Erdgeschosse des Haoses Nr. 6
Holzkfibel, in denen die Ehefran Bruckner Schlingbohnen zieht, die
sich an Schnfiren bis zn den Fenstern des ersten Stockwerks hinauf-
ranken. Diese Pflanzenzier fehlt den anderen Häusern der Hofstrasse;
sie fehlt auch den ITäusem der Schmiedstrasse, in welche die Hof-
strasse einmündet. Nahe der Stelle der EinmUndun^ steht das Hans
Nr. 10 der Scliinioilstrssse. Im Erdgeschosse dieses Hauses betreiben
die Eheleute Eisi nheiss eine Kramerei, im ersten Stocke di s Hauses
wohnt seit dem ik'jrinne des Jahres 1S9<^ die Arl)eiterin Pauline Brod
mit ihrem am 15. October 1S91 geborenen Kinde Wilhclmine. In der
Nähe der Kramerei der Eheleute Eisenhriss befindet sich die Bier-
wirthseiiaft zur ^(ioldenen Kugel". Bt'ii:inann verkehrte viel in den
Räumen dieser Wirthschaft; er liebte es aber auch auf dem Wege
zur Fabrik in einer der ihr nahen Branntweinschänke vorzusprechen
und einige (ilas ordinären Schnapses zu leeren.
Die Tochter Willielniine der l\auline Brod besuchte im Sommer
189S, wenn auch nicht regelmässig, einen Kindergarten; die Kinder-
gärtnerin beobachtete, dass sie geistig geweckt ist und keinen auf-
fälligen Hang znr Lüge zeigte. War Wilheimine Brod nicht im Kinder-
garten, so stand sie, da ihre Mutter der Arbdt nacligebeB musste,
unter Aufsicht ihr« Mutterachwester Anna Brod. Diese konnte wäh-
rend einiger Tage in der Mitte des Juli |898 die Aulsicht Aber ihre
Nichte nicht führen; es geschah daher, dass Wilhelmine Brod mit
den Kindern |der ^ftmerseheleute Eisenbeiss sich ziemlich unbeauf-
sichtigt auf der Strasse umhertreiben konnte.
Bergmann [arbeitete gegen seine Gewohnheit am Montage, dem
18. Juli 1898. Als er am Tage des folgenden Tages, den 19. Juli 1898,
auf dem Wege zur Fabrik war und in einer Branntweinschänke
mehrere Glas Schna])s v< rtilgte, kam ihm der Gedanke, den Tag
ftber zn f^em. Er kehrte in seine Wohnung zurück und traf in
seinem Zimmer die mit dem Ordnen des Bettes Ix sehäftigte Ver-
mietherin, die Ehefrau Bruckner; er verbreitete Fuselduft und machte
den Eindruck eines etwas angetrunkenen Mensehen. Anf die Frage
der Brueknerj warum er nicht arbeite, tTwidt^rtc Bergmann, es sei
sein Bruder gekommen, er wolle sieh umkleiden und dann bei dem
Obermeister der Fabrik das Fernbleiben von der Arbeit entschuldigen.
Mit besserer Kleidung versehen, erschien Bergmann in dem Wohn-
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Ma Bdtnif znrWfir^gang der Anseage einM Kindea.
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zininier der Bruckner und Hess sich von ihr eine Tasse Kaffee ein-
schenken. Als er diesen einnahm, gerieth er mit einem anderen
Miether der Bruckner in Streit; diese Bruckner kündigte ihm daher
zum 1, August IS'JS die Miethe. Bergmann machte sich dann auf
den Weg zuni Obermeister der Fabrik, brachte die erlogene Ent-
Bobnldigang seines FernbleibeiiB Ton der Arbeit vor und verfügte
sioh dann in die Wirthsoliaft znr «Goldenen Kugel'^ ; er tnl daseUwt
zu guter VormittagsBtnnde ein. Dan er in der Wirthschaft 3—4 Glas
Bier und eine Mischung aus Wein und kflnstlichem kohlensaurem
Wasser .trank und dass er ziemlioh betrunken die Wirthsohaft ver-
liesSf steht fest; es ist aber niebt festsustellen, zu wdcher Vormittags*
stunde er in sein Zimmer znrUckkehrte. — Beigmann behauptet, etwa
um 1 1 i/i Uhr Vormittags nach Hause gekommen zu sein. Als die
Ehefrau Bruckner etwa um t Uhr Nachmittags von der Strasse aus
ihre Schlingbohnen begoss, sah sie durch eines der Fenster in Berg*
mann's Zimmer und nahm wahr, dass er auf dem Sopha lap:; er
schien zu schlafen. Um die fünfte Nachmittagstunde erscholl Feuer-
lärm; es 'brannte in der nahen Neustrasse. Die Ehefrau Bruckner
eilte aus der Wohnunjr vor das Haus; Bergmann trat an ein Fenster
und fragte die Bruckner, wo es brenne; er verliess bald darauf sein
Zimmer und brachte den Kest des Taiz:es in der Wirthschaft zur
„Goldenen Ku^^el" zu. Als am Abende desselben Tages Pauline Brod
von der Arbeit heimkam, erzälilte ihr die 11 jährige Krämerstochter
Eisenbeiss, dass die kleine Willielmine Xncli mittags einmal hinter der
Uausthüre versteckt stand und weinte, l'auline Brod maass der Er-
zählung keine Bedeutung bei; es fiel ihr aber im I^ufe des Al)ends
auf, dass ihr sonst so heiteres Kind still und in sich gekehrt und
dessen SammtiOekehen zerknittert und beschmutzt war.
Am 22. Juli 1808 zog Panline Brod ihrer Tochter ein Msohes
Hemd an; sie untersuchte» weil am abgelegten Hemde gelbe Flecken
waren, die Geschlechstheile des EindeSi und entdeckte, dass «sie ge-
rdtbe^ aufgekratzt und au^eschttrft sind.** Das Kind erwiderte auf
die liage, „ob ihm Jemand etwas gethan habe** mit dnem ^^ndn**
und begann zu weinen. Da die ron Panline Brod angewendeten
sogenannten Hausmittel den Znstand der GeschlechtstheÜe des Kindes
nicht besserten, wurde dieses Yon der Tante Anna Brod am 27. Juli
zu einem Arzte geführt Dieser überzeugte sich davon, dass Wü-
helmine Brod „an schwerer Gonorrhoe der Geschlechtstheile'^ er-
krankt sei nnd ordnete an, dass sie thunlichst bald in das Kinder-
hospital gebracht werde. Auf Befragen erzählte VVilhelmine Brod
der Tante, „ein Mann aus der Hofstrasse habe ron seinem Zimmer
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Ein Beitrag zur Würdi£;uiig der AuB«age eines Kiudes.
ans sie hmeingerofen, damit sie ihm alwas liole, habe dann die Thttie
sogeaperrt, sie anfs Bett gelegt, ihr die Rjlcke hinan^ieechoben, ihr
einen Steeken in den Baneh gesteekt, ihr sehtieeslich einen Pfennig
gegeben nnd gesagt, er haue sie recht, wenn sie etwas sage**.
Dieselbe EnShlung maehte Wilhelmine Brod ihrer Mntter nnd
deren Bruder, worauf diese drei Gesobwister sie aufforderten sie Tor
das Haus zu fmiren, in dem sich das EnShlte angetragen habe. Wil-
heliuine Brod führte ihre Angehörigen vor das Haus „mit den Rlumen
am Fenster" und bezeichnete das Zimmer hinter den Blumen als den
Ort des (leschehnisses; sie zeigte bei diesem Vorgange, obwohl sie
unter dem Schutze der Ihrigen war, eine grosse Angst und war nicht
zu bewegen, das Haus, also das Haus Nr. G der Hofstrasse, zu be-
treten. Noch am Abend desselben Ta^res — 27. Juli — forderte
der Spähmann Kaiser die Wilhelmine Brod auf, ^ihn in die Strasse
und an das Haus zu führen, wo es war**; auch ihn führte das Kind
an das Haus Xr. fi der Hofstrasse und sa^e: ,,da unten im Zimmer
hat der Mann mit mir die Sache gemacht". Bergmann, der Bewohner
dieses Zimmers war nicht zu Hause; er befand sich in der Wirths-
Stube zur „Goldenen Kugel*'. Der Spähmann führte die Brod vor
die Fenster der hell erleuchteten Stube. In dieser sassen mehrere
Qäste; unter ihnen war einer, der eine Zeitung las. Wilhelmine
Brod beseiehnete unTerzttglieh den Zeitnngsleser als
den Hann, der es gethan habe; dieser Zeitnngsleser war
Franc Bergmann. Der Polizeibeamte rief diesen zu sich auf die
Strasse nnd fragte das hinter ihm sich Sngstlich Tersteckende Kind,
ob es den Hann kenne; er erhielt die Antwort: der war es**.
Qegen Bergmann, der in Haft genommen worden ist, wurde die
Untersuchung wegen eines Verbrechens nach § 176 Abs. 3 des Straf-
gesetzbuchs geführt Er leugnete ;die Begehung der That und be-
hauptete, er könne sich an die Ton Wilhelmine Brod behaupteten
Vorgänge nicht erinnern, weil er am 19. Juli 1S98 betranken ge*
Wesen sei Das Landgericht in N. Yerurtheilte den Bergmann, der
bei seinem leugnen verharrte, zu einer sehr schweren Zuchthaus*
strafe. Er verbüsste einen grossen Tlicil der Strafe; der Best der
Strafe wurde vom Staatsoberhaupt aus (inade erlassen.
Es mrK'hte nicht ohne Interesse sein, aus den Ergebnissen des
Strafverfahrens gegen Bergmann einige Umstände liervorzuheben und
an diese Umstände einige Bemerkungen anzuknüpfen:
I. 1. Wilhelmine Brod wurde in den letzten Tagt n des Juli 189S
?n das Kindersi)ital aufgenommen. Die ärztliche Untersuchung stellte
fest, dass die Lymphdrüsen in den Leisteugegeudeu des Kindes, die
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Ein Bdtraf nur Wflrdligitng der Amaaise einee Kindes.
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Äusseren Schamlippen, die Klitoris und die inneren Scliamlefzen stark
gescliwellt und die bezeichneten Geschlechtstheilc dicht mit einem
weisslich gelben Eiter bedeckt waren; die niikroskoi)ische Unter-
snchung ergab das Vorhandensein von Gonokokken. Nach der An-
schauimg der Aerzte stellte die Untersuchung als unzweifelhaft fest,
dasB die vordem ganz gesunde Wilhelmine Brod an Gonorrhoe in
Folge von Ansteckung litt und d«n „die hoehgradige AnsohweUiing
ihrer GescUechtBäieile auf gewaltsame Manipulationen mit dem Kinde
durch Beiaeblafsaote seitens eines erwachsenen Mannes hinw^se*'.
Wilhehnine Brod wurde am 15. Angnst 1898 als yon der Gonorrhoe
geheilt ans der ärztlichen Behandlung enthissen.
2. Der Landgeriohtsaizt nntersuchte am 3. Angnst 1898 den
Bergmann in Beziehung auf Gonorrhoe; er konnte hei Berg- .
mann Erscheinungen von Gonorrhoe (Tripper) nicht
nachweisen.
3. Wilhelmine Wrod wurde am 21. September 1898 abermals in
das Kinderspital aufgenommen, weil bei ihr „die secundären Erschei-
nungen der constitutionellen Syphilis" auftraten. Diese Erscheinungen
verschwanden nach einer vier Wochen dauernden ärztlichen
handlunir.
4. Der i^ndgerichtsarzt untersuchte am 12. November l*^08 den
Bergmann auf Syphilis; er konnte keine Erscheinungen
früherer oder bestehender Syphilis finden.
5. In der Ilauptverhandlung gegen Bergmann gaben der Ober-
arzt des Kinderspitals und der I^milgerichtsarzt mit einer ausführ-
lichen, in die Gründe des ürtheils des Landgerichts aufgenommenen,
Begründung das Gutachten ab:
a) die festgestellte Gonorrhoe und die festgestellte Syphilis der
Wilhelmine Brod kann auf einen Ansteckungsact, die Ansteckung
kann auf «neu Eingriff in das Geschlechtsleben der Brod mittelst
der kranken Geschlechtsorgane eines Mannes zurttckgefOhrt weiden;
b) die Zeit des Auftretens der Gonorrhoe und die Zeit des Auf-
tretens der Syphilis entopricht den ansohanungsgemissen Incubations-
zeiten dieser Krankheiten; die Ansteckung kann also Mitte Juli 1898
erfolgt sein;
c) obwohl Bergmann am 3. August 1S9S Erscheinungen von
Tripper nicht zeigte, kann die eiterige Entzündung der Geschlechts-
theile des Kindes von einem Beischlafs versuche des Bergmann her-
rühren, da es möglich sei, Bergmann habe zur Zeit der Begehung
der That an einem „ Nachtripper gelitten;
d) obwohl Bergmann am 12. November lb9b Erscheinungen von
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Em Beitrag zur Würdigaag der Aussage eines Kindes.
Syphilis nicht zeigte, ist immerhin die HOgliohkeit gegeben, dass
diese Krankheit bei ihm zur Zeit der Begehung der That Tor-
banden war.
II. Die Behauptung der WÜhelmine Brod, dass auf sie ein gewalt-
samer unzfiehtiger Angriff erfolgt sei, ist naeh dem Gntaehten der
Aerzte für zweifellos richtig zu halten. Das Landgericht hielt aber
auch thatsSohlich fQr erwiesen, es habe Bergmann diesen Angriff
begangen; es schenkte der den Bergmann belastenden Behauptung
der Wilhelmine Brod Glauben, obwohl es nicht verkannte, dass die
Erzählung der Brod bezüglich der näheren Umstände des auf sie
gemachten Angriffs mit Vorsicht aufzunehmen seL Dass diese Vor-
sicht geboten war, dürfte aus den folgenden Erwägungen zu ent-
nehmen sein.
1. Wilhelinine Brod wurde am 27. Juli is'is von einem Arzt
untersuclit. Als dieser jxesclileclitliclie Erkrankung festgestellt hatte,
erzählte die Brod der Tante und alsbald darauf der Mutter von dem
auf sie 'i^enuichten Angriff. Wird angenommen, da.ss dieser am
\[). Juli erfolgte, so verstrich zwischen dem Kreigniss und den ersten
Erzählungen des Kindes hierüber eine Woclie. innerhalb dieses Zeit-
raums kann Wilhelmine Brod die Erinnerung an das Ereigniss frisch
und rein bewahrt haben; es ist aber auch für möglich zu halten,
dass aioh die Erinnerung Terwudite und dass das jugendliche Ge-
bim in die Erinnerung an dieses Ereigniss die Erinnerungen an
andere Erlebmase yerwob, dass also schon die ersten Erzählungen
und yielleicht mehr noch die späteren ein Gemenge von Wahrheit
und Diehtnng enthalten.
Wilhelmine Brod konnte bei den Enählungen gegen&ber der
Tante und Mutter weder den Tag bezeichnen, an dem sich das Er-
eigniss zutrug, noch die Tageszeit Bei der Mutter kehrte auf
die Zuzählung des Kindes hier die Erinnerung an den Tag zurück,
an dem es in der Xeustrasse brannte; es steht fest, dnss dies am
19. Juli war. Mit dieser Erinnerung tauchte bei ihr die Erinnerung
sowohl der Tliatsache auf, dass ihr an demselben Tage die 11 jährige
Krämerstochter Eisenheiss berichtete, die Wilhelmine habe Nachmittags
geweint, als die Flrinnerung daran, dass ihr am Abend desselben
Tages das stille Wesen ihres Kindes und der Zustand von dessen
Röckchen auffiel. Es ist mi'>glicli, dass diese oben bezeiclmi tt n Um-
stände mit dem auf Wilhelmine Bmd gemachten Angriffe zusammen-
hängen; ein sicherer Beweis dafür, dass der Angriff am 19. Juli
geschah, wird durch sie wohl nicht geliefert
3. Wilhelmine Brod wurde vom Untersuchungsrichter zum ersten
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Ein Beitrag rar WUrdigung der Anaaage eine« Kinde». 31
Mal am 8. Anprnst 1898 vernommen; sie sa^^e nach dem über die
VeniehiKunj^ errichteten Protokoll: ^am Tajje, wo es in der Neu-
Strasse brannte, sind die Ei.senbeiss-Miidciien früh bald nach
dem Kaffee trinken mit dem Kinderwagen in die Hofstrasse;
da bin ich auch mit*'. So sehr beBtimmt diese Aussage den
Tag bezeiclmet, an dem sieh das Ereigiiiss zugetragen haben soll,
worüber die Brod im weiteren Verlaofe der Vernehmung berichtet,
so sehr mOchte bezweifelt weiden, dass die Brod diese bestimmte
Bezeichnung ans der eigenen Erinnerung schöpfte und in Folge des
Kachdenkens und Besinnens gewann; es liegt die Möglichkeit nahe
genug, dass das Kind aus den Gesprächen mit der Mutter zu der
Annahme gelangte, es sei der 19. Juli der Tag, an dem ihr Uebles
widerfuhr.
4. Wenn nnn hiemach auch das Datum des 19. Juli noch nicht
fOr genfigend sichergestellt zu halten sein dürfte, so wird man vor-
erst wenigstens das für möglich halten, dass die Brod am Tage
des Ereignisses „früh bald nach dem Kaffeetrinken" mit den
Eisenbei^?s-^^ä(lehe^ in die Hofstrasse ging. Nach dem Protokolle
vom b. August leitet die Brod die Erzählung über das Ereigniss
mit der folgenden Vor^'esehichte ein: „In der Ilofstrasse ist ein Haus,
wo unten am Fenster lilumen sind, . . die sind am Fenster so hinauf-
gebunden. Aus dem Zimmer hat mir eine Frau gerufen, ich sollte
ihr einen Zucker holen, ich bin in's Zimmer hinein,, da war eine
dicke Frau und ein Mann; die Frau hat dem Mann einen
Kaffee gebracht. Die Frau sagte, ich solle ihr '/2 Pfund Zucker
holen und gab mir das Geld hierzu; ich weiss nicht mehr, wo ich
den Zucker holte. Ich ging in das Haus wieder zurttck, die Stiege
hinauf und gab ihr den Zucker; ich bin dann die Stiege wieder
hinunter und auf die Qasse hinaus ... Ich blieb dann mit den Eisen*
beias-Eindem noch auf der Strasse ... Ich war schon früher einmal
in dem Haus, da habe ich ffir die Frau auch etwas holen mttssen;
sie sagte nur, dass sie einen Buben hat''. Nach dieser Vorgeschichte
geht die Brod zum Bericht Uber das Ereigniss mit den Worten Aber:
«Ich blieb noch ... auf der Strasse ... da hat mich dann der
Mann noch einmal in's Zimmer hineingeruf cn^. So sehr
es nun nach dem Inhalte des Protokolls vom 8. August 1898 für
wahrscheinlich gelten könnte, dass die Hrod in der Hofstrasse zu
einer guten Vormittagsstunde war (bald, nachdem sie Kaffee getrunken
hatte, Zeit, da andere Leute erst zum Frühstücke schritten), so ent-
stehen doch nicht unerhebliche Hedenken, ob sich die sogenannte
Vorgeschichte am Tage des Ereignisses zutrug.
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£ia Beitrag zur Würdigung der Aussage eines Kiudes.
WUhehnioe Brod verlegt den Sebanplatz der Vorgesehiehte in
das Hans ^wo unten am Feneter Blomen sind" nnd mm Theil in
daa Zimmer des ErdgeaehoBBefl^ aam Theil in den ersten Stock dieaes
Hansea, also in das Haas Kr. 6 der Hofettasse. Von den Bewohnern
dieses Hanses kann nur die Ehefrau Brackner als die in Be-
tracht kommen, auf die sich die Erzählung des Kindes bezieht. Non
ist thatsächlich richtig, dass die Bruckner am 19. Juli dem Bergmann
nach der.Heimkunft von der Branntweinschänke einen Kaffee reichte^
aber das war im ersten Stockwerke des Hauses und sie brachte
ihm den Kaffee nicht in das von ihm bewohnte eben-
erdii:«' Zimmer. Die Bruckner stellt aber mit aller Bestimmtheit
in Abrede, (iasö sie sich jt' riniual von der Wilhelmine Brod
habe Zucker holen lassen nnd dass sie dieses Kind je
einmal vor der Einleitun;^ des Strafverfahrens ü:e2:en
Berg: mann gesehen habe. Allerdings trifft die weitere Behaup-
tunj^ der Brod ..die Frau, für die sie den Zucker und früher auch
sebon einmal etwas holte, habe ihr gesagt, dass „sie einen Buben
habe", auf die Verhältnisse der Bruckner insofern zu, als bei ihr der
1892 geborene Sohn einer Schwester lebt, aber da die Bruckner den
Widerspmeh gegen die Behauptungen der Brod dnreb ihren Eid he-
kiiftigte und jeder Grund zum Hisstranen in diesen Eid fehlt, so
m({ohte die von der Brod erzihlte Voigeschiehte nnd der yon ihr he*
hauptete Zusammenhang dieser Vorgesehiehte mit dem später auf
sie gemachten Angriffe nicht unerheblichen Zwdfeln begegnen. Diese
entgingen dem Landgerichte nicht; es hielt den Widerspmeh fOr dnen
„Neben punkt". Diese Anschauung ist insofern richtig, als das lAud*
geriebt die „Hauptpunkte*^ der Aussage der Brod für glanbwfirdig
erachtete; es möchte aber doch eines gegen diese Anschauung ein-
zuwenden sein. Die Wilhelmine Brod wurde am to. August 1898 bei
der zweiten Vernehmung vom Untersuchungsrichter gefragt: „weisst
Du denn wirklich, ob die Frau im Hause Dich Zucker holen liess?**;
sie erwiderte: „die dicke Frau — .,damit meinte sie die Bruckner**
— hat niir's gesagt oder es könnte wo anders g e w <■ s e n sei n."
Nach dieser Antwort gab d:us Mädchen Brod die Möglichkeit zu, dass
sich die ganze Vorgescbicbte zu einer anderen Zeit und an einem
anderen Orte zutrug; nacb dieser Antwort läge vielleicht die Annahme
nicht fern, dass das der Zügel des Verstandes, der Erfahrung und
der klaren Begnfli- von Zeit und Raum noch entbehrende jugend-
liche Hirn der Brod noch nicht im Stande war, die zeitliche
Reihenfolge der von ihr erlebten Ereignissei die niheren Umslinde
der Ereignisse nnd das, was die emzelnen Eriebnisae Ton einander
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Ein Beitrag zar Wfirdiining der Anssage eines Kindes.
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unterscheidet, dauernd getreu und unverwischt festzuhalten. Fehlte
der Brod diese Fähigkeit, so fehlte sie ihr für „Neben-" und für
„Hauptpunkte**; jedenfalls lä^;e es nicht ausserhalb des Bereichs der
Wahrscheinlichkeit, dass die Brod hei der aus dem Gedächtnisse
fliessenden Wiederiralie der so^renannten Hauptpunkte vielleicht doch
etwas von dem wirklichen Bilde abwich. Löst man im Hinblick auf
die anjrcdeuteten Bedenken die o;anze Vor«,'cschicht(' aus der Erziililun^tr
der Willielniiue Brod aus, so scheint hü<'ljstL'ns der Umstand verbin;;t
zu bleiben, dass sie am Tage des Ereignisses „zu guter Vormittagsstundc'*
in der Hofstrasse sich aufhielt und mit anderen Kindern spielte.
Das I^ndgericht nimmt an, dass Bergmann die Tliat am Vor-
mittag des 19, Juli ISOS beging. An diesem Vormittag war Bergmann
in seinem Zimmer, als er sich umkleidete, um sich bei dem Obermeister
der Fabrik für den Tag absnmeldeii; er war an diesem Vormittag im
ersteiiStookwerkedesHanseSy als er, mit der besseren Kleidung angetban,
den ihm von der Bruckner gereichten Kaffee trank; er kehrte nach einem
längeren Verweilen in der Wirthschaft znr „Goldenen Kugel", etwa um
11 '/t Uhr Vormittags, in sein Wohnzimmer zurück. Darfiber, ob
Bergmann die Tbat begangen haben soll in der Zeit, da er sich um-
kleidete^ oder nachdem er den Kaffee getrunken hatte und bevor er zum
Obermeister in die Fabrik ging, oder als er Yom vormittägigen Zechen
heimgekehrt war, ist aus den Acten nichts zu entnehmen. Nimmt man
an, dass die Brod zu guter Vonnittagsstunde in di*' Ilofstrasse Spielens
halber kam und berücksichtigt man, dass die Kinder beim Spielen nicht
allzu lange an einer Stelle sich aufzuhalten pflegen, so scheint fast die
Annahme näher zu liegen, es sei die That von Bergmann — wenn sie
überhaMpt als von ihm verübt angenommen wird — vor dem Weg-
gange zum Obermeister als nach der Heimkehr vom Gafitbause verübt
worden.
5. Xach dem Protokolle vom 8. August 1S98 fährt Wilhelmine
Brod in der Erzählung über die Ereignisse des fraglichen Tages in
folgender Weise fort: ^ich blieb mit den . . Kindern dann noch auf
der Strasse; da hat mich dann der . . Mann noch einmal in's Zimmer
liineingerufen. Die Zimmerthüre ist gleich bei der Hausthüre und
die Stiege iiüt gleich nebendran, im Zimmer ist nicht am Fenster
Yom, sondern hinten im Eck ein Bett; es ist auch nur ein Bett in
dem Zimmer, auch eni Spiegel ist im Zimmer und auch Bilder. Weil
mich der liaon hineingerufen hat, bin ich hinein. Er sagte, ich soll
midi aufs Bett legen, das habe ich nicht gethan. Dann hat er mich
hinanf geworfen, mir die Böcke hinaufgethan und in meinen Bauch
etwas hineingesteckt, was mir wehe that Ich war nicht lange bei
AiaUr nr KitelaakathnpoUtld. XIL S
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Eän Beitrag cur WOrdigwig der Aussage eloes Kindes.
ihm. Der Mann sajrte, ich solle nicht;* sagen; er schenkte mir einen
Pfenni«; und ein Bild. . . . Die Eisenbeiss-Kindor waren nicht mehr
auf der Stra.ss*', als ich von dem Mann herausk;nn". Aus den (irün-
den di's Urtheils des Liind^^erichts ist zu entnelinu^n, dass die Brod
auch in der Ilauptverhandlunjr dasselbe behauittt'te, was im Protokolle
vom S. Auf!;u8t 189S niedcri^ele^^t ist, der früheren P>zählunf^ aber
noch beifüf^te, „der Mann habe nach Schnaps gerochen, als
er sie auf's Bett legte''.
Schaltet man aus den unter Nr. 5 dargelegten Gründen von der
Eizlliliiiig der Brod die Behauptung aus, der Hann habe sie „noofa
einmal** in das Zimmer hineingerufen, so liegt in der Erzählung im
Qrossen nnd Ganzen nichts, was den Eindruck der Unglanbwflrdig-
keit oder ünwahrsoheinlichkeit machen konnte. Fttr die Glanb-
wttrdigkeit der Erzählung spricht wohl der Umstand, dass die Brod
— diese weigerte sich später das flans nochmals zn betreten; sie
gab also die früher gewonnenen Eindrucke wiedw — die Lage der
Stiege und der Thfire in das Zimmer des Erdgeschosses richtig schU>
dert, dass sie femer richtig von den Bildern des Zimmers nnd von
dem im Hintergründe stehenden einzigen Bette des Zimmers spricht
Es darf freilich nicht verschwi^n werden, dass die Brod bei der
ersten Erzählung der Mutter gegenüber auf deren Frage: „bist Du
unten hinein oder die Stiege hinauf?" sagte: ..die Stiege hinauf" und
beifügte, dass „der Mann oben über der Stiege in einem Zinuner mit
ilir die Saciie gemacht lialie", aber es dürfte hier ein Irrthuni des
Kindes oder ein Missverständniss der ^futter vorliegen ; weil die
Zimmer über der Stiege anders eingerielitet sind, als das vom Kinde
richtig l)eschriebene Zinuner des ?]rdgeschosses.
Bergmann gab, wie schon Eingangs dieser Darstellung erwähnt
wurde, am Morgen des 19. Juli den Vorsatz, zu arbeitm wieder auf;
er verbreitete, als er heimgekehrt war, „Fuselduft". Nach den Grün-
den des Urtheils des Landgerichts sa^te die Wilhelmine Brod in der
HauptYcrhandlung, Bergmann habe „nach Schnaps gerochen, als et
sie aufs Bett legte**. Es ist nicht ganz klar, welchen Sinneseindnick
nnd welche Gemchsempfindnng die Brod bezeichnen wollte. Möglich
ist, dass sie den Gemch bezeichnen wollte , den Jemand nach dem
Besuch einer Branntweinschänke und nach dem Genüsse von „Schnaps"
▼erbreitet; möglich ist, dass sie den Geruch bezeichnen wollte, den
Jemand nach dem Besuch einer Bierstube und nach dem Genüsse
von Bier und einer Mischung von Wein und kohlensaurem Wasser
verbreitet. Wollte die Brod sagen, sie habe jenen Geruch zu haben
geglaubt, so spräche dies dafür, dass die That vor dem Weggange
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Ein B«itni|r bot W&idignng der AamMgo dn«B Kindes.
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des Berjj^nann in die Fabrik und zum Obenneister begangen wurde;
wollte die Brod sagen, sie habe die Empfindung dio^>es andrrin Oe-
ruchs zu haben geglaubt so spriithe dies dafür, dass die Tliat nach
der Heimkehr des Bergmann von der (Gaststube zur Goldenen Kugel"
begangen wurde. Man wird aber füglich bezweifeln können, dass
die Brod, ein Kind von noch nicht sieben Jahren, einen so erfahrenen
und entwickelten Geruchi*.sinn hatte, dass sie die Arten des von Berg-
mann verbreiteten Geruchs unterscheiden und als Unterschiede em-
pfinden konnte. Nicht minder drängt sioh die Fracke auf, ob die
Brod im Stande war, in der HanptTerliaodlang, die erst mehrere
Monate nach dem fireignisBe stattfand, mit YerlSssigkeit einen fluch-
tigen Sinneeeindmck wiederzugeben.
7. Die Brod behauptet, nach dem erlittenen Angriffe vom An-
greifer einen Pfennig erhalten zu haben; man kann das glauben. Sie
kaofte sich fOr den Pfennig in einem Laden der Schmiedstrasse „was
Gutes*. Ist dies wahr, so läge, scheint es, ein Scbluss auf den Ein-
dmck nahe, den das Ereigniss auf das Innenleben des Kindes ge-
macht hat: der Eindruck dürfte nicht besonders tief gewesen sein.
War das aber der Fall, heftete sich das Ereigniss nicht sofort und
nnmittelbar in das Gedächtniss ein, dann konnte das im jugendlichen
Hirne zügellos waltende Vorstellungsvermögen um so leichter das Er-
lebniss überwuchern und in die Erinnerung an dieses fremdartige
Fäden einschlagen. Dieser Annahme steht wohl aucii nicht entgegen,
dass das Kind am Nachmittage hinter einer Thiire stehend weinte
und am Abend ein stilles Wesen zeigte. Hätte die Brud den auf sie
geiuaeliten Angriff als eine Verletzung ihres Schamgefühls empfunden,
so hätte sie wohl nicht unniittelhar nach dem Angriffe dem kind-
lichen Hange des Naschens nachgegeben. Es ist wenig wahrschein-
lich, dass der Brod erst im Laufe des Nachmittags und Abends das
Bewusstsein der Verletzung ihrer sittlichen Unversehrtheit nach und
nach aufdämmerte und dann sich in Thrftnen und Verstimmung
äusserte; man kann jene und diese yielleicht auch durch das körper-
tiche Hissbehagen erklären, welches das Kind in Folge des gewalt-
samen Angriffes auf die GeschlechtstheUe und deren zunehmender
Entzündung empfiind.
8. Die Brod behauptet, von Bergmann ausser dem Pfennig auch
ein Bild erhalten zu haben; sie zeigte dieses dem Gerichte vor. Das
Bild ist von der Sorte farbiger Druckbilder, die in Läden zu Zwecken
der Reclame verbreitet werden. Der ITntersuchungsricht» nahm eine
Durciisuchung des Zimmers und der Koffer des Bei^gmann Tor; er
fand im Koffer einen Band einer illusthrten Chronik, eine Sammlung
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Ein Beitrag vor Würdigung der Aiuaage dnee Kindea.
von alten farl)igen Kupfmlrucken und zwei fariiij^e Bilder moderner
Herstellungsart, aber von einer anderen Sorte, als von der, zu welelier
das von der Brod vorgezeigte gehört Aus dem Fund im Koffer
kann der Scbluss gezogen werden, daas Bergmann eine gewisse Vor-
liebe für das Sammeln nnd die Anfbewalirang von Bildern bat; es
ist also die Bebanptong der Brod, aneb ein Bild von Bergmann er-
balten zn babeoi nieht nnglaubbaft
9. Der g«eien Bergmann erbobene Yerdaebt sebien im Lanfe des
Verfabrens eine Zeit lang eine andere Biobtnng zn nebmen. Es
wurde ermittelt, dass die das Zimmer des Erdgeschosses des Hauses
Nr. 8 der Hofstrass» hewolinende Holzbauerswitwe Scblecht sich
sebon Öfter durch Kinder Kräniereiwaarai holen liess und dass sie
am Morgen des 19. Juli in ihrem Zimmer gemeinschaftlich mit ihrem
Sohne Johann, ehe sich beide zur Arbeit begaben, Kaffee trank; es
wurde ferner festgestellt, dass Johann Schlecht am 19. Juli IS9S in
das Krankenhaus aufjrenoiunien wurde, weil er zwar nicht an Go-
norrhoe, wohl ai)er an Sypliilis litt. Nach diesen Eniiittehin^en und
Umständen lau' die Vermullinn^'- nalie genu>?, es habe .Inhann Sclileelit
die Williehiiiiu' Brod j;-esehleclitlicli niisshraucht. Joiuinn Schlecht
liefert»; aber einen hinreichenden Beweis dafür, dass er sich am frag-
lichen Mor^^en nur eine ganz kurze Zeit im Zimmer seiner Mutter
aufhielt und während des Vor- und Xiielimittai;s des 19. Juli Holz
in Strassen zerkleinerte, die von der liofstrasse ziemlich entlegen
sind. Wilhelmine Brod bezeichnete weder die Witwe Schlecht als
die Fran, auf deren Gebelss sie Zneker geholt haben soll, noch deren
Sobn — es war ibr in einer nnveif&nglieben Wdse die Gelegenheit
gegeben worden, sieb den Sobleobt zn besehen nnd dann zn äussern
ob sie ibn kenne — als den Hann, der sie angriff; sie erklärte aneb
in der HaoptTerbandlung, in der sie dem Beigmann und dem Sohleebt
gegenüberstand, bestimmt, in Beigmann den Angreifer zu erkennen.
10. Naeb den vorstehenden Ausführungen sobeint ein erbeblieber
Tbeil der Aussage der Brod für den Behistungsbeweis nicht verwerth-
bar zu sein. Immerhin aber dürfte von dieser Aussage doch so viel
übrig bleiben, dass in dem Rest eine hinreichende Grundlage für die
Ueberzeugung von der Thäterschaft des Bergmann gefunden werden
kann.
Das Hans Nr. 0 der liofstrasse unterscheidet sieh von den an-
deren liäuscrn (It rseli)en Strasse und der rm|Lrel)ung durch die Blu-
men vor den t'enstern, die in die Höhe ranken. Diese Erscheinung
ist ebenso auffällig" als einfueli : man kann dalier annehmen, dass sie
bich dem üedächtuiss eines Kiudes unschwer einprägt und wenig-
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ESd Bdtiag sur Wflrdigung dtx Annage elnee Kindes.
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j^tf-n?; eine Zeitlang; darin haftet. Die Thatsaelie, dass die lirod die
ririlu'lit'ii Verhältnisse im Erdfresclioss und die Einriehtun:ir des eben-
erdij^en Ziuuners richtig beschreibt, lässt darauf schliesscn, dass sie
von Dinicen s|)richt, die sie p'sclien hat. Die Darstellung;, die das
Kind von den Einzelheiten des unzüchtigen Ani;riffs giebt, enthält
nichts, was innerlich unwahrscheinlich wäre. Das der Hrod nach
dem Angriffe gescUeakte Bild gestattet die Annahme, dass es von
Bergmann herrührt. Die Brod bekam den Bergmann von dem Tage
des firaigiiuses bis znm 27. Juli nicht mehr zu Gesicht; m erkannte
in dem in der Gkislstabe sitzenden Zeitnngsleser ihren Angreifer und
gerade dieser Zeitnngsleser war der Miether des Zimmers» worin die
Brod vergewaltigt worden zn sein behauptete. Wollte man annehmen,
es habe sich die Brod in den Ton ihr erfundenen Gedankeni in
diesem Zimmer angegriffen worden zn sein, hinangelebt, so wfire
es ein kaum anszndenkendes VerhSngniss, wenn die Brod gerade den
Zeitnngsleser und Mietbar des Zimmers aus Zufall als ihren An-
greifer bezeichnet hätte. Gbnbt man hiernach den Schluss auf die
Tbäterschaft des Bergmann ziehen zu können, so möchte allerdings
die Vermuthung dafUr sprechen, dass die That am Juli IsDS be-
gangen wurde. Die Zeit vor diesem Tage kann Mangt ls aller An-
haltspunkte hierfür nicht in Betracht koimmn; am 19. Juli war Bfrir-
mann in Zwischenpausen kürzere und längere Zeit in seinem Zimmer;
Näheres über den Zeit|)unkt <les Ereignisses ist nicht festzustellen.
III. Das Landgericht sprach gegen Bergmann eine sehr hohe
Zuchthausstrafe aus. Dass es ihm harte Sülme auferlegte, ist nur
zu billigen. In einem Punkte freilicii scheint das Bericht bei der
Festsetzung der Strafe eine zu strenge Auffassung gehabt zu haben.
Die Aerzte gaben das Gutachten ab, dass der Kfirper der Brod durch
das in ihn eingednmgene Gift der Syphilis auf Lebensdauer ver-
seucht und Tciderbt sei. Das Gericht trüg diesem Gntaditen bei der
Bemessung der Strafe ausgiebig Bechnung. Vielleicht hätte aber doch
der Umstand einige Beachtung rerdient, dass der Landgerichtsarzt
bei Bergmann Erschdnungen einer früheren oder bestehenden Syphi-
lis nicht feststellen konnte. Konnte der Arzt Syphilis nicht feststellen,
so mdehte auch Bergmann bei der Begehung der That sich kaum
der Mögtichkeit bewusst gewesen sein, dass durch sein Thun der
für die Gesundheit seines Opfers schwerschädliche Erfolg eintreten
werde, für den er Tom Gericht in der vollsten Schwere rerantwort-
lieh gemacht wird.
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HL
Ein fiigeiithlliDlieber Fall eines pldizlichen TodeB.
Bnuit Iioludiig in Prag.
Am 23. December 1902 wurde der mehrfache Hausbesitzer und
mehrfache Millionär Dr. Johann Tockstein todt aufgefunden. Seine
Leiche lag in einer für frewöhnlich nicht in Gebrauch stehenden Kammer
im Hause Nr. 11 in der Havlicekstrasse in den Kirl. Weinbergen (Vor-
stadt von Prag). Neben der Leiche befand sich ein Waschtrop. Der Um-
stand, dass an dem genannten Tage die zur Kammer führende Thür
ein wtnip: ^reöffnet war, erregte die Aufmerksamkeit der Haus-
nieibterin und veranlasste sie, die Kammer zu betreten. Zunächst ge-
wahrte sie den Waschtrog, der mit dem Boden nach aufwärts ge-
kehrt lag. Sodann aber erblickte sie daneben einen nienscliüchen
Körj)er, in welchem sie alsl)ald die laiche ihres Hausherrn, des
Dr. Johann Tockstein erkannte. Sogleich sperrte sie die Kammer,
in der sie alles so belassen, wie sie es gefunden hatte, ab und holte
eiligst einen Arzt herbei.
Diefler conBtatirte, daes die Leiche ruhige GeriehtBzttge aofiriee,
äua am ganzen KOrper gieh keine Spur zeigte, welche auf eine etwa
yerllbte Gewalt hfttte deuten kOnnen. Da es somit von vomherdn
ausgeschlossen schien, dass Dr. Tookstdu das Oi^er eines Mordes
geworden sei, eine Erklirung für einen natOrtichen Tod jedoch nicht
zu finden war, kam der Gedanke auf, es liege ein Selbstmord
Yor, ein Gedanke, der sidi mit BlitBesschnelle noch an demselben
Tage als bestimmte Nachricht vom Selbstmorde Dr. Tockstein's in
Prag verbreitete und allenthalben grosses Aufsehen hervorrief, da
man keinen Grund dafür finden konnte^ was Dr. Tockstein, di r nicht
weniger als 11 Häuser st In eigen nennen konnte, in den Tod ge-
trieben haben sollte. Diese Ansicht fand übrigens eine Bestärkung
in folgenden Umständen: Am Fensterbrett stand ein Fläschchen mit
einer Flüssigkeit, weshalb man an Selbstmord durch Vergiftung
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£iu «igeuüiUmlichcr Fail eines plötzlichen Toües.
39
glaubte. Uebeidies wuide festgestellt , dass Dr. Tocksteiii in der
letzten Zeit ein TerstSrtes Wesen znr Schau trug nnd diese Gemfiths-
depresBion wurde jetzt, da er todt war, auf miBsliehe finanzielle Ver-
biltniBBe zurttckgefQhrt Die Durchsuchung der Kleider ergab, dass
der Todte 70 E. in Gold, 200 K. in Papier und 3 K. in Silber bei
sich trug. Ausserdem fand man in einer Tasche ein Buch über Ge-
sundhdlspflege. Dieses Buch war es, das die Aufmerksamkeit des
Arztes erregte und bei ihm Zweifel ob des gemuthniaassten Selbst-
mordes aufsteig^en Hess, da es denn doch etwas widers|)ruchsyoll, ja
geradezu paradox wäre, dass Jemand der Pflege seines Körpers eine
erhöhte Aufmerksamkeit zuwendet und schliesslich selbst Hand an
sich legt
Mit Rücksicht darauf wurde Obduction der I/eiche angeordnet
und dem Docenten der gericlitlichen Medicin an der ezecliischen
Universität, Dr. Slavik, übertragen. Dr. Slavik stellte fest, dass
ein plötzlicher natürliclier Tod eingetreten war. I)ie Uhducti.m crgai)
nändich, dass der Verstorbene an einem Herzfehler mit enoniier Er-
weiterung des Herzens, einer Erschlaffung des Ilerznuiskels und einer
gänzlichen Verkalkung der Arterien litt; dies hat seinen plötzlichen
Tod herbeigeführt.
Das erwähnte Eläschchen war ebenfalls Gegenstand gerichts-
ärztlicher Untersuchung; doch stellte es sich heraus, dass es Cognac
enthielt
Wie kam nun Dr. Tockstein in die unbewohnte und auch ander-
weitig ^icbt in Benutzung stehende Kammer? Dies wird ärztlicher-
seits folgendermaassen erklärt: Ein Herzfehler und me Herzerweite-
terung bewirken you Zeit zu Zeit Anwandlungen und Anfälle von
Herzbeklemmungen, bei wdcben der damit behaftete Patient eine
Todesangst aussteht Dabei wird das Bedärfniss empfunden, ktlhlere
und dem Zutritt anderer Personen nicht ausgesetzte Orte aufzusuchen,
um hier den Tod zu erwarten. Dr. Tockstein befand sieh seit längerer
Zeit in einem Zustande sichtUcher Aufgeregtheit, welche yermuthlich
bei ihm Herzbeklemmungen herbeigeführt haben mag, unter deren
Emwirknng in ihm der Wunsch rege geworden sein mochte, an einem
Orte, wo er sieh ungestört wusste, den Tod zu erwarten.
Wozu (las Eläschchen mit Cognac vt>rwen(let wurde, ist ebenso
unaufgeklärt wie der Umstand, zu welchem Zwecke der Waschtrog
in die Kammer gebraclit wurde. Dies ist um so auffälliger, als trotz
der mit grösster fiewisseiiliaftigkeit gepflogenen iiolizeiliclien Erhe-
bungen der Eigenthümer des Wasch troges nicht ausfindig
gemacht werden konnte. Zuerst meinte man, Dr. Tockstein habe
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40
III. LoHBDffo, Ein dgenthünilidier Fkll efnes pIGtzlieheD Tode«.
vielleicht selber den AVasclitropr aus dem Keller freholt; allein in An-
betracht des Umstandes, dass Xiemand von den Hausbowohnern sich
zu dem Eiirontluini an (l«'m Wasciitrof^c bekennt, bleibt niebts Anderes
als die Annalniie iibri^'. der Wasclitrog sei — unl)ekannt. durcli wen
— von auswärts dorthin gebracht worden) wo man ihn später vor-
gefunden hat.
Die Aufregunj?, in welclier .sieb Dr. 'JOekstein erwie.senerinaassen
vor seinem Tode befand, ist erklärlich aus fol^^enden Umständen:
Dr. Tockstein machte kein üehl daraus, dass er zu seinen Bauten
Geld benöthigte, da er Baminteniehmer in dem Smne war, dass er
HSnger auf eigene Bechnnng baute mit der Absicht, sie nach Fertig-
Stellung zu Terkaufen. Dies war ihm jedoch in der letzten Zeit nicht
gelungen, ans Gründen, die vermuthlich einerseits in der gegenwär-
tigen wirthschaftlichen Lage, andererseits in dem Umstand zu suchen
sind, dass in Folge der Assanirang und BegnUmng des V. Prager
Stadttheils der Baubewegung ein neues Feld erstanden ist Aller-
dings erlangte Dr. Tockstein in letzter Zeit von einem Geldinstitute
die Zusage eines Darlehns von 40000 K. auf eines seiner Häuser
(und zwar gerade da^enige, in welchem er gestorben ist) unter der
Bedinf^nn^^, dass dieser Betrag als zweite Hypothek auf dieses Haus
verbücbert werde. Jedoch kam dieser Vertrag nicht zu Stande, da
Dr. Tockstein den gestellten Bedingungen nicht entsprechen konnte.
Daraus wäre allerdings auf eine finanzielle Calaniität zu schliessen,
weiclie ^'eranlassung zu Aufregungen, die bei einem Herzkranken
niemals ungefährlich sind, bieten können.
Wenn auch im vorliegenden Falle ein \ erijrechen als aus-
geschlossen ijetracbtet wenUn kann, haben wir es doch mit einem
letalen Ausgange zu tliun, bei welchem es von vornherein nicht
klar war, ob ein naliirliclier oder ein unnatürlicher Tod vorlag. Tnd
ein derartiger Fall ist, wenn auch in concreto keine ^'eranlassung
zum Einschreiten des Untersuchungsrichters vorliegt, fQr die Krimi-
nalistik von Interesse, da die Frage „natfirlieher oder unnatQrlieher
Tod** zu den wichtigsten der Strafrecbtspflege gehOrt
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IV.
Laien als Strafricbter.
Von
ilauptmami-Auditor Dr. Q«ocs Iialewer in Wien.
Der lavviiu'iiartif^ jinselnvelleiKk' Umfang aliiT Wissensgebiete hat
immer mehr die Erkcnntniss gereift, dass vollkommene und wirklich er-
spriesslielie Aibeit nur dweb Specialisirung geleistet werden k5iuie. Aller-
dings darf rioh die Specialisimng nicht durch eine chinesische Mauer
von der ganzen flbrigen Welt abaehliessen, sondern muss von Allem,
was mit ihrem eigenen Gebiete in irgend einem Zusammenhange
steht, verstindnissvoli Kenntniss nehmen und die Wechsdwirknng
beizustellen trachten. Nur auf einem (xebiete menschlicher ThStig-
kät, und zwar auf einem der wichtigsten, hat diese Erkenntniss sich
noch nicht Bahn gebrochen, nämlich auf dem Gfebiete der Strafrecht-
sprechun^. Dort ist nach einer weit verbreiteten, auch bei der Be-
rathung der deutschen Militärstrafgericbtsordnungvom l.December 1898
ex cathedra verkündeten Anschauung der Jurist nur dazu da, um
,.den formalen Standpunkt zu wahren'^ ')• Wollte man einen Schuster
mit der Anfertigung eint's Hutes oder einen Arzt mit der Reparatur
einer Uhr betrauen, so fiile man judcnfiills sofort schwerwio^renden Zwei-
feln über den Vollbesitz ungttrüliftr ( ieisteskrüfte anheini. llinmgen
sind, nach !ill;;cnieiner Anschauung, UhrniacluT, Arzt, llntinarlit r und
Scliustrr wohl geeignet Urtheile zu niaclicn, niindestt'us i'hensOj ja
offonljar noch viel mehr als der lMiuf>richtrr. Zum ..Leisten" des
Schusters, bei dem er nach einem alten »Si)rüclnvorte bleiben soll, ge-
hört hiernach auch die ricliterlidu' Tliätigkeit. Wir sind natürlich
weit entfernt, einem der hier beispielsweise genannten oder irgend
einem anderen Berufe nahe treten zu wollen, im Ocgentheile wollen
wir ihnen anch noch durch das Versprechen entgegenkommen, dass
1) „Die Militaretrafgcrichtsordnung vom 1. I>econdier T^ns." SystematiBeh
dargestellt von Dr. Wolfgang Mittermaier. Berlin li»99. ä. 57.
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48
IV. ItELEWeS.
wir Juristen unsererseits uns jedes Eingriffes in fremde Berufssphären
enthalten wollen.
Man mache sich nnr einmal klar, was dazn gehOrt| ein guter
Stiafrichter zn sein: Eingehende Gesetzeekenntniss, rasches und sicheres
Yerständnias aller im Leben Torkommender socialer, psychologischer,
natfirlicher and bemfticher Verhältnisse, die FShigkeit^ ans jeder Sache
sofort den Kam heranszuschälen, die F&higkeit, correet zu denken,
und noch vieles andere, was erschöpfend anfonzählen uns kaum
möglich wire. Man glaube ja nicht, dass das Vorhandensein einer
oder einiger der genannten TIauptbcdingungen frenüj^e: alle müssen
zusammentreffen, soll der Strafrichter auf seinem Platze sein. Wir
mttssen zugeben, dass nicht alle Juristen allen diesen Bedingungen
entsprechen, aber es heisst den Teufel mit dem Beelzebub verjagen,
wenn man deshalb an ihre Steile Laien setzt, bei denen das Vor-
handensein alh^r dieser Bedin^runjren überhaupt ausgeschlossen ist,
und dio der ihnen zugemutheten Aufirabo nur ein „durch keinerlei
Sachkenntniss j!:etriil)tes Urthoil" entf^^'^^t-nbrini^en k<tnnen. Diesem
Mangel kann viehuehr nur dadurch abgeholfen werden, dass man
das Richtcnuatcrial verbessert, oder, da doch in hinreichender
Zahl gutes und sehr crutes Juristenniaterial vorhanden ist, da-
durch, dass man das Strafriebteranit durch eine — seinem für die
Allgemeinheit so bedeutungsvollen Werthe entsprechende — Aus-
stattung an Ehren, Ansehen und standesgemässem Einkommen so be-
gehrensweith macht, dass eine zahlreiche Beweifoung um die Straf*
riehterstellen entsteht und so die Staatsverwaltung in die Lage kommt,
eine sorgfiUtige Auswahl unter den Gandidaten zu treffen, und nicht
gezwungen ist, jeden sich Meldenden zu acceptiren, um nur die
lücken im Status ausftUlen zu können.
Von der Wissenschaft Iftngst verworfen, nimmt die Mitwirkung
des Laienelements bei der Stmfgerichtspflege de lege Uta noch immer
einen breiten Raum ein und ist immer wieder eine Forderung der
Allgemeinheit. Der Entwurf des österreichischen Pressgesetzes, der
aus den schlimmen Erfahrungen die Lehre ziehen und die durch die
Presse b^^angenen Ehrenbeleidigungen theilweise den Geschwormn
entziehen will, ist der erste Versuch einer Besserung, leider aber noch
ganz vereinzelt geblieben. Eines der jüngsten Processgesetze, die
schon erwähnte deutsche Militärstraf^'eriohtsordnung, hat auch dem
Laicnelemente eine, wenigsti-ns nunit riseli und äussfrlieh dominirende
Stelluntr eiiiireräunit, die natürlieii p nide in kritiselien Fällen durch
blosse Ausniitzung der nunu-riselien L'ebernuicht zur alirin aussehlag-
gebcnden gemacht werden kann. Dazu kommt noch die merkwürdige
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LaieD als Strafilditer.
48
Theiliinp der Verhandliing:8fühning: in Voreitz und Loitun/?. Vor-
sitzender ist der ran^lKichste an der Verhandlung theilnohniende
Officier dea Soidatenstandes, Verhandiungsleiter das theilnclunendc
Militärjustizorpran oder von mehreren das rang'höchstc. Für den Ver-
handlun^'t^Ieiter bedeutet es eine eiupfindlielie Zurucissetzuni;, da,ss man
ihm als dem Spiritus rector nicht auch die Ehre des Vorsitzes über-
lässt, und auch der Vorsitzende kann sich, wie jeder gewissenhafte,
intelligente und gebildete Mann auf seinem Platze nicht wohl fühlen,
den er mit bestem Willen und Eifer zufolge mangelnder Fachbildung
und Routine unmöglich yoll ausfOUen kann. Das Gesetz weist dem
Vonitzenden inidiesondere die Aufgabe zu, die Oidnung in der Yei^
handluDg aufieebt zu erhalten. Wir möchten glauben, dass ein rou-
tinirter Berufsriehter für diese oft ftberaus heikle Aufgabe viel ge-
eigneter sd, und das MilitSijustizorgan wird auch den militSrisehen
Parteien gegenüber die erforderliche Autontitt haben, wenn ihm nur
Gesetz und Vorschrift die entsprechende Stellung im militärischen
0r<::ani8mU8 zuweisen. Dies ist freilich unmöglich, wenn das Militär-
justizorgan, wie in Deutschland, „Militärbeamter" ist, denn dem
soldatischen Auge erscheint nur ein wirklicher Officier als die
Verkörperung der Autorität >)• Man kann sich leicht eine beliebig
lange Reihe von Complicationen ausdenken, die sich aus der Thei-
lung zwischen Vorsitz und lA'itung in der Verliandlung ergeben
können und die dem Ansehen des Gerichtes keineswegs förderlich
sind. Ein lieisj»iel hierfür fanden wir kürzlieh im „Neuen Wiiner
Journal**, das unter der Spitzniarke ^Scandal bei einem Kriegs-
gerichte, Vorsitzender und Verhandiungsleiter'' folgende, vom 6. Fe-
bruar I90;i datirte Meldung-) aus Braunschweig bringt:
„Vor dem Kriegsgerichte der X. Division fand gestern hier eine
Verhandlung statt, bei der ein bemerkenswerther Zwischen-
fall vorkam. Der Unterofficier H. war der Missbandlung des Husaren
L. angeklagt, wurde aber, wie gleich bemerkt sein mag, freigesprochen.
Als im Laufe der Verhandlung der Vertreter der Anklage Gründe
anfahrte, die die Aussage emes Zeugen als unwahr erscheinen liessen,
erhebt sich der Vorsitzende, M%jor y. N., um dem Ankläger das
Becht zu bestrdten, die beschworene Aussage des Unterofficiers als
unwahr zu bezeichnen. Der Verhandlungsführer und auch der Ver-
1 1 r)er ni8si»cho Militärrichtcr ist ein wirklichpr Officier, der österreichiech-
ungaridche hat Officieretitel uud Officierschaiakter.
2) Wir ttbenehmen diese Meldong, ffir deren Richtigkdt vir die Vorant-
wortaog dem geoannten Blatte ftberlaaeen mOasen, unter Weglaasmig der Namen
der betheiligten Personen.
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IV. Lblbwi»
tretor der Anklage suchen dem Vorsitzenden klar zu machen, dass
letzterer Redefreiheit ireniesse und als Parteivertreter berechtigt sei,
seine persönliche Ansicht zu iiusst'rn. Major V. N.: „Dana bitte ich,
mich nachher näher darüber zu belehren,"
Als später der Vertheidij^er ausführt, er habe den Verdacht, L.
wolle den I^nterofficior H. ledii,dich aus Hache in's Un<;lück stürzen,
unterbricht der Verhuiuilun^^sfilhrer den Vortlieidifrer, bemerkend, nicht
L, sondern Unterofficier II. sei der Angeklagte, und er bitte, diesen
eotlisteiide, moht aber jenen bdaslende Momoite voRnbringen. Der
Vorsitzende, Miyor t. N., weist diesen Einwurf des Verhandlnngs-
führers znifldk und verlangt fttr den Vertheidiger ebenaognt voUe
Bedefreiheit, als sie für den Vertreter der Anklage in Ansprach ge-
nommen worden sei. Jetzt kommt es zu scharfen Oontroversen. Der
Verhandlnngsfübrer will seinen Standpunkt rechtfertigen. JAajot y. N.
ntft: „Ich bin Vorsitzender**. Kriegsgeriohtsrath S. antwortet:
„Ja, und ich habe die Leitung der Verhandlung". Beide Herren
vertheidi^en ihre Ansicht Kri^gsgeriebtsrath 3. bemerkt dabei, er
werde sich beim Divisionscommandeur beschweren; Major T. N.
verbittet sich diese Drohung. Kriegs^erichtsrath S. erklärt, er werde,
sofern ihm noch weiter sein Recht der Verhandlungsleitung streitig
gemacht werde, die Sitzung abbrechen und dem Divisionscommandeur
sofort Mel(hiii«r t rstatlen. Dann wurde die Verhandlung ohne weiteren
Zwischenfall zu End»* iri'fiihrt.''
Nun nniss an» rkaunt werden, dass — wenn überhaupt irgendwo
in der Strafgerit'ht.s|ifiege — j^rerade bei den MilitärirerichtHi die Iler-
an/ieliunir des Laienelenients zulässig, ja sogar w üiisclienswerth er-
scln int, allerdinirs mit der von der deutschen ^lilitärstrafgerichtsord-
nung eingeführten Htschräiikung auf Officiere ((ileichgestellte). Der
Officier (obere Militärbeamte) ist hinsichtlich der militärischen Delicte
— und nur bei solchen wäre er richtiger Weise beizuziehen — kein
Laie^ sondern mit den tbaisftehlicben Verhältnissen wohl vertraut und
steht mit seiner Intelligenz und Bildung hoch Uber dem Durch-
Schnittsniveau des Oivilgeschworenen, dessen Berufung hauptsSchlich
vom Steuercensus abhängt
Man wird uns vielleicht den Vorwurf machen: wir sprächen
pro domo. Wir wollen es auch gar nicht bestreiten. Aber wir sprechen
nicht so sehr und ausschliesslich im eigenen Interesse, sondern in
der aus tausendfacher praktischer Erfahrung und aus wohlüberlegter
theoretischer Erwägung geschöi)ften Ueberzengung, dass die Mitwir-
kung der Uiien bei der Straf rechtsprechung in dem heutigen Um-
fange den Interessen der Hechtspflege und somit den Interessen der
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Laien ab Strafriehter.
45
All^meinheit abtril<rlicli ist. Den Lesern dieses ArchivB sind hin-
reichend viele lieispiele hierfür bekannt, in denen die Unzulän^lieh-
koit des Geschworenrnirerichtes crass denionstrirt wird. Wir wollen
nun versuchen, an der Hand der Statistik denselben Nachweis zu
liefern. Aus dem soeben erschienenen 3. Hefte des LXl. Bandes der
dflittnoiehttehen SlatiBtik: „Die Ergebnisse der Strafrechtspflege in
den im Reichsrathe vertretenen Königreidien und l4indem im Jahre
1898*^ (bearbeitet vom Burean der k. k. Btatistiflohen Centraloommiasion
nnter Mitwirkung des k. k. JoatizminiBterinmB) entnehmen wir fol-
gende Daten ttber das Strafrerfobren vor den Gerichtshöfen:
Die Hanptverhandlnngen und deren Ergebniss:
Die Zahl der von den Gerichtshöfen erster Instanz CErkenntniss-,
Geschworenen- und Ansnahmsgerichten) im Jahre 1S98 durchgeführten
Hanptverhandinngen belief sich auf 39115, in welcher Ziffer die
Yorgekommeni n Einspruchsverhandlungen in Presssachen nicht ein-
gerechnet sind, wohl aber die abgesondert vorgenommenen Haupt-
Verhandlungen 2464 Verhandlungen fanden vor dem (ieschworenen-
gerichte, 36585 vor dem Erkenntuissgerichte und 6ö vor Ausnahms-
gerichten (JasJo. Xeu-Sandec und Tarni'>w) statt.
Die Zaid der vor den Erkenntnissgerichten angeklagten
Personen betrug 52(H5, daniutcr 721. die ])l(»s we^^eii Ui'licrtivtung
angeklagt waren und nur wegm Zusammenhanges ihrer relitMtrctuug
mit Straftliaten anderer Personen sich vor einem (weriehtshufe zu ver-
antworten hatten. Das Ergebniss der gegen diese 52 045 Personen
durchgeführten 30 5S5 Ilauptverhandlungen (bezw. der gegen die
ürtheile der Erkenntnissgerichte au den obersten Gerichts- als Cassa-
tioDshof ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerden) bestand darin, dass
43892 PersiHien oder 84^ Proc verurtheOti 8097 Personen oder
15.5 Proc freigesprochen und 56 Personen nach § 261 StPO.
vor das Geschworenengericht verwiesen wurden.
Vor den Geschworenengerichten fanden 2464 fianptver-
handlungen statt, und die Zahl der Angeklagten belief sich auf 3256^
von denen sich 93 nur wegen des Zusammenhanges der ihnen zur
Last fallenden Strafthaten mit anderen Strafthaten vor dem Gö-
sch woronengerichte zu verantworten hatten, darunter 4 nur wegen
UebertretuiigeiL Das Ergebniss dei durchgeführten Verhandlungen
(bezw. der gegen die ürtheile der Geschworenengerichte an den
1) §§ 57, 5%i, 114, 214 St P.O. Zur Vermoidung von VeraGgcrimgen oder
Eridiweniiigen des Yerfahrent oder mr Kfiming der Haft eines Bescholdigten
kann hiu»ichtlich einzelner »trafljnriM- Handhingen oder einaelner Beschuldigten
tlaa Sünfvecfahfen abgesondert gefühlt und aum Absehlnase gebracht weiden.
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46
IV. LdCUEWEB
obersten Gericlits- als Cassationsliof ergriffenen Xiclitigkeit.sl)e.seli wer-
den) bestand darin, dass von den 3256 Angeklagten 2325 oder
71.4 Proc. verurtheilt, und 931 oder 2S.6 Proc. freigesprochen
(darunter 876 niohtBchnldig erklirt) wurden, D«r Fall, dass eine
Stnifeaobe nach § 832 StPO. zur nochmaligen Entscheidnng vor ein
andercB Gesohworenenf^cht yerwieeen wurde, kam im Jahre 1898
nicht vor.
Nachstehende Tabdle zeigt die Ergebniaee der erkenntnissgericht-
Uchen nnd gesehworeneogeriohtlichen Hauptrerhandlongen in den
Jahren 1888—1898:
1
ErkenntDisgeriobt: 1
Zdü der
Oeiohvoren«Bgerieht:
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1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
40,013
41,2S7
41,728
11.077
44,828
, 42,048
45,284
1 44,631
i 44,516
47,-'}0
52,045
84,664
35,448
36,311
36,199
38,534
30,039
39,062
38,342
37,963
39,7")0
43,892
5,415
5,745
5,386
5,438
0,233
5,995
0,188
6,254
6,521
7,457
8,097
34^
34
31
40
61 ,
14 '
34
85 ,
32
33
56
1
) 8,168
3,045
3,301
3,137
1 3,301
1 3,136
3,090
1 3,279
3,116
I 3,011
3,256
2365
2.212
2,435
2,370
2,415
2,330
2,272
2,272
2,261
2,0M0
2,325
1
802
838
864
762
886
806
815
1,007
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72,6
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75.6
TJkl
743
"Ii.'»
69^
72^
6M
71,4
Vor den drei Ausnahmsgeriehten in Jaslo, Ken-Sandec und
Tamöw fanden im Jahre 1898 im Ganzen 66 Haupt^erhandlungen
statt Die Zahl der vor diesen drei Gerichten angeklagten Personen
belief sich auf 936, Ton denen 776 oder 82.9 Proc yemrtheilt wurden
(davon 16 blos wegen einer Uebertretnng), und 160 oder 17.1 Proc
niclitschuldi^' erklärt wurden.
Wie diese Ziffern klar beweisen, kommen Freisprechungen
bei den Oeschworenengerichten ungleich häufiger vor,
als bei den nur mit rechts^^elehrten Richtern besetzten Erkenntniss-
gerichten, im Jahre IS9s beispielsweise wurden von den Erkenntniss-
gerichten nur |.">.7 Proc. aller An<,'ekhii;ten. von den Geschworenen-
gerichten hint^t ui ii -Js.d Proc. aller An^a'kUigten frei^a'sproehen oder
für niclitsciiuldiir e.rklärt. Fjisst man die Ergebnisse des ganzen
lü jährigen Zeitrauiucs von I8b9 — 1898 zusammen, um ein von
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Laien als Stmfriobter.
47
znfSlligeD Einflüäsen freieres Durclischnittsverhältniss zn gewinnen,
80 ergiebt sieb, dass von den 446 25S Angeklagten, die sich vor
einem Erkenntnissf^erich te (oder von einem Ansnalimsprerichte)
zu verantworten hatten, 63 330 oder 14.2 Proc. f rei^'esi)rochen
wurden, wülirend hinge^ren von den 31672 Aufgeklafften, die in
Fol-rt' der Qualifieafion ihrer Strafthat oder weijen des Zusaninien-
liun;,'es dieser mit andert-n Strafsachen vor das Gesch worenen -
gericlit f^estellt worden waren, S67S oder 2 7.4 Proc. frei-
fresj) rochen wurden. Bei manchen Oeschworenenfrerichten wurde
auch dieser durchschnittliche Procentsatz noch iiherschritten, wie die
nachfoljjende, aus den Ausweisen der Staatsanwaltschaften zusammen-
gestellte Uebersicht ersehen lässt:
Zahl der Ange-
DftYon wurden freigesproohen
Oeschworeueugerioht
klagten iuuer-
halb der Jahre
in abaoloter
in Proc. der
— "
1680 bit 1888
Zahl
Zitlil der
Au^eklugtcu
265
85
81,1
1.168
367
Sl,6
1,004
322
32,1
068
243
:iü.4
833
315
;J7,s
549
311
;JN4
483
196
40,(J
830
350
42.1
635
270
441
189
42,8
887
:',S7
' 4S,e
639
295
4«.l
502
236
4S,0
09
72
78,7
Fast ehenso häufii^-, wie die Fälle der Freisprechung, bezw. der
Nicht.schuldigerklärunj,' sind aucii jene Fälle, wo die Geschworenen-
gerichte den Angeklii^'ten zwar schuldig sprechen, jedoch in der ihm
znr Last fallenden That eine minder schwere Strafthat erbHcken, als
diejeni^^e ist, die ihm in der Anklage zur Last gelegt worden war.
In Folge der vereinigten Wirkung der fVeispieobnngen, der Nicht*
sobnldigerkUbningea und der Unterstellnng mancher Strafthaten unter
ein milderes Strafgesetz sinkt die Zahl jener WahrsprQche, die mit
der Anklage ToUkommen ttbereinstimmen, auf nahezu die Hälfte aller
Wahrsprache herab, wie die Ziffern der nachstehenden Tabelle er-
sehen hisaen, in der die bezüglichen Daten für die Jahre 1880—1898
zusaromeDgesteüt sind:
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48
IV. Lblbwbr
Zahl der Tor dem Gfschworenpiipprichtc iinceklaKtPn Pcnionea,
Jahr
baiflglidi welcher
< 1 1 V > r 1 1 « 1 t r 1 1 II
einen Walirspruch
abzageben hat-
ten'}:
bex&gUch welcher der Wahrspnich
mit der Anhiage
gani ftherein-
itiiDiiites
mit der Anklage
nnr thdlweite
U Vv WIUMXllUAIIw ■
— — — ■ —
■precbend war
lo89
3,008
649
796
1800
1,740
689
824
IS'.Jl
3,009
1,717
0.-.5
727
lSd2
3,268
1,789
626
853
189S
3,093
1,710
620
762
1894
3.052
1 ,•'.< »4
608
780
1805
3,244
1,001
671
972
1896
3,066
1,558
703
805
1897
2.948
1,436
O,-)!
855
1898
3,201
1 ,62.')
700
876
Nach den Eri^^ebnissen des Jahrzehnts 1SS\) — ISOS stimmen somit
von 31 231 abfxef::el)enen Wahrsprüchen nur 1 6 34'.), das ist nur r)2.3 Proc.
vollkommen mit der .Thohenen Anklage überein, in 0632 Fällen
oder 21.2 Proc. der (irsammtzahl nitsprach d(T Wahrspruch der Ge-
schworenen nur theilwt'ise der erhobenen Ankla-:e, und in 82r)0 Fällen
oder in 26.5 Proc. alK r Fälle wurde der An;:i klai;te von der An-
klage freigesprochen, bezw. fllr nichtsehuldij; erklärt. Dieser ver-
bältnissmäsäig hohe Procentsat/ von Freisprechungen, der, wie schon
bem^ti in manchen Gerieb tssprengeln sich noch erbeblich steigert,
Ist — laut Angabe dsx eituten Statistik — naeh den Mittlieilmigen
der StaajsanwaltBcbaften dadnreh zn erküren, dass die Geschwo-
renen sich hänfig ans Mitleid oder ans Scheu vor dem
hohen Strafsatze bestimmen lassen, einen freisprechen-
den Wahrspruch abzugeben, oder dass die Geschworenen
nicht die erforderliche Urtheilskraft besitzen, um einen
Straffall richtig zu erfassen und es vorziehen, durch
l) Dif Zahl der iVri^oneii, bezüglich welcher die Geschworenen einen Wabi^
pprufh :il)zu«rf'l)on liahtii, i>t stct.'i kleiner, als «Up Z;ihl der Personen, ijrfron die
die Verliandlini^ vor »Iciii (iescliwurenonf^crichtc durchgeführt wurde, weil die
Fragest elliiQg au die Uescliworeuen entfällt: a) wenn sieh im Laufe der Ver-
bandloDg beraoMtellt, dass das Strafverfahren ohne den Antrag dee geeetdieh
berechtigten Anklägers eingeleitet oder ^v<^^■n dessen Willen fortgesetzt worden
• ist. oder l)i dass die Strafbarkeit der dorn Aii^cklafrten /.nr Last g'elegten Tliat
duix-h Verjähning erloschen, oder c) die »trafgcnchtliche Verfolgung aua (jirilnden
des Processrecbts ausgeschlossen ist, dl wenn die Stnfbariieit der Hiat durch
Begnadigung aufgehoben wurde, e) wenn der AnkJBger nach Eröffiinng der
Hauptverbandlung und « he die an die Ceschworencn zu steNendm Fragen Ter-
lesen wurden, von der Aniüage zurücktritt (§ SIT SU F. 0.).
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Liden als Strafrichter.
49
einen f reisprecbendea Wahrsprucb ihr Gewissea zu ent-
lasten.
Wir müssen den von den Staatsanwiiltscliaften für die unver-
hältnissmä.«isiic häufip.'n Freisprüche und auch für die oftmalige Un-
terstelhini; einer Strafthat unter ein unverdient mihles Strafgesetz
durch I^ienrichter gegebenen Erklärungen noch einen weiteren hin-
zufügen. Der laienrichter hat nftmlieh oft kein Verständniss für
den Untenehied zwisohen Recht und Gnade. Ifit dem Augenblicke,
wo er sich auf den Bichtentahl niedergelaasen bat, glaubt er ledig-
lieh nach seiner Ueberzengong nrtheilen zn dürfen nnd Ubenieht
hierbei, dass er nicht nnr an seine üebensengnng gebnnden uAf son-
dern auch an das Gesetz. Dasa kommt noch, dass er häufig auch
den Berufsiiohter unter das Hindeststrafausmass hinabgehen sieh^
sich aber dabei nicht darüber klar wird, dass der Bembrichter dies
zu Folge Anwendung des ausserordentlichen Milderungsrechtes oder
Abkfiizung det Strafzeit aus Erwerbsrücksichten oder d^l. p:egen An-
wendung entsprechender Verschärfun<j:en thun durfte. 3o glaubt sich
dann der Luenrichter berechtigt, Gnade zu üben, wo er verpflichtet
ist, nach dem Gesetze Recht zu sprechen, und es liegt auf der Hand,
dass hierdurch die allgemeine Achtunfj vor dem Gesetze leiden niuss.
Der ^bon juge" kann im einzelnen Falle durch (liite und Gnade
nicht so viel Gutes stiften, als er durch Untergrubung des Ansehens
der Gesetze, zu deren Beobachtung er eidlich verpflichtet ist, das
allgemeine Kechtsbewusstsein schädigt.
Wir haben an der liand verlässlichen Ziffernmaterials gezeigt,
wie unverhältnissmässig gross die Anzahl der von den Geschworenen-
gerichten geschöpften Freisprüche im Verhältnisse zur Zahl der von
den Erkenntnissgerichten geschöpften ist und behaupten, daraus die
Unzulänglichkeit der Laiengericfate zu erkennen. Dagegen kann man
uns zwei Einwendungen machen, weshalb wir uns gleich mit ihnen
beachiftigen wollen.
Elstens könnte eingewendet werden , es sei immer besser , viele
Schuldige laufen zu lassen, als einen Unschuldigen zu bestrafen.
Dies geben wir auch ohne Weiteres zu, da wir den Grundsatz: in
dubio mitius ab eine der Hauptregeln der Strafrechtsprechung an-
erkennen. Dennoch halten wir es auch für ein grosses Uebel, wenn
man einen Schuldigen laufen lässt, und die Strafgerichte sind auch
nicht dazu da, möglichst viele Schuldige laufen zu lassen, sondern
im Gegentheile, um dies thunlichst zu verhindern. Ist die Bestrafung
eines Unschuldigen eines der grössten Uebel, das menschliche Un-
zulänglichkeit verschulden kann, so bedeutet doch andererseits jeder
ArdÜT lüi Krimiaalanthropologi«. XU. 4
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50
IV. Ijsliweb
Freisprucli eint-s Seliiildi^a'n ein Verfehlen des Zweckes der Straf-
rech tspfle^re, und eine staatliche Institution, die ihren Zweck häufig
verfehlt, ist auch ein Un'rlück für Stmit und (iesellschaft. Jeder
Freisprach oder unverhäitni.ssniäüsi^ milde ►Spruch über einen Schul-
digten ist ein Ansporn für den Verbrecher und für die Anderen zur
Begehung neuer Uebelthaten, untergräbt das Beehtsbewnsstsein und
das SicherlieitBgeflIbl der Allgemeinheit, das Wettmam der dturch die
Uebelthat Beschldigten and Gefährdeten in die an ihrem Schutze
verpflichtete Staatsgewalt nnd läset dagegen die rechtmässige Bestra-
fang anderer Verbrecher als eine unbillige Härte evBcheinen.
Zweitens könnte man fragen: „Woraus geht herror, dass die
Geschworenengerichte mit ihrem grösseren Procentsatze an Freispra-
chen Schuldige freigesprochen haben? Vielleicht haben im Gegentheile
die Erkenntnissgerichte mit ihrem grösseren Procentsatze an Schuldig-
sprächen Unschuldige verurtheilt Hierauf giebt uns die Statistik
Aber den Gebrauch und Erfolg der Rechtsmittel Auskunft, und wir
wollen aus dem uns vorliegenden Hefte der statistischen Central-
commission die erforderlichen Ziffern herausheben.
Gegen die Urtheile der Gerichtshöfe erster Instanz (I>kennntniss-,
Ausnahnis- und Geschworenengerichte) stehen die Rechtsmittel der
Nichtii;keitsbeschwerde (an den obersten Gerichts- als Cassationshof)
und der Berufuni; i'i;e;;en den Ausspruch über die Strafe und über
<lie privatrechtlichen Aussprüche an den Gerichtshof zweiter Instanz)
offen (§§ 2S0--296 und :i43— 35 1 StPO.). Die Ziffern ül)er die Rechts-
mittel gegen den Ausspruch über die pri\ atrechtlichen Ansprüche
werden wir, als zu unserem Zwecke nicht nöthig, übergehen. — Nach
I 1 des Gesetzes vom 31. December 1877, RGBl. Xr. 3 ex 1S78,
hat aber schon der Gerichtshof erster Instanz die gegen ein End-
urtheil gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde zurückzuweisen, 1. wenn sie
zu spät oder von einer Person eingebracht wurde, der die Nichtig-
keitsbeschwerde nicht zukommt, oder die auf dieselbe yerzichtet hat;
2. wenn nicht einer der in der Strafproceaaordnung angeführten
Nichtigkeitsgrttnde deutlich und bestimmt bezeichnet, insbesondere
wenn der Thatumstand, der den Nichtigkeitsgrund bilden soll*, nicht
«usdräcklich oder durch deutliche Hinweisung angeführt ist; 3. wenn
die unter 2. geforderte Angabe nicht zu Protokoll oder in einer von
einem Vertheidiger unterschriebenen Eingabe erfolgt.
Die Zahl dieser schon in der ersten Instanz zurückgewiesenen
Nichtigkeitsbeschwerden betrug im Jahre l^OS 791. In 82 Fällen
wurde gegen die Zurückweisung der Nichtigkeitsbeschwerde von dem
im $ 2 des vorbenaunten Gesetzes eingeräumten Rechtsmittel der Be-
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Laien als Stnifrichter.
61
schwerde (ohne aufschiebende Wirkunfi;) an den obersten Gericlits-
als Cassationshof Gebrauch jremacht, aber in 72 Fällen ohne Erfolg.
Die Statistik {xiebt allerdiiiirs keine Auskunft darüber, ob unter den
schon in erster Instanz zurückgewiesenen 791 Xichtiy;keitsl)esclnverden
auch von der Staatsanwaltschaft eingebrachte waren, aber ein Blick
auf die oben angcfülirten (iründe des § 1 des Gesetzes vom IM. De-
cenii»er 1S77, KGBl. Nr. 3 ex 1878 zur Zurückweisung der Nichtig-
keitsbeschwerde schon in erster Instanz, zeigt klar, dass es sich hier
ausschliesslich oder doch fast ausschliesslich um vom Venirtheiltea
eingebrachte Rechtsmittel handeln muss.
NaohBtehende Tabdle seigt die betreffendes Daten der Jahte 1889
bis 1898:
Zahl der durch den
Zahl der gegen diese Zurück weisnag
Jahr
Gerichtshof zurück-
•iagebraohtca Betehwerdea
g«wiMeD«a Kiditig-
Biit Erfolg
ohne Erfolg
1889
640
14
94
1690
587
10
83
1891
604
5
91
1892
656
5
64
1893
619
16
84
1894
627
6
68
1895
672
69
1890
722
l
53
1897
682
14
86
1898
791
10
72
Die Zahl der beim obersten (ierichts- als Cassationshofe ein-
gelangten Nichtigkeitsbeschwerden nimmt seit dein Jahre 1S90 un-
unterbrochen zu und betrug im Jahre 189S 1517, duiLinter 13^7 gegen
Urtheile der Erkenntnissgerichte und 130 gegen Urtheile der Ge-
echworenengerichte 0* Von den 52045 Urtheilen der Erkenntnisa-
gericfate im Jahre 1898 worden sohin 2.7 Proa, Ton den 3201 Ur-
theilen der Geschworenengeriehte in denuselben Jahre 4.1 Free, mit
dem Yor den obersten Geriehte- als Oassationshof gebugten Rechts-
mittel der Niohtigkeitsbesohwecde angefochten.
Die folgoide Tabelle giebt eine Uebersicht Aber die Zahl und
Art der in den Jahren 1888 — 189S eingelangten Nichtigkeits-
beschwerden:
1) Ungerechnet 59 Nichti<,'kc>it.s)jeselnverdeQ zurWahning dM üeMtzes, TOD
denen 2o ohne Wirkung für den Beschuldigten waren.
4*
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52
IV. Lblbwbb
Zahl der beim Cassntionshofe ein»
gelangten Nichtigkeitsbeschwerdea
iVon den eincelangt. Nichtiukeits-
jbeschwerden waren ergriffen vom
Jahr
gegen Urtheile <ler
PrlTal-
•nldlgNT
Staata-
•nwalt
An«
geMagten
1888
1889
1890
1801
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1806
82G
883
805
895
996
1,030
1,164
1,203
1,242
1,266
1,887
138
108
126
III
148
114
126
128
137
132
130
964
991
031
1 noR
1,144
1,144
1,290
1,331
1,379
1,398
1,517
134
133
189
146
159
174
182
228
172
192
211
4
4
4
4
5
6
8
9
8
8
18
826
854
788
856
980
964
1,100
1,094
1,199
1,198
1,293
Die überwieirende Mehrzahl der eingelangten Xichtigkeits-
beschwerden, iiümlich 1293 oder 85.2 Proc. war also aucli diesmal,
wie in den früheren Jahren, vom Anfi^eklajsten ausgeganj^en.
Wenn man zu den im Laufe des Jahres 1898 eing:elangten
1517 Nichtigkeitshcscliwcrden die aus dem Vorjahre noch anbiingi^;
verbliebenen 123 Nichtigkeitsbeschwerden hinzuzählt, so beziffert sich
die Summe aller Nichtigkeitsbeschwerden gegen Endurtheile, über
die der obecato Geriehts- als Oassationsbof im Jahre 1898 za ent-
scheiden hatte, anf 1640 (wobei jedoch die Nichtigkeitsbeschwerden
zur Wahrung des Gesetzes nicht mit inbegriffen sind). Von den 217
im Jahre 1898 erledigten Nichtigkeitsbeschwerden def Staatsanwalt-
schaft hatten 128 oder 59.0 ProC| Ton den 11 erledigten Nichtige
keitsbeschwerden der PrivatankUlger 3 oder 27.2 Proc. Erfolg, hin-
gegen hatten Ton den 1772 eriedigten Nichtigkeitsbeschwerden der
Angeklagten nur 189 oder 10.7 Proc. Erfolg. Diese Gegen überstellnng
beweist klar, dass die Strafgerichte im Allgemeinen zu
milde judicirt haben.
Dasselbe Bild zeigt die Betrachtung der Ergebnisse des Hechts^
mittels der Berufung: Die Zahl d^ bei den Gerichtshöfen zweiter
Instanz eingebrachten Berufungen gegen Urtheile der Erkenntniss-
nnd Geschworenengerichte hinsichtlich der Strafart oder des Straf-
ausmasses, bezw. des Anssjjnichs über die privatrechtlichen Ansprüche
belief sich im .lalire Ibüb auf ir)52. (Sie hat seit dem Jahre ISSO,
wo sie 2290 betrug, nicht unerheblich abgenomnu'n). Wie gewöhn-
lich, so war auch diesmal der w eitaus grösste Theil der eingelangten
Berufungen I nämlich 78.7 Proc — von den Angeklagten ergriffen
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Laien aU Stxa£richt«r.
63
worden, doch nur in verhältnissmässijr sehr wenifjen Fällen, nünilich
7.9 Proc, mit Erfolg. Dagegen schliesbt die Statistik aus dem in
der Kegel sehr hoben Procentsatze der erfol^eichen Berofungen der
StaatsanwaUschaft, daas die Straf bem es sung in nicht wenigen
FftUen eine zu milde war. Die folgende Tabelle giebt eineUeber-
sieht iiber die Zahl der seit dem Jahre 1888 bei den Oberlandes-
geriehten all|jShrlieh eingelangten Berofongen gegen die StralnrtheUe
eiBter Instanz nnd ttber den Erfolg, den die von Seite der Staals-
anwaltBohaf^ besw. von Seite der Privatankttger, sowie von Seite der
Angeklagten ergriffenen Berofongen hatte:
Jähr
Zahl der bei den Oberlaiitii sjicricbten einge-
langtea Berufougen gegeu Urtheile der £r-
kenatala»« «ad OeMibworeiMOgeriehte
SlMta-
•Bwalt:
Privat-
anUigw:
An.
geUagten:
Von 100 Berufungen
dar
Staatsan-
vr altschaft
An-
geklagten
hatten Erfolg:
1888
170
3
1,435
1,608
73,5
6,7
1889
150
9
1,383
1,542
74,0
7,3
1890
157
2
1,501
1,660
70,Ö
S,4
1891
189
7
1,439
1,635
00,0
0,5
1892
248
1
1,581
1,830
68,9
7,4
1893
284
6
1,475
1,765
70,4
7,3
1894
232
2
1,515
1,749
72,0
6,5
1895
SSO
9
1,414
1,653
77,0
6,3
1896
857
6
1,300
1,563
81,3
5,6
1897
278
4
1,476
1,758
84,1
5,7
1898
860
1
1,301
1,652
74,9
7,9
Von den im Jahre 1898 eingelangten 1301 Berofongen der Ver-
nrdieüten waren 1236 oder 95.0 Proo. gegen das Stiafaosmaass oder
die Strafart^ besw. gegen die im Strafortheile aosgespioehene Zolfissig-
keit der Stdlong des Abgeortheilten onter Polizeiaofsieht oder dessen
Anhaltong in einer Zwangsarbeiteanstalt gerichtet (ond 65 oder
5.0 Proc. gegen den Inhalt des Strafortheils über die privatrecfatlicben
Ansprüche). Von ersteren hatten 88 oder 7.1 Proc. den vom Ver-
urtbeilten beabsiclitif^en Erfolg. Das procentoale Ergebniss des
Jiibres 189S stimmt mit dem Durcbscbnittserf^ehnisse des ganzen Jabr-
zt lints 1889 -1S98 übeiein, wie sich aas den Ziffern der nachstehenden
Tabelle ergiebt:
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64
IV. LdOEWBB, Laien als Stnfrichter.
Zahl der bei den OberJniidpsLM'richten einfyclniiKteu Hern-
fuDgen, ergriö'eu vom Aogeklagteu (Verurtheilteu) gegeo
di« Stnliwt oder du Btnhmmmm
mit P^rfolir!
oHn#> Krfolff •
VI CM% III lUJ \i U •
1889
95
1,209
1,S04
1890
112
1,333
1,445
1891
103
1,279
1,382
1892
110
1,406
1,516
1893
07
1,804
1.401
1894
89
1,352
1,441
1,354
1,248
1895
81
1,273
1896
65
1,178
1897
76
1,347
1,423
1898
88
1,148
1.236
IMe Veniiäieilleii haben sohin im Jahre 1898 an Nichtigkeite-
beechwerden nnd Bmfangren znsammen 3008 Rechtsmittel (ans-
genommen die Berufungen gegen die Stelinng unter PolizeianfBicht
oder Abgabe in die Zwangsarbeitaanslalt) an die zur Entscheidung
benifene SteUe gebracht, jedoch nur in 277 Ffillen mit Erfolg, w&hrend
die nur 567 Beehtamittel der Staatsanwaltschaft in 390 FUlen erfolge
reich waren.
Vorstehendes Ziffemmaterial Uber den Gebrauch der Bechtsmittot
bew^t, dass im Allgemeinon zu milde judicirt wurde,
nnd zwar auch schon von den Erkenntoissgerichten. Die Divergenz
zwischen den Erkenntnias- und den Geschworenengerichten hinsicht-
lich des Procentsatzes an Freisprüchen ist also nicht etwa dadurch
zu erklären, dass die (leschworenenf^erichte richtig judicirt, hingegen
«lie Erkenntnissgerichte eine erhebliche Anzahl Unschuldiger ver-
urtheilt liätten, sondern dadurch, dass die (Geschworenengerichte einen
erheblichen Procentsatz Schuldiger freigesprochen haben. In diesem
erheblichen Procentsatz von Fällen haben sich also die Geschworenen-
gerichte ihrer Aufgabe nicht gewachsen gezeigt, und die Anzulil
<lieser Fälle ist eine so bedeutende, dass man ihr Vorkommen nicht
mehr mit der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntniss venu ei-
gens allein erklären kann, umsomehr als die Resultate der Thätigkeit
der Erkenntniasgerichte bewasen, dass sie thatsftchlich mehr „Er-
kenntnisB** besessen haben, als die Laiengerichte.
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V.
Was ist heute noch von der Gaunersprache im
praktischen Gebrauch?
Dr. W. 8ehütae, GiiditmneflBor in RoBtock.
Ueber das Wesen der Gaunersijrache , iibt r ilire Entstehun«;
schreiben zu wollen, das hiesse lieute, gej^enülier Av»- Lalleniant's
frrundlejrender Arbeit, Eulen nacli Athen trairen, aber dücli bietet
dieser scbwit-ri^e Gegenstand viele Seiten, die stets von Neuem sorg-
fältig,'«- Beubaclitung erfordern, wenn wir nicht ins Hintertreffen ge-
rathen wollen. Da ist vor Allem zu beachten, dass wir es mit einer
lebenden Sprache zu thun haben, mit einem Zweig unserer deutschen
Volkssprache, der wie dieser Stamm selbst und seine ttbrigen Yer-
zw^gungen, die Jäger-, Sehitte^, Studentensprache n. & w., jafarans
jahr^ neue SchdBslinge zeitigt. Ebenso ist ein fortgesetztes Ab-
sterben alter Thdie bemerkbar, und dass bei diesem Werden und
Vergehen gerade die wilden Schfisse bauptsficbUch in Frage kommen,
ist nur naturgemSss. Um auf diesen Vorgang ttbersicbtliob binzn-
weisen, habe ich ans den mir erreichbaren Sammlungen älterer und
neuerer Schriftsteller bei jedem von mir gebrachten Wort, mdglicbst
der Zeitfolge jener Arbeiten nach g:eordnet, in eckiger Klammer die
Thatsacli«^ und Art des früheren Gebrauchs vermerkt. Die bei Av6
Laliemant und Kluge abgedruckten Sammlungen habe ich nach
diesen angefülirt, theils weil sie auch mir meist nicht anders zugäng-
lich waren, theils, weil sie dort für jeden anderen, der vergleichen
will, am bequemsten erreichbar sind.
Schon die oberflächliche Iktrachtun^^ zeii.rt, dass in der Gauner-
sprache ein unjreheurer Wechsel stattirefunden liat. Einzelne Worte
lassen sich allerdinjrs bis ins 14. Jahrhundert zurück verfoliren, die
weitaus meisten aber sind wesentlich neueren, zum Theil sehr neuen
Ursprungs.
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66
T. SchCtsue
Das miiss um so mehr auffallen, als fast alle meine Gewährs«
mäBD» derselben Classe angehören, die seit jeher die Grundlage der
Oaunerwelt und damit auch ihrer Sprache gebildet bat, dem gewerbs-
mässij^en Bettler- und Landstreicherthum. Diese I^eute verwahren
sich zwar meist Kbhaft f^e^en Verwechslung mit dem eigentlichen
Verhrecherthum und behaupten vielfach auch, dass die Kunden-
sprache, d. Ii. die der fahrenden Leute jeder Art, von der Verbrecher-
sprache grundsätzlich verscliieden sei, doch ist dies m. E. viel
zu weit gegangen. Oertliclie Verliültnis.se werden hier natürlich ein-
wirken, der Specialist wird besondere F'achansdrUcke haben, die er
sein iSondereigenthum nennen kann, auch wird der sesshafte Gross-
stadtyerbrechcr in seinen geschlossenen Kreisen ausser allerhand Be-
sonderbeiten manche Sprachschätze consenratiFer bewahrt haben, als
der bewegliche Vagabund, der fortwährend unter nenen Eindrücken
steht, doch im Grossen nnd Ganzen dftrfte die Sprache des Kunden,
gerade weil er ttberall hmkommt und in Herbeigen, Gefiingnissen und
Aibeitshänsem auch mit Verbrechern jeder Art zusammentrifft, die
Gauneispiache am vollkommensten widerspiegeln.
Da der Verbrecher fttr ihn der grosse Mann, der Held ist, der
ihm mit yomehmer Zur&ckhaltnng begegnet, nimmt er bewundernd
und begierig alles tou ihm auf, um selber dann wieder damit her-
▼orzntreten. Ausserdem sinken besonders mit zunehmoidem Alter
und mit Hülfe des Ikanntweins viele dieser durch's ganze Reich ge-
kannten und genannten Grössen von ihrer unnahbaren Höhe herab
und gerathen unter die Brüder von der Landstrasse, so dass auch
dadurch wieder etwaige Sprach Verschiedenheiten einen Ausgleich er-
fahren.
Trotz dieser durch die Vorflt^afen^'erzeich^isse vielfach bestätigten
Erfahrungen aber, und obwohl auch mancher alte Verbrecher im
engeren Sinn mir Bt'iträge geliefert hatj kann ich das nachfolgende
Wörterverzeiclmiss nur als eine »Saninilung aus der Kundensi)rache
vertreten, da sich mir in meiner Stellung als Amtsanwalt nicht hin-
reichend anderes Mensehenmaterial geboten hat, um weitergehende
Behauptungen aufstellen zu können. Da aber jede Menschenclasse,
die auf unrechten Wegen wandelt, ihren Anthdl zu dem unzählbaren
Heer der Landfahrer stellt, glaube ich vor der sonst sehr nahe-
liegenden Gefahr bewahrt geblieben zu sein, Gaunerworten von all-
gemdnerer Bedeutung einen yerengerten Smn unterzulegen, wie er
yielleicht gerade einer besonderen Verbrecherdasse entspricht, mit
der man hauptsfichlich zu thun hat. So sind z. B. fast alle Ton
Roscher in Gross' Archiv Bd. 3, S. 277 f. gebrachten Ausdrücke m
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Was ist bente noch von der G«ttiieiq»i«die im pnktiachen Gebrauch? 57
ihrer Ueberselziin^' auf Zuhälter und Bauernfänger zufi:('Sclinitton.
Dass solche unzutreffenden Ein8chränkunfj;en in der Ilantl des Prak-
tikers, der sich auf sie verlässt, 'grossen Schaden anrichten krmnen,
liegt auf der Hand. Finde ich z. B. in dem Tagebuch eines nicht
mit Arbeitsanswasen gesegneten HenselieD, er habe die letastm
14 Tage Kohldampf schieben mllBaen und übenetze mir dies nach
Boflcher dahin, dass er während dieser Zeit als Zuhälter ohne
lYauenzimmer gewesen und daher kein Geld gehabt habOi so ist der
Mann dadurch mit einer durch nichts begrilndetien Untersuchung auf
Zuhälterei bedroht, die ausserdem von der richtigen Spur ableitet.
Gerade darin steckt aber ein sehr wesentlicher Thdl des Nutzens»
den solche Wortverzeichnisse haben, dass der Praktiker sich un«
bedingt auf sie verlassen kann.
Jeder Gensdarni und jeder staatsanwaltschaftliche Beamte muss,
wenn er seinen Pflichten gerecht werden will, vor Allem die Papiere,
d* b. auch die Briefe und die auffallend häufig anzutreffenden Tage-
bücher der ihm verdächtigen oder eingelieferten Personen sorgfältig
prüfen. Steht in diesen etwas für die Untersuchung Wesentliches,
und er verwendet es nicht, so hat er von vornlierein jede Autorität
dem Gegner gegenüber verloren, der ihn schnell und fachkundig
unter die niclit sonderHch zu fürclitende grosse Gruppe der Pfuscher
und Sclinellfabrikanten einreiht. Da-s sorgfältigste Nachsehen anderer-
seits nützt nichts, wenn wie gewöhnlich viel Kundensprache drin vor-
kommt, und für diese der richtige Schlüssel fehlt Um diesem Zweck
dienen zu können muas unsere Wortkunde bei dem grossen Wechsel
in der Spnushe in nicht zu grossen Zeitafaständen immer wieder einer
eingebenden Prüfung unterzogen werden. Einen gewissen Werth hat
es ausserdem schon, dass man auch nur weiss, der Betreffende kennt
die Gannersprache, wenngleidi ich nidit so weitgehende Schlüsse
daraus ziehen mdchte wie Gross, Handbuch 3. Aufl., S. 288, da
me wenigstens theiiweise Kenntniss der Gaunersprache sich bei deren
grosser Tofbreitung unter den Handwerksgesellen zuweilen bei völlig
harmlosen Menschen findet, die thatsächlich noch nie mit dem Ge-
richt in Berührung gekommen sind und nur auf der Wanderschaft
und in den Herbergen manche Brocken aufgeschnappt haben.
Da ich erst seit wenig über ein Jahr habe sammeln können, so
kann mein Verzeichniss auf Vollständigkeit, die keiner Nachträge be-
dürfte, natürlich keinen Ansj)rueh machen, doch glaube ich, dass icli
trotzdem die hauptsäcIiHch i:i'!)räuchlichen Ausdrücke ziemlich er-
schöpfend kennen gelernt liabe, da mir in den letzten Monaten wenig
Keu^ begegnet ist, obgleich die günstige Lage Kostocks auf der
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68
V. Schütze
Dnrchsugsstraase an des Eflste ein liemlieh nmfangreiehee Menseben-
Quiterial — im Winter bis 14 Einlief emngen am Tag — bietet von dem
allerdings nur ein kleiner Tbeil und aneh dieser erst naeli soig-
fältigster Vorprüfung für diese Zwecke verwendbar ist.
Aueh bin ich zu der l'eberzengunp: gelangt, dass der Reichthnm
der Gaunersprache, die ihren Höhepunkt scheinbar um die Zeit von
1820 — 1840 herumhatte, in der Kariiiayer sein FreistädttT Oiossar
sammelte, ganz bedeutend im Rückgang begriffen ist , denn nur eine
verhültnissmässig kloine Zahl von Worten der früheren umfangreichen
Sammhingen ist scheinbar den heutigen Kunden noch bekannt, ol)-
wühl manche unter meinen <.ie\viihrsleuten . besonders aus gebildeten
Kreisen stammende, dieser Sprache offenbar seit längerer Zeit eine
gewisse liel)evolle Aufmerksamkeit hatten zu Theil werden lassen,
wie man sie etwa absterbenden heimathlichen Volksgebräuchen wiihnet.
Bei der Zusammenstellung habe ich keinen Ausdruck berück-
sichtigt, der mir nicht mehrfach selbstständig als noch jetzt in leben-
digem Gebmnoh entgegengetreten war, so dass icb vor den dnrdians
nicht seltenen, theils nnbeabsiehtigten, theils böswilligen Tänschnngen
bewahrt zn sein hoffe, andererseits habe ich auch einzelne Worte
aufgenommen, die m. A. nicht ansscbliesslich der Knndenspxache an-
gehören, da es für die hochwichtige psychologische Benrtheilnng von
wesentlicher Bedentnng ist, zu sehen, ans welchen Gebieten der Kunde
seinen Sprachschatz zu bereichem sucht Aus diesem Grande dürften
auch dii Ableitungen und Erklärungen interessiren, die er sieli selber
für seine Redewendungen zurechtlegt, wenn auch vielfach offenbar
unrichtig, üeberhaupt ergeben die Umformungen, die ein ^Vort sich
im Laufe der Zeit hat gefallen lassen müssen, sehr häufig, dnss der
Verkeiir sich doch geru bei den ihm unverständlichen, weil ursprüng-
lich z. ß. hebräischen oder lateinischen Worten etwas hat denken
wollen, sie deshalb an ähnlieh klingende meist ganz etwas anderes
bedeutende deutsche Ausdriieke angelehnt und naeh deren Sinn aus-
gelegt hat. Sehr bezeichnend ist in dieser Beziehung z. B. das Wort
Socher, das nach Av6 I^llemant tu a. ü. Bd. 4, S. 117 im Hebräischen
= Kaufmann ist und mit ,,Sochar*' zusammenhängt, er ist umher-
gezogen, besonders in Handelsgeschäften, um zu kaufen und zu ver-
kaufen, und das auch in der Kundensi)rache : Kaufmann bedeutet
Statt dessen haben mir mehrere Personen, die nichts von einander
ahnen konnten, den Ausdruck ^Sucher*^ gegeben und schliesslich
stellte sich die zweifellos gutgläubige Erklärung ein: das sei ein
Spottname anf die Noth des heutigen Provisionsrasenden, der in jedem
Nest und jedem Winkel hemm suchen müsse, ob er nicht noch Be-
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Was ist heute noch vun der CSauoenprache im praktischen Gebrauch? 69
steller finde. Aebnlich dürfte es nm das Wort ;yfehmeni'' stehen und
sieher um die Ausdracke Kohl, Kohl reissen, Kohl pflanzen = blauen
Dunst Toimaehen, die nach Atö Lallemant mit unserem deutschen
Wort Kohl flbeeaU nichts zu thun haben, sondern von dem hebrä-
ischen kolf Mehrzahl kolos abzuleiten sind — die Stimme, das 6e-
rttchl^ der Sohall| lis^ Finte^ alles was man zum Schon thut (V^.
A. Lb a. a. 0. Bd. 4, S. 447, 561.) Andere Bdspiele bieten die Worte
Kahn Bett, nach Ay6 lallemant Gefilngniss vom hebräischen
kaan = hier (A.L. a. a. 0. Bd. 4, S. 387, 552), Moos = Geld, Plural
vom hebräischen moo «= Steinchen, Pfennig (vgl. A. U a. a. 0. Bd. 4,
S. 405, 575), Kies — (^cld von kis = Beutel, Sickel (A. L. a. a. 0.
Bd. 4, S. 3S9, 558), schwäclien = trinken von sowach = schlachten,
opfern (vgl. A. L. a. a. 0. Bd. 4, S. 007), Schmiere — Polizei von
Ischoinar =— er hat behütet, bewacht (vgl. A. T.. a. a. 0. Bd. 4, S. 472,
596), Knast =■ Gefängnissstrafe, Urtheil von konas == er hat bestraft
(VL'I. A. L. a. a. 0. Bd. l, S. 449, 559), Kaff, Kaffer = Dorf, Bauer
von kt'|iliur — Dorf, kaplier = Bauer (A. L. a. a. 0. Bd. 4, S. 392 unter
kophar und S. 555 unter Kefar), Katzliof == Fleischer von kazow =
Fleisciior (A. L. a. a. 0. Bd. 4, S, 450 unter kozaw und S. 555 unter
kazow) u. a. Wo solche Anlehnung an l)ekannte Worte fehlt, wird
der unverstandene Ausdruck vielfach unsicher im Gebrauch. So
findet sich z. B. Poscher (von poschat = geplündert, poschut =«
Pfennig, Kleinigkeit, A. L. a. a. 0. Bd. 4, S. 438 unter poschat, S. 586
unter poschut) bald « 1 Pfennig, bald — Groschen. Ebenso herrscht ün-
Sicherheit im Gebrauch, wo es sich zwar um eigentlich deutsche Worte
handelt, die aber auf den widerzugebenden Begriff nicht nothwendig
hinweisen, so wird für Hose bald Weitling, bald Streifling gebraucht.
Aus allen diesen Gründen ist eine zweifelsfreie etjrmologische
Ableitung oft kaum möglich; wenn sich diesbezügliche Erklfinmgen
bei A. L. finden, habe ich auf ihn verwiesen.
Die eingehende Bezugnah nie auf frühere Quellen soll in Zweifels-
fallen dem Praktiker eine sichere Handhabe bieten und wird in ihrer
Zusammenstellung, hoffe ich, zum Verständniss der Psychologie der
Gaunersprache beitragen. In dieser Beziehung ist besonders der Ver-
gleich mit den Krämersprachen interessant, die viel Verwandtes
zeigen, in nianclion Fällen aber den Worten eine völlig: alnvcichonde
Bedeutung beilegen. So heisst Gallaeh, das von altersher überall ==
Priester ist, hier plötzlich Kaufnuiun, und niasseniat, das nie etwas
Anderes bedeutet hat als l)icbstahl. Einbruch, heisst hier „(Jeschäft*'.
Da auch die englische Volks- und besonders ( Jauut rsprach»' bezeich-
nende Lichter auf die Internationalitüt mancher dieser Wortbildungen
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60 V. ScbCtde
wirft, habe icli auch diese zum Verfrleich heranfrozojren, soweit es
an der Hand von Ii. Bau mann 's ^ Londonismen" möglich war.
Die nHauptvermitUer'' des Gaanertbams scheinen auch beim Ver-
gleich dieser beiden Sprachen wieddr die Juden gewesen za sdn.
Zum Schlosse mOchte ich nochmals darauf hinweisen, dass sämmt-
liehe im Folgenden Ton mir gebrachten Worte mir im lebendigen
Oebraneh entgegengetreten sind.
Der Baumersparniss und Uebersichtlichkeit wegen habe ich fol-
gende Abkürzungen gebraucht:
Kl — Rotiiwelsch. Qnellen und Wortschttz der Gannersprache und der ver-
wandten Colieinispradien Ton Friedridi Klttge, Bd. 1 StnMbtug 1901 ist
steU nur Kl. zitiert.
A. L. Friedridi Christian Benedict Av6 Lallemant, Das deutsche GUumer-
thum iu seiner su/ialpolitischen und lingiiistisehen AuabüdllDg ZU aelneiii
heutipron Bestand»', Leipzig lb5&— lb62, Bde. 1—4.
Steht nur A. L. ohne Band- und Sdtenangabe, so ist das Wörteihnch
in hd. 4 S. r>i:»ff. pomoint.
Gr. — Wrirtorltueli in (iross. Handbuch für L'utersuchuupsrichter, 3. Aufl.
S. 2!)2 ff.
L V. — Uber vagatorum, 3. Teil, vocabnhuius bei A. L. Bd. 1 & Iblff.
B. 0. Der Betlerordon und or Vokabular in roth welsch, S. Teil — Vocabn-
larin.< hei A. L. Bd. 1 S. 21)2 ff.
Deecko = Daa Deecke'sche Manuskript aus dem Ende des 17. Jahrhunderts mit
WSrterbneh. Letztere» bei A. L. Bd. 8 S. 24Sff.
Chrysander Grammatik bei A L. B. 3 S. 404 ff.
Fr. Gl. -= (iauner^ilossar der l'reistüdter Uandsclirift von Kajciau Karmeyer,
.Tenniseh = Deutseh, bei (iroas, Arabiv B. 2 S. 84—112, Bd. 8 S. 129—192,
S.3ü5— 33Ü, Bd. 4 8. 273— :!00.
Fr. G.-Gl. — Da.H8elbe Gaunerisch-Deutsch ebendort Bd. 4 8.301-804, Bd. 5
S. 131— H>2.
Lmdenbeig Berliner Polizei und Verbrechertbum von Paul Liudeubeig, Leipzig
1891, Kedam.
Bawniann, T/uidonlsmen (Slan;^ und Cant). Wörterbuch der Londoner Volksprache
sowie der üblichsten (<ann(<r- u. s. w. Ausdrücke von Ii. liaumann, 2. Aufl.,
Beriin 1902.
1350 = Dietmar von MiM kiOiach bei Kl S. 2.
1450 = Die Baseler BctriijLrnisöe der Gvler bei Kl. S. bff.
14<H» = (Jerold Edlibach bei Kl. S. 19f.
1516 — Gengenbach bei Kl. S. S».
1593 = Fischait bei Kl. 112f.
1597 — Bon. Vulcannis bei Kl. 8. UM ff.
13i9S ■> Die Sprache der Lanzknechte bei Kieiu; bei Kl. S. Höf.
1608 — Baa l^ederHlndische Lied bei Kl. S. 122 ff.
KUr. = V. Wallhansen bei Kl. S. 129f.
1616 — Andrea bei Kl. 8. lauf.
1620 — Scbwenter s 8teiran..l(.^'ia bei KL S. I32lf.
1628 «SS Sneciiu-i bei Kl. S. IM.
1640 — Möschen »seh bei Kl. 8. l.".2ff.
* 1Ü52 — Wencel 8(lu rff. r bei Kl. 8. i:.5.
16b7 =- Wahlerei des Andreas Hempel bei A. L. Bd. 4 S. 93 ff.
1691 = Ludolf bei Kl. 8. 172 ff.
1714 == Griindlirlic Nadiriclit bei Kl. 8. IT'Hf.
1716 <^ Lips TuUians Leben bei Kl. ä. 17b ff.
1722 — Waldheimer Rothwelsche Lexikon bei A. L. Bd. 4 S. 118fr.
172:! D.K I 'uisbnrjxer Vokabular bei A. L. B. 4 S. 105f.
1733 — Bas ier Glossar bei Kl. Ö. 177 ff.
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Wm ist hente noch von der GannerBpraehe im pnkdscben Gebianeh? 61
1785 — Die Koburjjer Desi^untitui bei Kl. S. 203 ff.
1787 — Der jüdische BaldODer bei KI. S. 205 ff.
1745 DsL& Hildburghnnsener Wörterbuch bei A.L. Bd. 4 & 151 ff.
1747 — Da» Strelitzer Glossar bei Kl. S. 213 f.
1T50 «> Da:* Würterliurli von St <M>()r<:('n am See bei A. L. Btl. 4 S. l.Slff.
1753/5 — >teue ErwoitcruDgen der Erkenntuias nnd dee Vorgänge» bei KL
8* 285 ff.
1755 — Kotliwelsohc rJrammatik bei Kl. 8.2STff.
1764 — V. Ki'itzenstein bei Kl. S. 237 ff.
1TS7 — Sulzer Zijceunerliste bei Kl. S. 25i) ff.
1791 « Worterbuch de« Constanzer Hans bei A. I.. T?d. 4 S. IfiTff.
1793 •= tSchäffcr, Abriss tlcs .Jauner- und Bcttchveseus io Schwabeu bei A. L.
Bd. 4 S. 17!>ff., bei Kl. S. 268 ff.
Ib04 » Bec'icer, Alctenmisauge Gcscliicbte u. s. w. bei KL S. 275f.
1804a — Reichsanzeiger von 1804 bei KL b.276ff.
1S07 — Wörter\ erzeichniss von Mcjer bei A. L. Bd. 4 S. 184ff.
1S07 a — Schiutermichel bei Kl. 5. 2b7.
1812 — Pfister, AktenmSssige Geschichte der Räuberbanden an den beiden Ufern
des Mains, deren W("rter\ eiv.eichniss bei A. L. Bd. 4 8. 1991f.
1^^2a «= Ein schiesischer Häubcrproze^^s bei Kl. 8.292 ff.
Ibl3 M Sprache der i?charfrieliter bei Kl. Ö. 307 ff.
ISlSa — V. Crolnians. Alctenmä.ssi<^e (ietichiehte u. s. w. bei Kl. S, ;n'*ff.
1514 — ('. 1). Lliristenscn : Alphabetisches V'craeichniss einer Anzalil \ oii Käubern,
Dieben u. s. w. Worten'eraeichnis bei A. L. Bd. 4 S. 199 ff.
1515 mm ti.L. Hermann, Kurze Geecliichte des Kriminaiproaeeasee wider den Brand-
stifter Johann Christoph Peter Horst n. s. w. Wftrterv«rseichni88 bei A. L.
Bd. 4 S. 226 ff.
Ib2ü » Diebs- und iiäubersignalement und J auner- Wörterbuch, herauagegeben
zu Pfnllendorf. WSrterverzeicbnis bei A. L. Bd. 4 8. 282 ff.
lS20a = Hittler. Gaunerstreiche u. s. w. bei KI. y. 34r).
l'siub — Schwenken. Notizen über die btriiclitigaten jüditschen Gauner u. s. w.
bei Kl. s. :U7.
iViOc -= Briinity; Hncyklopädie bei Kl. S. 34s ff.
l*>2üd — bpitzbubeuäprache vulgu Handthierka bei Kl. S. 353 ff.
1821 — Pucbmayer, Urammatilc nnd Wflitabacii der Zigeunwvpnche bei KL
S. 365 f.
1928 » btnhimftller, YollstSttdlge Nachrichten über eine poKzdlidie Untenodiang
II. j«. w. bei KI. i>. 359 ff.
Ib2b — Pfeiffer, AtLtemuät^eige Nachrichten bei Kl. S. M(i2f.
1680 « PUlwdn, Gesdiichtc, Geographie und ^^tati^tik bei Kl. S. 365 f.
1840 — Sclilemnier. Per praktische Kriiiiinal-Folizei-Beauite bei KL 8.867ff.
1846 — Berliner I'inien- und Dicbsspraclie bei Kl. S. 371f.
1"»47 = Zimmermann, Die Didn' in Berlin u. »^.w. bei Kl. S. 372 ff.
1847 a » CastoUi, Wörterbuch der Mundart in Uaterreicb anter der £nna bei Kl.
S. 890 ff.
l-^öl — Kud. Frühlidi, Die t,'cf;ilirli(licn Klassen Wiens bei KL 8.392ff.
Ib56 mm V. P., Die Kunden und ihr Treiben bei Kl. b. 4 14 ff.
1886 « Wiener Diniensprache bei Kl. 8. 4iefr.
Knndenapr. I Wagnt-r. Kotliwelsche Studien bei Kl. S. 421.
— n — Otto Buckel, Deut.>iche Y(>lk»lieder aus Uberhessen bei Kl. S. 421.
. — III =» Kocholl. 6 Monate Vagabund bei Kl. S. 424 ff.
— IV — Linke. Deutsches Handwerksburschcn-Lexikon bei Kl. 8. 430ff.
Krimerspr. I => Das Pleis«*len der Kilierthäler bei Kl. h. 434 ff.
— II = Die 8prache der Pfälzer Händler hei KI. S. 487 ff.
— III — Grimme und Kluge, Winterfelder Ilauttirersprache bei KL 8. 4S9ff.
— IV — Gundermann, Die Frickhöfer Sprache bei Kl. 8. 442.
— V M Der Schlü-'sol /um Krämerlatciu oder kune Anleitung zum
Uennese-Fleck der Breveilcr bei KL 6. 44ttff.
— VI » Die schwibisehe HSodlersprache bei Kl. 8. 476ff.
— VII — Simon Salonion, Das Jenisch der Eitler Hansircr bei Kl. S. 490f.
Lebende» Kothwelbch <-> Uoyer, liallächcr Lattcberschmus bei Kl. ä. 491 ff.
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68
V. Schütze
Acht, die (v^l. Arnispan^cn. Hret/.i'l. Fiidisc, Man-
wlu'ttcn, Rosenkranz; genauer am liänd^cl gehen).
Achtgroschonjungo, der [Ldbg. B'U = Vigi-
lant. Spfthcr derPolizeh Gr. — PoHzeispion, Ge-
li('iiiip(»!izi<tl
A c h t b a 1 b c r , der (in Westpreu&^u, besundcrs Tlium,
Gollap ond Umgegend)
Äffchen, das« (vgl. Kadett! (Rosdier io Oron, Ar-
chiv Bd. 3, S. 27H: I»i r iMinime. der froriipft wer-
den soll — zu eng — Kuiidenspr. J]l bei Kl. S. 424 :
junger Handwericsbandie In guter Kleidungl
Affenfett, das
Anhauen |Kimdoni*pr. III bei KI. S. 424 um
etwas besonders Wünschensworthcs extra bitton.
Gr.: bittm, anbettdn] (vgl. fechten)
Arbeiten (v<rl. l»e/.iipfen) fls4ri bei Kl. Ö. 372 —
Proetitutinii irciiicii - zu eii^' — ; A. L.: Arbeit
= Diebshuiidwerk, stehlen, betrugen]
Arm Spangen, die (vgl. Acht) iBaumann, Ix)ndo-
ni^mcn u. ■. w.: braodetB » HandecheUen. Eben-
so Gr.l
A raeh k ratz er , der (5^. Doktor, Schaber, Sdianm-
litttM*, SchnauzenschlajLTer, VersclionenmjLTsrath)
Asche, die. blanke, rothe, schwarze. (Vgl.
Blech, Draht, Kies, Kitt, Mesumme. .Monne, Mous,
Pulver, Zaster, Ziinmt, Zinsen) iKuiidenspr. II bei
Kl. 8.422 Asche = Geld; ebenso Kundenspr. III
und IV dort S. 424 bczw. 430, letztere auch:
rotho, blanke, weisse Asche — Kujjfer-, Nickel-,
Silberjreld. Lcbd. Uotliw. dort S. 491 Asche ■»
(Jehl, ebenso I.illiir. und Gr.) Vgl. in der
englischen Gaunersprache red clock »goldene,
white clock ailbeme Uhr, mddy « Goldgeid
bei Baumann, T.ondonismen.
Die Asche ist verbrannt Das Geld ist dui-chgebracht.
Angnst, blanker, auch weisser oder gelber, Genadaim.
wenn er weisses oder gelbes RieuHSUSong tiflgt
(\gl. Blitzableiter)
Baldowern 11T87 bei Kl. S. 206 Baldower » An- anakundsehafton, wo etwas
Seber; 1747 dort?. 214 Auskundschafter; 1804a BU machen ist
ort S. 277 und lsi»T Balltover dort S. 2S4 eben-
so; 1S12 baldowern -= verrathen, entdecken bei
A. L. Bd. 4, 199; 181h baldoTem <- auskund-
schaften Bd. 4, S. 22« dort; l&20c bei Kl. S. 84S
baldowern cb.ii>.i; .lesjjl. \^'l?> dort S .'If)!); 1S2S
dort S 3t>2 Baldower einer, der Gelegenheit
znm Diebstahl anssieht; Fr. Gl. baldowein — aus-
kiuidsclianeii . entdecken, besonders die Gelej^en-
heit zu einem Diebstahl, behaupten, .ingeben;
1S46 bei Kl. S. .HT2 baldowern anskundsehaften;
1*«IT dni-t S. :tT.-! Hahbtwor ^ Kundschafter; 1S51
l)aid(>wern = nachweiM-n. anweisen. 1 >iclis{;elcjxen-
hcit erkunden und mittheilen, dort S i'.tl; A. L.,
Kundcnspracho III bei Kl. S. 4i24, Liudcnberg 1S91 '
und Gr.: ausbaldowern auskundschaften; Ab- \
Handschellen.
Zutrfiger der Polizw.
1 25 Pf. — 2 '/ j-Groschenstfiek
(angeblich Rest der alten
' polnischen Guldeowih-
I ning).
I junge unerfahrene Hand-
werkslmrschen , beson
ders wenn sie nocJ» nett
und saaber augezogm
sind.
Schmalz.
I betteln, als erste milde Au-
frage, will der Botref-
fende nidit geben, so
bohrt man.
' einbrechen, nach Anden)
all-jemein auf böse
' Wege gchcu.
Handschellen.
Bari>ier.
Geld, 6ilber-,Gold-, Kupfcr-
geld.
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WaB bt heute noch von der Gannenpraohe im piaktidien Gebrauch? 63
leitnn^'' au^ «lern Jüdischen bei A. L. unter au8-
bal(lo\v(>rn.
Banka i lu'it (vfjl. Knacker) machen iKnndcnspr.
II bfi Ki. S. 422 Baukarbcit — auf ik-r Bank
schhifen; III dort S. 421 = auch auf Tisch und
blankem Fassboden; IV dort: B. machen auf
Bank, Tioch, blomer Dfele schlafen 8. 480)
bc'blul»bert ivg'l. be*chni(irti
Beiuliuge, die (KunUenspr. II und III bei Kl.
S. 432, 424: Beinlinge — StrQmpfe]
Berg- und Thal versctzer [Kundenspr. III bei
KI. S. 424 Benennung für die, die kein eigcut-
lichc^i Ge::<cliäft betreiben, oder daa frfiher erlernte
versessen haben]
Herl fn er. der (anch Charlottenbni^r, Potsdamer,
in Oesterrt'icli IJniidi = Kanzcn. Rande, l)('sondei*s
von den Schmieden iji Ocsterr. gebraucht) |Kun-
denspr. II bei Kl. S. 422 „Felleisen",- III «Reise-
bündcl-, dort S. 4'J4: IV dort S. 430 = gewöhn-
licher Ausdruck für ilaudgepäck jeder Art; Krä-
merapr. VI — Baosen S. 4S5 dort]
Beachaskert (vgl. beachmort [Deecke bei A. L.
Bd. 8, S. 250 schassgcncn — trinken ; ClirA siander
dort Bd. 3. S. 405 schasgen ebenso; desgl. Isl2
dort Bd. 4. S. 2Ui schassgenen und Fr. Gl. : schaj*-
kenen,Bcba8kelen; li>2üc uei Ki. S. 349: liekaskert
— besoffen, betrunken, alto Spradie beachöchert;
A. L. aui^sdiasiijcnon = austrinken, auszechen,
bckaskcrt - betrunken; Kundenspr. III bei Kl.
8. 424 beeehaskert, Krämerspr. 11 dort S.43S be-
schassnet = botninken; Krämerspr. III sciiaskera
triukcD dort S. 447; Ableitung aus dem Jü-
dischen vgl. bei A. L.
Bcechmort (v^l. beblubbert, beschaskert. be-
schwabbelt, Blasen an den Füsseu, duhu, fett, zu
schwer geladen, .schicker, solig, im Tritt) [ebenao
Kundenspr. UI bei Kl. S. 424.J
besch wabbelt (vgl. bcsdimort) [ebenso Kunden-
Iii Itci Kl. S. 42S1
b e s e i b e 1 u i\'gl. kaspern)
bezupfen (vgl. angän, arbeiten, gampfen, klauen,
klemmen, mausen. iiKiu'cIn. nioggeln, mopsen,
stippen, zotteln» [l.')H^ zupfen == stehlen, zugreiffen
bei Kl. Uli: \:\Ki dort S. 271 ^- nehmen; 1820
bei A. L. Bd. 4, &. 233, 243 bezopfen — ans-
pl&ndom, stehlen; lS20c bei Kl. S. 853 zuppen —
sieh jemanden zum Beischl.nfer nehmen; ls2*« dort
& 3t>3 zoppen » sidi in die Häuser schleichen
und stehlen : FV. Gl. zopfcn herausziehen, heim-
lich nohnu'ii. erwischen, entwenden ; .V.L. zupfen,
zuppcu, zoupeu »= ziehen, hi>suiuU>rs aus der Ta.schc
atMuen; Kundenspr. II bei Kl. s. 4*24 — zupfen
stehlen; Kranicrspr. I dort Zoiifoin) = Brot
dort 8. 437; Krimei-spr. VI zopfon = >telilen dort
8. 4bH, aber dort S. 4ST — verhaften; (ir.: zupfen
« ziehen, zerren, aus der Tasche stehlen]
auf der Bank schlafen ; be-
sonders im Aufonthalts-
local, das nicht eigentlich
Schlafrauffl ist, nach An-
dern allgemein.
betninken.
Hose (andere kenueu die-
sen Ausdruck nicht, dritte
brauchen Beinlinge für
T'nter- . Weitliuge für
Obcrhoso).
s. Wolkenacbiebor.
jedes Packet nicht nur die
ursprünglich so genannte
Wachstuchhülle. «Ber-
liner'' soll das Ursprüng-
liclio sein, die ül)rigcn
AuMlincke sollen mehr
für klfiüc l'ackete und
Bündel aller Art ge-
braucht werden,
betranken.
betrunken.
betmnken.
betrugen.
stehlen (nur vom Leichen-
fleddererl.
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64
V. ScHüns
Bielefelder, der (vgl. Gipsverband)
Bienen lanch RisinaiTkkafer, Kirnnadeln oder bloss
Nadeln, .Müllcrflölio, Heichsküfer — »ehr allgc-
tucin , Satkiatteu, Trichioen, — nach Kunden-
Glauben lialu'u einif^e ein schwar/.os Krctiz auf dem
Kucken, den sogenannten „Sattel", andire einen
flehwarzen Fledt tm Kopf, den „MaulkorVi". Da-
nach scheidet man sie in „Pommern" und ,Bran-
donburger") [Kundenspr. litBienclien; III und lY:
Biene - Uns bei KL S. 422, 424, 480|
bienen oder nachbienen
Bienenkammer, ^e
Bisniarckkafer, der (vgl. Bioiuii)
Blasen au den Füssen (v^'l. bischinortt
Blaue, der (vgl. Interne — bi'souders in Württem-
berg — , Putz, Putsch, Schmiere) [in der euglisdicn
Gaunerspr. findet sich nach Bauniann, Londunismen
15 ebenfalls „bhie" =-= Polizist]
Bloch, das (vgl. Asche) JTL v. Blech blaphart,
Bledilein — krentzer: B. O. : bleek ein mathier,
bleklin==kortlin$;; IS2nd bei Kl. S.854: Pleoh —
«roschen; Fr. Gl. Blech — Geldl
Blei, das (vgl. Dittchen)
Blei er, der [ISSf. bei Kl. S. 41.'): Dufter Bl. = ^uter
Gruschen, oder süddeutscher Sechser, linker Bl. =
sQddentBcber (Müschen oder Silborgroschen ; Kun-
densprachen II, III, iV bei KL S. 422, 424, 430 —
Zehnpfennigstück]
Blind, z.B. blinde Zahlstelle
Blitz, der (vgl. Knast, Rems)
Blitzableiter, der — selten blanker August,
weisser, gelber, Fusslatscher, Klempners Karl,
Vorhemd, Kragen u. dgl.
weisse Wüsche, beson-
ders wenn von Leinen,
aber aocli von Papier.
Ungeziefer befwinders ISimc
aoer nicht Flühe, die zuli-
len nicht mit, während
bezeichnender Weise
.schon die Kriinierspra-
chon eine Reihe von Aus-
drücken für den F'loh
haben, so Kr. III bei Kl.
S.441 llü[ierlinge, V dort
S. 449 Gncks, VI dort
S. 48t: Hase, Schwarz-
pfitzing, Hupferling,
Spitzvogel und sogar den
althergebrachten Namen
für l*aus: , Walter"*, in
dieser Form und als
„Walterle" für .Floh*
verwendet. Die Benen-
nung nach Nationen fin-
det sich auch in der eng-
lischen Gaunerspradic:
Sootdi-greys, cigendich
= schottische Kavallerie
in grauer Uniform für
«Lmse'^ gebraucht Bao-
niann, LondcMtismen.
S. 197.
auf Behüiebkelt, d. h. Un-
geriefer untersuchen, be-
sonders die Staude.
Abthcil iu der Herberge,
wo die LäusevertiUdi-
tigen schlafen.
Läuse.
betrunlictt.
Polizist
Geld.
2^hnpfcnnig8tQck.
Zehnpfennigstück.
unbrauchbar, wu's nichts
giebt, z. B. Unterst&t»
zungßsteiie fOr die man
schon auf der vorigen
vorausl»ekonunen hat
Stadtverweis, Urtheil.
Genadaim allgemein.
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Was ist heute noch von der Gsnnenpfsdie im praktisdien Gebnrach? 65
Schocker, Schie», Spitzkopf, Teckel) [ebenso A.L.; ]
Kundensäprache III oei Kl, 8.424: Krämerepr. IV I
lilitzabiciterkcn — fJensdanu dort S. 442; (ir.l
Bohren (vgl. anhauen, fechten) L^r. Gl.: «atechcn'
im selben Sinn]
Brandenburger, der (vgl. Bieueu)
Brennen, (licStt inp, [anders A. L. Bd. 4, S. i'iT =
berennen, ansprechen, fordern oder — gefangen
■ilzen und Lindenbei|^ 1891 « Erpressen der Ver-
brecher unter einander, wenn einer von ihnen Beute
gemacht hat, „brennen^ ihn die andern. Kunden-
spr. IT, Jedoch bei Kl. S. 430 hat auch: Die Steine
brennen — es ist \ iel Polizei am Ort, und jeder
Haiuhverksburschc wird arretirt]
Bretz el , die (Vffl. Acht) (A. L. Bd. 4. S. 527 Bretzen
— Uandflcheilienl
Brodfafarer, der
Brotl fahrt, auf die B. jyehen
Bruch, der, besonders schwerer, ursprilnglicli öster-
reichisch, wird mit allem zusammengesetzt, ist im
Norden neben ..Palla»" einfredrnnpren (vfrl. Jichie-
bongen) iKuiulenspr. III bei Kl. S. 424: Bruch sein,
im « in Kleidung herabgekommon sein)
Bruch bind er. der (vgl. iUeisterheni^}
Bruchd ru L'ke r , der
Buddel, die (auch Finne, Katline, Kilometerstein,
Thermometer. Unke, Verbandsbuch, W^weiser)
Bade, die (vgl. Sduistalmde)
Charlottenburger, der (vergl. Berliner) [ Kunden-
8pr. III l)ei Kl. s«. 424 «— Uninäugeta^clie
Chausseegrabentapuzierer.dcr iKundenspr.Ill
bei KL SC 4M Belg- und Thalversetzer]
Dachhase, der 11804a bei RLS. 278: Dachhafo««
Katzei
Daehstubenkranter, der (vgL Krauter)
Dallas ilS4T bei Kl. S. 375 Dalles — Geldmangel,
Annuth: Fr. (M. = FnjrliU-k, (Jaraus; Kundenspr.
IV bei Kl. S. 43i) im Dalle» s«ein abju'erissen,
zerlumpt sein; Lindenberg 1S91 Dalles = Geld-
mangel, Ableitung aus dem jadischen bei A. L.
unter Dal]
Dallasbruder, der (Bnielibruder) [Kundins)ii. II
bei KL ä. 422 «> schlecht gekleidet; III dort ä. 424
ebenso, auch Dallaskribner, Dallas u. Ko.1
Dallaf<>bud e, die (Bruchbude)
Dampf .schieben (vgl. Kohl schiebeu) (KrUmer-
>pr. VI bei Kl. S. 4S2 Dampf — Hunger) I
Ditti heu, das, s. Dittsdien J
▲lehiT (flr KiiBiMÜanthiopoiogte. XII.
Meister oder Gesellen, die
nidit recht geben wollen,
hsrtniddg bitten, dass
sie das Oeselienk geben ;
na<'h anderen allgemein
für aufdrincli'"'! betteln.
Liluse mit tjclnvar/cin FUrk
an den Freeswerkzeugeu,
dem sogenannten Maul«
korb.
es ist sehr hdss, TgL dort
Uandschellen.
Brodbeuteldieb.
Br<»dbeutel stehlen.
Es ist sehlecht bestellt, z.B.
mit Schuhweiic, schwerer
Bruch auf den Trittchen,
Wetter, Herberge, Polizei
u. dgl.
Buebbinder.
Buchdrucker.
Branntwelnflasehe.
Weikstitte, Geeehlft.
BOndeL
8. Wülkensehieber.
Dadidecfc«r.
Meister, der ohne GkeellcD
arbeitet oder bescheiden
oben in der Mansarde.
In gleicher Weise wie Brach
zu Zusammensetzungen
aller Art benutzt, um den
Begriff von unglücklich,
schlecht, verkommen u*
dgl. zu geben.
zerinmpter Kunde.
liederliche Werfcsatte.
hungern.
Zehnpfennigstiick.
5
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66
V. ScaCnB.
Dittschcn, das (vgl. Blei. Bleior). In der Weichael-
nlederang, Qet^a von Danzig, Direchaa, Marien-
hurg j;el»rau( !ilii-1i, docli w oliI nur !ioi den Acltcrcn;
auch in ^)l'atM•hru^.sl;uul ausserhalb dt-r Kunden-
kreise bekannt
Dohle, die (vgl. Koppeschale, KQlp, Obermann) iGr. :
Dohle » FrcudcnuiSdchcn]
Doktor, der (Vgl. Andikiatsor) iKondenapr.IVbd
Kl. S 433 ebcnaol
Donnergott, der
Draht, (Tor (vgl. Asche) Kuudensiir. II bei Kl. S. 122
Drat; III dort S. 425 Draht: Kränierhpr. V dort
8. 451 Droht, VI dortS 181 Ditt, DrOt: lebendes
Kotbwolscli dort S. 492 drat; Lindenoeqf 1891
Draht — üeldl
Der Draht wird gedehnt
Drecksch walbe, die (vgl. Malör. Malva-sieri il*^2i»
bei A. L. Bd 4, S. 244 I>rock8cbwalm * Töpfer;
Fr. 61., das rSchand«BRoth,8dnnntB, Dredc* bringt,
nennt den .Maurer: Scliunilsohwalbc; Kundcnspr.
III, IV bei Ki. S. 425, 434: Drockachwalbe« Maurerl
Dnft (1788 bei Kl 8. 201 DofT, 17S7 dort S. 252
tof: ITOn dort S 271 tov — gut ; l'^2nc dort S. 349
Duft gut, recht, richtig; Fr. Gl. Doft, Duf, Duff,
Duft gut, angenehm, !*chön; 1847a bei Kl.
b-391 Düff — fein pfiffig; dort 8. 396 ebenso
lind — gut; A. L. tof = gut, tüchtig, lustigu.i*. w. ;
Kundcnspr. III bei Kl. S. -l'iö J »uft — gut, gewiegt
u. 8. w.; krämerspr. II dort ö. 437 döf, töf «-gut;
III Doff i- gut dort 8. 439: VI dort S. 481 Ddf
= gut. S. 4Sß .- sschön; Vi! dort S. \'M) doft =
gilt; lebendes Kothwclsch dort b. 492 duft gut;
Gr.: Duft •= zünftiger Vagabund, sicher zn eng,
denn .Duff* wird für alles mögliche gebraucht,
z.B. dufte Penne, dufter Tirach. Ableitung aus
dem Judisclicu b^ A. L. unter „tctf*)
Dufter Kunde
Dnhn (vgl. besdunort)
Element, da» (vgl. Pnparsch, Stoff)
Blementenfärbor. (icr (auch Kunst- und EIc-
nientenfärber, bpezeli , Kundcnspr II, III bei Kl.
S 422, 425 ebenso,
Ellcnreiter, der (vgl. Lauf mann, Ueringabändiger,
buchcr, iSuchcr)
Erbsen kochen (vgl raepehi, iMgea)
fackein (vgl. folunom) icbouso lbl2 bciA.L.Bd.4,
8. 204; tm dort Bd. 4, 8. 226; 1820 dort Bd. 4,
S. 212; lS20r bei KI. Ö. 34!»: 1S2S dort S. 362;
Fr. Gl.; \<>l bei Kl. S. 3!»7 fachein; .\. L.; Kun-
dcnspr. II \h \ Kl. S. 422 fackeln: ebenso HI dort
S.425; IV dort S. 4:<0; Krämerspr. Vi dort 8.486
faekelen; Gr. fackeln scIi reiben!
Fack 1er, der A. L. ; Knn len^pr. I\ bei Kl. S. 434 =>
Öchreiber: Gr. -■äGhreiber,dei' falsche biege! besitzt]
ZehnpfennigatQclc
jcd*>r steife Hut, nicht nnr
ftchwai7.e.
Barbier.
Amtuiehter.
Geld.
Das Geld wiixl doicfage.
bracht, besonders Ter.
trunken
Maler, nach Andern auch
iOr Maurer, nach Dritten
nur für Mnttrer.
gut, ^rcschiekt (dasselbe wie
„zünftig-, nur noch etwas
auerkennenden.
guter Kamerad . gewiegter
Landstreicher, einer der
sich übernU m helfen
weiss.
betranken.
Lageibior.
Biei'bnutO'.
Zengkaufi
schnarchen.
schreiben (nach liegen be-
sonders von BenSrden,
na<li Alldem >((«ts mit
Beigeschmack des 1*^-
schens).
Schreiber, auch Flladier.
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Wm iit heute noeh von der Gaiinei^pxadie im pnJcdachen Gebiancbf 67
Fdsdimünzer
Fahrt, auf die F. ^rchon oder 8teif;on iv^'l. feclitcn)
iKundenäpr. II bei Kl. S- 422: auf dio Falirt steigen
» losgehen zum Bettehi; III dort S. 425 » die
Bettelei anfangen; IV (lort 8. 430 — betteln {fehenl
Faule, der (vgl. (nluiiner. Greifer, Kundenfänger,
Verdeckter)
fehniern (vgl. fackeln) durch's ganze Ueich, wie
auch in Oesterreich und Ungarn verbreitet |1»)»*7
bei A.L. Bd. 4, S. 93 Föhme — Hand; 1T!»3 (h)rt
Bd. 4, & 162 Feme — Uand; lbl2 feberen 1814
fibem — flcÄreiben, 1813 Fehme, 1814 Vefann —
Hand dort Bd. 4, S. 2i)4 ; ls20 dort Bd. 4, 8. 242;
febeni; lb20c bei Kl. 8.340 feniem « achreiben;
FV. Gl. verfebern ■= venichreibeu, vorfebem — ■
vorsohn'ihcn : l'^f" hei Kl. S. 377 fehineni; l^^öl
d(»rt ."V.tT tehnien» und felbera: A. L. l'fhnicm,
febcru. febbeni, felbem schreiben. (Jr. : IVhm
= Hand, Fehmer — Schreiber, ausfehmem voll-
enden, fertig schreiben; Krämerspr. II bei Kl. 8.487
ff'were; VI dort 8. 486 pfebereu, fäeben'n, fiOiercn
— schreiben: lebendes Kothwelsch dort 8. 4U2
fehme Hand. — AndemadtB Kondenspr. III bei
Kl. S. 4 J.'): fcmcni kochen seitens der Kunden.
Die Ableitung A. L.'s aus Fem » die Hand, her-
stammend vom schwedischen und dlni^chen ^fem^
.'), di'irfte auch für fehiticni — selbst k<K'lien
iuaa».sj?el>eud sein, zumal daa \V(»rt in dieseuHie-
brauch durch alle deutsch sprechenden Gebiete
verbreitet ist, in denen mau grosstentheils sicher
keine Ahnung von den Fehraamer Verhältnissen
hat. I 'niiiö','lich jedoch ist die juir von den Kun-
den g^ebcue Ableitung auch nicht, da Femalim
ihr geÜbtee Land ist, nnd sie wemet durch aile
Welt wandernd, Hedensaitea und Qebiftndie einer
vom andern lenienl
fehmern oder ausfehmern besonders im Norden.
Auch dieser (ichrauch spriclit wieder dafür, dass
„fehmeni- auf den Be^rifl „llamh zurückgeht und
alle möglichen ilandthätigkeiten ausdrückt Fani »
Uand fmdec sich übrigens auch in der engli. Gau-
nersprache. Vel. Baumann, Londonismen unter fam
f ee h t en (vgl.anTiauen, arhi'iten, i>uhren. auf die Fahrt
fchen od.'8teigen. klappern, iviiuken putzen, kloppen,
iommandofldiieben, Laden stcM8en,8diaben,8chmal
machen. st< »sscn, talfen . tirachen, Zinseneiidn ilcni. In
Uesterrcieli angeblich fast au!äÄchlies9lich,l)ei uns im
2(orden in neuerer Zeit sehrhäufig,nichtgebräuchlieh
in büddeutschland und Elsass. | IS 13a bei Kl. 8. 311
nnd Kundenspr. III dort ä. 425 fechten — bettclul
fett, z.B. fett äein bis zur Sdiaiide(v|^bcaeiiiiiort)
iA. L. fett <=> reich]
FettlSppchen, das(ygl.Dlppchen) iKundenspr. III
und IV hei KL 0.42.') und 434, >owie Gr. ebenso
Fini, der (vgLScfaabau; verdorbuu aus spiritus viui
die in den dumpfigen feuch-
ten KeUem einiger Ar^
bdtshäuser — mi r be«*on-
d&n von Glückatadt be-
riditet — als Kartoffel-
sehller 0. dgl. arbeiten-
den alten, sieelien Ijente.
betteln, aber auch über-
haupt auf „Arbeit'' ge-
hen ; auch als VerbreelMr'
au.-idmck ^braoolit.
Geheimpolizist
1. schreiben, z. B. nach
Hause fehmern, in dieser
Bedeutung niirMDrgaBS
ausnahmsweise statt
nfadceln'* begegnet; da-
gegen allgemein bekannt.
2. selbst kochen (Kunden-
erklärung : wen die Leute
die im iSommer nach
Fehmarn in die Enite
gehen in eigenem Ge-
schirr selber Koche&K
ausbrennen, auärauchem,
besonders dii- Kleider
von Ungeziefer.
bettehi.
betrunken.
Tuchmacher.
Schnaps.
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68
V. ScHersB
Fin n die (rri. Bnddell bcBondere in Snddeutschland
u.Oesterrcicii. A. I,. Kinne =»I\aiiten. r>t)sc. Futteral:
Gr. Lade, Karten ; Kunilenspr. Ii u. IV bei Kl. S. 422,
481 =^ Sdinapsflasche, III dort S. 425 »» Flasciiel
Flaciis, der (vgl. Meter) [ebenso Gr.; Kunrleiispr.
11, m, IV bei Kl. S. 422, 425, 430; Kriunerspr.
VI dort 8. 4841
Flamme, die (vgl. Kalle)
Flammer oder Firimnicr (vgl. Spitzflammc) [1S1&
bei A. L. Bd.4. S. 220 Flaimnert: 1S20 dortBd.4,
S. 242 Flanunerer; Fr. Gl. ebenso: A. L. und Gr.:
Flftmmert: Ktmdenspr. I, III, IV, lebendee Rothw.
l)ei KI. S. 421, 425. 4.M4, 492 Hammer ischmied]
Fleppe, die [1793 bei A. L. Bd.4, S. ISl Fleppe —
Brief: 1812 Fieppen Pass, Arrest dort Bd. 4,
S. 205: ISIS dort Bd. 4. S. ■22»; F!el»l)e = Pass;
1S20 dort Bd.4, ürillH Fleppe Attestat; lb20c
bei Kl. S. »49 Flebbe Pass; 182(id dort S. 854
Flöpeu — Reisepass: 1S2I dort S. 355 ebenso;
1S2S Flepn — Pass, Papier: Fr. Gl. Fleppe, Fieppen
= Brief, Pa.'js, Schrift, Urkunde; A. L Fleppe =
jeder besondere, \or/rigiich schriftliche Ausweis.
Urkunde, Pass, Zeupiiss n. e. w.: ebenso Gr. tmd
Roscher in Gross, Archiv Bd. 3, S. 278: Kunden-
spr. I bei Kl. b. 421 Fleppe Wandorbueh; II
Flebbe - Pass, Papiere, dort S.422; III dort 8.425
Lejritinintionspapier; IV dort S. 430 : Wanderbnch
Arbcitsschoin oder sonstige Legitimationspapiere;
Krfimerspr. I dort Ö.435 ficpp = Papiere zum Aus-
weis ; II flebbe, fleber = Legitimation dort S. 437 :
VI dort S. 484 Flebb « Papier zum Ausweis, Pass;
Lindenbei^ 1891 Flebbe offizielle Zeitung, ancli
andere offizielle Papiere and Zeugnisse
linice Fleppe [1812 beiA.lA Bd 4, 8.205 linker
Fieppen; IMS dort Bd. 4, S. 22(; linke I-Ieppe;
182ÜC bei Kl. S. 349 blinde Flebbe, b. M")«» linke
flebbe falscher Pass; 1S2S dort S. :ui3 Link-
fleppen falsche Papiere; Fr. Gl. und Gr.: linke
Fleppe — fiUacher PassJ
Die Fleppe verendeln
f 1 eppen , [1753,5 bei Kl. S. 23fi -= liebkosen ;Kundcn-
sur. II bei Kl. S. 422 flebben = Pass abverlangen;
Iii dort S. 425 geflebbt werden — Papiere dem
Gensdanii vor/ei^en müssen; IV dortS. 431 flebben
» Papiere re\idiren; Koscher bei Gross. Archiv
Bd. 3 S. 278 Heppen — bei Beriiion nach Aos-
weispapieren fragen]
Flepperei, die (vergl. Kassive)
linke Flepperei
fldssern [1450 bei Kl. S. lö flosseln = mögen;
1. V. floslen — Itnintzeu; B. U. floslen bitten;
174.'> bei A. L. Bd. 4 8. 153 gefloseelt das
Wasser al)gesehlaj;rn : — KnnutMisjir. III bei
Kl. 55. 425 flossern Waesertiinken; Khimerspr.
Scbnapeflasdie
das Markatack.
.Mädchen, Geliebte, Braut
Schmied.
Ausweispapier (besonders
aber nicht anssdilieBslidi
für falsche, nach .\ndem
sogar im Gegensatz zur
linken Fleppe).
falacfaea Pa[^er.
das Papier unbrauchbar
machen, z. B. ein zum
Erschwindeln vonReise-
untersriitzun^'- bestimm-
tes durdi iuiutrag, dass
solche erdiellt wi
Wenn der Gensdann die
Papiere untersucht, sagt
man: ^er fleppt**; der»
dem er <<ie untennchtr
„wird gefleppf.
Papiere, besonders behörd-
lich beglaubigte Aibeita-
scheine.
faledie Zeugnisse.
bettnassen (aber nicht ans
Krankheit, sondem aus
Betmnkenliett).
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Wi8 iit heute noch von der Gaunerapnehe im praktischen Oebnnfili? 69
V S. 45S Flossen — sein Wasser abscblsKcn;
VT S. 484 flOsslen — mindere, flfisseren — Weinen
S. issi
Flöte, die (vergl. Winde) [Kundenspr. II bei Kl.
S. 422 G^ningnifls, Knnkenhans; III dort 8.
422 = Arbeitshaus]
Frachtbrief, der (vcrgl. Koller, Todtcuäcüeiu>
fremd bckomiueu
fremd macheu
Fnehs, der fvorgl. rothe Asche) [1652 bd Kl. 8.
159 — Dukaten; IT '7 (Imt S. 205 — Gold;
1737 dort S. 214 ebenso: 1745 bei A. L. Bd. 4
8. 153 — Geld, Keller, GewOIb; 1753/5 bei Kl.
S. 236 — Rüster oder Gold: 1755 dort S. 240
ebenso. S. 23S — ein Küssen: 1807 dort S. 285 —
(ioldmünzen ; lJ>20c dort S. 349 =Geld; 1S47 dort
S. .577 = 1.: Friedrichöd'or., Goldstück, 2.: Ma-
öcliiMc , auf der körperliche Züchtifrtmgen ertheilt
werden; isöl dort 6. MUT — Culd]
Ffichae. die ivetgl. Acht) nur Mehrzahl, besonders
fisterreicblsch
F u > > 1 :i ]> p e n . die (vergl. Quadratlatsdien) [Konden-
spr. Iii bei Kl. ä. 425 ebeuso]
Fusslatscber, der (vergl. Mtnbleitnr [Kandenspr.
III bei KL S. 425 ebenso]
Cralg^enposamentier, der [Kundenspr. I, 11, HI,
IV bei Kl. 8. 421, 422, 425, 434 gleichfalls]
Qaliacb auch schwarzer Gensilarm 11450 bei
KL S. 14 Galatten ^ falsche Priester als Bettler;
1475 dort 8. 26: Gfaitten — ebenso; 1. v. galch —
pfaff; B. O. f^lch — i)3p; Deecke bei A. L. Bd.
3 S. 253 Gallach = Priester; 15U3 bei Kl. Ö. 118
nlch; 1597 dort S. 115 Galle — sacerdos; 1620
dort S. 134 (iallach — Ral>l)iner, b. 136 Galch —
l'faff; 1714 dort S. 177 (iallach = Geistlicher;
1738 dort S. 2Ü(» Galach — ebenso; 1745 bei A.
L. Bd. 4 S. 153 Gallach — Pfarrer; 1747 bei Kl.
S. 214 Galla — Priester; 1753 5 dort S. 2.% Gal-
lach ebenso: 1769 dort S. 247 ebenso; 1791
und 1812 bei A. L. Bd. 4 Ö. 16b und 206 ebenso;
1820 dort Bd. 4 8. 241 Kolladi; Fr. 61. Gallscb —
Pfarrer, Piistor; lS47a bei Kl. S. 391 Gnlach =.
Geistliclier; 1^51 Gallach Pfarrer, Prediger dort
S. 397; A. L. — der Geschorene, dann christ-
licher (Jeistlicher überhaupt; Kundenspr. 1 bei
Kl. S. 421 Gallach; II dort 8. 422 Galach; Iii
dort 425 Gallach; IV dort S. 4:U Galla; KrÄ-
merspr. III dort ä. 440 Gallak - Pfarrer; VI dort
8. 4S3 Gallach — Kaufmann!
schorene, katlioliacher Priester,
dem Jüdischen bei A. L.]
gampf en (vergl. bezupfen) (I. von 1510 bei Kl.
S. 53 ^jenffen = stellen; B. 0. von 1510 dort 8.
7»; genffeu — stelcu; 1597 dort ^. 115 Genffeu —
furari ; 1598 genffeu — zugrdfen, Stelen, dort 8.1 16 ;
liadenbeig 1891 gaofen oder gumewen stehlenj
Gr.: der Ge-
Ablmtaiig aus
Arbeitshaus.
Entla.ssunj,'sschein aus Ar-
beitshaus oder Gefilnff-
nisfii mit Heisevorschrifr.
aus der Arbeit entlassen
werden.
aas Arbeic treten.
GoMslftck.
Handschellen.
WeisskohL
Fusgeosdann.
Seiler.
Pastor.
stdden.
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70
V« ScbOtsb
Geheim er, der [Kundcnspr. III bei K]. S. 426 ^ . Geheimpolizist (vj^LFauler.)
Krinittalpolizist, Schntananii in Civil; Lfndenberg '
1*^01 : Heimlicher- ebcnsni !
&eladca. zu schwer (vergl. beschniurt)
Sps verband, der (veifl.^el«f eider)
Greifer, der (vergl. Fanlon |Kimdenspr. II bei
KI, S. 426 — (M'ht iiiK I ; Lindenberg Isfll —
KriminalpoÜziat: vergl. im englischen olang: cop-
per » Fanger, (Miemipoliiiit Del Bamnann , Lon-
donisnicn]
0 rü tzkiist en , der (auch Theewinde> ^Kandenspr.
III bei Kl. S. 425 = Krankenhaofll
Gurken, die (vergl. Teppe)
ha eh ein (vergl. picken) (I. v. ebenso 1620 bei Kl.
S. 134 acheln: 1723 bei A. L. Bd. 4 8. 105acholn;
1733 bei Kl. S. 200 acheln ; 1737 dort S. 206 achelu;
1T50 bei A. L. Bd.4 S. 135; 1764 bei Kl. S. 347;
( lirvsnnder bei A. L. Bd. 8 S. 4(I4 chonso; 1798
dort Bd. 4 S. 180 acheln; 1812 dort IM. 4 S. 199
acheln; 1S20 dort Bd. 4 S. 236; lS20c bei Kl.
S. 34S: 1^17 dort S. 373; 1S51 dort S. 3!M). A. L.;
Kundenspr. II u. III dort S. 422 bezw. 424 ebenso;
Krämerspr. 11 dort S. 437 achile; III. IV und
lebendes Bothwelach dort S. 439, 442, 491 sowie
Lindenberg 1891 tmd Gr.: achebi ^ eeaen. Ab«
leitung au.s dem Jtldischen bei A. L. unter acheln
II ach ei ei, die (vergl. Piclcus)
Haifisch, (vergl . Schnelderkarpfen, Schwimmling,
Seekadett, Soesoldat»
Hanf, der (vergl. Legum, Torf, Twisti [so auch
Kundenspr. II und UI bei Kl. 8. 422, 426]
Hämererc apse; von Juden den Ausdnu k frehört,
Ivergi. im Wörterbuch des Constanzer Uans von
1791 bei A. L. Bd. 4 8. 172: Hamore — die
Händler; 1*^12 dort Bd. 4. S. 207 Ilaniorr Händel,
Streit, Lärmen; Gr.: Hamor « Lärm, lläudell
hammern (vergl. picken)
Harke, die (auch Liiuscharke)
Hasen macheu vergl. thUnnen, pohlischen Urlaub
nehmen)
Helligkeit, die (vergl. Ileimath)
Heimath, die (ver^l. Hcilitrkciti lautet der Name
„zur Heimath'', nicht „Herberge zur Ileimath'*.
gdlört de also nicht diettem V erband an, so nennt
man sie eine «wilde Heimath*
Heiss, es ist iver;rl. brennen) 1S56 bei Kl. S. 416
CS ist nicht sicher wegen strenger Polizei;
Kundenspr. II dort S. 422 — beschwerlich; eben-
so III dort S. 426; IV dort S. 431 — es ist nicht
?:anz so gefährlich als wenn „die Steine hrenueu'*;
{oscher In Gross, Archiv, Bd. 8 S. 27^: ^^heisser
Boden h wenn sdiarfe Vigilans auf Kuppelei ans-
betnmken.
Vorhemd, Kragen u.dergl.
weisse Wä.'*clio. stets
wenn aus Gummi, zu-
weilen aneb, wenn ans
Papier.
Gehemipolizist
Krankenhaus.
zerrissene Stiefel u. Schuhe,
besonders wenn alt imd
aofgebogen*
Das Essen (die Thätigkeit,
nicht das Gericht).
Hering»
Brod (nach den Meisten
allgemein, nach einigen
nur Gefängnissbrod).
JndennntenättiangBkaaae.
essen.
K:imm.
weglaufen.
Herberge zur Heimat
Herben^ zur Heimat
die Potfani paaet scharf anf.
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Was i&t heute noch von der (iaoncrsprache im praktitichen Gebraiidi? 71
feQbt wird" ist vid wa eng gefinat, kamt nnr als
eiüpicl, ni( lit ;iiHorschftpfaideBegriffsbeatIimDaDg
in Betraclit koinmcnl
Herlngshäiidige r, der (vergl. EUenrcitcri iKun-
denspr. III Ix i Kl. 8. 42«) -= Kaufmann; IV dort
8. 131 = KaufleutP, alle ohne l ntersdiicd!
HobelhenK**t, (Um ivgl. Holzworm)
Hobeloffizier, der [auch Kondentpr. III und IV
bei Kl. 8. 426, 4341
hoch fliegen (vgl. hochgehen)
boehgehen (vgC hocbflicgen, krachen geben, ver«
kradien, verschütt gehen) iKundenspr. II bei Kl.
S. 422 = crwigcht werden beim Fechten; |II dort
S. 426 arretirt werden |
hochoehmen, jemanden (vgl. Tenehütten) [Kim-
denspr. III bei Kl. S. 426 — zum Auageben ver-
anlassen]
H ocbsch&tz, der (vgl. Kiappencfaütz, Lehmscbutz,
Osebfitz, Roller)
lloizwurm (vcrgl. Ilobellionfrsti
llundcfängcr,dcr (vgl. Kundenfäogcr, Schlepper)
Hasch flts, der
Kadett, der
alter Kadett
Kaff, das [1620 bei Kl. S. 37 gfar, li^4i) dort 153
Ofar; ir,.i2 dort S. 156 und 1747 dort 21 J Ge-
fahr: 1704 dort S. 247 Kfahr; lSit4a doit S. 27S
und lS20c dort S. :i4'.» (»efahr. letztere» auch Gfar;
182Ud dort 8.354 Gifar; li>21 dort S. 853 Gisar.
Kundenspr. II dort 8. 422 Kaf, lU, IV dort S. 426
und 431 Kuff. KräiiuM-^iiir. II d<»rt S. 4<.s kfAr;
VI dort S. 4bU Gefar: VII dort ä. 4U0 gefOr: leben-
des Rotwelsch dort S. 492, A. L. und Gr. Kaff —
letztere beide unter Kcfar — — Dorf. Ableitung
ans dem .Indischen l)ei A. L. unter KefarJ
Kaff er, der |Deecke bei A. L. Bd. 8 S. 251 Käfer;
1723 dort Bd. 4 S. 105 Kaffer == Bauer; 17:<:< bei
Kl. S. 201 Kaffer = Mann; 1745 bei A. L. Bd. 4
S. 152 L'affer — Mann oder Bauer; 1747 l»ei Kl.
S. 214 Gaffers — Bauern; 175.«/5 dort S. 23(i Kaffer
«Bauer; 1793 dort S. 271 Gaver— Mann; 1^14
bei A. L. Bd. l S. Jos Kaffer — Mann; Isis dort
Bd. 4 S. 227 Kaffcr — Bauer; lb2U dort Bd. 4
& 240 Käfer — Man; 1820c bei Kl. S. 890 Kaffer,
1820 d dort S. 354 Kliaffcr; 1^2^ dort S. 3f',3 Kaffer
Bauer: lb47 dort S. 3mi K.iffer = dummer
Mensch; 1851 doitS. 4oo — B auer, .Mensch, Mann ;
A. I>. unter Kefar: Kaffer = lianer. Mann, Keil,
Einfaltspinsel . der zu Ijestchlemlc oder zu betrü-
gende .Mensch; Kundcnspr. I, U, III, IV bei Kl.
S. 421, 422, 426, 431. Krämcrspr. VI dort S. 471»;
Lindeoberg 1891: Kaff er — Bauer; Gr.: Kaff er =
Kaufmann , wandernder,
ganx allgemein für alle
Zweige dieses Bemfes.
Tischler,
Xiactiler.
verhaftet werden,
verhaftet werden.
1. festnehmen (paasiT ^
hochgehen u. ». w. ;
2. jemandem auf der Her-
berge das Geld abnebmco.
Winamüller.
Tischler.
Zuf&hrer de« btellcnver-
mitüers.
Wass^ermüller (Ruf des
Meisters, wenn da.^ Wehr
heruntergelassen werden
soll: ,Ha, acbütz'').
jnngw Handwerksbnncb,
etwa Aeffcben.
alt^verkomraenerStromw
der nie etwas Brandl-
bares gewesen ist.
Dorf.
alles was auf dem Lande
wohnt <]!auer. Tagelöh-
ner u. dergl., mänulicb
und A\ (ibHcn obneVnter»
Bcliied).
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72
V« ScrDtxb
Dorfbewuhner: Ableitung «u dem Jttdiachen bei
A. L. unter Kofar]
Kailoff, (1er |Dm-ke bei A. L. Bd. a S. 2:>1 Kellef :
1714 Kieloff bei Kl. S. 177; 1733 bei A. I,. M. 4
S. 106 Kilof; 1733 bei KI. S. 201 Kulilurf; 1745
bei A. L Bd. 4 ö. 154 Kiluff; 1791 und 17'j;i dort
BcL 4 & 167 und 190 Kohluf: 181S bei KL Ö. SOb
Kalf, Kiluf; 1820 bei A. L. Bd. 4 8. 2S7 Gilof —
der IIuinl; Kr. (II. keilof, der = Kutte zum Fang-
hunilubi icliteu, kelaf = der Iluud; Fr. (i. Gl. klaifa
w Hündin. Stierches Kelof = Hflhnerhund; A.
L. Kalf, Kelef, Keilef, Kolev, Kalef. Klobe, Globe;
Kuiid(MK>*pr. III bei Kl. S. 42») Kailoff; KriUuerapr.
11 dort s. 43S kNuf; III dort S. 441 Kailaf; VI
dort S. 4S2 Kailuf: Gr.: Kalf und Koluf — Hund.
Ableitungaus dem Jüdischen s.bei A.L. unter Kelef]
Kaiserin, die (bavriscln
Kalle, die {vgl. I-^liuumo, Schickse, Spritzbüchse,
Trine) {Deecke bei A. L. Bd. 8 & 254 Kalla —
Braut; 1753 5 Calle bei Kl. S 236; 1764 dort S. 247
Kallo — Braut; iso'a dort S. 2'>S Kalle —
Schläge oder Pnlpel; 1S12 bei A. L. Bd. 4 S. 20S
Kalle -= Messe; Fr. (il. Calle, Kallo. Kallach —
Braut; 1S47 bei Kl. S. SSO Kalle — Braut; IS.'il
dort 8. 400 ebenso; 1SS6 dort S. 417 Verlobte;
Kiindenspr. IH dort S. 426 — Wirthstochter; Krä-
nierspr. III dort S. 440 — Braut; A.L. und Gr.:
Kallo für alle Schattirungen von Braut bisDime.
Ableitung aus dem JQdiachen bei A. L.
Kaltseblachter, der(Tgl.Maficliaiin)beeond. In Ost-
preussen, doch schwerlich spoc. Kundenausdnuk
Kahn, der (vgl. Klappen, Säuftcbou, Öäuftliug,
Senftling) (A. L. Kaan oder Kahn m Gefllngnim;
Gr.: Kaan» GefTingnisa]
kapores gehen (vgl. paikern) 1723 bei A.L. Bd. 4
s 10.) kapores = morden; 1739 caporen « m9r^
dem bei Kl. S. 201, kaporen go — sterben mflssen,
exequirct worden 202; lS20d bei KI. S. 854 Ita-
1)oren •= sterben ; 1 S2 1 dort r>.35() kanom =» ebenso;
r>. Gl. kapores » tot ; l'r. G. 61. kaporen tot;
195t dort S. 40A Ktippore » Vorderben; A. L.
kapores =- tut unter Kappore; (h: hat nur das
Hauptwort Kappore « Keinigung;, Tod und einige
Zusammensetzungen. Ableitnng aus dem Jüdischen
bei A. L. unter Kappore'
Karline, die (vgl. Buddel) iKundeiispr. II bei Kl.
8. 422 Karolinc =" Schnapsflaschel
KSppchen, das (vgl. Katzhoff) in Süd*, nach an-
dem auch in Norddeutschland
kaspern (vgl. beseibeln, mogeln) [17I.'j bei A. L.
Bd. 4 S. 1)2 — einen schlagen; 17Ö5 bei Kl. S. 240
caspem — ausfragen; 1798 bei A. L. Bd. 4 S. 1S1
kas])em einen betrügen; ISTi dort Bd. 4 S •>()'•
ebenso 1!>13 bei Kl. S. 30S caspern — schlagen,
cascfapem — ausfragen, betrügen ; lS13a dort 8. 31 1
kaspern betrügerisches Projibczoien ; 1 '>20c dort
g. — auf dem Laude umlieigelien und die
Bauern betrügen; 1847 dort S. 379 — unerlaubter
Verkehr der Gefangenen mit der Aussenwelt;
1S51 dort S. 400 kasspcm ebenso und » heimlich
reden, sich besprechen; Fr. (üi. aufkaspem * ver-
runde Semmel.
Mädchen, Geliebte.
FVohaer.
Bett.
sterben.
Brannt Weinflasche.
Schlachter.
betrOgen.
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Was ist heate nodi von der Gaimerqinadie im praktiacliea Gebrauch? 78
f&hren ; A. L. caspem schlafen , in der Scliin-
dt'i-spi-achc = mit Sympathie behandeln, datier ^
betrügen j kaspern heucheln, täuschen; Linden»
berjf 1691 kaspeni — der mranaiibte Vencdir der
Gefangenen nnter einander, auch durch Klopf-
sprache u. s. w. Ableitung aus dem Jüdischen bei
A. L. unter Kaspern |
Kassive, die (vgl. Flepitcroii [ISI l bei A. L. Bd. 4
S. 205 (iasibe = Pas.s, Arrest; Fr. ü. Gl. Gasibe
— Pass; 1S47 Kasiber = Verstfindigunj^zettel im
Gefängnias bei Kl. ä. S79, Kaaaiwer » Kundschaft,
Fbsb 9. S79: 1851 bei Kl. 8. 400 Kassiwer —
Schleifljrii'f im (Jcfängniss, Kafi.>ii^\ e Pa.**», Reise-
docuDient; dort S. 415 Kursiwa — ■ Pius, Pa-
piere fiberhaupt; A. L. luter kaswenen^ Kakiwe,
Kasiwer. Kasiber, Ksiwe, Ksiwerl = Brief, Zettel,
Schleifbrief in und aus Gefängnissen. Pa.ss, Kund-
.«chaft; Kundenspr. III bei Kl. S. 42t3 Ka>»siber —
Brief; Liiidenbcr*,'' ISOl ™ die zur Vei-ständigung
der Gefangenen dienenden Zeltelclien u. s. w.; Gr.:
Kassiwer -= heimlicher Brief, Ka.ssiber — Brief,
besonders in und au» Geföngnisson geschmuggelt
Ableitung aiu dem JQdiscnen bei A. L. unter
kaswenenl
Nach anderen Kassiveu, die, nur Mohraahl, be-
sonders in Osterrridi, Rheinianden nnd Sftd-
deutschland
linke Kufisiven lA. L. unti-r kaswi-nen: linke
Ksiwe = falscher Pass'
Katzenkopf, der [so auch Kundcnspr. II bei Kl.
S. 422 und IV S. 434; III S. 42(5 dort Katzeukupp;
Gr. : Katzenkopf Schlo.sser,
Katzhoff, der (vsL Käppchen) 11799 bei KL S. 201
Eatzanfr; ITM dort S. 24T Katzof; 1781 bei A.L.
Bd. 4 S. 171 Kiizuf, ebenso dort Bd. 3 S. 187 1798;
1S12 Kaznf, lsi4 Katzef doit Bd. 4 S. 209; 1820
dort Bd. 4 8. 240 Kaznf; lS20c Katzoff, alte
Sprache: Bockhartfet/oi bei Kl. S. «50; Fr. (i. Gl,:
Katzof, Katzef; A. L. Kazuw, Katzhoff; Kun<lons*pr.
II, HI, IV bei Kl. S. 422, 426, 433 4: Katzoff;
Krämerspr. II dort S. 43S katzuff ; III dort S. 440
katzof; IV dort S. 442 katzoff : VI dort S. 484
Katzuff: Gr.: K;i/,ev und Kazuf = iMctzger. Schläch-
ter, Fleischer, A. JU auch — Fleiscbh&ndler. Ab-
leitung ans dem Jfidisdieii s. bd A. L. tmter
Kazow;
Kenn!, oft auch kenn Mathilde, ;1n20c bei Kl.
S. 350 Kenn — ja; 1h28 dort S. nG3 k&nn, Matthes
(ja Bruder) P)cjalinn;; auf die Fi:age Kunde?, 1856
aort S 415 kenn -= Bejahung; Kundenspr. II dort
8,422 kiCn«> ja, ich versteh'^: III kenn Kunde»
Kimdengruse oeim Erkennen dort S. Ii'«'.: IV doit
S. 4SI kenn — ja (bei den Schlächtern ^^-bräuch-
lich - sicher zu eng — ; Kriimei"spr. 11 <loit S. 4.SS
kent — ja; Iii dort S. 439 Ken, S. 441 kenn — ja;
VI kam — ja , kemi Mathilde grtlss Gott dort
S. 482 nnd 4SI; Kr. VIT kenn = ja, duit S. 491.
Ableitung aus dem Jüdischen bei A. L unter
Ken. Vgl. Gr.]
Kiennadeln, die (vgl Bienen)
P^ers» Arbeitsscbeine.
Papiere allgemein.
falsche Papiere.
Sciilosaer.
Schlächter.
Kundcugruss : ^Kenn
oder ^ Kunde .\ntwoit.
Avenn bejahend, dissancli
der Gefragte Kunde ist :
„Kenn!" oder: ,,keini
Slathildc". Letzteres auch
ganz allgemein ^ „ich
hab's verstanden" bei
Fragen aller Art.
l'njxeziefer (al>er nicht
Flöhe I.
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74
V. äcHüm
Kies, der (vgri. Asche) 11714 bei Kl. S. ITT Keeoff
«= Silber; 1733tlort 2i)2 Kofoff: 1737 dortS. 205
Käsoff; 1745 Kisoff bei A. L. Bd. 4 S. 154: 1747
bei Kl. 8. 214 Eisow; 1T.).15 dort S. 236 Kisoff
— Silber; 1755 Kis = Beutel <lort S. 24(i; 1764
dort S. 247 ebenso; 171» 1 bei A. L. Bd. 1 S. 16S
Kies — Silber; 1793 dort Bd. 4 S. 1*^0 Kis — Beu-
tel, Geld, Keeav— Silber; 1S12 dort Bd. 4 8. 209
Kies — Silberpeid ; ebendort 1^12 und 1814, Kiss
=* Sack, Beutel; l'^ls dort Bd. l S. 226 Kis^clien
— Geld in Menge, Schau ; lb2U dort Bd. 4 S. 236
Kiss — Geld ; 1820e bei Kl. S. 850 Kisof ; 182(id
dort S. Khisow; 1S47 dort S. 380, 3S1 Kies;
Kiehsoff = Silber: Fr. (Jl. Kis — Geld; 1^51 bei
Kl. S. 4111 Kicss = (ield; A. L. und Gr.: Kis,
Kies, Kis.H -« Beutel, besonders Geldbeutel, Geld;
l*>Sfi bei Kl. 8.417 Kiew — Cield; ebenso Kun-
densnr. II und III bei Kl. S. 422. 42»i; Kramerspr.
VI Kis — Geld bei Kl. S. 481; LindenberK 1S91
Kies — Geld. Ableitung aas dem Jüdischen bei
A. L. unter Kisl
Der Kies wird verschmort
Kilonietorstein, der fv^l. Buddd)
Kitt, der (vgl. Aschei sTuhsi-^ch
Kittchen, das |16S7 Kutte IIaus.s bei A. L.
Bd. 4 S. 95; \''^•^ bei Kl. S. 2"o Kitt = Bauern-
huuss; 1750 bei A. L. Hil. 4 S. 1 IK Kitte, Kittgeu
— Zuchthaus; lSt)4a bei Kl. S. 277 Kflttchen —
Zuchthaus; Ii» 14 bei A. L. Bd. 4 S. 200 Kitt —
Haus; ebenso 1812 dort fid. 4 S.209; 1818 dort
Bd. 4 S. -J-'T Kitte = Gefangmiss; lv20c bei Kl.
8. 850 Kittchen ~ Gefangenhaus; 1S47 dort S. 3i>l
ebenso; 18&6 dort ^.415 desgl.; A. L. Kitt =
Sessel, Tbronsesael, Dach, Haus und dann für alle
ni«">^lichen .\i'ten von Haus, so auch Zuchthaus;
Kundenspr. II bei Kl. 8. 422 Kittoheo — Arrest;
III dort 8. 42t) ~ (irf.ün^'-niss: Knlinerspr. II kittche
dort 8. 4.'!^; VI Kittie, Kitt dort. 8.47!»; VII kit-
chen dort S. 49u; Lindenberg iy»l Kittchen = (Je-
fSugniss; Gr.: Kittchen — Gefängnisszcllc. Ab-
leitung aus dem Jüdischen s. bei A. L. unter Kitt
Vgl. die enoplische Gaunoi-sprache bei Baumann,
Londinismeu kiddcu, iiidlccu — Herberge , Schule
für junge Diebe; thieres Kitcfaen » DiebeekQdie
braucht femer der Volksniund für den ..Tity Athe-
naeuni Club", in dem die Finanzwelt der City sich
trifft Der Ausdmdc ist dort also in weitere
Kreise ^redrunpen,
Kittchenpos, der Kiiiulcnspr. III bei Kl. 8. 426
Kittchenboos — GefanfreuwSrterl
Klappen, die (vgl. Kahn, Sänftling [Klappe —
IHebskneipe , Lindenberg 1891, ist wohl ta eng,
doi li ilüiftc Gr.: Klappe = ordinilre Kneipe, derge-
wöhuiichere Gebraucli sein. Ich habe ihn allerdings
im mfindlichen Verkehr nicht feststellen kfinnen
klappern i^ffl. fechten i
Klappersch ütz, der (vgl. Hochschfltz) lbl4 bei
A. L. Bd. 4 S. 215 Klapper-Isch MFdler; ebenso
A. L. unter Klapper; KuiHlt iispr. IV bei KL S. 484
Klappcn^eliütz — Wasseruiüilerl
Geld.
Das Geld wird verthan,
veri>racht
ßranntweinflaadie.
Geld.
(^efangenwärter.
Schlechte Betten.
betteln.
WinduiüUer.
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Was ist beute noch von der GAimerqmidie im praktischen Gebraucli? 76
klaven (vgl. bezapfen)
klemmen (vgl. bozupfcn) [so aucli in der englischen
tiannenpraoie — Baamann, Loadonismen — pinch
— klemmen für stehlenl
Klempners Karl, der {vjrl. Blitzableiter) iKunden-
spracho III und IV bei Kl. 8. 42f.. 430 — Gens-
dium; Gr.: === Polizist. Die englische (jiaiuierq>nM!he
nennt den Polizisten: Charifly — s. Banmann, Lon*
dinismen)
Kleist crhengst, der (vgl. Bruchbinder)
Klinkenpatzen (vgl« fechten) IGr.: Tbärklinken-
pntser Betllerf
kloppen (vgl. fechten) (Kiimen|ir. VI bei Kl. 8.479
klopfen =■ betteln]
Kluft, die (gleich Schale, vgl. Walmusch) [1450 bei
Kl. S. lf> klabot — Kleider; 1. v. Claffot — cleidt.
B. 0. ebenso! 1.507 bei Kl. S. 114 Claffot «= ves-
tis; 1652 Klaffet dort S. 157; 1738 dort 8. '»Ol
Klufftie; 17 r. bei A. L. Bd. 4 S. 154 Kiufft —
Rock; Fr. Gl Kluft oder Kluft — Rock, Kamisol,
Kleid; Fr. G. Gl. Claffot — Kleid, Kock; 1^4ii
bei l!Ü. S. 372 Kluft « Kieidunsi lb4T dort ä. 3b0
ebenso; 1851 Khift Book. Kleid jeder Gattnn«
dort S. 401; A. L. bei Kelef: Kluft = Oberkleid,
Kleid allgemein, Mannsrock, Fraueurock; issti bei
Kl. 8.417 Kluft* Kleid, Kundenspr. IT, III, IV
dort S, 422, 426, 431 Kluft = Anzug: Krämerspr.I
dort S. 435 KUftle = Kleid, Anzug; VI dort S. 483
Kluft « Kleid; lebendes liothwelsch dort 4<)2 kluft
— Kleider: Lindenberg 1891 Kluft = Kleidung,
auch gestohlene Kleidung; Gr.: Kluft — Kleider.
Ableitong nos dem Jfldisolien bei A. L. unter
KelefJ
Knast, der [1620 e bei Kl. 8. 850. Knast« 8trare;
Fr. C. Gl. KnasB — Urtheil, Strare; 1^51 bei Kl.
S. tili KnaÄS, Knast «— Criminalstrafe; A. L. Knas,
Knast = Strafe, Straf urtheil, Geldstrafe; Kunden-
spr. III bei Kl. S. 42(5 Knast kriegen =: Uitheil
empfangen; IV dort S. 431 Knast GeHinguiss-
»trafe; lebendes Rothwelsch dort S. 492 knast ■=
Strafe; Lindenbeiig 1S91 Knast, Knass — Krimi-
nalstrafe; Gr. Knas, Knast ■* harte Strafe: Ab-
leitung aus dem .TadiBdM» bci A. L. unter KnasI
Knast, schwerer
sehweren Knast aehieben [Roscher in Gross,
Archiv BrI. s. 27S: Knast sddeben — Geling-
niss bekommen;
K iiai kerivgl. Baiikarbeit) machen | Kundenspr. III
bei KI. 426: Knacker Schlaf auf Bank, l isch,
blankem Fossboden; IV dort S. 431 Bankarbeitj
Knopf, der (vgl. ZwUling) I182üa bei Kl. 8. 346 —
Kreozer, ebenso bei A.!*, Knndenapr. II bei Kl«
8. 422 » Pf ennicl
Kober, der (vgl. Kranter)
K ohlhase, der
Kohl, der (vgl. Kolildaniiif)
Kohldampf oder Kohlendampf (beides ist in
Gebraneh, vgl. Dampf, Kohl) sehioben il7',»3 bei
A. L. Bd. 4 S. Ibi Koler Hunger, kolerig =
stehlen,
stehlen.
Beitgenadaim.
Buchbinder,
betteüi.
betteln.
Zeug, Anzug.
üitheU.
Zochthans.
adiwen Strafe, beaondem
Zuehtiians haben.
auf der Bank schlafen, be>
sonders in der Bienen-
kammer, aber auch sonst
in zum Schlafen bestimm-
ten Räumen.
zwei Pfennig (weil grösser
als Tupf).
Meister, Prindpal.
Gärtner.
Hunger.
Der nungv, hungeni.
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76
hanferig;
K<dlaamp
1^21) dort lid. 4 S. 23T Kolter; Fr. Gl.
läampf, Koller — Hun/fcr; Kundcnspr. II bei
Kl. S. 422 Kohldampf schieben — Hanger leiden;
Kiiamspr. II dort S. 4SS dstnpf — Hnnfrer; VI
dort S. l'^2 oboiiso; (ir.: Kolildiuiinfsrliithor
HniMCer. Koscher bei Gross, Archiv Bd. '.i 8. 277:
Kohldampf schieben — .wenn der Zuhälter ohne
Fmuonzimmor ist, daher kein Geld hftt^ ist Mkt-
»chii'den viel zu eng gefasst]
Kohl ri'ibeu, macheu, pflanzen (österrciehisch:
Pflanz machen, vgl.dort(lS12 bei A. L. Bd. 4 S. 210
kohlen — erzählen; 1820 dort Bd. 4 S. 236 kohlen
— erailhlcu, essen ; Fr. Gl. kohlen -» erzählen, lügen,
»cherzen, spaaeeo: kohlreisaen — Lügen an-
hangen, Spaas machen; A.L. Kohl reiflaen — be*
trugen, täuschen unter Kol — ; Kundenspr. II
Cohl reisseu — Lügen auftischen, Witze reisseu
bei Kl. S. 422 ; III dort S. 4M > anlügen . vor-
schwindeln; IV Kohl machen = tinnutlii^-o Worte
machen, den Leuten lieiui Fechten Krankheiten.
Unglücksfälle u. s w. voiBcfawindeln, dort S. 4SI;
Krmnervpr. VI Kohl reissen — Ifigen dort S. 483.
Ableitung aus dem .Indischen hei A. L. unter Kol!
Kohl si Ineben (Koliltlami)f .schieben v^l.i
Kommando schieben (vgL fechten) [Knndenspr
II bei Kl. 8. 422 betxeln, von einem Ort ans
abwechselnd in der Umgegend ; IV dOTt S. 430 —
aus der Stadt, wo man zugewandert ist. nach
den nächsten Dörfern gehen, diese abbettem und
in dieselbe Stadt nufiokkehren]
Kommandoschieber, der 'Kundenspr. III bei KI.
S. 424: Kommandobrüder, Kommandoschieber
Kunden, die monatelang auf einer Penne liegen
and die D<Orfer ringsum nach und nach abkloppen]
Kommerzienrath, der (vgl. Kegierungsrath)
Kopf scbuster, der [ebenso Kundenspr. IV bei Kl.
S. 4341
Koppeschale, die (vgl. Düble, Obermann)
kraenen gehen (vgl. hodigdien) (Kundenspr. III
bei Kl. b. 42(5 = arretirt werden'
Krauter, der (vgl. Kober) ll!>20c bei Kl. S. 350
» Spinnmoister, Kundenspr. II, Hl und IV bei KL
S. 422, 426, in = Meister;
Kreuzspanne, die i,l*».5ij bei Kl. S. 415 Kreuz-
spann; A. L Kreuzspanne; Kundenspr. II, III, IV
bei Kl. S. 422. 42ti, 431 ebenso; Krämerspr. II dort
8. 4SS Kreuzspann, Spanner und Kreuzspanner -»
We>ti''
Krune, die Ii. v. Kronerin « efraw; B. (J. kröne-
rin — efrow; 154T bei Kl. 8. 93 Kronle een
wiif; l.iO'i dort 8.112 Krencrin; i:-'.>T Kröner —
vir dort S. 115; 1020 dort b. 130 iüönerin— Weib;
auf8chneiden,lQgen,8cfawfai-
dein . unter enogenen
rn)!<tänileii betteln, be-
sonders auch erlogenen
Jammerbiief schidcen,
anf Gnmd deesen man
dann n.nchstons selber
vorsprechen und die Ga-
ben abholen will.
hungern.
Leute, die in einer Stadt
oder einem Dorf Ihr
St:ind()uartier lialK-n . in
das sie Abends oder
Nachts regelmJUsig zu«
röckkehren, und die plan-
mäsäig, oft zu mehreren,
in groeeen Kreisen von
da die ganze Umjg^end
abfeehten. Geschieht be-
soii(li'r>. wenn sie in der
Stadt etwas auf dem
Kerbhob haben, bia das
^^ ieder in VeigeMenheit
geradien ist
Schneider.
Hutmacher.
Ilut« Kopfbedeckung,
verhaftet werden.
Meister, Priiuipal.
Weste (ganz allgemeia).
Meisterin, Hausfrau, Frau.
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Was ist heute noch ▼om der Gsnnerspradie im pnktisdieii Gelmuidi? 77
1T55 dort S. 240 Kröueriii, auch Krone — Ehefrau;
1S51 dort S. 402 Krone — Gattin, Geliebte. A. L.
unter KrGne: Krone — Frau und Kreutzer; 18&6
dort 8.417 Krone — Geliebte; Kundcnspr. TU
dort S. 42r. Krone = Wirthsfrau : IV dort S. I.U
Krone jode Frau, ob die eine» Knechtes oder
die «taiee Orafen iet gieichgfiltig-; lebendes Roth-
welsch dort S. 492 Krone — Mädchen. Gclicbto,
Braut, Frau: Gr.: Krone — > Frau, Gattiu. Ab«
leitunic ans dem JAdlschen s. bei A. L. unter
Krnnel
Kiilp. die (v^l. Dohle) [englische Gaunersprache
hat kelp = Ilut, s. Baumann, Londinismen]
Kunde, der [IS2S bei Kl. S. 363 — Stromer: Kon-
denspr. II dort S. 422 — Handwerk»bur»cn ; III
dort S. 42fi Reisender; IV dort S. 4.'il: , Kunde
ist man, wenn man zum zweiten Mal in demselben
Strich reist*, ist so eof und hnrdYUurend]
Kunde? lAutwort .Kenn" oder „Kenn Mathilde",
jetzt auch oft ..servns", letzteres in Oesterreich
aligemein. [Ableitung aus dem Jadiscben bei A*
L. miter Ken]
kündigen (vgl. schärfen, verkündigen) [1. v. kim-
mem; B. 0. Kümmern ; 1616 bei Kl. S. 130 kimmer;
1630 dort 8. 187 k&mmem; 1733 dort 8. 201 kS-
nigen; 1753/5 dort S. 286 kundigen; 1704 dort
247 kaune königen; 1793 dort i'. 271 konigen;
Fr. Gl. kindigen, Icftadigcn; Decckc bei A. L.
Bd. 8 S. 249 kingenen: Chrysander dort Bd. 8 S. 4i)5
kinjcn; 1S20 dort Bd. 4 S. 23S kininiern; A. L.
unter Kone: kanjen, kangen, kinjcnon. königen,
kone sein; Knndenspr. IV bei ivl. b. 432 kündigen;
Lindenbei^ 1891 hangen ; Gr.: kfimmem kaufen,
erwcrhcn. Nur Gr. bringt ..kinjonen'' für ver-
kaufen, was kaum zutreffen dürfte. Ableitung aus
dem Jüdischen bei A. L. unter Kone]
K u n d e n f fto g er , der (vgl. Fauler» aber auch flnnde-
fäoger)
Kunst, die (z.B. Kunst kriegen)
Kunst- und Elementenfärber, auch bloe £le>
mentenfiteber, der (vgi. Bpeiel)
Laden stossen (vgl. fechten) [Kundenspr. bei KI.
427 -rnur in Liden (offenen Geschtftskiealen)
l>ettfhaj
LaugschBfter, der (andi PaiqMnh^er, vgl.
Teppe)
Läppchen, das (vgl. Fettlappchen) ^Kundenspr. III
bei Kl. S. 427 — Berg- und Tnalversetzer, ui-sprüng-
lich gewiss unrichtig, seit Verdrängung der üand-
weberei dnrch die Maschine aber vieDddit dann
un<l wann als gleichl>cdi'utoiid gebraucht]
Laterne, die (vgl. Blaue) alt, besonders in Württem-
berg gebraucht, im Norden selten, hier dag^n
häufig Blauer. Putz, Schmiere A. L.; Gr.: ebenso]
Laufmann, der (vgl. Ellenreiter)
Hut.
jeder „wandernde Hand-
werksbursch* ganz all-
gemein , auch wenn or
nie ein Handwerk getrie-
ben hat, also die ganze
Bevölkerung unserer
Landstrassen und Her-
bergen ohne Untersdried
von gut uml liTiso.
lUs fragender Kundeugiiiss
gebraneht.
kaufen (besonders vnni
Brodfahrer u.dgl.L>euteu,
aber auch von jeder Hei^
bergsvei-steigcrung und
sonstigem Handel.
Geheimpolizist (nach ande-
ren auch Zuführer der
Stellen vermitder).
Arbeit.
Bierbrauer.
nur bei Kauflenten bettehi
(um Geld oder Waan).
SchaftstiefeL
Weber.
Polizei.
Kaufmann.
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78
V. ScHcize
Laaseharke, die febenao Kimdcnspr. m uiid IV |
bei Kl. S. 427. 4311
1 c (1 e r n [ Kundenspr. II auBbcuten, an der Nase führen
bei KI. S. 422 ; III dort 427 — elmn aohlafenden
Kunden oder Pernon bei^tohleii]
Le^'uui, (ioseliUM'ht? (vjjl. Hanf) ;l4.')<i l)t'i Kl. S. 15
Lem = brott; UUi) dort S. 20 lecheni =« brott ; 1. v.
Lehern— Brot; Dcccke bei A.L.Bd.8. S.250 lechem ;
1620 Lehern — Brodt von Lediem bei Kl. S. 1.34;
1637 dort S. 151 Lehern: U)52 dort S. 156 Lechem;
1687 bei A. L. Bd. 4, S. »4 Löben; 1722 dort
Bd. 4, 8. 114 ebenso; 17SS bei Kl 8.200 Leehnin,
Lehm; 1747 dort S. 214 Leehem ; 1755 dort S. 240
Lagum— Lechem; 1791 bei A. L. Bd. 4, S. Hiy.
ham; 1798 dort Bd. 4, S. 18u; i^DTa bei Kl. S 2^9
Leben; 1S12 Lea^m, lsi4 LUchein Itei A. L.
Bd. 4, S. 211; 1^20 dort Bd. 4. S. 2;<4 Lächuni;
1S20 bei Kl. S. 854 Lechem — Brod; Fr. Gl.:
Leben (der spargraue) — verschimmelte Brot,
Lechem, der — schwarze Brot, Lochum » das
schwarze Brot, der Jude; 1851 bei Kl. S. 402
Lochern •» Brot; A. L. u. ür. Lechem, L<^em, Le-
sum, L^m, A. L. andi Löhm-BBrot; Knodenspr.
II bei Kl. S. 423 Li{riuin; III dort R. 427 Lcfnira =
Brod; I\' dort S. 432 Legum trockenes Hrod;
Krämerspr. II dort S. 43S lechem, leagem: III dort
S. 4"iM Liachnion. S. 411 Lcrhniann, Lechnien. T.aik-
wen; IV dort 8. 442 U ( licui ; VI dort S. 4!jU i/m,
Lechem; VII dort 8. 490 löm, lem — Brot Ablei-
tung auf dem Judischen bei A. L.l
Leicnenfledderer, der Cbezupft*^ den Betrun-
kenen) iKundenspr. III bei Kl. S. 427 — Beniuber
einer eingeschhifenen Person; allgemeiner Gr.]
Lehm er, der <gebr8nchlicher als Teigaffe, auch
Leobschütz) 11750 bei A. L. Bd. 4. S. IM! Loirum =
Schupfer, Löben — Schütz ^ Beck; 175;; 5 hei Kl.
S. 286 Lechemschleber = Becker: ls20 bei A.L.
Bd. 4, S. 284 Lenior; lH2tic bei Kl. S. 351 Lehnier,
Lecheiuschieber; Fr. (iL Lcbenjjflänzer, Lcbeu-
schieber; A. L. Lechenischieber; Kundcnspr. II bei
KL S. 423 Lehmer; lU dort & 427 und iV dort
S. 488 ebenso; lebendes RoihwelBdi dort 8. 492
li'^'^niiisohieber; Gr.: Lechenischieber — Backeri
Lehmschütz, der (vgl. iiochschütz, aber auch
Lefamer)
Link ibcsi)n(lci->i: linker KiiihIc) 1755 bei KI. S. 240
-= fal;*cli; 1M2 und 1^11 bti A.L. lid. 4, S. 212,
sowie 1S20 dort Bd. 4, S. 236 ^ falsch; l'!i20c bei
KL S. 351 link - die LQge; Fr. GL link » falsch,
schlecht, dnmm. wild; 1851 bei Kl. 8. 402 — falsch,
verfSlscIit. n;irli;,'eniaclit, unecht: A.L. alles,
was nicht ivcht, nicht richtig ist; Kundcnspr. 11
bd KL S. 428 ungeschickt, schlecht, falsch ; III dort
S. 427 = falsch ; lebendes RothM cIsch dort S. 492
■-dunm): Lin<lenberg IblM = alles. \\ :is verdächtig,
falsch, nachgeahmt ist; (ii : = nllcs, was falsch
ist. Im Kufrlischen ist der Ausdruck „link" zwar
nicht in die Gauner- wohl über in die Juden-
Kamm.
rupfen, sein Spiel treibeu
mit Jenumd«a.
Brod.
der den Betmnkenen oder
Schliifcndcii (icld ond
Sachen abnimmt.
Bleker.
mir mehrfach für >IQiler,
beeondm Windmüller
angeffpben. nach Obifreni
unter Lchmcr aber wohl
eigentlich ■> Bicken
6egen.satz von dnft (z. B.
schlechter Kamerad und
dergl.i, schlecht, falsch,
vermischt, plump, unge-
aefalckt
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Was ist heate noch von der Owuunpradie im praktisdieii Oehnndi? 79
spräche überfycfjangen : link — • nicht recht, ver-
kehrt, uicht fn)nini — Baumnnn, Londonismen
Linkniichfl, der iKundenapr. II bei KI. S. 423 =—
Einfalt-sninsel; III dort S. 427 — schlechter Ka-
merad; Iv dort S. 432 — junger Handwerksbursche,
der den Fecbt- und Tippolkommoat noch nicht
kennt; Qr. — beginnender, nngeedilekter Vaga-
bnnd'
links wachen, z. B. die blande
Loorchen, diu< (vgl. Kaiserini Kundcnspr. III bei
KI, S. 427 — Kaffeebrödclien ; IV. dorr S. 432 —
Semmel au 2— 3 Pf.; Gr. liat Lurchen und Lerchen]
los, etwas loa haben» s.B. Geld
Lnftschiff bremser, der
machen nach
HalOr, der (vgL DradESchwaUw) nach einigen im
Sommer ^laler, Im Winter Maldr, wohl veraorben
ans malhenr
Malv&sier» der (vgl Dreoksdiwalbe)
M:in>clietten. die (vf.^!. Acht)
Mascharus, der (vgL Kalt«diiäcbter, Maachnms,
Meeeh<npeB)
Maschnrns (vgl. Maschanis)
Mcfschores (vgl. Maschanis) wohl das richtige.
iDeccke bei A. L. Bd. :i. S. 249 M^hores —
Diener; 1737 bei Kl. S. 2ü7 ebenso; 1750 bei A
L. Bd. 4, S. 134 und 1S(I7 ebendort S. IbO desgl.;
1S13 bei Kl. S. 309 Mascliur. .Me-^chores—» dienender
Abdecker; 1823 dort b. 3bu Meachores »■ Knecht,
Bedienter; Fr. 6. Gl. Maschoree and Meschoree
=r. Knocht. HaiiskiH'clit, Diener; A. L. Miischur und
Mcscborefi Abdeckerkuecht, Diener, Knecht und
ihnl.: Knndenspr. III bei Kl. S. 427 Maschoree «
Anstaltsauf seh er; Knlmerspr. II bei Kl. S. 4.H8
ina-Hchores « Knecht: Gr.: Moschurcü Dionor.
Ableitung aas dem Jfldiseheo bei A. L. unter 1I»>
schurl
Mattine, die (vgl. Tippelei) |17^T bei Kl. S. 2.*)2
Martine — Land; 17«»3 dort S. 271 und 1M2 bei
A. Li. Bd. 4, S.2i2 ebenso: lSi4 ebendort Mattine;
1818 Merthie LandMrame, Wahdine •> platte
Lnii.l ilnit Bd. 4. S. 227; 1^20 dort Bd. 4 S. J^O
Martini <-> Land; lä2Uc bei KL S. 351 Meithiuo:
anf der Merthlne geben — auf der Landstrasse
umhergehen, um zu stehlen — zu eng — ; 1*^23
Matina dort S. 360; IMO Martine, .Medine S, ytiS
dort; Fr. G. Gl. .Medine, Medino, Mcdina — Land
A. L. und Gr.: Medine, Martine, Mattinc, A. L.
auch Mfirtine «= Gerichtsliezirk, I.Kind; Knndenspr.
IV bei Kl. S. 432 Matioiir = Wanderschaft; Krä-
mersur. III dort S. 440 Mardvine — Welt, £>. 441
attf die Mardahie gehen — auf den Handel gehen.
A))leitung ans dem Jftdiachen hA A. L. unter
Medimcl
etwa linker Kunde, vgl.
bei link; schlechter Ka-
merad , unbeholfener,
simpler, onbranchbaFW
Mensph.
um kehren, z. B. das Uunid.
Semmd, Rnndstack.
etwas los sein, dnndige*
bracht haben,
s. Wolkenachiebcr.
wandern nach.
Maler.
Maurer, da die sich bei der
Arbeit viel Zeit lassen
und der theure .Mulvasier
nach Kuudensage aus
ihren Schweisstropfen
desHIiirt wird.
Ilaiul-clicilen.
Frohner.
Frohner.
Frohner.
Wandei"sichalt.
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80
V. SuuCnB
mausen (vgl. bezupfen) aber nicht allein Kunden-
ausdruck
Mesumme, die imd niesuimmcs, das iDeecko bei
A. L. Bd. S, 8. 3S8 Hesninnien — Oold; 176S dort
Bd. 1,S. n:. Mnniine,Mees==(;oId: 1745 dort Bd. 4,
S. Mocs — Geld: 1753/5 bei Kl. Js. 236 Mesum:
17.55 dort S. 2S8 ebenso: 1S07 bei A. L.Bd.4,
S. is<» Mcssumuic; Fr. G. (U. Massuuinic 1^47 bei
Kl.S. 3*?;i Metiumme: 1*»51 Meftsuninie; dort S. 405:
A. L. Mesumme; Krämerspr. II massumes) durt
8. 4Sb; Iii dort S. 4S9 Maschummen; Gr. Meeumme
— Geld; Ableitung aus dem Jfldisehen bd A. L.
unter Mosiiimiu'ni
Meter, der (v^l. Flachs) nicht allein Kuadenaus-
druck. iKuDUenKpr.n und Krimerspr. V I bei Ri.
b. V2?i. 4*« 4 ebenso I
mogeln oder nioggeln bezupfeu und kaspern)
mogeln betrügen kennt auch unsere Studenten-
sprache. Vgl. nn»gul -=» bemogeln, begaunern, be-
schwindeln in d(>r (>nglischcn Sportsprache bei
Baumann, Londoninmenj
Monnce, das (vgl Asche)
Moos, das (Vgl. Asche) (1753/5 bd Kl. S. 2S6 ebenso;
ISIS bei A. K V.i\. 4. S. 227 — r.dd oder Ccldes-
werth; I82()c bei Kl. b. .H51 Moos = Geld, alto
Sprache Mess. Ebenso 1820 d dort S. 1821
dort S. 3.50; 1S47 dort S. 3*^:1 und Fr. ( J. (JI. 1851
bei Kl. S 405 Moos«: I85ti Moos bei Kl. 8. 417.
Ebenso A. L. 1886 dort 8.417. Kundenspr. II bei
Kl. S. 423 und Krämerspr. VI dort 8. 4SI. Ab-
leitung aus dem Judischen bei A. L. unter Moot.
Die englische Gauneniprache hat niop»isiH)e8 asd
moea^Geld, s. Baumann, Londouismeni
mopsen (vgl. becupfen) iso audi Ktmdenspr. III bei
Kl. S. 427'
Mülierflohe, die (vgl. Bieueu)
Mnesspritze, die
Mutter Grün, bei M. ü. schlafen (vgl. Platte
reissen) [desgl. Kundenspr. III bei KI. 427]
Dach bleuen (vel. bienen) [Kundenspr. III bei Kl.
427 ebenso; IV dort 8.480: der Vater bient— er
revidirt vor dem Scldafengdieil, ob jemand Un-
geziefer oder Krätze hat]
Nadeln, die (vei^^l. Bienen)
Nassauer, der ivergl. A. L. unter Nass; 1*»t7 iM'i
Kl. S. .(SM = Liebhaber, der niclit zahlt — zu
eng ~
Naturforscher, der [Kundenspr. III bei Kl. 8.
427 « Lumpensammler]
steiilen.
Geld.
Nuntius, der
Markstäcic.
stehlen, auch betrügen, be-
•enden beim Sj^eL
Geld.
Geld.
stehlen.
Läuse.
Regenschirm.
im Freien nfichdgen.
auf Ungeziefer untersuchen.
Läuse.
Regen, andi Scfamarotser.
Jemand, derdieMQllhaufen
und die vor die Thflren
Sesetzten Mülleimer
urchsuebt nach irgend-
wie yerweithberem Abo
fall.
Gerichtsdiener.
Obermann, der (vcrgl. Dohle, Koppeschale) [1087 i Kopfbedeckung, Hut.
bei A. L. Bd. 4 S. 93 — Hut; ebenso 1722 dort <
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Was ist heute noch von der Gatmetspiache Im praktischen Gebrauch? 81
Oschütz, der (vergl. HochschfltE) wird allgemein
gebraucht wie Roller]
H<l. 4 S. IlG: 1738 bei KI. S. 201 = wüllener
(»der von Stroh — ; 1745 — Hut oder Haufbuden
bei .\. L. Bd. 4. S. 15«; 175?'. ö bei KI. S. 236
« Hut; lb04a dort S. 27s = Hut, Mütze; 1812
und 1S14 bei A. L. Bd. 4 S. 214 = Hut; ebenso
mb dort Bd. 4 S. 226; 1^20 dort B<L 4 b. 239
Obcrma — Hut; 1820c bei Kl. S. 851 nnd 1847
dort S. 8S4 Ubennann — Hut; Fr. Hl. (»hcnnann
» Speicher, Boden, Bühne; 1856 bei Kl. S. 415
— HQtte; A. L. — Hat oder Boden ; KmidenRpr.
II und III bei Kl. S. 423, 427 — Hut; IV dort
S. 432 — Kopfbedeckung; Krämerspr. VI dort
8. Ahl und IJndenbeig 1891 » Hut; Or. « Hot
oder Roden 1
Ochsen köpf, der [1847 bei Kl. S. 37b — - Arbeitu-
haus allgemein, das trifft für den heutigen Ge> i
brauch sicher nicht zu]
Nur in Berlhi gebräuchlich
für Arbeitshaus und zwar
jetzt nur noch für Rum-
melsburg. Der alte
^Ochsenkopf^ soll auf
dem AiexaaUerplatz ge-
standen nnd seinen Na-
men auf Hummdsbuig
vorerbt haben.
Hflller.
Pachulke, der [1847 bei Kl. = Hausarbeiter im
Gefängniss; A. L. ebenso; Kuodenspr. IV Haua-
knech^ in der Regel ein dter Knude, der diesen
Dienst in der Ponno nbomimmt bei Kl. S. 432;
Lindenberg IbUl -= Kalefactor im (tcfangnias, d.h.
Stnfgefangener, der den andern Gefangenen Spei-
f«en , Wasser zum IteinifJi^on der Zellen u. s. w.
bringt; Gr. — Hausarbeiter im Gefängnit«*. Ab-
leitung vom böhmischen Pacholjk bei A. L.
paikern (veigL k^K>rea gehen) [1764 bei Kl. S.
248 pegem — verrecken 1799 dort S. 271 Beger
— Tod; lb07a dort S. 2'^!> pegem — umbriu'rcn;
1818 bei A. L. Bd. 4 S. 22b päkern — morden;
iMO dort S. 249 M«ret gestorben, bikeren —
sterben; lS20c bei Kl. S. .'552 pckem — morden;
Fr. ül. begeren, pekcreu. pegem, pejem — sterben,
tödten, umbringen, beger nnd beknr » Tod;
1S51 bei Kl. S. 4i)6 peigem — sterben, crepieren,
eigentlich aber crepieren machen, vergiften, be-
sonders von Hunden, auch umbringen (von .Men-
schen); A. L. unter Peger pegem, peigem —
sterben, sterben machen, vergiften; eben«o Gr.;
Kiiii<lt iis[)r. III bei Kl, S. 127 nciikiin sterben;
Krämerspr. III bei Kl. L. S. 442 i'e^'^^i ru « sterben ;
IV dort 487 b(>kercn ebens«* Ableitung aus
dorn .lüdiHcheu bei A. L. unter l'egerl
Pappenheimer, der (vergl. Laugschüf tcr , auch
Tfeppe)
Parngraphenmeister, der (vergl. Spioss)
Pariser, (Ue (auch ausserhalb der Kundenkreise,
besonder« in der ZnaanuneuBetsung »Füzpariser'^
goVirruiclilifli.
Aiciuv für KriiDuuüaikUiropologie. XII.
Knecht, unffcbildeter, or-
dinärer Mensch.
sterben.
Schaf tstiefoi.
Staat.H- bezAv.
Filzschuhe.
Amtsanwalt
6
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82
V. SchCtke
Pech, das f1840 bei Kl. S. S69 Plcii — Silber;
l^^tT dort S. :?s4 olionso und Pcoli = rnfflöek;
l^öl Pech = l'ngiüek, Pich, Picht =■ Geld, dort
S. 406: issfi dort S. 417 Pich — Geld, Pech —
Un{jh"i('k ; Kiindonsiir. II dort S. 423 Pech = Un-
glück; Krämei'si)r. 11 dt»rt S. 4i{!> poch =» Geld;
VI dort 8. 481 Bich, Pich -r Geld
Penne, die (verj<l. wilde Penne) ISB bei A. L.
Bd. 4 S. 227 — Gasthau»; lS2<)c bei Kl. S. 352
— Haus; 1^17 dort S. 384 — Herberge, Nacht-
quartier, Kneipe; A. L. — Verkebrehaua, Wirths-
hau8, Schlupf Winkel; Kandenspr. I bei KI. ti.421
Piinunc =■ Herberge; II iloiT S. 12.1 Penne —
Kneipe; III »lort S. 427 — Herberge; IV dort S.
432 jede Herberge, Dorfschenke u. s. w., in der
Handwerksbnrsclien ilher Nacht bleilten. Ableitung
aus dem Jiidi.Hclien bei A, L. unter Penne
Pennepoos, der, oder Penneboosoder Penne-
poost, aacb Po est [1 v. Bo^i8 » haus; Fr. Gl.:
Bo9, Boos = Herberge, (Quartier; 1S56 bei Kl. S.
415 Penneboss — Wirtli ili i Penne; Kundonspr.
I dort 8. 421 Bos — Horbeif^svater; III dort 8.
4^ PeimebooB nnd IV dort 8. 482 Penne-Poost —
Herberp-svater; Lindenberg 1891 B08t — ScUtf-
wirth des Diebes — zu engl
pennen
pfeifen; verpfeifen, jemanden (vergl. zinken)
11783 bei Kl. 8. 200 pfeifen — angeben; 1807 bei
A. L. Bd. 4 8. is'.t pfeifen bekennen; 1847 dort
S. SS5 ' einräameo, gestoben; A. L. » bekennen:
Kondenspr. III dortb. 427 ebenso nnd verpfeifen
vcrrathen; Liniloubcri: I'^'M jtfeifen « einge-
stehen, veri)feifen = venathen; Gr.: pfeifen •»
^esthebcn, einen Andern hineinbrini;en : Rosdier
m Gross, Archiv Bd. 3. 8. 278 pidfen » ver-
rathenl
I'f( nleschuster, der [so andi Knndenq[»r. n b«
Kl. iS. 4231
Pflanz, die (österreichisch) jvergl. A. L. unter
Pflanzen: der Pflanz die Lü^rc, der Vurwandl
Pflanzen, auch Pflanz machen, letzteres an-
geblich Ssterreidiisch «vergl. Kohl reiben |A. L.
untrr ITIaiizeii: einen Pflanz sotsen « Jemand
etwa."* v»)rlü;,'eu, weissniaehen]
Pflanzer, der \ er;;!, A. L. unter Pflanzen : dieser
wie Gr, und alle frülien-ii kennen das Wdrt nur
in der allfjenieiiien Bedeutung — Verlerti^'^er. Ar-
beiter in ZusamniensetsungWi. 8o 1<>S7 bei A.
L. Bd. 4 S. 81) Trittling»-, Kluft - Pflantzer für
Schuster, Schneider; Fr. Gl. der moröblische Pflan-
zer ( Jell»j;ie>s*er. In der Kunden-«praclicjedocli bat
CS sich zu der feststehenden äunderbedeutung:
Sdiahmacher heransgebilctet, wie sich anch daraus
erfficbt. dass es so in allen J?anindiingeu der-
selben, abi-r auch ntir in dieMii auftritt. Vergl.
Kondensor. I. II, III, IV bei Kl. & 421, 423, 427,
Itl, an diet^er letzten Stelle ^Flanzer^ gmcbriebenj
Pfriciuer, der
UngUck: mm Geld, habe ich
es niur in der Zusammen-
Setzung „Schlommer^
pech" leststellen kOnnen.
UerbeiKe*
HeibeigBvatMr.
Herberge — besonders zom
Naelittjuartier — be-
ziehen.
verrathen, gestehen.
Sattler.
Schwindel, LQgerel.
aufschneiden, lügen. l)esnn-
ders wenn man erst spater
(wenn die 8ttt aufge-
laufen i daraufhin Oafioi
holen will.
Sdiahmacher.
Schuhmacher.
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Wm ist heute nodi von der Gannenprech« im imktischen Qebianch? 88
Pf und, halbes (veivl. SancCns) iKnndenspr. III |
bei KI. S. 427 » j Pfund = gros», Olas St-hnaps'
Piccu» oder Pickua, der (vergl. Hachelei) 11S47
bei Kl. S. 3S4 PickuB » Enen; Kundenspr. II
und III dort S. 423, 427 ebenso; IV dort S. 432
warmes Essen ; Kriimerspr. VI Bickus und
Bickerei * Essen, dort S. 480; Gr.: Pickus
Enen. Vergl. B. 0. pig gflt ~ ein deff; A. L.
unter Bicken]
picken (ver^l. hachcln, haniraem. spachtclm !IS14
bei A. L. Bd. 4. S. 19» bicken essen ; Fr. Gl.
bieken, pieken; 1847 bei Kl. S. SM pieken: A. L.
bidcen und picken = essen, sjjcis^cn, fressen. },'e-
nieesen, nehmen, coii\>; Kundcnspr. III bei Kl. S.
427 pieken essen; Krünierspr. II dort S. A'i'
bicke = essen; V dort S. 4.'»i) Pickert = Gabel,
8. 45b picken <-> nähen; VI bieken ■» essen,
dort S. 450; Lindonbew 1891 pieken » eeaen;
Gr.: bicken, picken, pecKen eeeen]
Piependreber, der Kundcnapr. Iii bei Kl. 8. 427
ebenso ; IV doit Sw 498 Pfelfendrelier — Zigairen-
macber]
Piepe nmaker, der
Pilger, der
Pinn er, der (vergl. Zeilenpinner)
Platte machon, reissen, wichsen (veigl.
Hntter Grfin nnd platt machen) [1818 l>d A. L.
Bd. 4 S. 228 Platte Penne mac In n — unter freiem
Himmel Nachtquartier machen; ebenso A. L. unter
Platt; Knndenspr. III l>el Kl. 8. 427 Platte relseen
■= im Freien schlafen^
Plattfuss, iler |1723 bei A. L. iki. 4 S. lou l'lat-
voet; 1T4.T dort Bd. 4 S. 151 Blatte: 17 ö l>ei
Kl. S. 236 Plattfusß, lS14und 181S bei A. L. Bd. 4
S. 20t) und 227 Plattfuss: Fr (iL ebenso: Fr. G.
Gl. und Gr.: Bl.atte Gans, die sonst viel-
fach Breitfuss heisst, so 1450 bei El. S. 15 breit-
fnsB « Gans; 1. v. und B. 0. sowie 1687 bd A.
L. Bd. 4 S. DI chcn.so = (ians und 1755 bei Kl.
S. 239 kleine Breitfuss — Ente; lbl2a dort ä.
292 ; 298 Bndtffissel -> Gänse, wShrend Fr. Gl.
Breitfufts— Ente oder Stadttlior u. 1745 bei A. L.
Bd. 4 S. 151 nur Stadttlior braucht ; 1S51 end-
licli bi i Kl. S. 350 bringt Breitfuss und Knnden-
spr. III dort S. 427 Plattfuss — Gans oder Ente]
platt uiaclien, reissen (vergl. Mutter (Jinin,
Platte machen, rt'isst'ii , wichsen) [Kundenspr. II
und IV bei KL S. 423, 432 ^ im Freiem kam*
piren, übernachten; Lindenberg 1S91 »sidi ohne
G!i(l:n-li liommtreiben ; Gr. =* im I'rcieu schlafen]
Polente, die [1. v. Poleuder Schlots, Burg; B.
0. ebenso; 1620 bei Kl. 8. IST Polender
Schloss; 1652 Polender b.i Kl. S. 157;
1733 dort S. 200 Bollcnt = Klo^tor; 1750 bei A.
L. Bd. 4 S. 139 Pollent -= Schlos.s; 1^12 dort Bd. 4
S. 201 Bolent =- Kloster, 1S20 dort Bd. 4 Ji. 2:JS
ebeuso, S. 243 aber Bolleut - btadt; Fr. Gl.
Schnaps inriereckigerbrei-
ter Flaschf zu ^\ Liter.
Essen (die öueisen,
die Thitigkeit).
nicht
Clgarrenmacher.
Cigarrenmacher.
schwerer Junge (angeblich
einer, der sesshaft ist,
höchstens noch Rom-
mando schiebt, beson-
dere in (Trossstiidteui.
Setzer.
im Freien tuunpirm.
im Freien kumpiren.
Polizeibureau.
6*
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84
V» Schütze
Polender — Edelhof, Pallast, Schloss; l*>56 bei
Kl. S. 41 "> Bdlente = iNiIizci; A. L. unter Polenk
^ Polente Polizei: KuDdenoir. Ii und IV bei
Kl. 8. 429, 4S2 PoHende, III dort 8. 437 Polente
=- Polizeiamt, Ortsbehonlc : LindenluM},' l'^'tl nnd
Gr.: Polente — Polizei. Einen Vereuch der Ab-
leitung 8. bei A. L. a. a. 0.|
Pollzeifinpcr; der [Fr. G. Gl. verpl. Galgennagel
— firelbe Möhre; Kundenspr. III bei Kl. S. 427:
Polizeifinger = geschnittene Carotte]
poiniacben Urlaub nehmen (v^.Uaflen machen)
Pommern, die (v^ Bleuen)
P o 8 e h e r . der (vgl. schwarze Asche, Heichsdeutscber,
Tiipfi (Deeke od A. L. Bd. S 8. 219 Poechut —
I Pfennig; lTr)0 dort Bd. 4 S 138 I'osth eheiiüio;
16ö4 bei Kl. ä. 24b Poscbut dgl , ebenfalls iä47 dort
8. 986 Poechen; femer ¥V. 6. Ol. Bobchet, Boecfaet
nnd A. L. unter Poschut: Poschcr, Pasche = Pfen-
nig. Ebenso Kunden»pr. I bei Kl. S. 421 Bauscher;
II dort S. 423 Poscher; III durt S. 427 Polscher,
Purscher; IV dort S. 4.S2 Pooscher; Krümerspr. 1
dort S. 484 bÖHcher; II dort S. 487 bünche; VI
dort S. is.'} Böschet oder Boscher; lebendes Roth-
welsch dort S. 492 boosfh Pfennig. Ableitung
aus dem Jfldi.Hchen bei A. L. unter Poschut In
der englischen Gaunersprache bedeutet poeh »
Geld — vgl. Baumann, Londonismen]
Potsdamer, der (vgl. Berliner). [Nach Gr. ■»
Dummer, der geprellt werden soll)
Pracher, der cvgL Öchnuner) Llb47 bei Kl. 8.364
und Lindenbeif 1891 — Bettler]
Pulle, die (vgl. Buddeil besonders Beriiniech [eben-
so Kundenspr. III bei Kl. ä. 427J
Pulver, das [vf^. Asche)
Paparsch, der (vgL Element)
Putsch, der (vgl. Blauer)
Putz, der, s. Putsch (174.-> bei A. L. Bd. 4 S. 156
— Bettel vogt; 1S20 dort Bd. 4 S. TSf» Butz —
Bettelvogt; lS2Üd bei Kl. S. 354 Putz — zam
Schein; 1*^47 dort S. 3S5 — Ausrede, Ausflucht;
Fr. Gl. i'utz -= Bettelvügt, Wüchter, Genuss; Fr.
G. Gl. — Spiessmann; 1S51 bei Kl. S. 807 Putz— .
Ausrede, Auaflucht; 1S56 dort S. 415 Butz — Po-
lizeidiener; A. L. Putz BT Bettelvogt; Kundenspr.
bei Kl. S. 421 Butz = Bettel vogt; II dort S. 422 —
Polizeidiener; III dort ö. 427 Putz «<* Polizist,
Schutzmann; KrSmerspr. II dort S. 487 bftta
Polizist; III dort S. 140 Putz = l'olizei; IV dort
8.442 putz — Geubdarm; VI doit b 4^'> Butz •»
Polizist; VII butz ~ Polizei, dort S. 490 ; Linden-
berg 1^91 Putz M Ausrede, Anseht; Gr.: Pntz
Bettel vogt]
Quadratlatschen, der (vgL Fuselappen)
Mohrrttben, rotiie Wuseln.
weglaufen, besonden* vom
Wehrdienst, desertiren.
Linse, mit einem schwar-
zen Kreuz auf dem
Rucken, deui sogenann-
ten Sattel.
1 Hennig, wohl das Kich-
tige, nach andern Kupfer-
geld allgemein, nach
dritten Zehnpfennig-
stfick.
Bündel, besond. kleineres.
Schnurrer, Bettler, besitz-
loaer Mensch.
Flasche, Scfanapsflaache;
Geld.
dnnkel Bier weileaBlIb-
nn^en auslö»t).
P()lizi8t.
Polizist.
WdsekohL
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Was bt heute noch von der Otuneispndie im pitktiadieD Oebimuch? 86
Bad, das [Deecke bei A. L. Bd. 4 8.243 Rat «
Thaler; 1733 hei Kl. S. 202 llatt: 1750 hei A. L.
Bd. 4 & 141 Kaue; mi dort Bd. 4 S. m lim;
ebenso 1812, 1S14, 1880 dort Bd. 4 8.215, 215.
248: Vt. Gl. (ioddnit, der; 1«>17 boi Kl. S. .HS5
Rad; A.L. Rat; KundensOT. II, III, IV bei Kl.
& 423, 428, 432 ebenso; KrSmerspr. II bei Ki.
S. 438 ratt; III dort S. 440 ebenso; Gr.: Rad —
Tbaler. Ableitung;: s. bei A. L. unter Rat. Die
engUsdie OaunersDrache — Bauinann, Londonis-
mon — hnt coa(■h^vlleell — > groft»e SilbenaOiue and
cart whecl — FimfäcliUlingstück]
Bamech , der, elneii guten machen; vgL Zottelbeigw
machen.
Rande, die (vj^l. Berliner) besonders von Sehmie-
den gebnuu'ht, und
Bandi, der, angeblich ustecmchiach. Ii. v. Kautz
V sank : B. 0. ^enso; 1620 bei Kl. 8. IST Hamm,
1793 dort S. 271 Rande = Sack; ls20 bei A. I..
Bd. 4 S. 2S5. 24U Bande — Bündel, Pack; Fr. CiL
Bande, Rand! — Padc, Sack, Tasche; Knndenspr.
rV bei Kl. S. 432 Rande — Berliner BQndel, Keiso-
tasohc u. w.; Kniinerspr. I dort S. 437 raude
Portemonnaie; VI S. 485, 4b7 Bande Banaen
Tasche; Gr.: Rande Sack]
Raspeln (vgl. Erbsen koclien)
BauBchen,Ran8ehcr machen [14r)0 hei Kl. S. Ii?
rauschert — strowsa^rk ; 1. v. Rjmst luTt = Stroh-
sack; B. f». rawschart — j^troc sack ; lt>20 bei KI.
S. 141 Rauschart «= Strosark; ir)52 dort Ö. 15ti
Bauschert; 1745 bei A. L. Bd. 4 S. 15ö Raoachert
~ Stroh; 1755 bei Kl. 8. 288 Raschert » Stroh,
Strohsack; 1793 dort S. 271 Rauscher = Ütroh;
1807 a Rausch — Stroh, dort S. 289; 1812 Baoscber,
Bauaehert, 1814 Banschlinr i-i Stroh bei A. L.
Bd. 4 8.215; l<i20 dort Bcf 4 8. 243 Rauschet =
Stroh: 1840 bei Kl. S. 3ü9 Rauscher — Schiesskugel ;
Fr. Ol. BMBchert, der -= Stroh ; A. L. Raaschert,
Rausohling — Stroh, in der Fiescisprachc; Rau-
schert Papier; Kundensnr. 11 bei KL S. 428
Baascher ^ Schiesskugcl; III dort 8. 428 Stroh-
lager ; IV dort S. I'!2 Rauscher machen = auf
Stroh schlafen ; Kränici-spr. III ilort S. 441 liusper»
— Stroh; V dort S. 451 Ruschert; VI dort S.4S7
Banschert Stroh; Gru Rauachert, Ranachling »
Strohdach, Papier]
Regierungsrath, dcnvfjl. Konimerzienrath, Stieh-
ler) L1615 bei Ki. S. 130 Regimenter— Stricke, da-
mit sie jhre Hfiner fangen ; 1T45 bei A. L. Bd. 4,
S. 156 Regierung = Strick; 1793 hei KI. S. 271 regie-
ren — binden; 1851 dort S. 407 liegierune — Strick
zum Binden der Hansbewohner bei nSehtltehem Ein-
bnieh; Fr. Gl. Regieruug-= Sclnnir, Seil. Strick; A.
L. Begierang=-Seil, Strick, S< Imur /.um Binden und
knebefai; Knndenspr. III bei Kl. S. 42S Rcgiemngs-
rath == Schneider; ebenso IV dort S. 434]
Reich^hudeu. mit einem Fuss auf deut-
schem Reichsboden gehen
Reichsdeutscher, ein, allgemein gebräuchlich,
(VgL Pobclier)
Thaler.
einen guten geglüdtteu
Diel)stah] madien.
Packet, Bündel.
Packet, Bündel
sehuai'chen.
auf dem Dorf hleiben, auf
Stroh schlafen.
Sehneidw.
Stiefel mir dua'hgelaufeuen
Sohlen haben,
ein Pfennig.
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86
V. SchCtkb
Keichskäfer, der (vgl. Bienen)
Reüfirion, die (ebenso Kundenspr. II, III, IV bei
KI. S. 423, 42S, 432; GrJ
K i' ni s , der (vgl. Blitz)
Rittmeister, der (vgl. Sanktns) [Kundenspr. III
bei Kl. S.i2^: Rittinoister » 12 Wachtmeistera
d. h. — 12 grosse (ilus Schnaps)
Roller, der (▼ffi* Hochsohutzi [1. v. Roll >= muU,
BoUfetzor -» miillor) B. O. roll = unill, rollvetzer
— mfillor: KisT bi-i A. L. Btl. 4 S. % Holler —
einer, der Gold aus der Ficke zieht; 1745 dort
Bd. 4 8. 156 u. 1750 dort 8. 13S Roller — Müller;
1753/5 bei Kl. S. 236 Rolle — Mrdile. RollBchfltz
= Muller; 1804 a dort S. 277 Roller: holen den
Leuten de» NaclitB auf der Streu das Geld aus der
Tasclie tmd machen rieh fort; 1807a RoU — Mtthle,
dort S. 200; 1S12 bei A. L. Bd. 4 S. 21S Roller»-
Malier: 1818 dort Bd. 4, 8.228 Rollo: 1820 dort
Bd. 4, B. MO Rotler; 1820a bei Kl. 8. 852 Rollo,
alte Siimchc: Rollfetzer; Fr. Gl. Roller, Rollen-r;
Fr. (i. Gl. Rollfetzer, Rüll»chütz — MiUler; isol
Roller — Karren, besonders Sehiebkarren bei Kl.
8.407; A. L. Roll, Roller, Rollschütz Müller;
Kundenspr. II bei Kl. S. 123 Roller = Müller;
III dort S. 42S ebenso; IV dort S. 434 Roller —
Windmüller; Kniinenipr. VI Roller =» Apfel oder
Müller, dort S. 479, 4S4; Gr.: Roller = Muller oder
Wagen 1
Roller, der, (vgl. Frachtbrief) [da mit Eisenbahu-
beforderung .verbunden, soll österreichisch »ein;
fJegensatz: Todtenschein)
Rosenkranz, der (vgl. die Acht) 11818 bei A. 1*
Bd. 4 8. 238 » Fnaakettej A. L. — Hand- and
Fussseh llen; KoiideiiaiNr. III bei Kl. 8. 428«-
Kette, Schellen]
Rumtreiber, der febenso Kundenrar. III und IV
bei Kl. S. 42S, 433; nach Gr. « Bicker. Viel-
leicht ein Missverstiindiiiss?]
Rundchen, das [Kundenspr. III bei Kl. 8. 42>
ebenso; IV dort S. 432 Rundling -= Pellkartoffel;
Krämersur. IV Rundling — Wurst, dort 8. 4SS;
die eDf lucbe Gaunersprache hat roiidem — Knopf
— B. manaam, LondoniamenJ
Sackratten, die (vgl. Bienen)
sagen (vgl. Erbsen koehem
8änftchen, das (vgl. Kahn)
SSnftling, der (vgl. Kahn) [1450 senfteridi Bette
bei Kl. S. 15; 1. v. Senfftrich — beth; 1620 bei
Kl. S. 141 8enfstrich — Beth; 1652 8enfftrich
dort 8. 156; 16ST bei A. L. Bd. 4 8. 95 und 1722
doii Bd. 4 S. 113 Senfftlingc — Betten; 1745 dort
Bd. 4 8. 15S Senffte; 1747 bei Kl. b. 214 8enftlin;
1753 5 dort 8. 246 Sänftling; lS04a dort 278
Senf; lS07a dort S. 290 Senft; \<20 hei A. L
Bd. 4, 8. 234 Sanft, lS20e bei Kl. 353 Jjenft
und Senftlinge Bett; 1S47 dcwt 8.8S7 Senftling
= Bett, auch Strohsack der ( it fangenen ; Fr. Gl. 8enft,
8enfte, die — Bett, äeuiüiuj^', der — Kopfkusseu;
Ungeziefer, Laus.
Handwerk.
Stadt- und Landver\^'cis.
Sdhnapa, aehr grosser zu
20 oder 25 Pfennigen.
mnndinniler, f&r Backer
nur, wenn er gleichzeitig
auch Müller ist, wird
al>er auch allgemeiii fftr
MQiler gebraucht
EnUassungsehein mit Ab-
»chuhl)Cf:leituug.
Handschellen.
BSttcher, vom Henungehcn
um 's F.-iss beim Reifen-
auftreiben.
Kartoffel.
Flfadänse.
schnarchen.
Bett, besonders wenn gut.
Bett, beeondecB wenn gut.
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Was ist heute noch von der Gauoenprache im praktischen Gebrauch? 87
1S51 bei KI. S. 407 Si-nftliu^', der = ein Stück Bett,
Mehrzahl — Bettstuckc, Betten; 1S56 dort S llö
ßänftling— Bett; A. L. Siinft, S-änftling, bänftrieh
— Bett; Kundenspr. II und IV l)ei Kl. S. 423. 432
Sänftling — Bett; Kränierenr. VI hei KI. S. 4S«»
Sooft, baunft, ^änftel. ScnftiiDg; Lindcnberg isui
sinfte M Bett, Gr.: t«lnft, SSnfUing -> Bett, »opha,
SenftlinfT = Bett]
SanktUB aulgiessen, Jemandem einen (vul.
Sdiabaul adion in Bayern nldit mehr reeht m-
f^ejren im katholit^ohen Oesterreicli. da dort an-
geblich viel reiner Spiritus getmnkeu wirdj Pa-
rodie auf Spiritus sanctus. (Krlmerepr. V bei Kl.
S. 449 SanktU8 « Wein'
Schabau. der, jüdisch, bet^onders in Süddeutsoh-
land. (Vgl. Fini, halbes Pfund, Rittmeister, Sfauk-
tufi. Soroff, Unteroffizier, Wachtmeiater) [ISiQ bei
Kl. ä. 415 hcliabuu BierJ
aebaben (ygL feehtoi)
Schaber, der (vgl. AxBchkntzer) [Kondoiapr. IV
bei Kl. S. 433 ebenso]
achaffen (vgl. schenigelni
ächale, die (vgl. Walniusrli) Fr. Ol. = Kiste, Truhe;
1851 bei Kl. J*. 410 « Kleidungj A. L. Kleid,
Kleidang; lbS6 bei Kl. 8.417 — Kleidung; Kun-
denspr. III bei Kl. «. 42S und Lindenbere IbOl
ebeufio; Gr.: -= Frage, Knt.'ieheiduiig, Kleidung.
Nach A. L. -» Rückübersetzung; aus dem jüdischen
Kelef, Kluft, das vom hebnli.>*clien K elaph ^ Rinde,
Schale stammt; wohl zu gekiinstelt|
Schalleru (ISOTa bei Kl. S. 2S9 ebenso; 1S12 bei
A. L. Bd. 4 S. 216 schajüen, schallen; ISU schallen
ebendort und lS2ü dort Bd. 4 S. 24H, sowie Fr.
Gl. sehallern singen: iS51 bei Kl. S. HO schal-
len — läuten, singen; Fr. 6. sch allem = singen;
ebenso Kundenspr. II bei Kl. S. 423 und III dort
S. \2^ : A. L. schallen (unter fcfchalh ri - singen:
achärf 00, verscharfen (vffL kündigen, verkündigen)
(1807 bei Kl. 8. 284 flcnarfen » gestohlene Sadien
den Dieben verkaufen; l'»47 dort S. :>~ gestnblene
oder erschwindelte Sachen kaufen: Fr. Gl. schärfen
w adittldiff bleiben, aufschreiben lassen, Schulden
machen; rr. G. Gl. schärfen = mit dini Ankauf
und Verkauf fjestohlener Sachen sich abgeben,
kaufen ; 1S.51 bei KI. S. 410 gestohlenes Gut wuaent-
lich ankaufen; A. L. und (^r.: schärfen — gestoh-
lene Sachen in Baubch und Bogen ankaufen
und einzeln wieder verkaufen. A. L. nennt dies
Verkaufen: verschärfen, Gr. will scheinbar beide
gleich brauchen; Limknlierg l^lU schärfen — ge- >
stohlene oder anders ergaunerte Sachen kaufen,
versdiärfen sie verkamen. Ableitung bei A. L. i
nnter schSrfen] |
Schfirfer, der (alter Verbrechcrausdruck) [vgl. 1S07 j
bei A. L. Bd. 4 S. 1 85 bchärfenspieler *-* dcnenitfe,
der den Dieben gestohlene Sachen abkauft; Fr. |
G* 61.: Schärfcii^-pirltT und Schärfer der g(!-
stohlene Sachen kauft und verkauft, Käui'cr, A. L.
and Gr. SdiSrfenaplder «■ der Tertraote, gewerfoa-
idchnaps einschenken beew.
verabfolgen.
Branntwein, Schnaps.
b^tein (allgemein, ohne
Beigeschmack einer ^e-
ciaiität).
Barbier.
aibriten*
Zeug, Anzog * KIofL
singen.
statt kündigen und ver*
kfindigon, inderelgent*
liehen Verbrecher- im
Gegensatz zur Kunden-
spiidie.
Jude oder dgl.. der un-
rechtes Gut kauft, Hehler,
besonders der vorher
bestellte.
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88
V. Schütze
iniissi^e Ankaufergestohlencr Sachen. V>rl. auch A. L.
Bil. 1 S. XI Anm. 1, wonach schon in den Capitula-
rien die Juden als Schärf enspieler bei der beämlichen
VeriuMerang von KirchenscbStzen hervortreten 1
Schaum ritter, der (v^;!. Arschk nitzer)
Scheerouschleifer, der [Ibil bei Kl. S. 3^7:
Sehewe raadien den zweiten nnd dritten Finger
der rechten Hand Diebstahls haliK-r in t ino I'aaclie
stecken: Lindenber^ ib9i eine gewisse Aus»
fibung des Tascheudiebatahb; Gr. — mit i fingern
die Geldtasche ziehenl
Bchenigeln (vf?!. schaffen) isoTa bei Kl. S. 290
schiualln: lsl2 bei A. I* Bd. 4, S. 217 »chineglen;
1S20 dort Bd. 4, S. 233 schinegeln «= arbeiten, aber
S. 236 dort schinegelo auch •=» Faullcnzer! Fr. Gl.
schinageln und schinalen arbeiten, werken; Kun-
denspr. U bei Kl. S. 423. III 8. 42b und IV S. 432
Bdienigeln; KiftnerBpr. I dort 8. 4S6 sdienr-geln);
Kriiiiiorsnr. II dort S. 408 schenigio; VI dort S. 479
scUeuigelen, scliinegelen <— airbeiten. Ableitung
am dem Jfldiadieii s. bei A. L. onter Schlnl
auf's Büb scheaigeln
schicker, besonders in Schlesien (vgl. beechmort)
[1755 bei Kl. S. 241 schicker = betmnken; 1S47
dort S. 3S7 schikkcni trinken; isöO dort S. 415
besehickcrt ^ betrunken; Kundenspr. I schicker
— betrunken dort S. 421; Lindenberg ls?tl schickem
M trinken, .-'ich bes.chickeru =» sich betrinken]
Schickse, die (vgl. Kalle) [1723 bei A, L. Bd. 4,
S. 10() Schicksgen => Frau -Mensch; 1742 bei Kl.
S. 2()9 Schickserle ^ puclla; 1745 bei A. L. Bd. 4.
i:)7 Schixle, Schixen = Magd; 1753/5 bei Kl. 55.236
Schickse! — Jungfer; 1791 bei A. L. Bd. 4, S. 171
Scfalekae — Hägdldn; 1793 dort Bd. 4, 8. 191
Schickse— Mädchen, Bryschläferin; lsl2 d(.ii I?d.4,
8.217 Sohickse, Schick»gen, Öchiuksel^^iMädcbon,
1818 dort Bd. 4, 8. 22S ebenso; 1820 dort Bd. 4,
b. 289 Schi.\ Mildchen; 1820c bei Kl, S. f{.V2
Scliickse = Mädchen : Fr. Gl.Schix ^ Beischläferin,
Hure, Konkubine; Iböl bei Kl. S. 411 Schickse-»
Christenniädchen niederen Standes; A. L. unter
Schekez : Schickse, Schicksei, Schicks -» .Mädchen,
Grisette, Dirne, liederliche Dirne, auch die Frau,
VViithin. Aufwärterin; issB bei Kl. S. 417 Schickse
Christeuniridclien niederen Standes. Schieksel =•
Mädchen, das nebenbei Pm.stitution treibt; Kun-
denspr. 11 Sdiicks » Mädctien, männlicher Kunde
bei Kl. 8. 423 ; III dort S. 42S Schickse — Frauen-
zimmer :uif Wandei-schaft, Schicks»'! erwachsene«
Mädchen ; Krämerspr. III dort S. 440 Schixchcn »
MIdchen; IV dort 8. 442 ixscha =^ ebenso; VI
dort S. 4*^.'! S<lii\ -= Mädchen: (Jr. unter Schckez:
ßchicksü, Schieksel = Dirne, Grisette, Frau, Wir-
tiiin. Ableitung ans dem Jfidischai bei A.L. unter
Schek( / . Vgl. im Englischen als (':int: shicksa,
shicksier, bhika = M&dchen, Weibsbild bei Bau-
mann, Londonismen
Barbier.
Taschendieb (w^eu der
sdieereoartii^eu Fincer*
haltung beim Stehlen
In der englischen Gau-
sprache heisst der Ta-
schendieb aus frleichem
Grunde fork, Mittel- und
Zeigefinger forks ^Ban-
mann, I^ndonismen.
arbeiten (in seinem Beruf).
arbeiten (aber nicht in sei-
nem Fach oder Beruf),
betnmken.
MSddien(mitBeigesduiiaek
des Liederüchen).
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Was iBt heute nodi von der GMuenpiadie im praktiadieii Gebnndi? 89
Schiebungen, besonders
schwere Schlebnngen, die (vgl. Bmch) fKnn-
denspr. IV bei Kl. S. 432 Schiebung = ii^nMid eine
Sendung an Geld, Kleidern u. s. w., die der Hand-
weriubiuBehe am der Reise nachgeschiclct be-
kommt'
Schlepper, der ^v^l. Ilundefäiigeri |1. v. HottUr für
erlogene Kirchen : B. O. ebenso ; 1 .')«»'! bei Kl. S. 1 13 ;
1620 bei Kl. S. 139 verlauffeu l'faff; 1S4T dort
8. 386 — ■ gewerbsmuHsiger Zuhält<?r zum Spiel ; A.
L. allgemein Zuführer der Gauner; Kundenspr.
III bei Kl. S. 428 ^ Zahälter cum Spiel; Lindon-
beig 1891 Helfershelfer des Gauners, der ihm
die Opfer zuführt; viel zu cnj^ auch jedcnfallä
Boeoher in Groee, Archiv Bd. 3, S. 278 — ^der
das Aeffcben sacht und fai die Wiraschaft schleppt*.
Diese und die mir mitgcthoiltc Amreadmigd Anten
nur Beispiele duzuateUen haben]
Seh Ittmm erkies, dar [Koodenspr. II bei Kl. 8. 428
— Schlaf?cl<I; III dort S. 42^ rbciiso!
Schluuimci pech, das [I6b7 bei A. L. Bd. 4, S. <J6
Schlunimerpicht « Schlafgeld; vgl. auch 1722 bei
A. L. Bd. 4. S. 119; Kundenspr. III und IV bei
Kl. S. 42h. 432 Schlummerpech — Schlafgeld I
scbmalniachen (vgl. fechten) |Kunden»pr. III — in
Gastwirthschaften oder auf der Stras.^ie betteln bei
Kl. 8. 42S; IV dort 8. 432 — auf der rn.nienade
die Spaziergänger oder in den Localen die Gäste
anbetteüi; Lindenberg 1891 Sohmalmacher
Bettler
Schmiere, die (vgl. Blaue) [1714 bei KI. S. 177,
17S Schmiere, Schmere Wadie; 1753 5 dort
S. 236 Schmiere; 1764 dort S. 24S Schmirr: IT'.t.'i
dort S. 271 Schmier: 1S04 dort S. 27.") Schmier
ebenso; 1S07 bei A. L. Bd. 4, 8. 1S«> Scheraire —
Schildwacht, Posten; 1S12 Schmier, 1814 Schmiere.
Butter = Schildwache dort Bd. 4, S. 217; l'>47
Schmiere bei Kl. S. 3S6; Fr. Gl. Schnner. die
Ausspähe, Ufllfe, LAuer, Spähe, Wache, Wächter:
1851 bei Kl. 8. 411 Schmier, Schmiere — Wache:
A. Ij. unter Schammer: Seliniire, Sdiemire. Schmir,
bchmiere Wache, Soldat, Üiebswache, Wacht-
gebäade nnd Ihn!.: 1886 Schmiere — Wlciifeer;
Kramerspr. VI Si hmtr — Polizei , bei Kl. S. 4*».'i.
Ableitung aus dem JQdiachun bei A. L. unter
Schammer
Schmiere jitehen (1714 bei Kl. S. 177 Sclmielire
stehen Wache stehen; 17 Ui dort S. 17s Schmiere
stehen ebenso; 1847 dort S. 386 und 1S51 dort
S. III ebenso; l^^^i; ,|ort S 417 Schmiere stehen
^ aufpassen; Kundenspr. II bei Kl. S. 423 und
III dort 8. 42S Schmier stehen — W^ache stehen;
Lindenberg 1^91 = Scinniere stehen = aufpassen
yrShr^d eines Diebstahls, Wache stehen; ebenso
Schwierigkeiten , Uuan-
annebmlichkeften haben,
z. B. viel Regen beim
Wandoni. Abweisungen,
Gefahr beim Gesdienk-
fonlem u. dgl.
Zuführer des Stellen ver^
mittleis.
SeUafgeld.
Schlafgeld.
bei den arbeitenden Ge-
sellen, nicht Meistern,
um L'ntei"stützung bitten
in Werkstätten und be-
sonders auf Versamm-
lungen. Nach Anderen
auf öffentlichen Platzen.
Promenaden u. dgl. Je-
manden ansprechen nnd
sich «lahei ., klein", be-
scheiden stellen , sich
dnrch's Pablicom sehttn-
?eln.
Polizei.
Wache stehen.
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90
Gr.: beim Stclilcn Wacla- .stellen. l»as iut ffirden
houtigen Gebrauch ohne Frage zu eng. Wenigatent
bei uns im Norden wird es für das Anfpawen der
Helfershelfer bei jeder »tran)arin Handlung ge-
braucht , liesondeis z. B. beim Bettehi. Ganz all-
guuein daher z. B. auch A. L. unter Schammer:
Schmiere stehen, halten ^ Wache halten, auf-
passen
Schmier topf, der (vgl. Schmiere) lA. L. unter
Schammer brancht Schmiere aach für Wachtge-
bäudel
schmusen iClirysauder bei A. L. Bd. 3, S. 4Ü7 —
reden; 1788 bei Kl. S. 200 angeben; 1798 dort
S. 272 = sagen: 1^12 bei A. L. Bd. 4. S. 217
schmusteu -= sprechen, plaudern, sagen, reden;
1S14 dort Bd. 4, 201 schmusen ^ scbwataen;
\<iy) dort Hd. 4, S. 233 bezw. 24!^ »chnuison
aussagen Itezw. s[)nH>hen; l'^2^)d hei Kl. b«. i)ö4
und 1^21 dnrt S. :; 5») scliraosen — plaudern; Kun-
denspr. IV bei Kl. 432 schmusen — in der Knn-
densprache »prochen; Krämerspr. VI dort Ö. 491
= sa^'eti . Lindenberg 1891 ^ reden, plandem;
Gr. — reden, erzählen]
Schmnserei, die
Selmauzenschlager, der (vgl. Arsehkratzeri
ächuüidorkarpfea, der (vgl. üaifutch) Iso auch
A. L. unter bdineide nnd w. für ir«BAl>«n®n
Heringl
Schmeidling, der, auch Schnittliug ;Kunden-
sp. n, m, IV bei Kl. S. 423, 42S. KX\ ehenso;
Krämerspr. I schneiderlo dort S. \'M\: \'l dort
S. 4S4 Hehneidling «=- Messer; s. auch A. L. unter
tichnoide ächeere; ebenso Gr.; Schnittling hat
Gr. für Haar]
Schnurren (vgl. fechten) I1S2h bei Kl. S. 860
schnurren« betteln 1^47 <lort S. .1S<! ebenso und
schnorren; Krämerspr. VI dort S. 479 schnurren!
Schnurrer, der (vgl Pracher) 11787 bei Kl. S. 207
— • Betteliude)
Schrabiner, die [1745 bei A. L. Bd. 4 S. 157
Sehrazien » Kind; 1814 dort Bd. 4 8. 208 Ch»>
rnzir Kinder; A. L. Sehrabben. Schrappen,
öchrauuueu » Krabben, Kinder; ebenso Gr., der
der noch Sehraz, Sdirazen fflr Kinder nnd Schrapfen
- kleine Kinder hat. Kunden?pr. III bei KI.
Ö. 42S Schrabbiner — Kinder. Krämerspr. VI dort
S. 4S3 Sehrawener •= Kinder, lebendes Rothweiach
!»ehr:ij)pehens Kinder, dort S. 492!
Sehn btrei her, der (vgl. Schuck er), angeblich öster-
reichisch
achuckt ii lUM'cke bei A. L. Bd..! S. 24!»: Schuck
» 1 Mark; A. L. ebenso und sehucken ™ kosten,
wert sein, zu stehen kommen, unter Schuck, wo
Ableitung aus dem JQdischen zu vgl. Kundeuspr.
III bei Kl. S. 42S sehucken -» bezanlen ; Krämer-
spr. II (h)it S. 4H9 schin kcii sein
Öch ucker, der (vgl. Schubtreiber) ilä2ü bei A. L.
Bd. 4 H. 294 Tsdragger Bettelrogt; Fr. O. Ol.
Schurkei- — Landdragoner, Gens d'annes. Polizei-
soidat. i'olizeidiener; .Kundcnspr. II bei Kl. S. 423
— Polizadiener; m dort 8. 428 — Polizist, Scfauts-
Poüzeigewahrsam.
erzälilen, onterhalten, bc-
sonders auf Herbergen,
wenn jemand sich an
einenAuderuheraumacht,
der etwas ausgeben solL
ünterhaltang, GesprSdi.
Bai!ii.'f.
Ueriug allgemein , nicht
nur gesauaier.
Messer.
betteln.
besitzlose Mensch, Bettler.
die Kinder, nach oiuer mir
neoerdings gewordeneii
ven-inzelrcii Mittheilung
eines (Jstpreusseu : das
Schrappen««^ Kind,Mehr^
zahl — Schrabiner.
Polizeidiencr , der den
Schub besorgt,
geben , z. B. er hat mir
fünf l'osclier geechuckt.
Pollxeidiener, der
Scfanb besorgt
den
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Was ist heute noch von der Ganneraprache Un praktlfichen Gebiancb? 91
mann, GenBdaim; Krftmerepr. VI dort 8. 4i>3 —
Landjiger; Gr. * Gensdannl
Sehnppe, die
Seh« Sterbade, die (vgl. Bode)
schw&chen (1608 bei KI. 8. 128, 124 sohwechon;
1620 dort S. 13S scliweohen = sauffen; 1052 dort
8.160 sdiwächcn; 1703 dort S. 271 — triukcu;
l**07a dort S. 2SS scliwaclia = trinkt-n; ebenso
1S14 bei A. L. Bd. l S. 216 schwächen; 1^2») dort
Bd. 4 S. 233, 240 schwächen = saufen, aussiaufen;
IS30 bei Kl. S. 365 schwacha; 1S51 dort S. 412
schwächen » tnnkcn; 1656 dort b. 415 schmächen
— trinken; A. L. unter Sewachen: schwächen
ninktii: l^^ü hri Kl. S. 418 schwaichen = trinken;
Kundeuspr. II bei Ki. b. 42S schwächen » saufen:
in dort s. 429 ebenso — trinken ; fRrihnenor. VI
dort S.4^T "irhwärlu'n, VlI ddit IMl -( liwuciien =
trinken : Gr. ebenso. Ableitung aus dem Jüdischen
bei A. L. nnter sewachen)
schwarz sein, fulircii. tigern flS51 bei KI.
S. 405 schwarz oline Geld- ebenso A. L. und
Gr. diese Bedeutung habe icn nicht bestätigt er-
halten, nebenstehende, die sich auch in Kunden-
spr. III bei Kl. S. 42b : „schwarz gehen — ohne
Papiere rriaen" findet, dagegen vielfach gehiSrtl.
Schwarzer, Schwarzkünstler, der [Schwarz-
künstler Schornsteinfeger auch in Kundenspr.
III und IV bei Kl, S. 42S, 4341
Schwarzer Gensdarro (vgl. Gallach) [die englische
Gaunersprache hat den Ausdruck black brigade
floistlichkeit)
Schwein, das (kein spedeiler Kundenausdruck)
schwer (z. B. die Trittdien sind schwer, sdiwer im
Bruch i
Sch wimmling, der (vgl. Haifisch) [Fr. (iL Sdiwim-
merling — Usch; Kundenspr. III und 17 bei KL
S. 42S. 43.*l — Ileringl
Seelenverkäufer, der
selig (vgl. beschmort), nirht nor Kondensosdnick.
Seekadctt, der, vgl. Haifisch
Seesoldat, der, (vgl. Haifisch)
benftchen, das (vgl. Kahm
Silvesterpauke, aie (in Berlin besonders)
Söcher, der (vgl. Ellenreiter) [Deecke bei A. L.
Bd. :< S. 219 Zaucher 1 Kaufmann; 1745 dort
Bd. 4 S. 15!) Sogcr; 1753/5 bei KL S. 246 Soocher;
1755 dort 8. 23S Schoocher ; 1764 dort 9. 248 Socher ;
1791 bei A. L. Bd. 4 S. ir.',4 Socliter; 17it3 dort
Bd. 4 S. Ibl ebensoj 1S12 dort Bd. 4 S. 21U Socher,
Soehter» Kaufmann; Fr. GL Gsochner» Krämer,
Markteierant, Gsochncr (der (Jrimmige) — Handels-
mann, Ivaufmauu, Sochner = Kaufmann, Krümer;
Fr. G. GL baucher, Mehrzahl Sanehrin ebenso; A.
I,. ^^m her, ."^aucher, Socherer unter Sachern; Knii-
deospr. II bei KL S- 42S Soger; Kräiuerspr. II dort
8. 489 söcher; Lindenberg 1S91 Zocher — Kauf-
mann; Gr.: Soger ebenso. Ableitung aus dem
Jüditicheu bei A. L. imtcr Sachemi
altes, silliernes Zwaniig>>
nfennigstück.
schlechte ArbeitBSteUe, a. B.
die weniger Lohn j^ebt
als Verbandssatz,
trinlmi«
ohne Papiere »ein, reisen
müssen, z.B. „er tigert
seliwan*.
Sdionisteinfeger.
Pfairer.
Gifick.
zu Ende, kaput ; ancb allge-
meines VentirlrangBWort
Heiing.
Stellenvermitiler.
betrunken.
Hering.
Hering.
Bett.
CHliuderhut
wandernder Kaufmann.
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I
92
y. ScaüizB
Souueab rüder, der [Gr. der im Fi-eieu über-
Dachtet]
SonncriHclimicd, der [»o auch Kundeoapr. III und
IV bei Kl. S. 42S, 434]
Soroff , der (vgl. Sehabau) (Deecke bei A. L. Bd. 3
S. 250 Jajen Zoref = Brandwein; 1747 bei KI.
8.214 Suroff; 1753 5 dort S. 236 Soref; 1755 dort
S. 240; 1*^12 Jain Sorf, lhl4 Jajem Soref bei A. L.
B. 4 & 208; 1020 dort Bd. 4 Ö.235 Sorof; Fr. 6.
Ol. Bonrff; 1851 bei Kl. 8. 410 Ssoref oder Snnrf :
Kundenspr. II dort S. 423 = Branntwein ; III dort
8.42b Soroff » Schnaps; IV dort S. 433 Soruff;
KribneiBpr. II dort 8. 489 tOraf ; ID JenneMumm,
SOniin sonif, dort S. 441; IV dort S. 442 sorof;
lebendes lioth welsch dort S. Zorf ~ Schn^;
Gr.: aorof, seraf, suruf, soref, surof mit und ofiue
jahin — Branntwein. .Tudiach]
spachteln (vgl. picken)
epannen, jemaaden [1750 bei A. L. Bd. 4 S. 142 nach
einem spannen = verfolgen; lSi)7a bei KI. S.
spanna — schauen; lh2Ue doit ö. 353 spannen —
fidiren; Fr. 61. » sehen, schauen, spähen, an-
qMUinen — ansehen, bespannen = beobachten,
aäianen; A. L. spannen » lauem, belauem; Kun-
denspr. III bei Kl. S. 42U — erblicken; IV dort
8. 433 » etwas scharf besehen; Krämenpr. I dort
8. 486 spanne, spannen « sehen, beobachten; IV
dort S. 442 iäpanncn = sehen; VI dort S. ebenso;
lebendes Kothwelsch dort S. 493 — scharf beob-
achten; lindeoberg 1891 ^^«nner Bchmier-
steher]
Spazierbülzer, die
SpeekjSger, der
Sperling, Suats^der (Fr. 6., A. L. tmd Gr.: 8per^
liug KnebelJ
Spezer, der, nach andern Spezel (vgl. Elementen-
färber)
Spielzeug, das
Spless, der {rgL BHlzabldter, Paragraphenmeister)
lA. L. unter Oapee, Spies.s — Gaunerwirth; Kun-
denspr. I bei KL 8. 421 — Sechser; III dort S. 249
— FOnfpfennigstück]
apinnen
8pitzf lamme, die (vgl. Flammer)
Spitzkopf, der (vgl. BUtzableiterj Kunden^r. III
Bummler, besonders Stadt-
bnmmler, der afcb anf
Banken und Gelindem
<ler öffentlichen Anlagen
hemmtfdbt
Klempner.
Branntwein.
essen.
erblicken, sehen nach Je*
nandem.
Beine.
alte, besonders orts- und
personcnkundifre Nah-
rungf*niittelbettler auf
dem Lande, nehmen aber
nuch Geld, arb^ten nie,
saufen alle.
Flei^lcll, aber nur das im
Gefäogniss Terabfolgte.
Bierbrauer.
liandwerkwerätb.
StaatBanwaIt(nadiAnderai
Genadaim).
Länn machen, fnrtw.nhrend
i-edeu, besonders in Folge
von Betrunkenheit; da
fa»t alle alten Kunden
dies au sich haben, und
da es schliesslicb meist zu
Krakehl führt, sind sie
bei den Jungen oft nicht
gern gesehen.
Nagclschmied.
Gensdann
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Was ist heate noch von der Gaonenprache im praktiaclien Oebraach? 93
bei Kl. S. 429 Spitzkopp — Gensdarm ; Gr.: Spitz
koi)f = Polizist]
äpitziing, der, besonders in Süddeutschland von Hafer,
fahrend«! KflnsÜem n. dgl., die IQr ihr Waj^-
pferd fi'clitcn. [1. V. — ■ habem; B. 0. ^ haucm;
1652 bei Kl. S. 156 Spitzling ^ Hafer; 1687 dort
S. 168 Spitzlinge Nähnadeln; 1722 bd A. L.
Bd. 4, S. IIH i^pitzlin^ Alo oder Pfriem; 1783
bei Kl, S. 201 Spitzlig = Haberen; 1755 dort S. 238
Spitzlin«? Hafer; 1820 bei A. L. Bd. 4, 8.237
Sj.itzgrib = Habor; Fr. Gl.: Spitzling «= Nagel,
Hafer, Getreide, Messer, vorschüssige Spitzling =
LTus^e Messer, groiae StUet; A. L. Spitzling =
Hafer, Nagel; Krämerepr. VI bei Kl. S. tsl Spitz
und Spitzling =» Hafer, S. 4SS — WciUinbuuuj;
Gr. : ^Spitzling Hafer, Nagel]
Spritzbüchse, die (vgl. Schickse) Mädchen.
Stande, die [1. v, Hanfstaudl; B. 0. Hempstnd; 1()20 Hemd,
bei Kl. S. 138 Hanfstauden; 1H52 dort S. 15rt
ebenso; 1750 bei A.L. Bd. 4, S. 136 Hanf-Staude;
1828 bei Kl. S. 868 Stande; 1880 dort 8. 865 eben-
so; 1^47 dort S. :ir.s cl.cn«.; IV. Gl. Hanfstiiud,
der, Uaufätauden liuuöfätauden, die; Fr. G. Gl.
Standen: 1851 bei Kl. 8. 408 ebenso; A. L. Staude;
18S6 bei Kl. S. 418 Stauden: Kundenspr. II, III,
IV bei Kl. S. 423, 429, 43.H Staude Krämerspr. III
dort S. 441 Staudehe; IV dort S. 442 »taussem; VI
dortS.4S2 Hanfstaude, Stand; Gr.: Stande = Hemd)
St e uzen, der Ii r. Gl.: Stenz — Kock, f lock, Stange; Stock.
ISf)! bei KI. 8. 408 — Stock, Prügel; 1856 dort
S. llö Stcnze, die — Stock; A. L. und Gr.: Stenz
— Stock, Stecken, Prügel: Kundenspr. II, III, IV
bei Kl. S. 423, 429, 4.H3 Stenz» Stab; Krämerspr.
V dort S. 450 Stines; VI dort S. 487 und lebendes
Rothwelsch dort 8. 492 stenz » Stock]
Stiehl er, der ( v«:!. KoninKivienrath, Regierungsrath) Sdineidar.
il753t& bei KL S. 236 Stichlings-Malochner; 1807 a
dort S. 290 Stichler; 1812 iL 1120 bei A. L. Bd. 4,
S. 220 bezw. 212. lS20c bei KI. S.35S ebenso; 1S47
bei Ki. S. 38t> Sticliliugsuielocher: Fr. Gl. Stichler,
Stichlein; Kundenspr. I, U, III, IV bei Kl. S. 421,
423, 429. 434 Stichler Schneider; dagegen Krä-
merspr. I und VI bei Kl. S. 436 und 4S4 Stichler
■=» Metzger]
Stichliug. der (vgl. Zahnstocher) [l'^öi) bei A. L. ZaanpfahL
Bd. 4, S. 139 Stichling ■= Sclmcider; ebenso 1745
dort Bd. 4, 8. Ib5 und (Jr.; Fr. Gl. dagegen — Na-
del. Diese Bedeutung ist auch mir ente«^nge-
treten, doch habe ich sie nicht mit Sicherheit fest-
stellen können. Stichling Schnt ider wurde all-
ruein lebhaft bestritten]. iKrämerspr. U bei Kl.
489 hat StiehUng = Messer; VI dort S. 481 —
Gabel. Der Gebrauch scheint also nach Zeit und
Bevölkeruneskreisen aelu: zu schwanken und für
aUea mSgUene wa» q^ta ist, in Betracht «a kom-
men
Stift , der [1687 bei A. L. Bd. 4, S. 94: Ein Kuiib- Lehrling,
gen — Ein Stifftgen; ebenso 1722 dortBd.4, S. 117
und 1750 dort lid. 4, S. 137, sowie 1S14 dort Bd. 4,
S. 219 Stiftcbe. A.L. unter stabelu : Stift »Knabe,
Bmehe» Hmdwericsbnnehe; Kundenspr. I bd KL
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94
V. SklHÜTZE
S. 421 uud II dort S. 423 Stift = Lehijunge;
lebendes Kotlnvelftch dort S. 493 «=• Jand^l
stippen (vcr^I. bezupfen» (l()S7 bei Kl. S. 2<*1
Stippri = Diebe, die beim (leldwecliseln stehlen;
lb2Ua atippen — plündern der Caasen in den
KanflSden venBittelst einer Leimrothe dort 8. 374;
]^2^ ff. Stippor = Dil l», der mit Leimruthen aus
den Lösunffskästen der Kaufleute u. s. w. stiehlt,
dort S. 866: 1847 dort 8. 386 ebenso ; gl^clifalls
1851 dort 8. 408; Fr. Gl. aus Losuufrsfreldl<3aton
stehlen; A. L. stehlen durch heimliches Zu »
Hineinlanfjen ; KrfimerRpr. VI bei Kl. stibben »
betrt'lii: Lindenl)er^' 1*^^M stippen = das Geld mit
Leina utheu aus den Kasten Htehlen; Gr. Stehlen
kleiner O^genatinde mit Leimruthen. Die eng-
lische Gaunerspraclie — Baumnuu . Londonittnen
— hat divo •= aus den Taschen stehlen]
8toff , d«r (Tergl. Element)
Stessen fverg:!. fechten) 1350 bei Kl. S. 2 Stosscr
«=• furcs reruni venalium in fon) ; Fr. stossen
— stehlen, nehmen; 1S.'>1 bei Kl. ö. 409 = ge-
stohlenes Gut wis.Hentlieh ankaufen: Kundenspr.
III dort S. 429 Winden stosscn — einzehie gute
Häuser aufj^iu-hen; Gr. — wissentlieh Gefitohlenes
ankaufen, auch -« stehlen; mir vielfacli, aber
nur für Betteln genannt]
Strassburgcr, der. rheinllindisch , nach anderen
aUgemein gebräuchlich; Kundenspr. III bei Kl. S.
439 — aus aufgelesenen Zigarrenstummeln ge-
scfanittener TabakJ
8 1 r aas e n g r a b en t ap ez i er e n — Bayem,Wflrtteni*
berg, Baden —
Straasengrabentapezier er, der
Streifllng, der |1. v. Streifling — Hosen; B. 0.
ebenso: 1652 bei Kl. S 158 Streiffling; mi bei
A. L Bd. 4 S. 93 Streiflinge -= Strörapfe; 1722
dort Bd. 4 S. 120 Streif Imge = Stmrapfe; 1723
d<trt Bd. 4 S. 106 Stroffling = Stnimpf; 1745 dort
Bd. 4 S. l-js Streffling Strümpfe: 1717 bei Kl.
8. 214 Streifling - Strümpfe; 17.-.;; dort S. 286
Strefling ebenso; 1791 bei A. L Bd. I S. \rs
Streifling — ein Paar Strümpf: lso4a l)ei Kl. S.
27S Strciflinge; 1^)7 a dort ». el>enso; 1S12
bei A. L. Bd. 4 S. 220 und lb20c bei Kl. 8. 353
desgl.; so auch Kundenspr. II und III bei Kl. S.
423 und 429; IV dort S. lü.'! hat Streiflinge oder
Beinüngc Suünipfe; Krämei-spr. III und VI
Streifling = Strumpf bei Kl. 8. 441, 4871
Stromer, der [IsMI bei Kl. S. 4]^ ilu-nso; Kunden-
spr. I. dort S. 421 Stromer votierender uud
bettelnder HandwerLsbui^elie; II dort S. 423 Stro-
mer — Hat, aueh — Kunde; IV dort 8. 433 —
stehlen (als Taschendieb,
in dieser Be<leutung ganz
allgemein Hblich; da
Stippen mit Lehnradien
bei der modernen Aen-
derun^; der Ladenkasaen
wenigstens in protestan-
tischen Landen, wo man
Opferstöcke fast nur
innmfaalb der aoaser dem
Gottesdienst nicht ge-
öffneten Kirchen hat,
nicht mehr in Uebung ist
und daher hier .wenig-
stens auch der Ausdruck
datfOr in Vergessenheit
gerathen zu sein scheint,
kann man mit Sicher-
heit auf Taschendieijstahl
schlicss^, wenn man liier
im Tasehenbaeh oder
Brief\ve<'lisel emes Vaga-
bunden von stippen liest-
Lagert>ier.
betteln (allgemelii).
auf der Strasse gesammelte
Cigarrcnstummel, die
mdst geschnitten und
dann aus der Pfeife ge>
raucht werden.
an der Landstrasse im
Gras liegen.
s. Wolkenschieber.
Strumpf.
Tagabnnd.
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Waa ist heute noch von der Gaaneispriche im praktischen Gebrauch? 96
landl&urifrer Ansdmck für alle Handwerksgoselleu,
die nicht mehr arbeiten können und im Leben
nur durch Fechten friatenj
studieren
Sucher, der « Socher (vergl. EUeiuetter)
halfen, z. B. Le^uui talfen fverpl. feclitein 17(')4
hv\ Kl. S. 247 dalfenon bettehi ; ITH.t T.iIch.T,
JalttT — Landstreicher. Jlialefer = _vi»nielinier"'
Bettler dort S. 273, ( Jross Thalfer — Hochstappier
S. 274; IWO bei A. L. Bd. 4 S. 232 Dalvcn —
abbetteln: lS20cbei Kl. S. 35» talften = betteln;
1S47 dort S. it75 dalfen = betteln; Fr. i'A. ebensio;
IS&l bei Kl. S. 3% dalfen arm, dalfouen »
liettehij A. L. dalfen — • betteln; Knndenspr. I
und III bei Kl. S. 421 und 425 dalven; II und IV
durt S. 423 und 433 talfeu betteln, fechten;
Krihnerspr. VI dalfen — betteln, dort S. 479;
lebende?* Kothwelsch dalfen f»tehl(>n dort S.
493 ; Lindenberg 1S91 dalfen — betteln ; Gr. ebenso.
Ableitung ans dem JAdischen bei A. L. unter
dalfen
t a p p rt e u , selir allgemein gebräuchlich, (vergl. tigeni.
tippeln, tunnen)
Teckel, der (vergl. Fusalatscher) [Kundenspr. II
bei Kl. S. 422 Deckel, Deckal = berittener Gens-
darm; III dort 425, 42!» Teckel und Deckel:
lY dort S. 430 Deckel — Genadann; Krämerapr.
I bei Kl. 8. 435 und VI dort 8. 483 Deckel ~
l-mdjrlger; Gr.: Teckel =■ Dachs, Dachs-Hund,
iieuauarm. Das tec und teck der engliachen Gauner-
sprache — G^^mpoHzist dürfte ^e Ableitong
vom dctectiv sein und mit unserem „Teckeh nicht
soaammenhringen, Bauuiaun, Londunismenl
Teppe, die, — besonders in Brandenburg, Berlin
vergl. Trittcheu, Trittling, aoch Gurken, Lang-
»ch:"ifter, Pappcnheimeri
'Theewinde, die (auch Grfitzkasten) iKnndenapr.
III bei Kl. S. 12!» ebenso'
Teigaffe, der (uieist Lehmer, uui Ii Leobschütz)
Thermometer, da» (vgl. Buddel)
im Thran sein (vgl. beschmort sein) iKundenspr.
III bei Kl. S. 429 ebenso)
tigern (vgl. tappseni [Kundenspr. III beiKI. 8.429
— grosse Strecken schnell zurücklegeol
tippeln (vgl. tappsen) [Chrvaander bd A. L. Bd. 9
Ö. 405 tij)j»eln = fallen; Is'lS doit Bd. 4 S. 22^
Sehen; lb2Uc bei KI. S. 353 ebenso: lb4t> dort |
. 972 — entspringen ; FV. Ol. — gehen , heran-
kommen, schleichen: 1S51 bei Kl. S. 412 = gehen,
kommen; A. L. unter tiupeu: tippeln, dappeln -
mit behenden Schritten hin- unr! hergehen, rasch
drdiiiiu'i'hen, schlüpfen: Kundenspr. II bei Kl. 422
aieln, dappeln wandern; Iii doit S. 429 tip-
-= gehen, reisen, wandern; IV dort S. 438»
inistrolchen ; Kninierspr. W doit 8. 442 dipi>eln
» gehen: lebendes liothwclseh dort 5. 493 tippeln
•■triiqpeln; Lindenbeq; 1S91 dsbbeln, da|q;ieln«-
venetzt. \-crpfandet Min
(von Stachen).
Kaufmann.
betteln.
wanileni.
(ü-nsdarm (zu Fuss und zo
l'ferd, für beides).
Stiefel oder Schuh.
Krankenhaus.
Backer.
Branntweinflaschei
betranken wia.
wandern,
wandern.
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96
Y. ScHÜTsm
wandern; Gr.: dipeln — lanfen ; Uppen, tippeln,
(lappoln^ loirht anstos^on. beltSteOi OOire]
Tippelei. die (vgl. Mattino)
Tljbperseiilekse, die (Knndenspr. II bdi KL 8.432
i/q>pels(liuks — Mädrlicn auf Wuiulcrechaft ; IV
Tippt'löchickst'l jüdisches lüderliches Frauenzim-
mer, das mit Handw(»'ksbnn»chen wandert, dort
S. — „jüdisch'' als Befrriffsincikmal ist zweifel-
los verkehrt — ; A. L. ranpelHelucksc, Dappel-
sehickse = Metze , voiv.fig-licn die auf den obich
gehende: (Jr. ; Tiiipelschickse = Betth^rin'
Tirach, der, z. Ji. Mecklenl)nrfj ist ein dufter Tirach.
(1818 bei A. L. Bd. 4 S 22», Diraeh = Teufel ;
nnaer Tirach hängt aber wohl mit Tei ich Land
zusammen, dass sich schon friih findet. So 1450
bei KI. S. 15 terieh = Land; 1. v.; B. Ü; 1513 bei
la i«. 83; 1620 dort 8. 134: 1691 dort S. 173 hat
DInicli — calcens; 1758/5 dort S. 2S6 Dirach ^
Weg; ls04 dort S. 27 r. Dirach = Laudstrasse;
£unden»pr. III bei Kl. S. 429 Thienach » Land-
strich ; vgl. auch das angeblieb zigeunerische nTf-
rach" im waldheimer rothwelschen Lexikon von
1722 bei A. L. Bd. 4 S. 119 Schuhe und das
hebrUsche Deredi
ti rächen (vf^l. fechten)
Torf, der ivgi. Uanf). Nach A. L. Beute, Sneise,
vom hebrüflchen tem; Lindenbeig 1891m Geld;
Gr. = das Zeniaaene. nadi BeeeitCste; Beatel, ge>
heime Tasche]
Todtcnschoin, der (vgl. FrachtbrieOi da mit Rficlc-
kelnverbot verbunden, allgemein gebräuchlich.
iKundeu.spr. II bei Kl. S. 423 Todtenschein —
Marschroute in die lleimathl
Todtenacbein sterben lassen
Tretmfthle, die, jemanden anf ^ TretmOhle
nehmen
Trichinen, die (v;Lrl. Bienen)
Trine, die (vgl. Kalle)
im Tritt (vgl. be»chmort)
Tritteben, das (vgl. Teppe)
Trittling, der (vgl. Teppe) Ii. v. Dritling = schuh;
B.O. ebenso: IffiN» befKI. S. 185 Dritling; 1652
dort S. 156 Trietling; 16ST bei A. L. Bd. 4 S. 93
Trittlinge — ein Paar äcliuhc; 1722 dort Bd. 4
S. 119 ebenso; 1745 dort Bd. 4 S. 15S, 159 Stritt-
schcn. Tritt liug Schuhe; 1747 bei Kl. 214
TrittJing — Schuh , 1798 dort S. 271 Trittling =-
Fuss; lS04a bei Kl. S. 278 Trittschen = Schuhe;
l>«7a Trittling Fuss, dort S. 288; ebenso 1S12
bei A. L. Bd. 4 S. 220 Trittling; 1814 aber wieder
I rittling Stiefel dort Bd. 4 S. 2ül; 1820 dort
Bd. 4 b. 421 IVittling «- Schenkel, S. 242 ~ Schah;
1820 c bei Kl. 8.353 Trittling — Schuhwerk ; Fr.
(Jl. Trittling = Fuss, Selmli Stiefel; Fr. (t. (41. ==
Stiefel; 1851 bei Kl. S. 396 Dritthug ^ Jb uss, Schuh,
ebenso 8.412 dort Trittling; 1856 dort 8.415
Trittliiige = Seliulie; A. L. unter Trettcr: Tritt-
ling, Trittcheu ^ Sciiuh , Stiefel, Fuss, Treppe;
Kondenapr. II und III bei KL 8. 423 mid 429
Wanderschaft.
wcibKcber Kunde.
Bettelbezirk.
betteln.
Schwaizbrod.
Entlaasnngsschein mit Rei-
sevorschrift, aber olme
Schubbegleitung.
Keisovorschrift nicht inne
halten.
Jemandem schwerzusetzen
mit Worten, schimpfen.
LSuse, Ungeziefer.
MSdchen.
betrunken.
Sdiaftstiefel, naeh Andeien
uueh Stiereletten»8dmhe.
8. Trittchen.
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Was ist heute nodh 7011 der Oannenpiadie im piaktiscben Gebisnch? 97
TrittGhen, Trittling ^ Stiefel; IV dort 8. 4S8 —
Schnhwei^; Rrfimerspr. I dort H. 436 trittling -»
Srimh. Stiefel, Fuss: III doit S. 441 Trittclior -=
äcbuh, Stiefel; VI dort ä. 4bl und 4bt> ThttlinK
» Ftm und Hcbnh; M>endee Rothwehdi dort
S. 49H trittchens -= Schuhe . Stiefel : Lindenbem
lb91 Trittlinge ^ Stiefel. Mir sind Trittchen und
TnVMatf mur « 8<diiihwerit begegnet], j^g^ische
c;:iinuTspraclie: etampers — 8ehiihe,Baaiiiaiui,Loii«
duuiäuien.
Tupf, der iv^l. Po«dier)
türmen (\ <rl. Hasen machen^! !1687 bei A.L. Bd. 4
S. '.IV tliiiniitn schaffen; 1722 dort Bd. 4 S. 119
elieiiso; lS47abei Kl. S.390 Dumia, s. 391 Duanna
« Erde; Kundcnspr. III bei Kl. S. 427 k»8tharnicn
grosse Strecken schnell znrQcklegcn; A. L. unter
donnen: durmen. tliiinnen ^ schlafen, schlummern.
Bei dem völlig enlgegengeeetzteo äinn, iu dem
idi das Wort keiiiien frdemt habe, tmd der von
Roscher (Gross, Archiv Bd. 3 S. 27>>): thünni ii
oder einen Hasen machen = ausrücken, wenn An-
zeige erstattet mid Veihaftong zu gewärtigen ist,
sowie Kundcnspr. III bestStigt wirtf, ist kaum an-
zunehmen, dass es mit dem alten thünuen iden-
tisch und von dormen abzuleiten ist, nia>; auch
die nebenstehende tinter den Kunden vcrbreilete
Ableitung ebenfalls nicht einwandfrei »ein]
Turmspitzenvergolder, der [Kundenspr. II bei
Kl. b. 423 = Bauer; III dort & 429 ~ Bus- und
Thalversctzer;
Twist, der (neben Hanf, Lcgum in Hambuis go-
brftnchlich) [Fr. ti. GL: Twiat -» sweiter, andere].
Unke, die (Vgl. Buddel)
Unteroffizier, der (vgL Scbabau)
Unvernunft, die (1SS6 bei Kl. S. 415 Unvernunft
oder Därmen Wurst: III dort S. 429; IV dort
& 489 Unvemonft-« Wunt; ebenso Qr.}
Vater, der (vgl. l'euuepos)
Verbandsbnoh, das (v^ Buddel)
Terblitsen
Verdeckter, der (vgl. Fauler)
Verdonnern (Kundenspr. III verdonnert werden
mm das Urtheil empfangen, Kl. S. 429)
verkaboren (vgl. versenken) [1T55 bei Kl. 8. 240
kabem ^ verstecken, beirren, ^rrabcn ; 1S20c dort
K. 353 vorkabbem — verbergen, verstecken; lb47
dort 8. 8T9 verkabohren eine Sadie dcher unter-
bringen, verstecken; Lindenberg 1891 Terkabbem
— tticli verstecken 1
verkohlen, Jemanden
verk r:i <■ Ii cn (vgl. hochgehen)
v e r k ii n d i g e n (vgl. kündigen) ,1. v. verkimiueru ;
B. 0. verkümmern; 1722 bei A. !>. Bd. 4 S. 120 ver-
kingt; 1753/5 bei Kl. S. 236 vcrkßndigen: 1764 ver-
köuigen, dort S. 247; Fr. Gl. verkündigen; Chry-
xn.
1 Pfennig.
weglaufen , weite Sätze,
grosse Schritte machen.
(Alte Landstreicherr^l
ist: die Höhe eines Tur-
mes zu messen, messe
ich nur gegen Mittjig
durch Abadueiten seinen
Schatten iinildpttsfradee»
seil Llinge mit 3 und
siehe eine Manneslange
5Vt Fte ab; daher
tuniH-n a Tumiadiatten
ablaufen.
8. Wdkflnadileber.
Brod.
Branntweinflasche,
kleiner Schnaps (zu fünf
Pfennig).
Wnnt
Herbergs wirth.
Branntwoinflasche.
Venirtheilen nach Unter-
suchung durch (iericht.
Geheimpolizist.
vemrtheilen allgemein, be-
sonders ohne grosse Un-
tersuchung &ah die
PoiizeL
Jemandem etwas aufbinden
verhaftet werden.
Ausbieten der ge«tolilenen
Waare durch den Brod-
fahrer u. dgl. Leute . aber
auch verkaufen aügeinein.
7
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98
V. BouC'i'su
«ander bei A. L. Bd. 3 S. 40« verkinffpn; lS5t; bei
Kl. S. 415 verkündipeii : A. L. untn Koiie: ver-
kinienen; Kundonspr. II und IV hv\ Kl. S. 422
und 433; Gr. vcrkinjenen verkaufen; 1820 bei
A. L. Bd. 4 8. 233 verkimmem °= aaliieteD; Kan-
dcnspr. III bei Kl. S. 429 verkündigen — eroettel-
tes Zeug verkaafen. Ableitung aus dem Jüdischen
bei A. L. unter Kone. An andern Zusammen-
setzuDgen vgl z. B. Fr. Gl. abkinjen, abkönigen;
A. L. abkinjenen , abkingen , abkonigen ; Gr. ab-
kinjen = abknufcn : Fr. dakundi^'-cn, erkim-
mem — erkaufen, einkündigen elniiaufen]
verpfeifen (vgl. pfeifen) (Gr.: IfltBchnldige ein-
gestehen, verrathen überhaupt]
Verpflichtung nehmen, jemand verhaften, des-
sen Papiere für verdächtig oder nidit g^Qgend
befunden und vom (Sensdann abgenommen werden
ve^^icharfeu (vgl. schärfen) [1847 hei Kl. 8. HS" =
gestohlene oder erschwindelte Saelien verkaufen;
ls.'>6 dort S 415 « verkaufen; Kundenspr. III bei
Kl. S. 12it Gestohlenes beim Hehler verkaufen;
landenberg 1891 — das gestohlene Gut verkaufen
verschmieren, s. B. jemandem die Fleppe yer>
schmieren
Yerschöncrungsrath, der (vgl. Arschkratzer)
veraehfitten (vgl. hochnehmen) [1812a bei Kl.
S. 2f 2 verschitten gefangen ; S. 2fl4 vorsclifitten
gefangen werden; 1S14 l>ei A. L. Bd. 4 !S. 203 ver-
schütten — gefangen: isis dort Bd. 4 S. 229
verhaften; lS20d l>ei Kl. .'554 verschüppet «= arre-
tirt; A. L. und Gr. verschütten gefangen neh-
men beaw* einmMnen. Fr. Gl. dagegen einver^
Btehen, verarmen, verderben]
Verachütt gehen (vgl. hochgehen) 'lS4fi bei Kl.
&872 == verhaftet werden; 1S47 dort S. .{Sit ebenso;
deB^1851 dort 6.413 und . L. Kundenspr. 11
bei Kl. ö. 424 veradiltt gehen =^ gefangen wer^
den: III dort 8. 420 verschütt gehen ■= airrtnt
werden; IV dort 8. 433 » beim Betteln abgefasst ;
und aixetirt werden; Lindenbei^ 1891 — verhaftet I
werden; ebenso Gr.'
Versenken (vgl. verkaboren) z. B. einen linken
Zinken im Schlips versenken [1. v. versenken
versetten; 1597 bei Kl S. 113 versenken ebenso;
HVli) dort iS. 142 verscnkelu ebenso; 1652 dort
S. lös verpnnden; 1856 dort S. 415 — ver-
graben)
Vicibus, der, allgemein gebraucht. [Kundensiir. III
bei Kl. 8. 428 Vicebooe — Hanaknecht der Fenne]
Wachtmeister, der (vgl. Schabau) (Kundenspr.
III bei Kl. S. IJO — ^Tosses Glas hclinaj»si
Walmusch, der (vergi. lüuft) [1747 bei Kl. S. 214
Malbnsch — Kleid: 1T58/5 dort S. 236 Malnscfa —
Rock: 1755 dort S. 240 Malbosch und Mainisch;
1764 Malbusch dort & 247; 1791 bei A. L. Bd. 4,
8. 168 Hahlboech; 1798 dort Bd. 4, 8. 180 Mal-
verrathen.
in der Veipf legungBstatioQ
einkehren.
gestohlenes oder sonst un-
recht erlanglea Out yer>
kaofeo.
Jemand verhaften, dessen
Papiere für verdächtig
oder nicht genügend be-
funden und vom tiena-
darm abgenommco wer-
den.
Barbier.
verhaften lassen.
verhaftet, festgenommen
werden.
verstecken, verschwinden
lassen, z. B. falschen
Stempel im Sblips ver-
stecken.
Hansarbeiter des Uerbcrgs-
vaters.
Schnaps, grosser an 10 Pf.
Bock.
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Wm ist heute noeh tod der ChMinenpnidie im pnktiMbeii Gebrraoli? 99
boBch; 1812 dort Bd. 4, S. 212 ebenso«-- Rock:
1851 Malbisch bei Kl. S. 404 * Rock , jede Art
Kleidungsstücke: A. L. Wallmuf^cli, Mrdorben aus
dem Jüdiscben Malbuscb -> Uock, ivleidung; Kim-
denspr. n bei KL S. 424 Wahniseli : m dort 8. 429
Walmusch. IV dort S. m ebenso =- Kork : Kni-
merepr. II dort Ö. 48b/4.'iy nialebüsch und wall-
mQsch « Anzug, Rock: VI dort S. 4S5 Walrausch
— Rock; Lindenberg ISfll Wallniuscli - Rock;
Gr.: Wjillmusch — Kock. Kleidung, Hut Ablci-
tiiiijr aiif* dem .Indischen 8. A. L, a. a. 0.]
Walze lit sonder^ _aiif der W. liegen* [Kundon-
spr. 111 und IV bei Kl. 8. 42!», 4:W — Wan<ler-
Bchaft, Reise]
walzen {Kundenspr. III bei Kl. & 429 — gehen,
reisen, wandern]
Walzi nbruder, der [KimdenqMr. ni bei KL S.420
Wanderbursche]
W erweiser, der (vfrl* Baddel)
Weidlinge. die (vgl. Weiteben) ;iß2i)beiKI. S.1.'5S
Weidling: 16b7 bei A. L. Bd. 4, b.93 Weiüingc;
1722 dort Bd. 4, B. 116 Weidlinge: 1745 dort Bd. 4,
8. 159 Weitling! 1747 ebenso bei Kl. S. 214; Fr.
ü. Gl. Weideling: Kundenspr. II bei Kl. S. 424
Weitlinger; III dort .8. 42«.} Weiteb.n: IV dort
S. 4.'?3 ebenso; A. L. und Gr.: Weitling aHose]
Weissling, der [Gr. — Milch, Silbenstiieki
Weitchen, die (vgl. Weidlinge) [Gr. ebenso j
wilden Mann machen Kundenspr. III bei Kl.
S. 429 — in der Betrunkenbeic be^uidal aiitauguu].
wilde Penne, die
Winde, die (vgl. FI5te, Theewinde, Winselwinde)
n^.iP. ])ei Kl. S. 41.') ^ Hans; II dort S.424 ebenso;
Iii dort ä. 42U ebenso und — Arbeitsiiaus)
Winselwinde, die (vgl. Kundenspr. III bei Kl.
S. 42S Sehmeichdwinde » Kirchel
W'>lk fiisrbiebc r. der (v;;!. Chausi»eegnd)cn-
tapczirer) tKundcuspr. II bei Kl. Ü. 424 — Bauer;
DI dort 8.4S0*«B«ig^ nnd Thalvenetier]
Landstraase, Wandersebaft.
auf den I^nd Strassen
benindiegen.
wandern, iandstreichen.
Sduiapaflaaehe.
Hoee.
Fünfpfennigstiiek.
Hose.
Geiateekrankheit hencheln.
Herberge, die nicht zum
Verband der Herbergen
zur Heimath gehört, also
besonders keine Andach*
ten hat
Arbeitshaus , aber auch
Haus filM'rbanpt . /. B.
das ist eine gute Winde"
heisst: ^das ist Hans,
in dem der Kettler gut
was erhält". In dieser
Wendung liegt wold ein
Rest des nrspriingliehen
Gelnauelis von Winde —
Thür. Vgl. 1^20 beiA.
L. Bd. 4. S. 243 Winde
— Thür: Fr. Gl. « Thor,
Pforte, Thöre; A. L. =»
Thär, besonders der be-
wegliche ThfirflBsel; Gr.
^ I hflre, ThftrflBgel.
Kirche.
I>eute, die fiberhanpr kein
Geschäft oder Handwerk
gelernt haben (^Arbei-
ter*) und zur Zeit ,anf
Wanderschaft sind, meist
mit dem Beigesehmack
des Bummlers, der auch
keine Arbeit sucht.
7*
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100 V. ScHßu» Was lat heate noch von d«r GaanenpfMlie im Gebraach?
Z I Koscher in (iros«, Aix-hiv Bd. S, S. 278 Z —
Zuchthaus bekommenl
Zaster, ilor (vf;!. Awlio» ' Ichcndcs Rothwcisch bei
Kl. 8.493, ebenso; Gr.: Sastor uud Zauter Eiaen].
Vielleicht von »extarius ?
Zcileupinner, der (auch Pinnar)
Zeil cnreitor, der
Zinimt, der A»cho)
Zinken, der [1122 bei A. L. Bd. 4, 8. It8 — Petl-
Mshaft: 179S dort Bd. 4, 8. 182 — Name, Zeichen;
1^12 Zinke, 1814 Zink dort Bd. 4, JS. 221 eben>«o:
181» dort Bd. 4, S. 22» Zinke — Pettscbaft, Wink :
184T bei Kl. 8. 389 Zinken — Zeichen: 185t dort
S. 413 Zinken oder Zink => Wink, Zeichen. Be-
zeichnung: A. L. und Gr.: Zink = jede jfeheirae
VetBiTindifrunf!:. A. L. auch = Siegel, Wappen,
Stempel; Fr. Gl. Zinken und Zinke Name, Sie-
gel, \Vappen, Kun<lenspr. II und III bei Kl. S>. 424
und 480 Zinken — Stemiiel ; IV <lort S. 433 — amt-
liche» Siegel, btempel; Lindenberg 1891 Zinken —
Zeichen 1
zinken i vgl. iifeifeni 174.') bei A. L. Bd. 4, 8. 151
bezinkt werden» venathen wentoi; Kundenspr. III
bd Kl. S.4S0: etwas alnlten » etwas zeigen]
Zinsen . die (vjjl. Asche)
Zinsen einholen (vgl. Fechten) i£benso Knnden-
apr. in bei KL 8.480: Zinan holen)
Zinaen verbringen
Zosehen (vgl.Zo8ken) [1722 bei A. L. Bd. 4, 8. 118
Znssgen: 174.5 dort Bd. 4. S. l'iS Sössgen : 1747
bei Kl. S. 214 S<.s4*en; l'ö.J j dort S. 237 Zoffen
oder Zos.sen: 1791 bei A. L. Bd. 4, S. 1H7 Zuneni;
1793 d<»rt Bd. 4, B. I*«!» Zusini; 1812 dort Hd 4.
S. 221 Zuöcm: lS12a l>ei KJ. 8. 292, 2ya Zurj^cn,
Süssgen; 1813 dort Ö. 810 Zoffen, S. 809 Solchen :
1818 bei A. L. Bd. 4, S. 229 Zoskcn : 1820 dort
Bd. 4, 8.241 Sasem: 1820c bei KJ. 8.353 Zosse:
A. T>. Snschen (verdarben aus sus), Zossen (huh);
Kondenspr. III Zoaschen hei Kl. 8. 430 : Krämer-
q)r. n snssem, soisem. zosemn dort 8. 499: III dmt
}?. III Süsse, Husseni, Sus-schen; lebendes Roth-
welsdi dort 8. 439; Gr.: Zossen — Pferd]
Zosken (vgl. Zöschen) Geeebleeht habe ich nidit
feststellen können.
Zoskcnpeikcr, der. Peiker wird scheinbar nur
in dieser Zusiunmensctzung gebraucht. ,Kunden-
spr. III bei Kl. S. 480 Zosschen * Peuker; IV dort
8. 434 Zoäkenpüiker ebenso!
Zottel. Zottefbrader, der
Zotte Iberger, der» einen Z. (oder guten Bamach)
maclion.
zotteln ivgl. bezupfen) [Kundeoapr. II und III bei
Kl. 8. 424 und 430 ebenso; IV dort 8. 433 coddeb
— fltehlmi: zottclen, zottele ErSmcrspr. I bei Kl.
S. 437; \l doi f S. J^C, /ottelen -= stehlen!
Zwilling, der (\ßl. Knopf), schwäbisch und bsy-
riecb. |Naeh A. L. beim Lotto fttr Zahlen wie 11,
22, 33 u. 8. w. : eVienso Gr., der den Ausdruck aber
auch für „Auge" braucht. Kundenspr. I bei Ki.
8. 421 Zwidcel — 3 Pfennig
Zuchthaus.
Geld.
Schriftflotzer.
Zeitongssetzcr.
Geld.
Stempelabdruck, echter wie
vanathen, auch ein fal-
adiaa Zeognias stempehi.
Geld,
bettehi.
Geld durchbringen, beson-
ders vertrinken.
Pf erdefleisoh , auch Pferd
und PfeidascUachter.
Pferdefleisch, auch Pferd
und PferdeschlachtW.
Pferdeschlachter.
Dieb.
einen guten geglückten
Diebstahl machen.
Stehlen.
Zweipfennigstück.
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VI.
Ueber Daktyloskopie 'J.
Von
Camillo Windt,
k, k. Poliieirath In Wien.
(Mit 17 Abbildungen.)
Die Innenseite der Hand wiid nach allen Biehtnngen von ▼e^
aehiedoien Linien dniohqnot
Bekannt dnd die Fnrehen in der HandflSche^ jene tiefen Eln-
keibnngen in der Han^ welche durch das Sofaliessen der Hand ent-
stehen und bei dem Znsammenziehen der Finger besonden denflich
wahndimbar werden.
Bei genanerer Betrachtung sieht man jedoch andere, zahhreiche
sonst unbeachtete Linien sof der Hand.
Es sind dies die sogenannten Papillarlinien, die zarten Linien^
welche der Hautoberfläche in der Hohlhand das Aussehen eines frisch
gepflügten Feldes geben mit seinen Streifen und Furchen, oder des
Sandes, den das Meer beim Zurückweichen^ bei der Ebbe rippi
Die Hypothesen näher anseinandeRaselEen, welche Bestimmung
diese Papillarlinien haben, würde uns zu sehr ablenken und sei nur
kurz erwähnt, dass nach Ansicht hervorragender Physiologen die mit
mikroskopischen Poren bosetzten Papillarlinien das Ausscheiden des
Sehweisses erleichtem und möglicher Weise irgendwie den Tastsinn
unterstützen sollen.
Letzteres wird dadurch bekräftigt, dass sich Papillarlinien auch
an den Händen der Alfen und sogar an dem nackten inneren Theile
1) Vor EnrEflm hidt 6w mit der Leitung dM EricenDongsdienstee bei der
k. k. PoUieidinetioii In Wien betnnte PoUseiiBtk Windt in der Wiener Anduo-
polo(^8chen Gesellschaft einen Vortrag «Heber das Erkennen von Menschen an
den Abdrücken der Fingerspitzen, die sogenannte DaktyloHkopio'-. den wir hier
ausführlich und in seineu markantesten Stelleu wörtlich wiedergeben unter Bei»
fOgung einiger der vom Vortragenden demonstrirteu Bilder.
Anhiv fit griaiBdMthroioi^Bl» ZH. 8
Digiiizeü by Google
102 :
VI. Wl.NPT
des Greifschwanzes des Ileulaffen vorfinden, der diesem als fünfte
Hand dient und mit welchem er sich an den Zweigen festhält.
Die nachfolgende Figur Nr. 1 zeigt sowohl die Furchen, die durch
das Schliessen der Hand deutlicher sichtbar werden, als auch die eben
erwähnten Papillarlinien. Wir entnehmen diesem schematischen Bilde
dass die Papillären in ziemlich ])arallelen Linien quer über die Finger
bis zum letzten Gelenk laufen. Die Linien würden offenbar, wenn der
Fingernagel nicht wäre, bis zur Fingerspitze parallel sein. Aber
das Vorhandensein des Nagels — dies dürfte die populärste, leichteste
Fig. 1. Fig. 2.
Erklärungsart sein — stört diesen Parallelismus und drängt die
Papillarlinien theils nach aufwärts, theils nach abwärts, sodass eine
Unterbrechung, ein Zwischenraum entsteht
In diesen Zwischenraum, der sich auf dem Punkte an den
Fingern befindet, wo das Tastgefühl am stärksten ist, an den soge-
nannten Beeren der Finger, ist nun eingeschoben ein System von
Papillarlinien, ein von diesen gebildetes ^Muster".
Dieses Muster ist sehr klar und einfach.
Es ist bekannt, dass ein Türke, der des Schreibens unkundig ist,
eine Urkunde nicht mit den bei uns üblichen Kreuzzeichen versieht.
Er trägt bei sich eine Blechkapsel oder Holzkapsel, enthaltend
einen mit Sepiafarbe oder Tinte benetzten Schwamm.
Hat er etwas zu unterschreiben, so berührt er mit dem Zeige-
d by Google
Ueber Daktyloskopie.
103
finger der rechten Iland diesen Schwamm und druckt sodann den
dadurch braun oder schwarz g:emachten Finger auf der Urkunde ab.
Und 80 wie wir unsere Unterschrift zu ajsrnosciren in der I-ag:e
sind, 80 ist auch der Türke im Stande seinen Fingerabdruck wann
immer wieder zu erkennen, ihn von Abdrücken des Fingers eines
Anderen zu unterscheiden.
Folgen wir dem Beispiele deB Tflrken und drucken wir einen
Finger auf dnem Blatt Papier ab.
Die Figur 2 ist die Photographie eines derartigen Finger-
abdmckee.
Suchen wir nun auf dieser Figur das intereesiiende Muster.
Die Figur zeigt uns zunächst die oberwähnten Papillarlinien. Ver-
folgen wir dieselben vom unteren Theile dos Hildes gegen olion hin,
so sehen wir, dass die Linien bis zu dem Punkte j der auf unserer
Figur mit einem Kreis umgeben ist, ziemlich parallel (fast horizontal)
laufen. An diesem Punkte tlieilt (gabelt) sieh eine Uinie in zwei
TIkmIo. Der eine Arm der gegabelten Linie läuft weiter horizontal,
dt.T andere Arm zeigt eine Wcilbung nach aufwärts. In dem von
diesen zwei Armen der gegabelten Linie umschriebenen Kaunie {Fig. 3)
befindet sieh das .,Muster''.
Der Punkt, in welchem die Gabelung eintritt, nennt man den
äusseren Terminus des Musters, die Formation der gespalteneu Linie
nennt man das Delta.
Das in diesem Zwischenräume befindliche Muster bat im vor-
liegenden Abdrucke folgendes Aussehen (Fig. 4):
Man sieht hier ein System von UnieDt die sämmtlich von reehts
nach tinks anfwirts lanfeu, auf dem hdcbsten Punkte eine Art mnder
Fig. 8.
P!g. 4.
8*
104
VL WlKDT
Kuppe bilden und sodann nach der Ausgangsseite wieder zurück-
kehren.
Dieses Muster sieht aus wie eine Anzahl von in einander gelegten
gewöhnlichen Haarnadeln verschiedener Grösse, von welchen die
kleinste innen sich befindet und die grösste aussen, oder auch eine
Anzahl concentrisch gelagerter S|>agat-
sch 1 ingen, die zum Aufhängen von
Gegenständen an die Wand verwen-
det werden.
Mit Rücksicht auf diese Aehn-
lichkeit nennen wir das Muster
Schlinge".
Bei dem eben besprochenen
Schlingenmuster war von der Thei-
lung (Gabelung) nur Einer Linie
auf Einer Seite des Abdruckes
die Rede.
Es kommt jedoch vor, dass auf
beiden Seiten des Abdruckes je eine
Linie sich spaltet (Fig. 5),
Fig. 5.
Fig. ö. Fig. 7.
Dadurch entsteht ein wesentlich anders gestalteter Papillarlinien-
zwischenrauni (Fig. 6). Das Muster in einem derartigen Zwischenräume
hat auch ein ganz anderes Aussehen, als das früher beschriebene
Schlingenmuster.
In dem vorliegenden Fingerabdrucke (Fig. 5) sieht es folgender-
maassen aus (Fig. 7):
Es zeigt uns das Bild einer Schnecke, bezw. das Bild, welches
^ I Google
Ueber Daktyloskopie. 105
wir am Wasserspiegel nach Einwurf eines Steinchens sehen, — das
Bild eines Wirbels.
Dieses Muster nennt man daher ^ Wirbel
Fig. 10,
Fig. 11.
Eine dritte Kategorie von Mustern wird mit dem Sammelnamen
„Zusammengesetzte Muster*^ bezeichnet
Es sind dies Muster, welche aus zwei der vorbeschriebenen Muster
106 VI. WnmT
zusammengesetzt sind nnd theils die Kriterien von Schlingen, theib
jene der Wirbel aufweisen^
Das Maater Fig. 8 ist eine Oombinatioa von Schlinge und Wirbel
IMe MnBter Fig. 9 and 10 sind Oombinationen zwder Sohlingen.
Den zosammengeBetzten Mastern reihen sich die sufilligen
Master an, welche mit diesen in die gleiche Kategorie eingetheilt
werden.
Der Abdrack Fig. 11 zeigt ein lafiUliges Master, ein Bild nnans-
gesprochenen Ohaiakters.
Eine weitere (vierte) Kategorie von Abdrücken zeigt die Be-
sonderheit» dass die Linien Ton einer Seite der Zeichnung znr anderen
laufen, oiinc dass aucb nur eine Linie nach derselben Seite zurück-
kehrt.
Die Linien silien so aus, wie die Indianerlioiren, die Bogen,
welche die Kinder zum Abschiessen von Pfeilen benützen.
Der Abdruck Fi{^^ 12 zeigt ein solches Boprenmuster:
Eine Abart des Bog:enma8ter8 ist der zeltartige Bogen (Fig. 13).
In diesem Cluster stei^'t in der Mitte eine Papillarlinie mehr oder
weniger steil aufwärts. Diese Linie bildet die Achse des Musters,
an welche sich die anderen schräg' verlaufenden Pa])illarlinien unter
spitzen Winkeln anlehnen. Ueber dieser zeltartifren Zeichnung'
w <"i]b(>n sich sodann die übrigen rapillarlinieu in steil aufsteigenden
Bügen.
Digitizeü by Liüü^t
Ueber Daktyloskopie.
107
Jeder J'ingerabdruck lässt sich in Eine dieser vier gezeigten
Kategorien einreihen.
Er ist entweder: ein Bogen oder eine Schlinge, oder ein Wirbel
oder ein zusammengesetztes Muster und kann bei einiger Uebung
niemals ein Zweifel entstehen, in welche dieser vier Classen ein Finger-
abdruck einzutheüen ist.
Die auf Menschenalter sich erstreckenden Forschungen von
Vig. 14.
Purkyn«', Herschel^ Galton u. A. haben ergeben, dass die Einzel-
heiten der t*apillarlinien , welche die vorangeführten Muster bilden,
durch das ganze Leben des ^lenschen constant bleiben und — wie
sie an den Fingern des neugeborenen Kindes gefunden werden —
an den Fingern derselben Person auch noch im späten Alter verfolgt
werden können.
Die Dimensionen der Papillarlinien ändern sich selbstredend mit
108
VI. WiyuT
1
dem Wachstbum des Menschen; aber die Zeichnung, das Dessin des
Musters bleibt immer dasselbe, so lange das Individuum lebt
Ja die Haut wächst sogar mit demselben Muster nach, wenn
die Papillarlinien etwa absichtlich oder zufällig beseitigt wurden.
Selbst an Leichen, sogar an solchen, die wochenlang im Wasser
gelegen sind, lassen sich die Papillar-
linienmuster noch vollkommen deutlich
feststellen, wie dies zahlreiche Versuche
ergeben haben.
Die obenstehende photographische
Abbildung von vier Fingern einer Mumie,
die sich im Besitze des k. k. naturhisto-
rischen Hofmuseums in Wien befindet
(Fig. 14) zeigt, dass die Papillarlinien
eventuell auch noch nach tausenden
Jahren wahrgenommen werden können.
An dem Zeigefinger auf dieser
Abbildung ist das Schlingenmuster ganz
deutlich zu sehen.
Die Papillarlinien verwischen sich
erst dann, wenn nach dem Tode des
Individuums die Zersetzung der Haut
erfolgt.
Die ünveränderlichkeit der Haulzeichnungen an den Fingerspitzen
das ganze Leben hindurch, sowie die vorbeschriebene leichte Eintheil-
barkeit der Muster in nur vier Classen (Bogen, Schlingen, Wirbel und
zusammengesetzte Muster) machen es möglich, die Papillarlinien zur
Erkennung (Identificirung) von Personen zu verwenden. Man macht
in der sofort näher zu besprechenden Weise, ähnlich wie es der türkische
Analphabet thut, der sein Handzeichen auf eine Urkunde setzt, einen
Abdruck der Fingerspitzen auf einem Blatte Papier, auf einer Karte
ersichtlich.
Die gewonnene Fingerabdruckskarte wird nun dahin classificirt,
welcher der obigen vier Kategorien die Abdrücke des Daumens, des
Zeigefingers, des Mittelfingers, des Ringfingers, des Kleinfingers zunächst
der rechten Hand, dann jeden Fingers der linken Hand angehören.
Die Karte wird darauf in der eigenen daktj'loskopischen Karten-
Registratur an der ihr auf Grund der Classification arithmetisch ge-
bührenden Stelle eingelegt.
Befindet sich an derselben Stelle der Registratur bereits eine Karte
mit demselben Muster, so ist die dakt^'loskopirte Person identificirt»
Flg. 15.
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üeber Daktyloakoiiiei
109
Im Detail isl der Voigang lolgender:
Um einen zu RegistrinmgBiweeken vollkommen geeigneten Finger»
abdrnck henostellen, giebt man anf eine MeteUplatte eine etwa lineen-
- aMtfedttcntA «»■Will
RMftWlMlItf.
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M> •>*•*• m* t* 1— ■ 1 a^-
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1
M K
• ■ % • «
•
LInkp Hund.
r
RfChU Hand.
%
"s r«*
f ->
Flg. 16.
grosse Menge gewöhnlicher Druckerschwärze und vcrtheilt dieselbe
mit einer ganz einfachen Walze derart, dass sich auf der Platte eine
gleicbmässige, nicht zn dicke Schichte der Farbe befindet
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110
VI. Wnmr
Auf der so gesell würzten Platte wird nun der Fing:er mit dem
vom Nagel unbedeckten Theile des obersten Fingergliedes von einer
Nagelkante zur anderen gerollt.
Der so geschwärzte Fingertheil wird sodann in derselben Weise
leicht auf eineui Blatte weiäseu Tapieres gerollt und der Abdruck
iBt fertig.
Man bat nur darauf zu achten, dass der Finger weder aof die
gesehwSnste Platte noch auf das Papier zu schwer drückt, da sonst
der Abdrnek yerwiBeht imd nndenllksfa wird.
Bei uns gelangen FormularieQ Yon Fingenbdraokakarten naeh
Art der in Fig. 16 enichtliehen in FoIiogrOsse zar Verwendnngi anf
welchen in der ersten, in 5 Spalten eingetheilten Reihe die Abdrücke
der finger der rechten Hand in der Reihenfolge Tom Danmen nun
Kleinfinger, in der zweiten, ebenso eingetheilten Reihe die Abdrücke
der 5 Finger der linken Hand in derselben Reihenfolge eingesetzt
werden.
Unter diesen zwei Reihen befindet sieh an zwdgetheilter Raom,
welcher dazn dient, zn der später zn beschreibenden Ck>ntrole links
den gleichzeitigen, einfachen Fingerabdruck vom Zeige-, Mittel-, Ring-
und Kleinfinger der linken Hand und rechts denselben Abdruck eben-
derselben Finger der rechten Hand aufzunehmen.
Bevor zur Beschreibung auch der R^strirmethoden der herge-
steilten Fingerabdnickskarten übergegangen wird, erscheint es noth-
wendig, yorUUifig Uber die Möglichkeit der UnterabtheUung der
Sobiingenmuster zu sprechen.
Bei Beschreibung des Schlingenmusters wurde hervorgehoben,
dass sich bei diesem Muster eine Papillarlinie gabelt und dass zwischen
den beiden Armen der gegabelten Linie ein freier Baum entsteht,
in welelieni das vSclilinireninnster oingebettet ist.
Je nach der Fin;::i rs»'ite, an welcher sich dieser Gabelungspunkt
befind(^t, den man auch als äusseren Terminus bezeichnet, theilt man
nun die Schlingen in Iladial- und in Ulnar-Schlingen ein.
Als Radialschlingen werden diejenigen bezeichnet, bei welchen der
(Tabelungspunkt im der dem Kleinfinger zugekehrten Seite des Fingers
gelegen i.st, sodass die Sehlinge die Richtung gegen denjenigen Unter-
arraknochen hat, welcher Radius genannt wird, während diejenigen
Schlingen als Ulnarschlingen bezeichnet werden, bei welchen der
Gabelungspuükt sieh auf der dem Daumen zugekehrten Fingerseite
befindet, daher die Schlinge ihre Richtung gegen den Ulna genannten
Knochen nimmt.
Für die einzelnen Muster bedient man sich folgender Abkürzungen:
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Ueber Dak^loskopie.
III
Bogen A (Arcus)
Zeltartiger Bogen T (Tectum)
Schlinge L fT>a.sso)
Ulnarschlinge V (dem T'lnarknochen zugekehrt)
Radiais cblinge K (dem Kadialknocben zugekehrt)
Wirbel W.
Das Vorkommen von Bogen, zeltartigen Bogen, L Inai'- und Radial-
schlingen in den beiden Zeigefingern wird mit grossen Buch-
staben, in den übrigen Fingern mit kleinen Buchstaben ausgedrückt
Sollen aufgenommene Fingerabdruckskarten in die daktylo-
skopische Registratur eingelegt, oder soll in dieser Registratur
nach einem Prius gesucht werden, so ist folgender Vorgang einzu-
halten '):
Die Karte wird vorerst controliirt, d. h. es werden die gerollten
Fingerabdrücke mit den gleichzeitig abgegebenen „eüifachen" Finger-
abdrücken der 4 Finger (Zeige-, Mittel-^ Bing- and Kleinfinger) der
entepreohraden Hand dabin Teii^ben, ob Bimmdiche gerollten Finger-
abdrucke in den ibnen ankommenden Bnbriken sieb befinden. Hier-
auf werden die einzelnen Fingerabdrucke daenficirt, d. h. es wird
nnter jedem Fingerabdruck mit Torangeffibrlen Abkfinnngen (Bnoh-
Stäben A, T, L n. s. w.) notirt, welcber der aafgcKäblten Arten nnd
Unterarten der Abdruck angebQrt
Ana diesem Materiale wird nun eme ans aritbmetiBcben und
algebnuaoben Zahlen zusammengesetzte Formel gebildet, auf Grund
welcber die Karte nacb den Begeln der arithmetiscben Permntation
in die daktyloekopiscbe Begistratur einzulegen kommt FOr die Begt-
fltrirung bestehen yerschiedene Systeme, von denen sich das System
▼on £. K. Henry in London fttr grossere Begistraturen als das
praktischeste erweist
Die Formel kommt nach dem System von Henry in folgender
Weise zu Stande:
Die früher beschriebenen Abdrackmuster werden zunächst in zwei
Gruppen eingetheilt und zwar in die Gruppe L, enthaltend alle
Schlingen, Bogen und zeltartige Bogen, und in die Gruppe W, ent-
haltend Wirbel, zusammengesetzte und zufällige Muster.
Die für die Muster auf den 10 Fingern nach ol)iger Vorschrift
zu setzenden Zi iclien werden nun in folgender Beibenfolge und
Weise niedergeschrieben:
1) Es werden an dit >» i Stelle nur die Gniiulzüge kurz angcdeiiti t. Ein
demn.'ich^t vom Polizoirath Windt iromeiriHam mit Ma^iistrats-Sfkicrär Kmlir ck
heiaabKUgebendee Lehrbuch über Daktyloskopie wird die geuaueu Details brlugen.
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118
VL WWDT
Daumen rechter Hand Zeig:efingcr rechter Iland
MittelfinfTPr rechter Hand ' Ringfinger rechter Hand '
Kleinfinger rechter Hand ZeijLcefinirer linker Hand Kingfinger linker Hand
Daumen linker Hand ' Mittelfinger Unker Hand' KleinfingerlinkerHand.
Nachdem für diese Classification nur zwei Muster angenommen
werden, so ergeben sich für sämmtliche 5 Zähler zusammen 32 Varia-
tionen. Dieselbe Anzahl von Variationen ergiebt sich auch für die
5 Nenner. Aus der Combination der 32 möglichen Variationen in den
Zählern mit den 32 möglichen Variationen in den Nennern entstehen
für diese 5 Brüche resp. für die 10 Finger beider Hände 32 x 32 »
1024 Combinationen.
An Stelle der Zähler und Nenner der früher bezeichneten 5 Brüche
setze man nun das Zeichen für das auf dem betreffenden Finger
Yorkommende Muster, also entweder ein L oder ein W. Dsuranfhin
wird das L sowohl im Zähler ala auch im Nenner überaU mit Null bo«
werliiel, wihrmd die in den Brllelien ▼oik<mimend«n W und zwar
sowohl im Zlhler, ab muh im ITeBner als Ziffemwetüi im eiBten
Brnflih die Zahl 16 eihalten, im zwmten Bnieh die Zahl 8> im dritten
die Zahl 4, im vierlen die Zahl 2 und im fünften die Zahl 1. Bodami
werden die ZShler addiit Es wiid darauf 1 hinzngesShIt nnd die so
gewonnene Summe ab Nenner eines nenentstandenen Bmchee angeselst
Die Snmme der Nenner der 5 Brflobe plus 1 ergiebt den ZShler
des nenentstandenen Bmehes.
Dieser Bmeh beseiehnet diejenige der 1024 Ck>mbinatiDnen, sa
weloher die ebssifizirte Karte gehört
Die Torbesehriebene Formel nnd die Beihenfolge der einzelnen
Combinationen entwickelte sich ans einer nrsprtln^ch praktizirten
Deponirung der Abdrackskarten in einem Kasten mit 32 Horizontal-
filoherreihen ä 32 FKeher auf Grund des SchlOsseb
L
L
L
W
W
W
L
w
Zum besseren VerslSndnisse sei hier ein Beispiel angeführt
L L W W W ^ * ^ L y
L' W' L' W* L " 0* 8' 0' 2' 0 — 8'
Diese Classification zerlegt die Registratur nur in 1021 Theile
und entfällt auf die einzelneu Theile eine sehr ungleichmäasige Anzahl
von Ahdniekskarton.
Hieraus resultirt die Nothweudigkeit der Untertbeilung der ein-
zelnen Classen.
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Ueber Daktyloakopie.
113
Bei der ersten Classification wurden Ulnarschlingen, Radialschlingen,
Bogen und zeltartige Bogen unter der Sammelbezeichnung L subsumirt
Unter allen diesen Mustern kommen die Ulnarschlingen nahezu
regelmässig, die anderen Muster nur ausnahmsweise vor.
Das Vorkonunen dieser selteneren Muster bildet die Grundlage für
die erste Untertheilung derjenigen Ciassen, welche vorwiegend
IrMoster enthalten.
Durch diese Untertheilnng kann, wie später bei Besprochung des
Einlegens in die Begistntnr nSher ausgeftthit wird, jede der TOibe-
leichneteii CUunen in 576 üntenbtheilungen zerlegt werden.
Die üntenUlieilungen, die keine der Torbezeichneton AnBBfthmeii
aufweisen oder die noefa immer eine giOesere Anaahl yon Karten enft-
bfllten, werden dnreh ZShlen der Papillarlinien weiter nntergetheÜt
Man zftblt die Linien swiechen dem Delta und dem Mittelpunkte der
Schlioge^ n. B. in den beiden Zeige- und Mittelfingern.
Sehlingen mit weniger als 9 Papillarlinien im Zeigefinger und
weniger als 10 Papillarlinien im Mittelfinger werden mit i, Sehlingen mit
mehr ala den Torbeseiehnelen PapiUarfinien werden mit o bezeiehnet
Die Oombination dieser 4 ZählungsreeuUate ergiebt 16 Unterdasaen.
Erforderlichen Falles bietet noch die Anzahl der Papillarlinien,
welehe die Schlinge im Kieinfinger der rechten Hand bilden, ein
weiteres HOlfsmittel su einer nenerliehea Untertheilnng der einzehien
Cnterabtheilungen.
Bei den Wirbelmustem, den zusammengesetzten Mustern und den
zufälligen Mustern wurde bereits als charakteristisch hervorgehoben, dl^^ft
de auf jeder Seite der Musters je eine gegabelte Linie (Delta) haben.
Wird der untere Arm des linken Deltas verfolgt, so kann man
bestimmen, ob er oberhalb oder unterhalb des unteren Armes des
rechten Deltas verläuft oder direct in diesen unteren Arm einmündet
Das Verfahren zur Ausmittelung dieser Eigenschaft der W-MuBter
wird „Nachfahren'^ genannt
Unkes Delta
linke» Delta
Z
rechtes Delta
rechtes Delta
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114
VL WnoT
linkes Delta
rechtes Delta
Das Verlaufen des unteren Armes des linken Delta oberliall) des
unteren Armes des rechten Delta wird mit i, das \ erlaufen unterhall) des
Unterarmes des rechten Delta mit o und das Einmünden in den Unter-
arm des rechten Delta mit m bezeichnet.
Dieses V'erhältniss der beiden Delta wird in den beiden Zeip;e- und
Mittelfing:ern berücksichtigt und dient zur Untertlieilung jener Ciassen,
welche aus vorwiegend W-Mustem gebildet sind.
Das Vorkommen je einer dieser drei Formen in den vorbezeich-
setoii vier Fmgem ergiebt 81 Combinationen. Die Anzahl dieser Com-
binatioDeD UM sich , wenn nSting, dadurdi vonrielfachen, dass eio
weiteres Fingerpaar in Oombination gezogen wird.
Bei der ersten Glaanfication würden Wirbelmnster, znsammeD-
geeelzte nnd znfiUlige Muster unter der SammdbeEeicfanuDg W zur
CHassifieation verwendet
Es kann daher das ausnahmsweise Vorkommen von susammen^
geseteten und sufiQligen Mustern neben den eigenlUdien Wirbelmustem
auch zur Untertheilung der Olassen, die vorzugsweise W-Muster ent-
halten benutzt werden.
FQr Olass^i in welehen sieh grossere Ansammlungen ergeben
und die nahezu gleichviel Söhlingen- und Wirbelmuster aufweisen,
kann das Ergebniss des Zählens der Papillarlinien und des Naeh>
fithrens zum Zwecke der Untertheilung oombinirt werden.
Karten, bei denen betreffe des Musters der geringste Zweifel en^
stehen könnte, werden in zweifacher Ausfertigung hergestellt Die
eine Karte wird unter Annahme des einen Musters, die andere unter
Annahme des anderen Musters classificirt und auf beiden Karten auf
die zweite Classification hingewiesen.
Für das Einlej^en in die RejL'istratur und für das Nach-
suchen nach einem bereits einheilenden Prius bestehen folgende Rejreln:
In der Registratur erlieiren die Karten nach der in der obener-
wähnten Art iivw onnenen riassifieationsfurmel. Sie sind zunächst
nach den Zählern der an der Sjtitze der Formel befindliehen mit
arabischen Ziffern geschriebenen iirüche in Gruppen arithmetisch von
1 — 32 f^eordnet.
Innerhalb jeder Zählergrujipe sind die Karten wieder nach den
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Ueber Daktyloskopie.
116
Nennern desselben Bruches in gleicher Weise geordnet Die Keihen-
folge ist also folgende:
-r» Ä-' T bfa k> »odanu folgt l, ^, u. s. w., den Schluss bildet
1 Z 9 92 1 2 8 82
Innerhalb dieser Classen liegen die Karten wieder nntergetheilt
nach den Mustern in den beiden Zeigefingern:
Diese ünterclassen sind:
A A A R R R ü r U , - .
A' R' X^' ä' k' T' a.' R' u' ® Keinenfolge der registnrten
Karten ist die Reihenfolfxe dieser 9 algebraischen Brüche res. das Ali)liabet.
Jede der eben genannten 9 Unterclassen ist auf Grund des Vor-
koniniens von Bogenmustern in einem Finger oder in mehreren Fiugern,
mit Ausschluss der beiden Zeigefinger in 64 Untertheilungen zerlegt
Die Reihenfolge der Karten in der Registratur im Hinblick auf
das Zählen der Papillarlinien in Zeige- und Mittelfinger beider Hände ist
H ii ii tt io io io k) ol Ol oi oi 00 OD 00 00
io M 00 u io oi 00 u io oi oo ii lo oi oo
Bei Einbeziehung eines dritten Fingerpaares in diese ünterelassi-
lieation w&re die Reihenfolge der Karten folgende:
iii iii iii iii iii iii iii iii
iii ' iio ioi oii it»o oio' ooi' ooo'
110 no iio iio üo iio iio iio
m* iio' Ioi' W ioo' oiö* oöi* Soo*
ioi ioi ioi ioi ioi ioi ioi ioi
111 UO 101 OU ioo OIU OOl UDO
oii oii oii oii oii uii oii oii
iii' iio' ioi oii' ioo' oio' ooi ooo
ioo 100 ioo ioo ioo ioo ioo ioo
IB' iio' ioi' oü' ioo' oio' ÖB' ooo'
oio oio oio oio oio oio oio oio
in HO 101 Oll lon oio ooi ooo
ooi ooi ooi ooi ooi ooi ooi ooi
•v. > t; — > . . > .. > . » .1 ^.1 • • I
III 110 101 011 loo 010 001 ooo
ooo ooo 000 000 000 ooo ooo ooo
iii ' iio ' ioi ' oii ' ioo' oio' ooi' ooo'
Die Reihenfolge der registrirten Karten unter Berücksichtigung
der I^e der beiden Deltas in den beiden Zeige- and Mittelfingern
ist folgende:
• •
11
ii
ii
ii
■ •
11
ii
ii
ii
ii
ii
im '
mi
mm
io '
Ol
mo'
om
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oo
im
im
im
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mo'
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11
mi
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116
VI. WlKIW
10 lo io Jo^ Jo^ io Jo Jto ^
ii' Im * "mT* mm' io * "3"* mo * om ' oo '
oi oi oi of oi oi oi oi oi
11 im nn mm lo oi mo om oo
mo mo mo mo mo mo mo mo mo
— TV- I -7 j r > - - > . - t — . ■ f — - » J »
II im mi mm lo oi mo om oo
om om om om om om om om om
U' im* nJ' mm' io ' "ÖT' iiö' om' oo'
oo oo oo oo 00 00 00 00 oo
ii ' im ' mi ' mm' io ' oi mo ' om ' oo '
Wild ein drittes Fingerpaar zur Bildung dieser UnterabtheUungen
zugezogen, so stellt aicb die Beihenfolge der Zähler der Karten wie
folgt dar:
iii, iini, imi, mii, imni, mim, mmi, nimm, iio, ioi, oü, ioo, oio
ooi, mmo, mom, omm, moo, omo, oom, imo, iom, mio, moi, oim
omi, 000.
Jeder dieser 27 Zähler kann dieselbe dreiziffrige algebraische
Zahl und zwar in obij^er Reihenfolge zum Nenner erhalten.
Auf diese Weise ergeben sich 27x27 — 729 Unterclassen.
In allen Classen, in denen im Kleinfinger der rechten Hand ein
Schlingenmuster enthalten ist, werden die Abdruckskarten innerhalb
der einzelnen Uuteral)theilungen noch nach der wirklichea Anzahl
der Papillarlinien, die diese Schlinge bilden, unterabgetheilt.
Die Karten mit der geringsten Anzahl dieser Papillarlinien iictren
an erster Stelle, diesen folgen sodann die übrigen Karten in arith-
metischer Reihenfolge.
Das Naclisuehen nach einem Prius (Identificirung) in
dieser Registratur erfol^'t in folgender Weise.
Von der zu identificirenden Person wird eine Fingerabdnickskarte
hergestellt. Dieselbe wird nach der vorliesebriebenon Methode classificirt.
Auf Grund der Classificationsformel wird die Registrirung dieser
Karte eingeleitet.
Befindet sich in der Registratur bereits eine Abdruckskarte mit
derselben Formel, so werden die Details in sämmtlichen Finger-
abdriicken iler neu ein^'eie^^ten und der alten Karte miteinander ver-
glichen. Diese Details sind in jedem Fingerabdrucke sehr zahlreich,
siehe Fig. 17.
Gabelungen bei: 1, 2, 4, 5, 7, 9, 13, 18, 20, 21, 23, 24, 28, 29,
30, 33, 34, 35, 37, 38, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 48.
Plötzlicher Beginn oder ])lr)tzliches Enden einer Linie: 3, 6, 8,
10, 16, 17, 19, 22, 25, 31, 32, 30, 39, 47.
Einlagerung von Linien: 11 — 15 und 12—14, 26 und 27.
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Ucbcr Dakty loskopie.
117
Stimmen auch Details überein, dann ist die Identificirung ge-
lungen.
Selbst wenn ein oder mehrere Finger fehlen, durch Arbeit oder
absichtlich abgewetzt sind, ist die Möglichkeit vorhanden, die Finger-
abdruckkarten nach diesem System einzureihen und zu classifizircn.
IS 19 20 21
11 12 13 14 15 16 17 • , , 22
Fig. 17
Als Grundsatz hierfür wurde aufgestellt: 1. Fehlt ein Finger
oder ist das Muster absolut unleserlich, so wird angenommen, dass dieser
Finger dasselbe Muster hat, wie der correspondirende Finger der
anderen Hand. 2. Fehlen dieselben Finger an beiden Uänden, werden
beide Finger so behandelt, als hätten sie W-Muster und werden, falls
sie Zeige- oder Mittelfinger sind, in die Kategorie m eingereiht.
Archir (ür Kriminaluitiiropolofpe. XJI. U
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118
VL Wniiw
Die Daktyloskopie wird praktisch schon in mehreren Ländern mit
Erfolp: zu Identificirungen verschiedener Art verwendet.
In Indien kam es, wie aus amtlichen Berichten hervorgeht, vor,
dass für Pensionisten, die schon längst todt waren, die Ruhegehälter
noch weiter bezogen wurden, indem sich Freunde oder Verwandte
für dieselben ausgaben.
Dermalen werden von allen Militär- und Civil-PensioniBten Finger-
abdrücke verlangt und diese Vorsiohtsmassregel verhindert den Betrug.
In allen Kotariats-Aemtem (Registrahm-Aemteni) der FiOYinz
Bengalen werden Peraonen, die nm Legalisirung von Docomenlen
ansaeheo, genOtfaigt, ihre Untereohrifl dnroh Beigetenng des Abdniekes
des Danmens der linken Hand an! dem Docomente und in eb
Begister, das sn diesem Zwecke gefühlt wird, zn authentifieiren.
Wenn Jemand später seine Unterschrift yerl^ignet, was in diesem
Lande nieht selten voikomml^ dann kann ihn das Gericht anffoidern,
sdnen Danmenabdrook in .Offendicher Yerhandlnng zn geben nnd
wird dann dieser Abdruck mit dem Abdruck im Bcgister Tergtichea,
wodoreh der Streit gelQst ist
Vom Opinmdepartement in Bengal werden den Hohnbanem durch
Mittelspersonen Vorschüsse auf die künftige Ernte gegeben. Nach-
dem die Vermittler und die Bauern hie und da ihre Unterschrift
verleugneten, oder die Vermittler eine falsche Unterschrift für
die des Mohncoitivators ausgaben, werden jetzt die Fingerabdrücke
des Geldnehmers gefordert und hat dies einen Wandel herbeigeführt,
den sowohl Bauern als Vermittler würdigen.
Bei grossen staatlichen Unternehmungen in Indien wird diese
Methode dazu benützt, um die Wiederbeschäftigung von Personen
hintanzuhalten, die strafweise des Dienstes enthoben wurden.
Die Daumenabdrücke der Angestellten werden registrirt und bei
strafweiser Entlassung eines Angestellten wnrd allen Werkführem eine
Photo-Zinkographie seines Abdruckes zugeschickt.
Hierdurch wird verhindert, dass der Betreffende unter einem
anderen Namen Aufnahme finde.
Seit April 1S99 wird das System von dem Gtneialdirector der
Postanstalten in Indien liei allen unteren Hülfsorganeu, die nach
Tausenden zählen, angewendet.
In Bengal wird auf stiiatsärztlichen Zeugnissen der Daumenab-
dmck der ärztlich untersuchten Person beigesetzt, was sich namentlich
bei den Vorkehrungen gegen die Verbreitung der Pest durch die
Mekka-Pilger als- sehr vortheilhaft erweist.
Auch die zu Staatsprüfungen erscheinenden OancBdaften in Indien
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Ueber Daktyloskopie.
119
müssen Fini^^erabdrücke geben, um Betrügereien durch Stellvertretungen
zu verhindern.
In China werden Fingerabdrüclie in iieisepässe beigedruckt und
hat der Inhaber bei Zweifel an seiner Personsidentität den Finger-
abdruck an einer anderen Stelle des Passes neuerlich beizusetzen.
In Argentina, Egj'pten und in England werden von den zur Haft
gebrachten Individuen gewisser Kategorien Fingerabdrücke genommen,
um späterhin solche, die ihren Namen und ihre Vorstrafen yerheim-
liehen wollen, identificiren zu können.
Die für England seit 1. Juli 1902 geltenden Vorschriften sind im
Detail folgende: Es werden durch Abnahme ihrer Fingerabdrücke
r^gistrirt alle Indiyiduen, welehe Ton einem Gerielitaliofe m. mindestens
einmonatlidiein GefifaigmaB wegen folgender Deliele venixlfaeilt wo^
den and:
1. Eircbeniaub,
2. Niehüicfaer EinbrnoludielMtahl,
3. Haufleinbracby
4. Embmeh in Uden, Waaienhinser n. s.
5. VeiBnehter Einbrooh in HSnser, lAden, WavenhSnser n. 8. w.,
6. Eindringen mit yerbrocherieelier Abeiclity
7. Benti von £tnbreehe^WericzeQgen,
8. Banb nnd Angriff mit zftnberiBeher Absiebt^
9. Erpresenng durch Androhung der Anzeige w^gen Veibreebeos,
10. Erpressung durch andere Drohungen,
11. Diebstahl von Pferden, Bindvieh oder Schafen,
12. Diebstahl von Personen,
13. Hausdiebstähle nnter 5 Pfand, oder mit Drobang,
14. Diebstahl, begangen Ton Dienetboten,
15. Veruntreuung,
16. Unterschlagung von Postbriefen,
17. Andere schwere Diebstähle mit Strafsanction lebeDsläoglicher
Zwangsarbeit oder hh zu 14 Jahren,
18. Einfacher Diebstahl und ^'erinfrere Diebstähle,
19. Entlockung von Eigenthum durcli falsche Angaben,
20. Betrügereien von Banquit rs, Agenten, Directoren u. 8. w.,
21. Fälschung von Rechnungen,
22. Andere Betrügereien,
23. Hehlerei,
24. Vergehen in Verbindung mit Bankerott,
25. Mordbrennerei,
26. Brandstiftung von Anj)flanzuageu, Feldern u. s. w.,
9»
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120
VI. Wnror
27. Tödtung oder Verstümmelung von Rindvieh,
28. Boshafter Gebrauch, Anfertigung oder Besitz von Explosivstoffen,
29. Boshafte Beschädigung von Schiffen,
30. Boshafte Beschädigung von Eisenbahnen,
31. Boshafte Beschädigung von Bäumen und Gebüschen,
32. Andere boshafte Besohädigungen,
33. BankEOtenfiUschung und Vemugabniig (Veibieeben),
34. Fälschung (Vergehen),
35. MfinzverfiUschimg,
3(^ VenHugaben oder BesUz von oachgemaehteD Mfinzen.
Die Abnahme der FingeiabdrQcke gesefaiebt in der Stnifiuislal^
welche die Fingersbdraekstarten an die Oeatrale in London einsohiekt
In der Centrale erfolgt die dasBifieation nnd die Registrirong der
Karten.
Wenn eine Polizeibehörde den Namen eines Inbaf tirten oder dessen
Vorleben feststellen will, so wendet sie sich an das Gerichtsgefangnisa»
in welchem der Häftling internirt ist, mit dem Ersuchen, seine Finger-
abdrucke an die Centrale in [x)ndon einzusenden.
Die Centrale schläft in ihrer Kartenregistratur nach nnd ?erstän-
digt die anfragende Behörde von dem Kesultate direct —
Ebenso wie in Indien, Egypten, Argentinien und in England, könnte
dieses System, welches von uns in Wien bereits in vielen tausinden
Fällen erprobt wurde, auf den \ erschiedensten Gebieten auch in
anderen Staaten Anwendung linden.
Die Vortlit'ile ^ind einleuchtend:
Die Aufnulnnt' der KingerabdrUcke ist einfach.
Es bedarf hierzu keiner besonderen Vorrichtunp'n. Eine Zinkplatte,
eine K'aiitsciiukwalze und eine Tube Druckerschwärze sind das ganze
Handwerkszeug.
Die Aufnahme der Jr'in^erulidrücke ißt in nur wenigen Augen-
blicken durchgeführt. Jeder Gendarm, jeder Polizist, welche Sprache
er auch immer spricht, kann die Fingerabdrucke herstellen, ohne be-
sondere Vorbereitungen, in der Amtsstube, wie im freien Breide. Eine
halbstündige Uebung in der Mannscbaftsschule ist ausretdiend. Die
ganze Arbeit besteht dariui 10 flnger an! ttust Platte zn schwärzen nnd
sodann die geschwärzten SteUen auf einem Blatte Papier abzudrücken.
Nicht nnr die Aufnahme der Fingerabdrücke, sondern anch die
Identificimng auf Grund derselben, welche letztere Arbeit übrigens,
wie schon erwähnt, immer nur von £iner Centralstelle zu er>
folgen haben wird, bietet keine besonderen Schwierigkeiten.
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üebar Daklyloftkopie.
121
Die zu behördlichen Identificirungszwecken seit einigen Jahren
Tern'endete Anthropometrie ist zweifellos ein untrügliobeSy ausgezeiob-
netes Mittel zur Idontificiriincr von Personen.
Das geschilderte neue daktyloskopische Verfahren bietet aber bei
gleicher Verlässlichkeit versohiedene [grosse Yortheile gegenüber der
Anthropometrie.
Es werden leider viele schwere Verbrechen von jugendlichen
Personen verübt.
Die jugendlichen Abgestraften bilden den Grundstock des gewerbs-
mäi^sigen Verbrecherthums und es gehört nicht zur Seltenheit, dass
so ein Kniqjs durch Wochen hartnäckig seinen Namen der Behörde
zu verschweigen trachtet
Für jugendliche Personen ist jedoch die Anthropometrie schwer
anwendbar, da das menschliche Skelett bekannthch erst vom 21. Le-
benqahie an in seinen Dimensionen ziemlich unveränderlich ist
Hier und da ereignet es sieb, dass minder feinfübfige Personen
ein TeiblOdetes Kind, einen taubstummen Analpbabeten oder einen er^
waebsenen Idioten, nm die Kosten seiner Erhaltung zn ersparen,
naefa einer anderen Ortsehaft bringen und ihn dann mitton auf der
Strssse yeilassen, so dass er, da er nieht in der Lage ist Angaben
Aber seine Herkimft sn nuudien, der An^^eifangsgememde zur Last
Mt
FBr die rorbeEeiebneten nnglttekKoben GesehQpfe ist die Anthro-
pometrie nieht zn gebranehen, weil man an ihnen nur sehwer mit
Messinstrumenten manipnliien kann.
Weiter ist auch bei Franenspersonen die Handhabung der Anthro-
pometrie, besonders dort, wo keine weiblichen Messorgane zur Yer»
fQgung stehen, schwer durchführbar und können femer Leichen nur
mit besondmi Sehwierigkeiteu der anthiopometrisohen Behandlung
unterzogen werden.
Es wird allseits angestrebt, dass die Insassen der Oivil- und
Militärstrafanstalten der anthropometrisohen Behandlung unterzogen
werden.
Nachdem die Anthropomotrio die Schulung des Personals an
einer Centraistelle zur Voraussetzung hat, die Absendung von Amts-
organen der Strafanstalten zu dieser Ausbildung, sowie die Beistellung
von Messinstrumenten und Messgeräthen mit Kosten verbunden i^;t,
scheitert die allgemein als nothwendig anerkannte Bertillonirimg
dieser Individuen an dem Kostenpunkte.
Der Verwendung der Daktyloskopie zu allen diesen Zwecken
stehen solche Hindemisse nicht entgegen.
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122
VI. Wnmr
Bei den bisherigen Ausführungen wurde immer nur an absicht-
lich zu einem beBtimmten Zwecke aufgenommene Fingeiabdrücke
gedacht.
In Folgendem soll noch angedeutet werden, welche Dienste zu-
weilen die Daktjioskopie zu leisten berufen sein kann, wenn sich
irgendwo zufällig hergestellte Fingerabdrücke vorfinden.
Es kommt nicht selten vor, dass man auf dem Thatorte eines Mordes,
eines Todtschlages auf den Bettüberzügen oder an den Kleidern einen
gewiss nicht absichtlich zurückgelassenen Abdruck eines oder mehrerer
Finger oder auch der ganzen Hand sieht, die mit Blut in Berührung
kamen und daTon rotbgefSrbt wurden. Hier und da findet man
FingeraMraeke emea Eänaebleiehers, eines Einbreeben, eines HSiden
auf MMshgeBiriehenen Fenaleibrettem, Thilren nnd Möbeln; aof be-
staubten FeastOBobeiben, Glavierplatten nnd Tischtaldn, auf beiasen
LampengUsem n. a w.
Diese Abdrttcke sind oft so dentiidi, wie dn Petsebaftabdrack
im Si^^eUadc
Dnrdb Anwendung leiebt erbiltficber Hittel,{wie Giapbitstanb^ In-
digo, Tinte, Wascbblan, Anilin, Sebwefelantimon, Kreide, Tannin,
Salpeterdlmpfe, OaminmsSnre, Bnuriltitni Sudan u. äbnl. ist ee^ wie wir
dnreb viele Experimente erprobten, möglich FingerabdrQcke auf Glas,
Papier und verßchiedenen Stötten unter entsprechenden Umstanden
selbst dort deotlich nachzuweisen, wo sie sonst mit freiem Auge nicht
wahrnehmbar waren. Die Wichtigkeit anch dieser Seite der Daktylos-
kopie ist einleuchtend.
Wenn einmal decretirt sein wird, dass alle Verbrecher gewisser
Kategorien, die in Strafanstalten, Zwangsarbeits- oder Besserungs-
anstalten intemirt sind, Fingerabdrücke geben müssen, dann wird es
nicht nur möglich sein, einen im Gewahrsam der Behörde befind-
lichen Verbrecher, der über seinen Namen und sein Vorleben nichts
aussagen will, sofort zu erkennen, sondern es wird auch vielleicht
das eine oder anderenial einem geschulten seine kleine, aus etwa
2(» UOü Karten bestehende daktyloskopische Registratur bequem mit
sich führenden Daktyloskopen möglich sein, wenn er der Tliatbestands-
auf nähme bei einem Mord, einem Bonibenattentat, einem Cassen-
einbruch u. s. w. beigezogen wird, s:ogleicb zu sa^^en:
Dieses Fenster, dieses Fensterbrett', diesen Tisch hat der Ver-
brecher berührt, diese Brieftasche hat er durchstöbert, diese für ihn
unvenverthbaren Papiere hat er weggeworfen.
Auf allen diesen Objecten hat der Verbrecher nämlich sein nur ihn
und einzig ihn individuell charakterisirendet*, bei keinem zweiten Menschen
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Ueber Daktyloskopie.
128
in allen diesen Details wiederkehrendes Papillarlinienniuster — oder um
es so zu nennen — seine daktyloskopische Photographie zurück-
gelassen.
Ganz dieselben Fingerabdrucke finden sich in unserer daktylo-
skopischen Registratur in der Hauptabtheilung N. so und soviel und
in der Unterabtheilung X. so und soviel vor.
„Der Verbrecher ist inhaltlich der dört erliegenden daktylo-
skopischen Karte in der Person des X. Y. zu suchen. Derselbe ist im
Jahre 18 . . zu geboren, nach zuständig und hat
zur Zeit seiner daktyloskopischen Aufnahme, d. i. am
19 . . dort und dort gewohnt". —
Schon in allernächster Zeit ist ein Kampf auf Leben und Tod
zwischen der Anthropomethe und der geschilderten Daktyloskopie zu
gewärtigen nnd es dürfte aller Vemneneht dmIi die Letiteie «Der-
orten ab Siegerin ans diesem Kampfe herrorgeheD«
DasB Bessere ist eben der Feind des Guten.
üigiiizeü by Google
VII
Sichtbarmacben latenter Finger- nnd FnsBabdrficke«
Von
Friedrich Paul,
k. k. Gerich tuecretlr in Olmiitz.
Francis Galton hat in seinem , bei MacmiUan, And & Oomp.
in London verlegten Werke nachgewiesen, dass zwei Fingerabdrucke,
sobald sie eine gewisse Anzahl von Vergleichspunkten gememsam
haben, identisch, also von demselben Finger henrahrend, bezeichnet
werden müssen, weil jeder Mensch sein eigenes Muster an den Finger-
spitzen trägt, das sich nie verändert Dr. Forgeot behauptet insbe-
sondere mit Recht, dass wir Personen nach den GeBicbtern vollkommen
verlässlich unterscheiden, ohne dass wir im Stande wären, dea Einzelnen
Gesicht so zu bescbreil)en, dass wir einen Zweiten in die Lage ver-
setzen könnten, die bescbriebene rerson zu erkennen. Mit der Zunahme
der Uebereinstimmungen der Abdrücke potenzirt sich die Wahrschein-
lichkeit der Identität, die schliesslich bis in Hunderte von Millionen
w^ächst und uns ^M stattet, zu behaupten, dass bei einer grösseren Zahl
von üebereinstimmungcn sclutn vollständige Identität vorlianden ist-
Das Nähere im bezogenen Werke Galton's, insbesondere auf S. III
und folgende. Oalton liat nun überdies in seinem Werke ,,Deci-
pherment of blured Finger. Prints, London 1893" gezeigt, in welcher
^Veise erfolgreich, selbst mehr oder weniger undeutUche Abdrücke
identificirt werden können.
Nachdem einem aufmerksamen Kriminalisten der Umstand nie ent-
gehen wird, dass Fingerabdrücke sich häufig an dem Thatorte oder an
Objecten finden, die der muthmaaßsliche Thäter berührt haben konnte,
erschien wohl seit jeher der Wunsch gerechtfertigt, Mittel nnd Wege zn
finden I nm diese Abdrücke m ?erwerthen. Ick beziehe mich Tor
Allem auf das Handbuch von Gross, S. 549 und 482, III. Auflage,
femer auf mein Handbuch der kriminalistischen Photographie S. 64.
Fälle der Anwendung derartiger Fingerabdrucke sind durch die
Zeitung des öfteren bekannt geworden und hat msbesondere Hark
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Sichtbamiachen latenter Finger- und Fnsaabdrilcke.
125
Twain die Tkatsache der beweismachendea Knit der Fiiigefabdrücke
m einem spannenden Roman verarbeitet.
Als vor 2 Jabren in Olmütz in einem Cafö ein Einbrucb verübt
wurde, wurde von der Polizei auf dem Spiegel der Credenz der Ab-
druck einer rechten Hand gefunden, welcher in milchig trüben Linien
die Formen der Papillarlinien mühelos erkennen liess. Der Spiegel
wurde über anerkennenswerthe Intervention der Polizei photographirt
und wurden mir die Photogramme eingehändigt mit dem £r8ucheii|
geeignete Versuche anzustellen.
leb hatte auch Gelegenheit, den Spiegel zu sehen und seine
Muster zu studiren, leider wurde derselbe aber in seinem Zustande
nicht belassen. Die Photographien waren recht gelungen und ge-
statteten bei einiger Mühe und Sachkenntniss eine Xaeliprüfung der
Linien. Ich Hess also vorerst von allen, im Gelegenheitsverhältnisse
befindlichen Personen Fingerabdrücke der rechten Hand abnehmen
ood konnte sofort sagen, dass keine dieser Personen Fingerabdrücke
zeigte, deren Muster denen am Spiegel anch nur filinlieh gewesen wären.
Diese Thatsadie bedeutete sebon einen grossen Erfolg, da nacb den üm-
BtBnden mir eine Person in Verdaoht kommen konnte, die mit den
Ränmlicbkeiten Tollkommen Tertnnt war.
Endtieh Terdicbteten sich die Verdacbtsmomente derart, dass em
gewisser E., ein ebanaliger Bediensteter des Caf6, der auf äbniiebe
Weise sebon canen EÜnbmcb dort begangen, als TbSter in Befanusbt
kam. Derselbe wnrde ausgeforscht und die anf der Messkarte vor-
findlicfaen Fingerabdrucke genftgten, am mich za flberzengen, dass
onr E. die Hand abgedrückt haben konnte.
Meine Uebenengong wnchs snr Gewissheit, als der Mann einge-
liefert wnrde, vnd ich in die Lage kam, anoh die Uanea der Hand-
fläche zu prflfen.
Ich erinnere mich hier eines Aufsatzes des Anthropologen Welker,
welcher im Anthropologischen Archiv pro 1898 Bd. 3 die Abdrücke
Beines Handtellers aus dem Jahre 1856 und 1S97 zam Abdmcke
brachte, welche volle Uebereinstimmung der Papillarlinien erkennen
la.ssen. Allerdings sind die Handtcller-Abdrücke nicht Gegenstand
von Untersuchungen geworden, zuvörderst wohl deshalb, weil sie
weniger differente Formen zeigen als die Fingerbeeren.
Als K. zur Hauptverhandlung kam, gelang es mir ni<'lit, die
Richter von dem Umstände zu überzeugen, dass der Ueberein.stinnming
der Papillarlinien zwingende Beweiskraft innewohne, leb muss diese
Tbatsacbe auf den Umstand zurückführen, dass in richterlichen Kreisen
die Nützlichkeit der kriminalistischen Kenntnisse noch immer nicht
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126
vn. pavl
genügend gewürdigt wird, ja dass z. B. selbst die wenigsten von
dem Wesen der Anthroponietrie und selbst von deren Bestand in
Oesterreich Kenntniss haben. Es ist dies um so bedauerlicher, als
dadurch nicht nur dem Einzelnen Erfolge entgehen, die spielend er-
rungen werden könnten, sondern hauptsächlich wesentliche Abkürzungen
der Unterisuchungen also auch der Haft durch rechtzeitige Benützung
der Anthroponietrie eintreten würde.
Der erwähnte Fall des K. gab mir Veranlassung, mich uüt dem
Sichtbamiachen von Fingerabdrücken zu befassen.
Die Anregung hierzu bot mir insbesondere bald darauf ein zweiter
Fall, der kurz auf den ersten sich ereignete.
Die Polisd biwshte eme (durohflicbtige) Glasscheibei auf welelie
der unbekannte ThXtor beim Be8treb«i| sie anazubieohen, Fingerab-
drftcke zurückgelanea hatte. Die abgenommene Photographie war
miBshingen, die B&dudte des Glases hatte dureh Spiegelung neue
Linien in die vorhandenen geworfen und die Photographie war des-
halb nnbranohbar. loh begann meine Arbeiten damit, dass ich znerat
die Erfahrungen Dr. Forgeots in Ansprueh nahm und TeiBUohte»
ma» Experimente zu wiederiiolen. loh stellte mich hierbei auf den
Standpunkt^ dasa die einfachsten Yorschrifken am ehesten zu Erfolgen
führen mttssten. Ich Tersnchte also, in der von Dr. Forgeot ge-
wShlten Beihenfolge Fingerabdrucke sichtbar zu machen.
Vor Allem Tcnudtte ich Jod und muss das Verfahren mit Jod
als das einfachste und sicherste bezeichnen. Es ist gamicht nOthig,
wie Dr. Forgeot angiebt, Joddämpfe zu erzeugen, es genügt, wenn
man das zu untersuchende Papier mit der Seite, wo ein Abdruck ver-
muthet wird, ftber ein offenes Gefäss mit Jod (etwa in der Apotlieke)
legt und es mit einer Glasplatte bedeckt, um in Kürze eine schöne
braune Färbung der Papillarlinien zu erhalten. Ist die zu unter-
suchende Fläche grösser, dann wählt man eine Glaswanne, in weicher
man Jod aufstreut.
Forgeot beklagt sich, dass die Abdrücke wieder verschwinden,
aber ich habe gefunden, dass man sie mit Calomel einstäuben kann,
welches sodann durch Schwefelwasserstoffdämpfe oder Dämpfe von
Schwefelanimouium den Abdruck in schöner schwarzer Farbe er-
scheinen lässt
Silhernitrat gab in Sproc. Lösuntr recht gute Resultate. Das
Papier wird mit einem Pinsel mit der Lüsiing bestrichen und kommt
der Abdruck, sobald das Papier dem Lichte ausgesetzt w ird, in schöner
braunschwarzer Farlje zum Vorschein. Ich habe diese Abdrücke nun-
mehr mit lOproc. Lösung von Natrium hyposulphericum behandelt,
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SicbtbwmacheD latenter Floger- and FmubdrOcke. 127
gat gewaschen in 2 proo. Losung Ton Quecksilberchlorid und sodann
in eine wä8serig:e Lösung von Ammoniak getaucht und siemlich dunkle
und haltbare Abdrücke erhalten.
Ein sehr erfolgreiches, aber nicht immer anwendbares Verfahren
ist das mit Tinte. Forgeot streicht nämlich die zu untersuchende
Fläche mit einem Pinsel mit Tinte ein, worauf in einem lichteren
Tintenfleck die Linien des Abdruckes in dunklerer Farbe sich zeiijen.
Ich habe die besten Resultate mit jenen Tinten erzielt, welche als
Eiaengallustinten bezeichnet werden.
Ich nahm zwei ca. 6 cm lange und 3 cm breite Glasstreifen, legte
auf einen rechts und links längs der Längsseiten je einen ''2 cm
breiten Glasstreifen, legte die zweite Glasplatte darüber und kittete die
aufeinander liegenden Platten mit dickem Schellack, in Spiritus gelöst,
zusammen. Es entstand so eine viereckige Röhre. In die Oeffnung
wurde ein ebenso breiter als langer Flanellstreifen eingeführt, nach-
dem man ihn zuvor in Wasser getaucht und gut ausgedrückt hatte.
An einem Ende zieht man nun den Streifen so hervor, dass er um
3—4 mm heransragt. FQhrt man nun mit einem Tropf enzihler oder
einem Federkiel oboi in die Oeffiiung Tiule ein ao kamt man bald
mit dem henromgenden Flaneflatrnfen die zu unterenohenden Fliehen
beetTNcben, auf wdohem alabald die Abdrucke zum Voncbein kommen.
Etwas Uebung ISsst das richtige anzuwendende Quantum von
Tinte bald erkennen und ist cb nützlich die Fttche sofort mit einem
LOechblatt abzutrocknen. Es ist selbstrerstBudlich, dass nicht jedes
Painer mit jeder Methode gute Resultate giebt, allein man ist in der
Lage dnige Methoden nach einander zuyersnchen und kann schUess-
fidi mit Hlllfe der Photographie den onmal sichtbar gemachten Ab-
druck und sone Umgebung für immer fiziren.
Der eingangs erwähnte Fall regte mich an zu versuchen, ob
nicht am fetten Abdrucke des Fingers Farbstoffe haften blieben, um
so eine deutliche Photographie zn ermöglichen. Ich hatte nämlich
bei meinem Raseur zufällig einen Reismehlzerstäuber yenncht und
den Spiegel bestaubt, auf welchem sich auf einmal in einem grSsseren
weissen Fleck in dichterer Lage ein früher dort gemachter Finger*
abdruck zeigte. Ich versuchte nun mit Hülfe eines Bläsers, wie
solcher zur Vertilgung von lästigen Insecten benützt wird, die Ab-
drücke einzustauben, jedoch ohne Erfolg, da der feine Farbstoff Uberall
an der aus der Luft niedergeschlagenen Fettschicht des Glases an
dem Abdruck aber zu wenig haften blieb.
Erst als das zufälliire Verschütten des Farbstoffes mich belehrte
dass ein blosses Aufstreuen genügte, begann ich Versuche mit allerlei
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128
YIL Paul
Farbstoffen zu machen und zwar mit dem Ijesteni Erfolg. Man streut
eine genügende Menge eher mehr als weniger auf die zu unter-
suchende Fläche und es erscheint bald der Abdruck an dessen Linien
der Fari)stoff haften blieb.
Ich habe die Wahrnehmung gemacht, dass es dem Erfolge nicht
günstig ist, wenn ein zu fein pulverisirter Stoff verwendet wird.
Insbesondere giebt Calomel, welches in der Pharmakopoe fein pul-
verisirt zum Einstauben und gröber zum Einnehmen vorgeschrieben
ist, nur in letzter Form gute Resultate.
Diese Verenche sind so einftusher Natur, dass sie in jedem Ge-
birgsdoiie von jedem Gensdann wiedeiliolt weidea kOmieo. leh be-
nnlze also Wasehblan, wie es jede Wiseherin verwendet, Boss s. B.
den Boss von einem Petroleunlampeneylinder, CSsrmin, Zinobeff Anylin-
Isiben aller Arten, alles in Palveifonn, Sehwefelantimon nnd yiele
andere Stoffe^ mit bestem Erfolg Bisen in Palyerfoim, wie es in jeder
Apotheke eilifiltlich ist
leb babe aber andh einen Stoff gef&nden, der sehr enifsefa sn
behandeln ist, sieh flbeiall findet nnd danerhafte Besoltale giebt, es
. ist dies das bekannte flbennangansanre Kali, wie es nun Zähne-
wasefaen verwendet wird und in jeder Apotheke oder Droguerie er-
bältlich ist. Man streut die Stelle des vermutheten Abdruckes mit
dem nieht sn fein pulverisirten Stoff ein, lässt das Gemisch eine Zeit-
lang lagern und fährt dann mit einem buschigen Pinsel, nachdem
man das überschüssige Polver abgeseb&ttet, über das Papier, worauf
die Abdrttoke in fein rosa und immer mehr nachdunkelnden Tönen
sichtbar werden. Dr. Protiwensky-Prag theiU mir mit, dass er mit
Eiweiss sehr gute Resultate erzielt habe.
Schliesslich wendete ich mich auch, wie Forgeot, den Versacben
mit Abdrücken auf Glas zu.
Hokanntlich bedecken die (ilasätzer die zu ätzenden Glasflächen
mit einer Fettschichte, in welche sie sodann die Zeichnung und zwar
bis auf das Glas eingraviren.
Hier dient die Fett.schichte des Abdruckes umgekelirt dazu, die
Linien, der im Abdruck am Glase (z. B. Trinkglas) sich befindet, zu
bedecken. Die Glasützor setzen die so vorbereitete Platte den Dämpfen
von Fluorwasserstoffsäure aus, welche an den vom Fette nicht be-
deckten Stellen das Glas angreift und so die Zeichnung im Glase
eingeiitzt, zum Vorschein bringt.
Das Verfahren ist einfach, bedarf aber besonderer Vorsieht und
ist wohl nur Jenen zu empfehlen, welche in solchen Dingen Uebung
haben.
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Sichtbaimachen latenter Finger* nnd Fiueabdrfldie.
189
Man nimmt eine 3 — 4 mm starke Bleiplatte, klopft sie mit einem
Holzhaniiiier über einer metallenen Mörserkeule zu einer halbrunden
Schale, die oben mit einer Feile eine ebene Handfläche erhält. Nun
nimmt man käuflichen Flussspat in Pulverform, rührt ihn mit concen-
trirter Schwefelsäure zu einem Brei und erhitzt nun die Schale im
Wasserbad, zweckmässig; im Freien, we^en der schädlichen Dämpfe.
Das Glas bedeckt man am besten mit Unschlitt oder dünnen Speck-
streifen dergestalt, dass nur ein kleiner, am besten viereckiger liaum
um den Abdrack freibleibt und setzt nun diese Fläche so lange den
Dämpfen ans, bis em genügend tieles fielief entstanden ist, es er-
sdielnen dann die Papillailüilen ab Bchmale liniea and zwar dnrdH
gichtig, während ihre geätzten Zwisclienrämne matt sieh darstellen.
Ich yeiBnchte nun diese linien, die man nnr bei gewisser Anf*
merksamkeit genan Terfolgen kann, dauernd in Farbe sichtbar zn
machen nnd anob dieses gelang mir. Ich benutzte nämlich eine
Walze ans Bnzbanmholzy die eine sdir glatte Obeifläche haben mnss,
nnd walze dieselbe anf einem Gelatineblook mit Druckerschwätze ein.
Die Walze muss so lang sein, dass sie Uber jenen Baum hinaus-
ragt der um den zu ätzenden Abdruck frei bleiben muss.
Wird nun die Walze (in ihrem Gestell in dem sie hierbei sich
in bekannter Art um ihre Achse dreht) leicht üb» den geätzten
Abdruck hinweg^eführt, so setzt sie an den nicht geätzten Linien des
Abdruckes Druckerschwärze ab, sodass der Abdruck sich in schwarzer
Farbe, dir hald eintrockne^ repräsentirt. Gelingt dies nicht, wird zu-
viel Farbe abgesetzt, dann wäscht man das Glas mit Terpentin ab,
legt rechts und links vom Abdruck so lange einen dünnen Streifen
Papier, bis nach noclimaligem Walzen der erwünschte Erfolg eintritt.
Bei Trinkgläsern muss selbstredend das Einwalzen dergestalt
vorgenommen werden, dass die Walze parallel mit der Achse des
Cj'linders über die Fläclien bewegt wird.
Ich vertiffentliche meine Versuche, soweit sie abgeschlossen sind
und hoffe in Kürze noch Weiteres zu bringen. Nur eines möchte ich
hinzufügen, so überraschend es für den I^iien sein mag, einen nicht
sichtbaren Abdruck in jeder gewünschten Farbe sichtbar gemacht zu
sehen, so skeptisch stehen wir der Sache entgegen. Es ist kein Zweifel,
da-ss die Versuche manchmal, vielleicht oft nach einander Erfolge
bringen; nlhin das sind Zufälligkeiten, die uns zu grossen Hoffnungen
nicht berLclitigen. Der Zufall spielt aber im Strafverfahren eine
grosse Rolle und deshalb ist es unsere Aufgabe, ihm Gelegenheit zu
geben, seine Kraft zu bethätigen und ihn zu suchen, im gegebenen
Falle wissen wir dann zum Mindesten, wie wir uns zu Terhalten haben.
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vin.
Das Befonnatorifun von Blmira.
Mitgetheilt von
Dr. Witry in Bambeiig.
Die „Bewe de PHypnotbrne*^ YwOffendidit unter dieeem Titd
folgenden Artikel:
Sind die Yearbrecher mebt einfooh Knuike? Diese Enge wird
seit Langem erörtert. Aber die Amerikaner allon scheinen sie in
affirmatirem Sinne b^aht sn haben. Dr. Augnst Lnling hat
nftnlieh wlhrrad einer Bease dnreh Nordamerika Gelegenheit gehabt,
eines der grOssten PSnitentiarien der Welt zn besiebtigen. Die Be-
handlnngsweise der Ge&mgenen daselbst basirt einzig und allein anf
der Idee, dass der Mensch, welcher Böses thnt, ein Kranker ist, der
in den meisten Fällen geheilt werden kann. Dr. Luling scbrdbt
darüber: In meiner Eigenschaft als Arzt interessirte mich dieser
Versuch des Staates New-York besonders. Ich nahm mit grosser
Freude die Erlaubniss des Directors für Gefängnisswesen en^cgen,
die Strafanstalt besichtigen zu dürfen, wo die Gefangenen „gepflegt
nnd gebeilt" werden. Man hat ihr den symbolischen Namen „Re-
forraatorium" gegeben und es ist wirklich ein Werk der „Refor-
mation" welches der Staat New-York hier unternommen bat
Man erreicht Elmira von New-York aus in 11 Stunden Schnell-
zugsfahrt Ich verliess den Zug um 8 Uhr Morc^ens am Fusse des
Htiprels, auf dem das riesiij^e, luxuriös ausgestattete Gebäude liegt
Hätte ich nicht auf den Ringmauern eine Keilie von Schildwachen
mit dem Gewehr im Arm gesellen, so hätte ich eher geglaubt, icli
träte in ein Scbloss, denn in ein Gefängniss ein. Ein riesiger Pförtner
Anmerkiing des Herausji^ebers. — Ich yerUfentliche diese interessante
Mitthcilnng, obwohl wir durch deutsche Arbeiten (namentlich die venlienstvolle
von Ilintrafrer. vgl. diese;* Aichiv H. Bd. S. 359), schon längst wissen, wie
übcrtriobeu die Ergebaisae der iiefurmaturies angegeben worden. In Frankreich
flcbeint man noch Inmier an das EvangeUum von Elmira zn glanben. H. Gross.
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Das Refonnatorium von Elmin.
131
führte mich in das Cabinett des Anstaltsdirectors, dem ich meinen
Emi)fehlung:sbrief aus New-York überreichte. Ich stand einem jungen
kaum 3(>jährigen Manne gegenüber, dessen intelÜLrente Physiognomie
einen wohlthuenden Ausdruck von Sanftheit und Güte zeigte. Er ist
selber Arzt und widmet sich seiner Mission mit heissester Ueberzeu-
gung. Er glaubt, dass die üebelthäter Kranke sind und dass es von
grösserem Vortheile ffir die Gesellschaft ist sie zu heilen, statt sie zu
bestrafen. Ich bedcbtigte in seiner Begleitang und in jener des Chef-
antes wihrend 5 Stunden die yeneldedenen Tkeile des Beformnlo-
rinms. leb TeilieBB dasselbe voll Bewnndenug für die rabige Kühn-
heit mit der die Amerikaner an die anscheinend paradoxesten Pro-
bleme herantreten und ffir die praktische nnd ingeniöse LOsung der-
selben, die ihnen in manchen ÜUen gelingt
Vor Allem darf niemals das Wort „Gefängniss** oder „GeEsagener**
angewandt werden. Es ist nnr das „Beformatorinm" mit seinen „Be-
wohnern'*. Es werden nnr MSnner aufgenommen, nngefittur 1500.
Sie kdnnen nnr im Alter von 16 — 30 Jahren eintreten nnter der Be-
dingung, dass sie noeh kerne Strafe erlitten haben, die über 20 Jahre
Zuchthaus beträgt Dem freien Ermessen jedes Richters ist es an-
heimgestellt einen Yerurtheilten nach Elmira zn schicken. Wir wollen
nnn einen Menschen, der eine Gefängnissstrafe von 20 Jahren sn Ter-
bSssen hat nnd im „Reformatorium" ankommt, begleiten.
Nachdem er ein Bad erhalten nnd desinficirt worden ist, zieht
er die Uniform des Hansea an die von ^neutraler Farbe" ist Sie
ist schwarz. Der neue „Bewohner" wird dann dem Arzte vorgeführt
Wenn er jung ist und der Arzt sieht seine Constitution als nicht ge-
nügend stark an, um andauernde Muskelthätigkeit zu ertragen, dann
wird er auf kürzere oder länjrere Zeit — der Arzt allein ist hierin
maassgebend — in die Turnschule geschickt. Die Turnschule, die
ca. 150 ni lang ist, wird während des Winters genügend geheizt, dass
jeder in leichter Kleidung darin turnen kann. Sie hat die allerbesten
Turn-, Bewegungs- und Uebungsapparate. Der „Bewohner" bekommt
desgleichen alle Tage eine Schwimmstunde in einem grossen Bassin
mit lauem Wasser und wird darnach massirt. Bei Fettleibigen werden
mechanotherapeutische Entfettungskuren angewandt Kurzum, man
macht aus dem Betreffenden einen widerstandsfähigen Menschen.
Wenn der Arzt die Ueberzeugung gewonnen hat, dass er arbeiten
kann, dann schickt er ihn zum Direetor, der ihn fragt, ob er eine
Vorliebe für irgend ein Ilandwerk habe. Wenn er z. B. Lust zum
Haurerhandwerk bat, dann kommt er in die Maurerriege und arbeitet
darin mit Es werden alle mdgliehen Bauten an^iefQbrt, aber gleich
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132
VIIL Wott
nach ihrer Vollendung;: wieder niedergerissen, weil man der Privat-
indubtrie keine Coneurrenz machen will. Das gilt auch für die an-
deren Berufszweige des Hauses. Wenn der „Bewohner* das Maurer-
handwerk ausgelernt liat, dann kommt er in die Riege der Zininier-
leute, der Scbremer, der Metalldreher, der Anstreicher, der Fläschner,
der Blechschmiede, der Decoiateure, Polsterer u. s. w.
Wenn fleine Fähigkeiten und Keigangen ihm erlauben sich Bohwie-
rigeren nnd delikateren Arbeiten zn widmen^ dann ist ihm Gelegen-
heit geboten, die Stenographie, dieScbriftselzerei, die Schreibmaschine^
Buchbinderei n. s. w. zn erlemen. Knrz man giebt ihm alle Ifitlel
zur Hand um aus sich dnen brauchbaren regenerirten Menschen zu
machen. Es sei hier bemerkt, dass 85 Proc. aller «Bewohner^ dea
Beformatoriums Ton Elmira bei ihrem Anstritt leicht Stellang und
Beschäftigung finden.
Das ist die professioneUe Seite der „Beformation** der Ver-
urtheilten. Sehen wir nun was die Amerikaner zur Hebung ihrea
monüisdien Bewusstseins eidadit haben. Unser „Bewohner" bat,
wie gesagt, bd semem Emtritt eine schwarze Uniform bekommen.
Er wird dann zur Finanzcommission geführt und dort wird ihm im
grossen Hauptbuch der Anstalt ein eii^'enes Bhitt eröffnet. Seme täg-
liche Arbeit wird auf 2 Mk. eingeschätzt nnd am Ende jedes Monats
erhält er einen Auszug ans seinem laufenden Posten. Wenn er sich
gut führt, so erhält er nach 6 Monaten statt der schwarzen Kleider
blane. Das ist die Farbe der Privilegirten. Sie giebt ihm das fiecbt
im Bestaurant, das sich in der Anstalt befindet, auf eigene Rechnung
zu speisen, sieh dort zu bestellen, was er für den anderen Tag wünscht,
seine Mahlzeiten an einem weissgedeckten Tische einzunehmen und
sich mit den Mitspeisenden zu unterlialten. Natürlich niuss er dabei
Acht haben, dass er sein Rudi:::et nieiit überschreitet; ai)er selbst im
Falle eines Deficits schneidet man ihm die Lebensmittel nicht ab.
Der Direetor liisst ihn rufen, macht ilin darauf aufmerksam, dass
»ein Scluildenmaclien ihm schade, weil jeder schuldige L)ollar einen
Tag läni^eren Aufentiialt im lieforiiiatorium vorstellt. P'ast immer
folgt auf diese Mahnung eine andauernde ^{»arsainkeit. Es ist nicht
selten, dass ein sparsamer ..liewoliner*' mit 10(1(1—1200 Mk. Ersi)artem
die Anstalt verlässt. Uebrigens giebt die Anstalt jedem beim Aus-
tritt 50 Dollai:; mit, damit er zu lelicn habe l)is er Arbeit gefunden hat.
Wenn das moralische Bewushtseiii des Verurtheiiten sicli nicht
hebt, wenn er sich nicht gut führt, so dass man ihm nach G Monaten
das blaue Kleid nicht geben kann, wenn er undisciplinirt, zerstörungs-
sQchtig, aggressiv gegen das Personal ist, dann werden ihm Strafen
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Das RefoinMtorium von Elmlra.
188
aiifcrlee:t und zwar Cleld strafen. So sah ich z. B. im Hauptbuche
eine Strafrechnung von über 1000 Mk. Wenn die Geldstrafen nichts
nützen, dann bekommt er eine rotho Uniform, die er 6 Monate trafen
muss, ehe er wieder die „neutrale", ilas ist die scliwarze, wieder-
bekommt. Nach weiteren G Monaten kann er sich dann die blaue
verdienen. Es ist klar, dass die „rothen" in stren^ar Zucht gehalten
werden. Kein Besuch des Restaurants, überall Stillschweigen, scharfe
Ueberwachung u. s. w. Um aber auch diese nicht ganz zu ent-
mnthigen, darf der Director die sich jjut führeuden am 4. Juli, dem
Nationalfesttage, begnadigen.
,Ich mache hiervon den ansgedehnteslea Gebrauch^, sagte mir
der junge Director.
Die KinteD der Anstalt tilgt der Staat New-Toik. Die gewSbn-
tiehen vom Staate besoldeten Aufeeber weideo Ton den „Bewobnem",
besonders bei den Toigesebriebenen militSriscben üebnngen, unter-
stützt Es giebt so unier den VemrtheUten einen Oberst, Hanptleutei
lientenants nnd ünteroffioiece. Sie haben eine yoizBgliohe MilitSr-
kapetle. Aber, nnd das ist dn Wideisprucb, der Staat weigert sieb
dieselben naeb der EnUassong in die Armee anzunehmen. leb maebto
diese Bemerkung dem Director gegenfibw und konnte aus seiner
stummen Geste ersehen, dass er mit mir «nverstanden war.
Der ärztliche Dienst erschien mir yorzttglich organiflirt Alle
Tuberculdsen sind isolirt. Ihre Wäsche bat eine eigene Farbe,
wird extra gewaschen und die Bftume werden alle Wochen gründlich
desinficirt
Ausser der täglichen gründlichen Waschung muss jeder „Be-
wohner" alle Woche ein Brausebad nehmen. Dieselben werden mit
lauem Wasser applicirt.
Auch sind die „ Bewohner'* nicht ganz von der Aussenwelt ab-
getrennt. Der Dirccctor hat verschiedene bestimmt, welche die Zei-
tungen, ilhistrirten Blätter, Monatsrevuen u. s, w. zu lesen haben.
Diese publiciren dann jede Woche eine Zeitung, welche die Haupt-
ereignisse mittheilt. Nur das was auf Verbrechen und Diebstahl
Bezug hat wird weggelassen.
Und das Resultat? Das „Reformatoriunr' giebt der (lesellschaft
75 — So Proc. seiner „Kranken" als völlig geheilt und brauchbar zu-
rück. 20 — 25 Proc. der Eintretenden sind uuheilbar. So hat mir der
Director officiell versichert.
InUT fir KriaiMlamlircgftlml». XII.
10
IX.
MeinonpdisBonftDzea der sachTerständlgeii Psycliiater.
Primanunk Dr. Josaf B«rM in Wien.
Gegenstand der Enquete über die Voruntersuch un^r im Strafver-
fabien, welche während der Monate December 1902 and Januar 1903
von der „Kulturpolitischen Gesellschaft zu Wien" veranstaltet worden
iety war anob die Frage: Wie erklärt es sichf dass auf dem Gebiete
einzelner geistiger Erkrankungen, insbesondere auf dem Gebiete der
psychopathischen Minderwerthigkeit, so häufig ein Zwiespalt in den
Meinungen der sachverständigen Psychiater zu Tac:e tritt? Sind es
Umstände wissenschaftlicher oder auch praktischer Xatur, welche
einen Erklilrungsgrund für diese Erscheinung geben V Wie ist dieser
Dissonanz der Meinun^a^i abzuhelfen?
Wie j^ross schon die Schwierij^ktitLn rein wissenschaftlicher
Natur sind, denen der Psychiater bei der Abgabe seiner Gutachten
begegnet, wurde von einem Experten') in überzeugender Weise aus-
einandergesetzt, wi'nn ihm auch die Kürze der zur Verfügung stehen-
den Zeit nicht gestattete, auf alle in Betracht konwnenden Fälle näher
einzugehen. Ganz besonders hob er den Umstand hervor, dass es
sich in der grossen Mehrzahl der zu begutachtenden lälle um Zu-
stände mangelhafter psychischer Entwicklung bandle, nicht aber um
eigentliche Krankheiten der Psyche, dass es sich also zumeist um ein
AbBchJttzen der psychischen CapazitSf des betreffenden Individnnmsy
nicht aber nm eine Feststellung gewisser psychopathiscber Symptome
handle, dass somit subjective Anschauung in vielen FUlen im GuU
achten zum Ausdrucke kommen müsse, womit schon eine ganze
Menge von Meinungsdifferenzen zur Genttge erklärt sei. Wesentlich
vermehrt werden die Differenzen dann dadurch, dass wir kein geoan
definirbares und allgemein gültiges Kormalmaass der Intelligenz haben,
dass sich somit jeder Sachverständige das Normalmaass vorstellen
kann, wie es seiner eigenen Erfahrung eben entspricht
• ^ — «
1) l'rof. Wagner v. JaurcKg-
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MeinniigadiiMMiaiuea der sadiTentXndigen Psychiater. 186
Auch bei den in späterer Lebenszeit erworbenen Störungen, so-
weit sie forensisch in Betracht kommen, handelt es sich häufig um
psychische Schwächezustände, welche sich nicht durch bestimmte
charakteristische Symptome vom gesunden psychischen Zustande in
leicht erkennbarer und sicher feststellbarer Weise ablieben, sondern
nur durch ein gewisses (juantitatives Deficit charakterisirt sind, dessen
Abschätzung wieder subjectivem Ermessen anheimgegeben ist. Wie
schwer gestaltet sich ferner die sichere Feststellung der Anfangsstadien
verschiedener psychischer Krankheiten und zwar auch solcher, welche
im späteren Verlaufe auch für den Laien leicht zu erkennen sind! Und
doch stellt sich oft schon in diesen Anfangsstadien, z. B. bei der
progreBSiTen PaialTse, wenn auch faftnüg nur Torflbeigeliend, ein die
Sianeht und die WAlensbeaftimiDung schwer Bohldigender psychiBoher
Defeet ein. Schwierige, häufig sn MeinniigSTenehiedenhäteii AnhM
gebende VerbSltiiisse bieten natugemte anob eine ganze Menge
anderer tranBitorischer geistiger StSmngen; namentlich die yerscbiedene
Bewerthnng der Tom Untersuchten, Ton Angehörigen desselben oder
Ton Zeugen seuMs Verhaltens stammenden Anamnese seitens der
einzefaien Saobrerstlndigen kann da leicht zu Dissonanzen führen.
Ausserordentlich gross und hinfig, fast nnfiberwindbar sind dann die
Schwierigkeiten, welche sieh einer sicheren Beurtheilnng des Cleistes-
zustaades yieler Neurasthenisch^ Hysterischen, Epileptischen in den
Weg stellen, sei es, dass es sich nm die dauernden Veränderongen,
welche sich bei solchen Kranken häufig einstellen, sei es, dass es sich
nm episodische Zustände handelt Wie gross schliesslich die Schw ierig-
keiten sind, welchen man bei den sogenannten psychopathischen Mindor-
werthigkeiten begegnet, kann jeder leicht selbst ersehen, der folgende
Leitsätze Koch 's berücksichtigt, die wohl nicht den Werth von
Dogmen für uns haben, die Verhältnisse aber in treffendster Weise
charakterisiren: „Die psychopathischen Minderwerthigkeiten — psy-
chische Regelwidrigkeiten, welche auch in schlimmen Fällen doch
keine Oeisteskrankheiten darstellen, welche aber die damit beschwerten
Personell auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger
Kornialität und Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen — führen
allmählich vJillig zu den Oeisteskranklieiten hinüber, wie sie auf der
anderen Seite ganz allmählich völlig in die Breite des Normalen sich
verlieren" 'I.
Auch die wichtige Frage, ob die Entsclieiduug ül)er Zurechnungs-
1) Eine ausführliche DarsteUnng der bei Beurtheihiiifr der Grcnzziistande
in Betracht kommenden Schwierigkoiten findet sich in Hoche's Handbuch der
gcrichtUcheu i'aychiaüie.
10*
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136
DL Bbbsb
oder Unzurechnungsfähigheit den Sachverständigen oder dem Richter
anheimzugeben sei, wurde bei der Errirtcrung der „Unjstände wissen-
schaftlicher Natur" berührt, insoferne der l)ereits erwähnte Experte
ausführte, dass man den ärztlichen Sachvcrständiicen durch die Frage
nach der Zurechnungsfähigkeit eine Aufgabe stelle, welche man
Metapbysikem stellen sollte, wodurch der Standpunkt der Aerzte,
welche auf oaturwiBsenachaftlicher Basis stehen, noch mehr erschwert
werde; so werde natttrlieb za weiteren MeumngsdiffeEeiizeii Anlass
geboten. Der Bahmen der Enquete wir zu eng, als dass diese
alte^ hochwichtige FVage halbwegs erschöpfend hstte behandelt werden
können; erwähnt sd nnr, dass von emem angesehenen Joristen in
schroftter Form ausgeführt worden ist, dass die SachysESlindigen
nnr den geistigen Znstand des üntersnchten sn beschreiben, keines-
wegs aber anf die Fhtge der ZniechnnngsflUiigkeit einzngehen hstten,
dass aber andererseits ein sweiter psychiatrischer Experte 0 den Mnib
gehabt bat, zn betonen, dass es Terfehlt wflre, wenn man den Psychiater
nnr über den Geistesnistuid nnd nicht auch dämm, ob derselbe den
vom Gesetze aufgezählten krankhaften Geisteszuständen mit excul-
pirender Wirkung entspreche, befragen wttrde. Es ist hier nicht am
Platze, alle die Gründe^ welche für letztere Forderung sprechen, wieder
zur Sprsdie zu bringen. Sicher bleibt es, dass das Hereinspielen
mancher metaphysischen Frage in's Gebiet der Psychiataie^ nament-
lich der forensischen, die Aufgabe der Sachverständigen wesentlich
erschwert. Man sollte aber znnächst meinen, dass die Psychiater
heute wenigstens noch nicht berechtigt sind, sich dagegen aufzulehnen,
wenn ihnen von juristischer Seite Fragen irestellt würden, welche
das Gebiet der Metaphysik streifen, wo trotz der Versicherung mancher
Psychiater, sie kämen mit der Associations-Psychologie ohne meta-
physische Hypothesen ganz gut aus, in psychiatrischen (Uitachten
Begriffe wie Ajjpereeption, Selbstbewusstsein, Wille u. s. w. noch
immer selir liäufiii: in Anwendung gebracht werden. Femer ist die
Frage nach der Zureelinun^'^sfühigkeit eines bestimmten Individuunis
keineswegs eine metaphysische, wenn auch die Frage nach der Zu-
rechnungsfähigkeit an sich mit der metaphysischen Frage nach dem
freien Willen zusammenhängt; man fragt ja die psychiatrischen Sach-
verständigen nicht etwa, ob wir einen freien Willen überhaupt anzu-
nehmen berechtigt sind oder nicht, sondern ob im concreten Falle
jenes relative Maass von Willensfreiheit, welches wir beim Durch-
Bchnitts-Menschen zu finden pflegen und welches gemeinhin dem
1) Doceut Dr. F. v. Sölder.
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Heiiiangsdiitoniiixeii der Badiventindigen Psydiiater. 187
Bichter zar Ännabme der Zurechnungsfähigkeit genügt, vorbanden iat
oder ob diese relative Willensfrei lieit im concreten Falle dorch geistige
Hemmung oder Stdrang eine Beeohiinkniig erfiShit und wie weit
etwa diese Beschränkung geht Diese Frage ist ebensowenig eine
metapbysiche wie die Frage nach psychischer Gesundheit und Kiank-
hdt; die Schwiwigkeit Hegt vielmehr darin, dass wir ebensowenig ein
Maass für die normale Willensfreiheit wie für die normale Intelligenz
haben und dass die Uebergänge von der grössten Unfreiheit zur
frrössterreichbaren Freiheit ebenso fliessend sind, wie die von den
tiefsten zu den höchsten Intelligenzf^raden. Selbst dann aber, wenn
die Psyeliiater zugeben raüssten, dass Elemente metaphysischer Natur
bei derartigen Fragen mitspielen, kann es nicht zweifelhaft sein, dass
dort, wo es sich um die Beziehung metaphysischer Begriffe auf [ab-
norme Seelen/ iistiinde handelt, doch wieder nur der Psychiater richtige
Auskunft geben kann. Wer mit dem Sachverständigen auf dem Ge-
biete der Psychiatrie noch einigermaassen concurriren könnte, wäre
der Sachverständige auf dem Gebiete der Metai)hysik ; ob der Richter
sich nun gemeinhin das Recht vindiciren darf, als Sachverständiger auf
diesem Gebiete zu gelten, scheint mir zu mindest nicht entschieden
zu sein. Es scheint mir daher übel angebrachte Besclicidenheit zu sein,
wenn der Psychiater in der Frage der Zurechnungsfähigkeit psychisch
abnormer Individuen dem Richter die Entscheidung gleichsam spontan
überlassen wollte, somal ja der Letztere ndft dem ansf übrUchsteni vor-
lieffliehslai peychiatrischen Gutachten niehts aazoftuigen wdss, wenn
der Pqrchiater nicht doch in nmschriebeoer Form seine Meinung über
die Znrechnungsfähigkeit der betreffenden Person andeutet nnd dem
Biohter eigentlich nichts Anderes flberlSsski als die Ueberselznng des
in der Sprache der Psychiatrie Gesagten in die Sprache, die der
Bichter sähst zn sprechen gewohnt bt; es ist aber doch kanm denk-
bar, dass der Psychiater gleidisam die Bolle des Prinzen-Eniehers
nur zn dem Zwecke Übernehmen soll, dass dem Biohter ein Soayeift-
nitstsrecht scheinbar erhalten bleibe^ Wenn daher auch metaphysische
Begriffe die Arbeit der Pi^chiater erschweren, so sollten doch gerade
die Psychiater selbst diesen Umstand nicht in den Vordergrund schieben,
zumal die Schwierigkeiten, die aus anderen Verhältnissen erwachsen,
80 bedeutend sind, dass der kleine Zuwachs, der auf Bechnnng der
Metaphysik kommt, kaum in die Waagschale fällt.
Relativ wenig kamen in den Sitzungen der Enquete die prak>
tischen Umstände, welche Mdnungsdissonanzen begründen, zur
Sprache, obwohl gerade auf sie das Hauptgewicht zu legen ist und
auch die Fragestellung gerade auf sie zu zielen scheint
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188
IX. Beb»
Unter den praktischen Umatänden ist gewiss die vom Experten
von Sölder betonte Tliatsache anzuführen, dass die strafgesetzlichen
Bestimmangen über die krankhaften Geisteszustände und betreffs des
Begriffes der Beraubung des Vemunftgebrauches unklar sind und zn
von einander abweichenden Auslegungen Anlass geben. Wenn auch
die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Umstände ergeben, den
Juristen viel mehr berühren als den ])sychiatrischen Sachverständigen,
ist es gewiss auch vom Standpunkte des Letzteren dringendst zu
wünschen, dass die betreffenden Bestimmungen eine klarere, den Er-
gebnissen der Psychiatrie mehr angepasste Fassung erfahren mögen.
Weit wichtiger scheint mir aber ein anderes, ich möchte
sagen principielles Moment zu sein: es fällt dem Sachverständigen,
angesichts der heutigen Anschauungen über die Competenzen des
Richters und des Sachverständigen, nicht nur die Aufgabe zu, den
Geisteszustand des Inculpaten zu begutachten, sondern auch die weit
schwierigere Aufgabe, den Richter von der Richtigkeit des Gut-
achtens zu überzeugen. Was die Aufgabe, einen I^ien von der
geistigen Krankheit eines Individuums zu überzeugen, in manchen
Fällen bedeutet, wissen alle praktisch thätigen Psychiater nur zu gut;
68 uit geradezu stanoenerregend, wie vorgeschritten die psychische
Kfinkheit leiii kamii obne dais dieaefiien den AagehÖrigen nnd
der sonstigen Umgebung anfgefoUen wflie, mit weleher Zftlugkeit
die liüen dem Ante gegenüber, weleher die psychopathisehen Sym-
ptome betont, immer wieder auf einaebi^ noch gana oder wenigstens
theilweiae erhaltene psyehisehe Emotionen hinweisen nnd daims die
Ansieht ableiten, es k9nne sieh doeh nnmaglioh am Geisteskrankheil^
sondern hMstens nm NorvensehwSefae oder deigleiofaen handeln.
Nieht Tiel anders als das LaienpnbÜeam Überhaupt verhält sieh aber
aneh offenbar die Mehrzahl der Biebtar gegenüber den peyohiatrisehen
SaohYersiSndigen; sie treten dem Gutachten der Letzteien mit der
grÖBsten Skepsis gegenüber, und es kostet den Sachverständigen harte
Mtthe, zu dem Ende zu kommen, dass das saehTerständige Wort ^zmn
inneren Eigenthume des Richters*^ werde (Gross, citirt nach Naecke:
Btohter und Sachverständiger, dieses Archiv Bd. III). Ausserordent-
lich peinlich ist es für den Sachverständigen aber, wenn es ihm
Überhaupt nieht gelingt, den Richter zu überzeugen, und es ist an-
znndbmen, dass mancher Sachverständige der Gefahr, sich vom Richter
zu wiederholten Malen desavouirt zu sehen, nach Möglichkeit aus
dem Wege zu gehen trachten wird. Die Folge davon ist, dass sich
nicht selten, psychiatrisclie Sachverständige in ihrem Outachten der Laien-
psycbiatrie bedenklich nähern, indem sie offenbar nur dann die Mei-
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MeinimgsdiaaoiiaiiseD dor nehventSndigea Psychiater. 139
nnng, dast» es sich um ein psychopathischea Individuum bandle, ver-
treten, wenn sie sicher sind, aucli den Richter von dieser Ahnung
überzeugen zu können. Eh ist dies eine geradezu selbstverständliche
Reaction wenig selbstständiger, nachgiebiger Naturen, die es ja auch
unter den Sachverständigen giebt, auf die sonderbare Eraehemung,
dass sich der Richter als Kritiker der psychiatrischen Sachverst&a-
digen in psychiatriaditti DingeD beibätigen duL Daas du iMdehee
Beigeben seitens der SAchvenUlndigen ein Hindernis fOr die Findung
der Wahrheit seilt, ist ohne Weiteres einsosehen; denn es giebt
psychopsthisohe Znslinde, von doren Bestehen der ungläubige
flbierhaapt nieht fibeneogt werden kann, dainnter solehe, dnreh die
die Zoiechnnngsfittiigkeit im hOehsten Maasae bedntiiehtigt, wenn
nieht yOUig an^sehoben wird >). Andererseits ist es aber aneh klai>
dass es ras diesem Gmnde m Memnngsdüferenzen swiseben ein-
sefaien SaehTerslindigen kommen mnas, da den naehgiebigereD, peak-
tisehen Btteksiohten zngSnglioheren Naturen nnler ihnen solche gegen-
flbefstehen, denen die Vertretong der wissensehaftlichen Ergebnisse
unter allen Umständen oberstes Gesetz ist.
Der bei Weitem wichtigste Grund für die Meinungsdissonanzen dar
pqrchiatrischen Sachverständigen ist aber in dem Umstände zu suchen,
dass das heute gültige Straf recht den psych opathisch Minder-
werthigen nicht gerecht wird und dass der Staat seine Aufgabe,
die Gesellschaft durch entsprechende Unterbringung dieser Personen zu
scbQtzen, nicht erfüllt. Man wird nun freilich einwenden, diesen Um-
stand habe der Sachverständige gar nicht zu bedenken, und beson-
ders gewisse conservative Juristen, die dem Zuge der neuen Zeit nicht
mehr folgen können, werden wieder darauf hinweisen, dass der Sach-
verständige sich damit zu begnügen habe, das Krankhafte an dem
untersuchten Individuum nachzuweisen, unbekümmert um die Con-
sequenzen, welche das Gutachten nach sich zieht. Solche Forderungen
sind aber nur theoretisch zu stellen, praktisch kaum zu erfüllen.
Zumindest wird man es dem psychiatrischen Sachverständigen nicht
venvehren können, sich eine Ansicht, eine Ueberzeugung zu bilden,
wie mit der Ilauptgruppe der psychopathisch Minderwerthigen unter
den heutigen, wie bereits gesagt, durchaus unbefriedigenden Bedin-
gungen zu verfahren wäre, welches Uebel gleichsam als das lüeinere
sn wihlcn wire; wo aber einmal eine Uebeneugung, also ein sab-
jeeÜTes Moment, Eingang gefunden hat, ist aneh Memnngsdissonanzen
1) Sehr belicrzigeiiswerthe AuH^fiilirunj^en üIkt tlirsen (Jegenstand sind in
don Vortrage von Dr. Siegfried Türkei: Irren wesen und Ötrafrechtspflege
enthalten.
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140
IX. BeszE
Thür und Thor geOffneti welche aueh im Tenor der Gntachten der
einzelneii SachFerständigen mm Atudmcke kommen müssen.
Was die Psychiater nach dem heutigen Stande der Wissenschaft
im Punkte der strafrechtlichen Behandlung und der Unterbringung
der gemeingefilhrlichen pifyohopathisch Mindervrerthigen Terlangen
müssen, hat bei der Enquete der Experte Begiernngsrath Director
Tilkowsky kun und bündig auseinandergesetzt Er ftthrte unter
Anderem aas, daas der Gegensatz zwischen Richter und Sachverstän-
digen am besten durch ein Vorkommniss charakterisirt werde, welches
sich Yor kurzer Zeit in Wien ereignet habe : in einem Prooesse er-
klärte ein Sachverständiger^ er kdnne den Untersuchten weder ffir
zurechnungsfähig, noch für unzurechnungsfähig halten, er möchte
demselben vielmehr etwa eine 50 proc. Zurechnungsfähi^^kuit zu-
schreiben, der Richter aber erwiderte ihm einfach, ein solches Gut-
achten könne ihm nicht gentigen, weil er mit einer 50 proc. Zurech -
nungsfähif^keit nichts anfang:en könne. Dies sei eben der Kern der
Frage: der Richter muss sich mit diesem Begriffe abfinden können;
denn derselbe ist keine theoretische ( 'onstruction, sondern bat sieb
uns aus der Praxis ergeben, ja geradezu aufgedrängt.
DieGrui)pe derMinderwerthigen mit beiläufig 50 proc. Zurechnungs-
fähigkeit kann nicht übersehen werden ; sie verlangt eine eigene Behand-
lung, zumal die Differenz zwischen der Behandlung des Zurechnungs-
fähigen und der des Unzurechnungsfähigen eine so grosse ist und es
nicht gleichgültig sein kann, ob der Halbzurechnung-sfähige ') der einen
oder der anderen anheimfällt. Diese Personen gehören weder in Straf-
noch in Irrenanstalten, sondern in besondere Anstalten : Bewahr-, Schutz-,
Besserungsanstalten, wie sie Koch schon im Jahre 1881 gefordert
hat In diese Anstalten sollten sie nicht zur Strafe, sondern zur
bessernden Behandlung gebracht werden. Die Daner der Detention
sollte vom Erfolge abhängig sein, gegebenen Falls daher die Dauer der
Strafe^ welche das IndiTiduum im Falle der psychischen YoUwertbig-
keit getroffen hätte^ auch bedeutend ttberstdgen.
Von alledem, was der genannte Experte in Uebereinstimmung
mit der überwiegenden Ifehrzahl der praktischen Psychiater fordert
haben wir heute noch gar nichts erreicht; ja wir haben, wenn man
den Ausführungen einzelner Juristen, die ba der Enquete zu Worte
gekommen sind, symptomatischen Werth beUegen darf, nicht einmal
noch erreicht, dass die Juristen an die Berechtigung unserer Forde-
1) Dem gewöhnlichen Gebirauche folgend hitte Seh hier Muh: der Yenniiideit-
ZuificfanungefShige Bageu können; doch halte ich dieeen Begriff für einen weiteren,
hier nicht ganz paesenden.
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MdnangMUMOiiaiiaea der aadiventBndigea PfeyobUiter. 141
rungen glauben. Einigermaassen mag daran auch die Thatsacbe schuld
sein, dass der Begriff der psychopathischen Minderwerthigkeit ebenso
wie der Begriff der verminderten Zurechnungsfühigkeit in quantita-
liver Hinsicht nicht genau abgrenzbar, nicht mit einer mathematischen
Grösse vergleichbar ist und von den vielen thatsächlich zur Beob-
achtung kommenden Graden der psychopathiscben Minderwerthigkeit,
resp. der verminderten Zurechnungsfähigkeit, nicht jeder in gleichem
Maasse nach besonderer Berücksichtigung schreit, vielmehr eben
geiade nur die beiläufig in der Mitte zwischen Zurechnnngsfäbigkeit
und UnznrechnongsfiUiigkeit stehenden PorBmn 68 sind, die unser
latoreflse gebieteriBoh henuuifordern, den Jnnsten aber die yendiie-
densteo Grade Tor Augen gestellt werden. Es liegt ja nahe, dass die-
jenigen Eille Ton psychopalfaischer Hinderwerdiigkät, welche nach
Koch's Ausdruck sc^on „zu den Geisteskrankheiten hinftberfOhien"
in die Irrenanstalt leidlieh passen, dass andererseits diejenigen FlUe,
weiöhe sich schon «in die Breite des Normalen yerlienn**, dem Straf-
gerichte ttbeiantwortet werden k9nnen, ohne dass ihnen besonderes
Unrecht widerfflhre; aber immer restirt dann noch eine Gruppe^ für
welche ich in diesem Znsammenbange eben am liebsten die Becdchnnng :
HalbzurecbnuDgsfilhige festhalten mOchte.
Heute bleibt auch fUr diese Gruppe nichts Anderes Übrig als die
Irrenanstalt oder die Strafanstalt, Der peychiatrische Sachverständige
wird in die Zwangslage yersetst, aus dem Mulatten entweder einen
Weissen oder einen Schwarzen zu machen. Begreiflich ist es nun,
dass dort, wo Gründe uud GegengrUnde einander die Waage halten,
Imponderabilien den Ausschlag geben werden, und unter diesen als
das Wichtigste die oben erwähnte üeberzeugung des Sachverständigen,
mag dieselbe nun bewusst oder unbewusst zur Geltung kommen.
Mit dem Hinweise darauf, dass so Meinungsdissonanzen ent-
stellen müssen, will ich mich nicht begnügen, sondern auf die Ueber-
legungen, die dabei maassgcl)end sind, näher eingehen und auch kurz
ausführen, in welcher Richtung die Outachten der psychiatrischen
Sachverständigen von der riclitigen Linie abweichen, zumal gerade
dieser Punkt das Interesse der Juristen in einem höheren Maasse,
als sie ihm augenscheinlich nach bisher geschenkt haben, heraus-
fordert.
Eine unter Laien sehr verbreitete Ansicht ist es , dass der Psy-
chiater jeden Verbrecher, der iiiiii überantwortet wird, für geistes-
krank erklärt; ein grosser Theil der Richter theilt, wie man weiss,
^ese Ansiebt Versuchen wir einmal der Sache auf den Grund zu
gehen! Sind die P^chiater wirklich unberufene Yertheidiger?
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142
IX. Bebzb
SclK'inl»ar spriclit manches für die Richtigkeit der erwähnten An-
sicht. Zunächst könnte ja vielleicht der Standes -Egoismus im
Spiele sein; der Psychiater erweitert gewissermaasson seine eigene
Einflussspbäre auf Kosten der des Richteis, so oft er einen Incnipaten
für geitteBknmk eridiiti). Auch steht mancher Sachverständige, der
Aber der hnaimtk^ Beflchftf tigung mit krimmflUeii Individiifin seiiien
nnprOne^iehen Bemf mcbt TergesBen bat, dem peychopaduich Minder-
wertbigen nebenher aneb ab Axst gegenttber, in dem seSnem ganzen
EntwicUnnga- nnd BildnngBgange zu Folge die Tendenz, dem Kianken
zn helfen, rege ist; es wire daher die Annahme nahe Kegend, dua
er den p^ehopathiieh Hinderwerdiigen lieber der BcJiandlwng als
der Strafe znfflhien wollte und dass dieeee Streben, wenn er es aneb
in der Ahetehf^ objeetiT zu nrtheilen, znrttekdriagen würde, dennodi
nieht ohne Einfhua auf das EcgebniaB aoner Be<diaohtni^;en nnd anf
lein Gnlaebten bliebe. Femer wird der Psychiater feinfühliger, maneher
vielleicht sogar zu feinfühlig für psychische Defecte, bewerthet sie nn-
gebührlich hoch und nimmt daher eine berftcksichtigungswürdige
Schwächung der Einsieht oder Erschwerung der Wiilensthätigkeit
sehon in Fällen an, in denen der Laie, möglicher Wdse einmal
auch mit Recht, noeh nnverminderte Zoiechnongafähigkeit annehmen
möchte.
Gewiss giebt es psychiatrische Sachverständige, bei welchen solche
und ähnUche Momente einen gewissen dominirenden Einfluss haben.
Weit gefehlt wäre es aber, wenn man annehmen würde, die Gesammtheit
der psychiatrischen Sachverständigen sei von solchen Ideen erfüllt;
dies ist eben nicht der Fall, und gerade daraus erklärt sich die grosse
Mehrzahl der Meinungsdifferenzen der Sachverständigen.
Für eine grosse Gruppe der Sachverständigen sind nämlich rein
praktische Rücksichten von ausschlaggebendem Einfluss. Zunächst
macht ja der Sachverständige, der auf üeber Weisung des psycho-
pathisch Minderwerthigen in die Irrenanstalt hinarbeitet, so zu sa^^en
die Rechnung ohne den Wirth; der Sachverständige kann es wohl
erreichen, dass der psychopathisch Minderwerthige in die Irrenanstalt
gebracht wird, er hat aber nicht den geringsten Einfluss darauf, dass
derselbe in der Irrenanstalt zurückgehalten wird. Die Anstaltsärzte
wehren sieh vielmehr, wie man allmfthlich anzneikennen beginnt,
mit Recht gegen die Znmnthnng, die Irrenanstalt als Detentionsanstalt
1) Tbateachlich wird in den Motiven mm Kntwnrfo eines Strafgesetzl)uche8
ffir den Norddeutschen Bund den Irrenärzten dicHer V(»r\vurf gemacht, und hat,
ivio bekannt, die Berliner medicinisch^psychologische Gesellschaft denselben ent>
Mfaiede&Bt zurfiehgewieMii CSoche's Bandbach der gericfatUcfaen P^Uatiie).
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MemungadiasoiMiisAn der eaebventibidigen Flydiiater. 148
für gemcin^efiilirliche Minderwerth ige verwenden zu lassen. Es ist
für sie in dieser Hinsicht namentlich der Umstand, dass dem Statute
der Anstalten zu Folge die Zurückhaltung nicht eigentlich geistes-
kranker, sondern nur psychopathisch minderwerthiger Personen gar
nicht erlaubt ist, und die Rücksicht auf die bercchtigtcrmaassen in
den Anstalten untergebrachten Geisteskranken raaassgebend, indem
ja das Eindringen von Elementen, welche so wie die Mehrzahl der
gemeingefährlichen Minderwertbigen quaiificirt sind, den Aufschwung
der freien Behandlnng, das Ziel aller modernen Anstalts-Psychiateri
in jeder Bestehnng anzuhalten geeignet ist; die Anstaltsdirectionen
walten daher nnr so lange an, bis aie die Diagnose ^diert haben,
nnd verfügen in dem Falle, als sieh thatsiohlieh ergeben hat, daas
nnr psycbopathisehe Minderwerthigkeit, nieht aber Pajehose rorliegt,
die EntlasBung des snr Detention Ueberwiesenen ans der Anstalt
Darob oft grosse Entrüstung in der OeffentUchknt! Man ttberrieht
eben, dass das Votnm der Anstaltsliste dem der Geriehtsfinte dnroh-
ans gleichwevtiiig ist nnd da» es nieht nnr Beoht, sondern aneh
Pflioht der Anstaltsliste ist, Personen, die nieht als ansgesproehen
geisteskrank beseiehnet werden können, sofort sn endaasen, dne
Fflieht, von der abzngehen ein Insserst geföhrliches Untemehmen
wire. Man sieht also, dass es der pqrehiatriBche Sachverständige
heute gar nicht in der Hand hat, pByohopathiseh Minderwertbige der
Behandlung in der Irrenanstalt, welche aneh er gewiss nnr finita de
mienx als Bewahranstalt aneersehen bat, für eine Dauer zuzuführen,
in weleher sich ein bessernder Einfluss geltend machen könnte; praktisoh
ist somit dieser Standpunkt nicht, weshalb er auch von einer anderen
Gruppe von psychiatrischen Sachverständigen nicht mehr eingenommen
wird. Es kann uns gar nicht Wunder nehmen, dass einzelne Psy-
chiater vielmehr angesichts der Thatsache, dass mit der Ueberweisung
an die Irrenanstalten eine längere Detention der Minderwertbigen
nicht erreicht werden kann, dass diese Ueberweisung vielmehr einer
Freilassung auf dem Wege über die Irrenanstalt gleichkommt, und
in Erwägung des weiteren Umstandes, dass eine längere Detention
dieser oft im höchsten Grade gemeingefährlichen Individuen im In-
teresse der Gesellschaft dringendst geboten ist, zu einer Tendenz ge-
langen, die derjenigen, welche die Laien bei der Gesaramtheit der
Psychiater voraussetzen, gerade entgegengesetzt ist; da es mit der
Uebenveisung an die Irrenanstalt nicht gehen will, versuchen sie es
mit der Strafanstalt, d. h. sie fassen aucli Fälle ziemlich hochgradiger
psycbopathisclier Minderwerth igkeit nicht allzu subtil an, um dem
Bichter den einzigen Weg, auf dem eine längere Detention mit
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144
IX. Berze
Sioherheift erroiobt weiden kann, nieht eu Temtnimeln. DasB m dnem
derartigen Verfahren namendioh einzelne atlndige psyohiatiiaohe Saoh-
TerstSndige genügt und, lehrt die Erfahrnng. Ob diese Sachver-
ständigen dnrch die genauere Saehkenntnias nnd die eingehendere
Erwignng d«r Folgen, welehe ihre Gntaehten nach sieh aehen, alkin
an dieaem Verdahren bewogen werden, oder ob nicht anch der üm-
atand, dass manche von den ständigen psychiatrischen Sachverstän-
digen in diesem Bemle nahezu ganz ansehen und so allmählich dem
Inenlpat^ in einer ganz anderen Weise gegenüberstehen als der Arzt
dm Kranken, dabei eine Bolle spielt, soll hier niobt entschieden
werden ; doch soll hier heryorgehoben werden, dass ea unter den pej^
chiatriscben Sachverständigen ebenso wie unberufene Vertheidiger,
auch unberufene Staatsanwälte giebt, psychiatrische Sachverständige,
die sich so geriren, wie wenn es ihr wichtigstes Amt wäre, die Ge-
sellschaft vor gemeinfjefährlichen Individuen zu schützen, die in jedem
Falle zunächst Simulation voraussetzen und von dieser Annahme nur
dann abzubringen sind, wenn sich auch der letzte Schein, der für
Simulation spricht, als absolut unbegründet erwiesen hat, die dagegen
über Anzeichen selbst tiefster Minderwerthigkeit spielend hinweg-
zugehen verstehen. Wenn auch diese Sachverstiindigen f::eradc so
wie die anderen im Bewusstsein handeln, von zwei Uebeln das kleinere
gewählt zu haben, so fordert ihr V'orgehen doch die schärfste Kritik
heraus, weil sie durch ihr Gutachten das Unrecht mit verschulden,
das manchem fast unzurechnungsfähigen Inculpaten durch die Ver-
urtheilung zugefügt wird, und damit eine Schuld auf sich laden, die
ihnen um so höher angerechnet werden nmss, als sie sich mit ihrer
Taktik auf ein Gebiet begeben, auf dem ganz andere Factoren ihre
Wirksamkeit in entfalten haben. Dies sdieint mir die wichtigste
Gonsequena der Thatsaehe su sein, dass den Ergebnissen der Psy-
ehiatrie in strafreohüioher Beaiehung noeh nieht Redinung getragen
worden ist, diejenige Oonseqnenz, welcher die Juristen ihre Auftnerk-
samkeit im hOehsten Haasse zuwenden sollten; gerade so wie die
Anstaltsspychiater es als eine ihrer obersten Pfliohten ansehen müssen,
das Eindringen der gemeingelkhrliehen Minderwerthigen in die Irren-
anstalten zu yerfattten, seheint es mur eine dßt oberalen Pfliohten der
Juristen au sein, die Einlief emng dieser in ihrer ZnreohnnngsfiUug-
keit sehwer beeinträchtigten Personen in die Strafanstalt zu yerhftten.
Oonoentrisch muss von Psychiatern und Juristen der Kampf gefOhrt
werden, der schliesslich zu dem ersehnten Ziele : gerechte Behandlung
des psychopathisch Minderwerthigen im Vereine mit zureichendem
Schutze der Gesellschaft, fahren muss. Und nichts kann uns im Inter-
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Meiinmg»<HB>on«i«iii der sachTenlindigiNi Ftoychiatier. 146
esse dieses Kampfes so bedauerlich erscheinen wie die Erscheinung,
(lass es Sachverständige giebt, welche ihren Einfluss am besten in
der Weise zu verwenden glauben, dass sie F«älle höhergradiger psy-
chopathischer Minderwerthigkeit förmlich für den Gebrauch des Straf-
richters appretiren, während es doch vielmehr ihr Streben sein sollte,
in jeder Weise d;xzu beizutragen, dass diis Verständniss für die Un-
zulänglichkeit unseres Strafreclites in Sachen der Minderwerthigen
in weitere Kreise dringe, was sie dadurch am besten erreichen würden,
wenn sie jeden einzelnen Fall in seiner klaren, eindringlichen Sprache
für den Zweck einer günstigen LQeong der hoehwichtigen Frage
agitirai lienen.
Mit diesen ErÖrternngen bin ich wohl einigennaaeeen Yom Hanpt-
thema, das ich mir hier geeldlt habe, abgekommen, wollte ich dooh
znniehst nnr erwiesen haben, dass sich ans Blloksiehten taktischer
Natnr Heinungsdifferenxen der snobyerstHndigen P^chiater ergeben
mflssen.
Wie ist dieser Dissonanz der Meinungen absnhelfen? wüd weiter
g^agt Bevor ich auf diese Frage eingehe^ möchte ich noch daianf
aufmerksam machen, dass es nidit einmal gut wSie, wenn die so
▼ieUach betonten Meinnngsdissonanzen nicht sam Ansdmok kftmen.
Es mnss schon unter den heutigen Verhältnissen auffallen, dass bei
all' den subjectiven Momenten, die bei der Begntnditung des Geistes-
zustandes in Betracht kommen, so relativ selten ein ZwieqMdt zu Tage
tritt, wo doch die strafrechtlichen Fälle in der liegel von zwei Psy-
chiatern unteiBUcht werden* Mit der Zweizahl der Sachverständigen
hat es eben seine eigene Bewandtniss; sie ist von der Untersuchung
durch einen Sachverständigen nicht wesentlich verschieden. Die
beiden Sachverständigen geben zumindest ihr Gutachten nicht un-
abhängig von einander ab. Sei es, dass sie den Fall jeder für sich
oder gemeinsam untersucht haben, jedenfalls nehmen sie, namentlich
wenn der Fall Schwicri^rkeiten macht, in der Folge wiederholt Ge-
legenheit, sich über denselben zu besprechen; zuletzt giebt einer von
ihnen ein ausführliches Gutachten ab, während sich der zweite mit
einem mehr oder weniger belangvollen Bemerken demselben anschliesst.
Dass bei einem solchen Verfahren Beeinflussung des einen Sachver-
ständigen durch den anderen nicht ausgeschlossen ist, dass vielmehr
häufig im Gutachten die Meinung des energischeren, einflussreicheren,
kurz prävalcnten Sachverständigen zum Ausdrucke kommen wird, ist
leicht einzusehen. Häufig wird das Gutachten gleichsam ein Com-
promissgutachten sein; eine derartige Entstehung bringt eine gegen-
seitige Correctur allzu radicaler Ansichten mit sich, wird daher auch
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146
IX. BSBSEB
im Ganzen noch die verläaslichsten Gutachten liefern. Relativ selten
treten wirklich unüberbrückbare Meinungsdissonanzen bei derartigen
Begutachtungen durch ein .Sachverständigenpaar zu Tage: sie zeigen
sich meist erst dann, wenn andere Sachverständige, unabhängig von
denjenigen Sachverständigen, welche das erste Gutachten abgegeben
haben, den Fall zu beurtheilen und ein neues Gutachten zu liefern
haben.
Wichtiger und bedenklidier noeh als das If omenfc der Abhängig-
kdt eines Saehvefsttiidigen yom anderen und der sieh daians ttots
der Zweisabi der SaebTeratSadigen ergebenden relatiyen UnTeilaasliob-
keit mancher Gutachten ersobeint mir aber noch der Umstand, dass
die MQglichkeit nicht ansgescblossen ist, dass swet SaehTeiBtSndige,
welche sich die gleiche Anschannng Uber das gegenüber den pqrcho-
pathiscb Minderweithigen heute einsoscblagende Vef&hren gebildet
haben, zur Begotachtnng eines oder mehrerer einschUgiger FSlle
berangesogen werden; denn in solchen EUlen kSnnen Gutachten
entstehen, welche einen extremen Standpunkt yertieten und dennodi
eine solche Sicherheit der Diction aufw^n, dass der pqrchiatrisch
weniger oder gar nicht geschulte Richter gar keinen Anlass zu irgend-
welchen Bedenken findet. Gerade solche au^lige Consonanzen sind
bedenklieb, bedenklicher als manche Dissonanz! Namentlich dann,
wenn ein bestimmtes Sachverständigen-Paar auch in Fällen, in denen
die Begutachtung offenkundigen Schwierigkeiten begegnet, stets über-
einstimmt und der Tenor der Gutachten, welchen dieses Paar liefert,
noch dazu immer der gleiche ist, liegt die Annahme nahe, dass sich
zwei Sachverständige mit der gleichen subjectiven Anschauung, welche
auf ihre Erwägungen einen so richtunggebenden Einfluss ausübt, dass
kleinere oder grössere wissenschaftliche Differenzen gar nicht ernstlich
dissonanzerregend wirken können, jxefiinden haben. Man sollte es
niclit effecthascherischen Pnblicisten überlassen, auf die Uel)elstände
hinzuweisen, die sich daraus ergeben, dass sich die extreme subjective
Auffassung i)sychiatischer Sachverständiger gelegentlich ohne Wider-
spruch geltend maclien kann, wie dies da und dort in einer nicht
nur objectiv urtheilenden Ps^^chiatern , sondern auch dem Laien-
Publicuni auffälligen Weise geschehen ist. Bedauerlich sind sclion
die Consequenzen , welche sich ergeben, wenn die beiden Sachver-
ständigen den extremen Standpunkt einnehmen, jede nennenswerthe
Hinderwolbigkeit schon als excnJpirend hinzustellen; doch bietet in
solchen Fällen erfahrungsgemSss häufig die Aufbssnng der Bichter
du mehr als zurdchendes Gegengewicht, und ttbt andereiseitB die
oben erw&hnte Tendenz der Anstaltdlizte eben oorrigirenden fänflnss
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Kfiinnngsdiisoiuuizeii der sacfaveistindigen Psychiater. 147
aus. Weitaus bedenklicher sieht aber die Sache aus, wenn die beiden
Sacli verständigen der sicheren Ueberzeu^ung sind, dass unter den
heutip^n Uniständen für die Sicherheit der Gesellschaft dadurch fre-
sorj^t werden müsse, dass der minderwerthi^je Verbrecher vernrtiieilt
werde, zumal sie mit dieser Auffassung gewölinlicU keinem Wider-
spruche seitens der Richter be^e^nen.
Ebenso wie die auffällige Uebereinstimmung mancher Sachver-
ständigen in Fällen, welche bei anderen Psychiatern mit Sicherheit
Controversen hervorrufen würden, verdient die nicht minder auffällige
Sicherheit, mit welcher oft seitens der Sachverständigen Gutachten
abgegeben werden in Fällen, die sonst zu den zweifelhaftesten gezählt
werden, eine gewisse Beleachtung. Dem Richter ist selbstverständlich
dn sioheresy jeden Zweifel aaBschfieaseiides GntuliteD erwflniebt; ein
Fehler aber wire es, wenn der Blehler iminar ein derartages Chit*
aditeo yerlangen wMe, wie es andeierBeitB ein grober Fehler der
SaehTecstliidigea wSre^ woin me gleichaam unter dem soggeitiTen
Dm^e eines solehen VeEkngens, sei es dass dasselbe thattfehlioh
Toiliegt oder nur ▼oransgesetzt wird, bereehtigte Zweifel nnteidrficken
würden. Gerade die Anateltslnte, welohe doeh Gelegenheit haben,
manchen kriminellen Psychopathen viele Jahre lang za beobachten
and oft doeh nicht in einem sicher abschliessenden Urtheile gekommen
smdi sehen es ab und zu mit Stannen, wie klar diese HUe den
pqrcÄiiatrischen SachreiBtindigen liegen; man mnss doch glauben,
dass dabei der erwfthnte suggestive Druck und daneben yielleicht
wieder der Kichtung gebende Einfluss gewisser (»aktischen Anschau-
ungen mit im Spiele ist.
Gewisse Meinungs-Dissonanzen und, wie ich hinsufügen möchte,
gewisse Unsicherheiten, die sich als Eolge der in manchem Falle
dringend gebotenen reservirten Haltung der Sachverständigen ab und
zu ergeben müssen, sind somit der gesunde Ausdruck der thatsäch liehen
Verhältnisse und helciicliten die vorhandenen Schwierigkeiten, während
im entgegengesetzten Falle Sicherheit vorgetäuscht wird. Man sollte
aber glauben, dass das ,.inundus vult decijii"' in einer so ernsten
Frage nicht Geltung haben sollte. Es kann sich daher garnicht um
die Frage handeln, wie die Dissonanzen vt rnneden werdt.n könnten,
sondern nur darum, was angesichts der Verhältnisse, die zu solchen
Dissonanzen Veranlassung geben, zu thun wäre.
Kadical könnte, wie bereits ausgeführt, den betonten Missständen
nur dadurch allgeholfen werden, dass man der jisychologischen Eigen-
heit der psychojiathisch Minderwerthigen in strafrechtlicher Beziehung
Kecbnung trägt, also nach Professor v. Wagners Ausdruck „durch
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148
IX. ButzB
Schaffung eines intermediären Gebietes**, nach Prof. Asehaffenb u rg's
weiterer Fassung „durcli Anpassung der socialen Repression an die
Individualität des Rechtsbrechers.'*
Es fragt sich nur, ob wir Zeit haben zu warten, bis diese Forde-
rung erfüllt werden wird, und ob uns nicht die Möglichkeit geboten
ist, den ärgsten Unzukömmlichkeiten schon jetzt vorzubeugen.
An erster Stelle verdient da betont zu werden, dass es am jeden
Pnifl ▼erfatttet werden mius, dasB in Folge unzatreffendor Bemtheihing
des GeiBteflznatandeSy sei dieselbe nnn in wissenschalttieheii Schwierif^
keiten oder in ungerechtfertigter Berttcksiohtigung praktischer üm*
stinde bcgrilndet, nnznreohnangsOhige Penonoi der StnQnstiz tct-
Callen, obwohl hiermit snscheineDd eine Triviafititt ansgesproehen wird;
denn alle Umstünde wirken hente^ wie oben anag«fiihrt,in der Bichtang
msammen, dass die SachyerstBndigen gemdezn dam gedrSngt werden,
Uber selbst schwerwiegende Bedenken hinwegzngehen, wenn es sich
nm die Benrtheihmg des Geisteszustandes peiychopathisch minder-
werthiger Verbrecher handelt, so dass diese, wenn auch ihre Minder-
werthigkeit noch so hochgradig ist und noch so deutlich ins Gebiet
des thatsächlieh Pqrchotischen spielt, Gebhr laufen, ungerecht ver-
urtheilt zu werden.
Selbstrerständlich ist es oberstes Postulat, dass su Sachverständigen
nicht nur wissenschaftlich tüchtige, sondern auch von allen subjectiven
praktischen Anschauungen möglichst freie Psychiater gewählt werden
sollten. Selbstverständlich ist es auch, dass die Sachverständigen
nnabhängig von einander ihr Gutachten abgeben sollten. Wichtig
scheint es mir auch zu sein, dass die Sachverständigen in jeder Hin-
sicht unabhängig von den ricliterlichen Funclionären seien, und
empfeiilenswerth muss es mir daher erscheinen, dass bei der Bestellung
der Sachverständigen jeder Einllass des einzelnen Richters in Wegfall
gebracht werde.
Ausserdem sollte aber eine Einrichtung bestehen, welche es in
dem Falle, als dennucli die siihjective Anschauung eines oder des
anderen Sachverständigen allziicrass zum Durchbruche gelangen sollte,
ermöglichen würde, dass auch die Einwände gegen diese Anschauung
zu Worte kommen. Als eine solche Einrichtung ist die contradic-
torische Expertise zu bezeichnen 0> Mau muss sieh angesichts
der oben ausgeführten Verhältnisse ganz entschieden anf die Seite
1) An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ich besonders öeterreichiache
Verhältnisse be-^itrei lir. Auch ist mir nicht bekannt, ub und inwieweit das Recht
des An^a'klagten, eigene Experten vui-zubriugen, etwa in Deutächland thatsächlicb
gehaudhabt wird.
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HebioiigBdiBSOiiaiuen der aaehreratSiidigeii Psychiater. 149
(lerjeni^-en Psychiater stellen, welche es als ein Gebot der Gerechtig-
keit erklaren, dass den Inciilpaten, bezw. der Vertheidigiing Recht,
in zweifelhaften Fällen Ge^;:cnsachver8tündige zu stellen, eingeräumt
werde. Freilich fehlt es nicht an Gegnern dieser Ansicht, und hat
auch der Experte Professor II ab er da bei der En(iuete die gegnerische
Ansicht in schärLster Weise vertreten; doch haben die Ausführungen
dieses Experten kaum mehr überzeugen können als die bisher bereits
von anderer Seite ins Treffen geführten Gründe. Man mag ja
vielleicht zugeben, dass auf einigen anderen, bereits mit exacten
Methoden ausgestatteten Gebieten der gerichtlichen Medicin unter
gewissen Bedingungen, unter weloben die wichtigste die ist, dass
tiiatBKohliidi ein gediegener Faohmaan als SaehTenOndiger bemfen
worden ist, die Stellung von GegenflaohyeiBtSndigen snmiadeet als
fiberflfissig erscheint; doch wird aneh für solohe FUle em triftiger
Gegengmnd gegen die Berechtigong dieser Forderang an sich kaum
snzafflhren sein. Wo aber snbjeotiTe Momente in dem Ansmaasse
in Betraeht kommen, wie dies beute noch bei psychiatrischen Begut-
achtungen der Fall ist, mflssen Voricehmngen getroffen werden, durch
welche folgenschweren Auswttchsen der SubjectiYitit voigebeugt wird.
Als Hauptgrund gegen das System der Gegensachverständigen
hat Prot Haberda den Umstand angeführt, dass es durch dasselbe
ermöglicht würde, dass dem berufenen Gerichtsarzt ein fachmännisch
minder gebildeter A r zt gegenübeigestellt werde , welcher keine
andere Mission hätte, als all das zu leugnen, was der Sachverständige
behaupten würde. Diesem Abusns ist aber ausserordentlich leicht zu
steuern; das Mittel dasu geben di^enigen Psychiater, welche für das
System der Gegensachverständigen eintreten, auch selbst an: man
bestimme, dass bei den Gerichtshöfen officielle Listen — diese Listen
wären von der competenten Gerichtsbehörde im Einvernehmen mit
der competenten Sanitätsbehörde zu verfassen — von Psychiatern
geführt werden, welche gegebenen Falls als Gegensachverständige
gewählt werden dürfen, wit' t^icli ja auch für die Wahl der primären
Sachverständigen selbst schon die Fühning von offieiellen Listen
empfehlen würde, soferne nicht ständige Sachverständige, wie etwa in
Wien, bestellt sind. Eslist nicht anzunehmen, dass nuin dann, wenn man
mit der Aufnahme in diese Listen vorsichtig genug zu Werke gehen
würde, noch üble Erfahrungen in dem von Professor Hab er da an-
gedeuteten Sinne machen würde; zumindest würde kein in öffentlicher
Stellung stehender Psychiater es unternehmen, seinen eigenen wissen-
schaftlichen Ruf durch leichtfertige Opposition gegen die Ausführungen
der zunlehst berufenen Sachverständigen aufs Spiel zu setzen.
AnUif nr KfialMdMtbivpolQRi«. XII. 11
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160
UL BSBXB
Es ist aiicli j^esa^rt worden, dass das Institut der Gej^ensacli ver-
ständigen deshalb unnöthi^^ sei, weil ein ^^ewiegter Sachverständiger die
Einwürfe, die der Oegensach verständige machen könnte, voraus-
selie und in seinem Gutachten berückBichtige; so sehe man ja beute
die Einvrürfe der Vertheidiger voraus, mit denen man denn auch in
der Begel in der mühelosesten Weise hnlAg wearde. Dass Letztens
der fUl i8t| beweist eben gerade, dass GegensaehTenttndige da sein
sollten, weil der Vertheidiger diejenige Fachkenatmss gamieht haben
kann, welche dazu nSthig ist, die richtigen Einwürfe an machen nnd
dieselben in der geb&hrenden Weise an vertreten; denn die Behaup-
tung kann man doch nicht au&tellen, dass es soldie FUle ganiiciit
geb^ in denen bereditigte Einwinde gemacht werden konnten nnd
etwa dne genauere Beweisführung oder irgendwelche Klarstellung
gefordert werden sollte.
Auch den Einwand kann man kaum gdten lassen, dass ent-
sprechend qualificirte Aeizte in aureichender Anzahl nicht zu
finden seien. Es ist anzunehmen, dass sich Aerzte genug finden
werden, welche auf eine mehrjährige psychiatrische Thädgkeit hin-
weisen können und auch alle übrigen Qualitäten, welche zu fordern wären,
aufweisen. Nimmt doch beispielsweise heute das Wiener I^andesgericht^
um die Noth wendigkeit, mehr psychiatrischeSachverständigeansostellen,
zu umgehen, aus den Reihen der Aerzte, welche dben auch als
Gegensachverständige zunächst in Betracht kämen, einen Uilfo- Sach-
verständigen nach dem anderen!
Gross sind die Gefahren allerdings, die dem Gegensachverstän-
ständigen drohen. Er wird sich vor Allem hüten müssen, gewisser-
massen als Entlastiin^^szeuge f;efülirt zu werden, wird darauf bedacht
sein müssen, in einer dem primären Sachverständigen ebenbürtigen
Weise zur Geltung zu kommen. Er wird streng auf dem Boden der
Wissenschaft bleil)en, sich aller ten(lenzi<)sen Uebertreibungen, aller
ISoi)liismen enthalten müssen, die Auslösung weitläufiger, ermüdender
und trotzdem für den vorliegenden Zweck werthloser wissenschaft-
licher Debatten nach Mii^lichkeit zu vermeiden haben. Wenn es auch
sein Hauptzweck ist, das l'sychopathisehe am Inculpaten, namentlich
in denjenigen PÜllen, in denen es seitens der j)riniären Sachverstän-
digen nicht genügend gewürdigt worden sein sollte, schärfer zu be-
leuchten, wird doch auch er das psychische Gesammtbild des Unter-
suchten stets vor Augen haben müssen.
Die contradictorische Expertise soll und würde auch nicht dazu
führen, dass aufßUlig mehr Untersuchte für geisteskrank erkttrt werden
als bisher; sie soll nur dazu führen, dass die Momente der Minder-
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MeiaaiigadinoiittHeD der aadiTenUndigai P^ychUtw. 151
wertliigkeit, welche der einzelne Untersuchte aufweist, allen denen,
die über ihn zu urtheilen haben, immer mit der uütliigen Klarheit und
Eindringlichkeit vor Augen geführt werden. Freilich würden auch
schwere Irrthümer, die unter den heutigen Umständen möglich und,
wie ich glaube, auch schon vorgekommen sind, nach Einführung der
contradictorischen Expertise, weniger leicht eintreten können. Der
Hauptgewinn aber wäre, dass sich die Ueberzeugung von der Noth-
wendigkeit einer Reform in der von den Psychiatern geforderten
Bichtang schneller in allen maassgebenden Kreisen durchringen würde,
wenn die Gegensachverständigen, was ja von ihnen sieher sa erwarten
bei jeder Gelegenheit anf die (Tnhaltbaifcett und üngeiecbtigkeit
des heutigen VerfahreiiB gegenüber den psychopathiBchea Hindei^
werthigen hinweisen würden, das» wir also der ErfOllung der zweiten
Hauptfordenmg, welche ▼.Lilienthal fOr das zukünftige Strafreeht
Btdlt: BechtssehntB des Einaelttea gegen Yeiigewaltigang im Namen
der GeseUschafi, um einen Sehritt näher kommen würden.
Was mit den psyehopathiseh Minderwerdiigen, soweit sie als
▼ermindert snieohnnngBtthig aufzufassen w&ren, unter den heutigen
UmstSnden in strafrechtlicher Hinsicht ansufangen w&e, darlU^
müssen sich die Juristen klar zu werden trachten. Das eine steht
fest, (lass die „mildernden Umstände'^ als ausreichender Ersatz für
die „verminderte Zurechnungsfähigkeit'^ nicht angesehen werden kdnnen;
immerhin wird aber festzustellen sein, ob die geltenden Bestimmungen
über die Durchführung der Strafmilderung nicht etwa eine Deutung
zulassen, welche es ermöglichen würde, dass schon heute dem
Postulate der Aenderung des Strafvollzuges in qualita-
tiver Beziehung Kechnung getragen werde. Wenn eine
solche Deutung möglich wäre, so wäre schon heute viel zu erreichen,
und könnte man mit mehr Geduld die Entwicklung der Dinge ab-
warten, die sieh augenscheinlich recht langsam vollziehen will.
Was schliesslicli die Unterbringung der gemeingefährliclien,
kriminellen Minch'rwerthigen ["anbetrifft, sei zunächst noch einmal
dringendst davor gewarnt, die Irrenanstalt als Stätte für ihre Ver-
wahrung auszuersehen. Es hat ja eine Zeit gegeben, wo man in
Unkenntnis der Folgen der Idee, Minderwerthige in den Irrenanstalten
zu detiniren, zugänglicli war; das Experiment ist aber so schlecht
ausgefallen, dass sich heute wohl jeder Anstaltsarzt im Interesse des
Irrenwesens, das ja gewiss auch volle Herücksichtigung verdient,
gegen eine Wiederholung mit allen Kräften wehren muss. Als ganz
▼erfehlt müssen daher die Bestrebungen bezeichnet werden, den Anstalts-
Idtungen das Beoht nehmen zu wollen, Minderwerthige, welche wegen
11*
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162 DL Bbbzi, MdnnngxiiwKWumfm der MchTenÜbuUgtt Fhyohlater.
erwiesener Geineingefährlichkeit über Gerichtsbeschluss, bezw. polizei-
liche Verfüc:iinf; in Irrenanstalten zur Aufnahme gelangt sind, ohne
Genehmigung der betreffenden Behörde wieder zu entlassen*), sobald
Geisteskrankheit eben nicht besteht ; denn es kann ganz und gar nicht
zugegeben werden, dass die Anhaltung in einer Irrenanstalt unter
einem anderen Titel als dem der Geisteskrankheit geschieht, und
es kann auch, selbst nur insolange eigene Heil- oder Bewahrungs*
anstalteil für derartige Individuen nicht bestehen, nicht zugestanden
werden, daaa es der SieberfaettBbehOrde fiberlasBeu worde, diesdben
„zur ünteiliringung und eiita|ireobend anhalteaden Yerwaliniiig «iner
gescUoflsenen 'InenanstaU znzaweiaeii^ Dsgofen Bind die Autoren,
welefae sioh mit diesem GegensUmde eingehender beschifügt haben,
(Tide namenfiich Nftoke: ünteibringniig gdstedoinker Yeibreeber)
darin einig, dass ein grosaer Thdl der Hinderwerlbigen, insolange
die wiederholt angedeutete LSsong der üage nieht erfolgt ist, in die
Strafanstalten gehQren und swar in Adnexe derselben, in welehen
die Strafe an ihnen in so milder und saehgemSsser Weise Yollzogen
werden sollte, dass damit die Behandlongsart, die einmal in den m
erreichenden „StrB&bsondemngsbSusem'' gehandhabt werden soU,
gleichsam vorweggenommen wikrde. Dass aber die Einrichtung solcher
Adnexe auoh heute schon ganz gut mOglioh ist, bedarf nieht mehr
des Beweises.
Die Meinungs-Dissonanzen der p^diiatrischen Sachyerständigen
werden auch dann beileibe nicht aufliören, wenn für diepsychopathisoh
Minderwerthigen in zweckdienlichster Weise vorgesorgt sein wird;
aber die Folgen der Dissonanzen werden nicht mehr so schwer-
wiegend sein, und man wird auch weniger Grund haben, dieselben
so bedenklich zu finden, wie es heute begreiflicher Weise* der Fall ist
1) Diese Fordenug hat u. A. Prof. Frit ach: üeber die forenaiadie Benr-
theUnngdee AUohoUimiis (VIIL intematioiwler Congim gegen den Alkohdimiiis)»
anfgestdlt
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X.
Yenaeli der TMtong eines Kiiidee durch ein kaltes Bad.
Von
Dr. iar. Budolf Motha« in Dresden.
Am 2. Januar 1902 liat die Fsbrikaibeitenehefeau H. im Dorfe
N. im Besiike des. AmtageiiehtB H. ihr am 15. November 1901 ge-
boreiiea Tachtereheii lina angebUeh baden woUen. Zu diesem Zwecke
hat sie einen Eimer kalten Waasen yom Bronnen geholt nnd nebet
etwa 4 1 Waaeen aaa emem Topfe , der in äem nngeheizten Ofen
rtand, in die Badewanne gesofaftttet Die Wanne wnrde damit etwa
rar HS]fie oder an Druviertel gefüllt Sie stand in der nngeheisten
Sohlafkammer dioht nnter dem offenen Fenster. In diese Wanne hat
die H. ihr TSehterohen gelcigt nnd sieh dann, nachdem sie ihm noch
eine znaammengecollto Windel nnter den Kopf geschoben hatte, ent-
fernt, um ans dem Keller Kartoffeln fOr das Mittagsbrod zn holen.
Wihrend ihrer Abwesenheit ist die Fabrikarbeitersehefrau F., die in
demselben Hause wohnte, in £e Wohnung der H. gedrungen, nm
nach dem Kinde zu sehen. Sie glaubte schon seit einiger Zeit an
der Annahme berechtigt zu sein, dass die H. ihr kleines Kind „nm-
krieigen*' wolle. Sie bat das Kind mit fast geschlossenen Augen,
wimmernd und bläulich am Körper in der Wanne liegend gefunden.
Schleunigst hat sie eine zweite Hausmitbewohnerin, die Fabrikarbeiters*
ehefrau Sch. herzufrenifen. Diese hat in das Badewasser hinein-
gefasst, und es eiskalt prefunden ; es sei ihr in alle Glieder frefaliren.
Sie hat den Eindruck gehabt, als wolle das Kind sterben; auch sie
hegte den Verdacht, die H. habe das Kind „unikrieiren" wollen. Der
Gemeindeälteste hat sich zu den Untersuchungsacten geäussert, er sei
der Meinung, die H. und ihr Mann könnten das Kind nicht leiden.
Der Gendarm ist der Ansicht, dass die II. in Tödtungsabsicht i^e-
handelt habe. Die Zeuginnen F. und Sch. haben das Kind aus dem
"Wasser herausgenommen und warm gerieben. Am 8. Januar 1902
ist ein Arzt zu dem Kinde gerufen worden. Er hat einen Darm-
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154 X. MoiBM, Venndi dar TMtanir «ineB Kindes donh ein kaltM Bad.
katarrli fest^'estellt, der normal verlaufen ist. Der behandelnde Arzt
hat bezeuj^, dass die Mutter das Kind während dieser Krankheit sehr
gut veri)flegt habe; ihren Bemühungen wäre es hauptsächhch zu
danken, dass das Kind die Krankheit überstanden hätte. Der Tödtungs-
absicht hält er sie darnach nicht für fähig. Der von der Staats-
anwaltschaft zugezogene medicinische Sachverständige hat ausgeführt,
dass die festgestellte Behandlung des Kindes eine plötzliche Wärme-
entziehung, eine Aendening im Blatkreislauf und krankhafte Processe
im Ctehirn, in Lunge, Herz und Nieren hätte bewirken müssen. Der
Tod liStte in Folge Ton Shook, Nervmehlag oder Oongeationen so-
fort oder als eine Folge der Beaotionfleneheinmigeii wie Blutungen,
EntBÜndiingen n. 8. w. einireleii kQnnen. Abeolnt tSdilieh sei die Be-
handlung nieht Ee sei anzunehmen, dasB bei dem Kinde bereüs
CSnolationBfltOmngen, die sn CoUape nnd wtarigen Anncheldnngen
in den LuftirH^ (Entioknng) fahren konnten , yoxfaanden geweeen
seien. Das Eingreifen der Zeuginnen F. nnd Seh. habe die tSdtliohe
Wirkung der CSrenbtionflBtffntngen gehindert Udierdies sei das
Kind anoh der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt gewesen. Die An-
klage wurde nicht auf yersuchten Mord, aondem auf K9lper7e^
ktznng mittelst einer das Leben gefttudenden Behandhmg geriehtet
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XI
Beiträge
zur B^ntachtung alkakolistifldier Störungen in foio.
Von
Dr. FolUt^
iU^bmim Amt im tembUdlnv te SimMdt n MtbuteLW.'
Zn den schwierigsten Aufgaben der gerichtsärztlichen Thätigkdt
gehört ohne Zweifel die Begutachtung alkoholietiseher Störungen.
Besonders wenn es sich in solchen Fällen um schwere Verbrechen
handelt, hat der Gutachter stets das herrschende Vorurtheil, das gegen
den Angeklagten geht, gegen sieb. Die dffentliehe Meinung, der sieh
auch der Richter nicht immer zu entziehen vermag, sieht aneh in den
schwersten Störungen alkoholisti sehen Ursprunges keineswegs einen
Krankheitszustand, sondern stets einen moralischen Defect, der durch
Strafe zu bessern sei. Der Alkoholismus ist ein selbst verscliuldetes
Leiden, das nach Ansicht Vieler keine mildere Beurtheilung, am aller-
wenifp5ten gar Straffreiheit verdient. Diese Momente zwingen den
Arzt in solchen Fällen ein klares mid bündiges (Gutachten abzugeben,
wenn er mit dem Nachweis einer Geistesstörung durclHlringen will.
Aber die Aufgabe wird in vielen Fällen dadurch coiiiplicirt, dass
es sich um besonders scliwierige Verhältnisse handelt, in denen nicht nur
die Diagnose Schwierigkeitun macht, sondern auch die gerichtsärztliche
Würdigung und Bewertbung der nachgewiesenen Symptome. Ein
Balanciren zwischen Unzurechnungsfähigkeit und einer Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit erleichtert die Aufgabe nach keiner Richtung.
In den meisten Fällen wird der Arzt erst geraume Zeit nach der
Strafthat zugezogen, die Acten, die er erhält, sind von den untersten
Instensen bftnfig mit oner Bdhe wenig objectiTer Angaben ausgefüllt,
die stets su Ungunsten des Angeklagten ausfallen; insbesondere aber
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156
XL Poxxm
werden fast regelmässig alle Momente, die etwa für eine Geistes-
Btöning spredien könnten, im Sinne einer Simulation gedeutet Dar
für lassen sich zaiüreiebe Beispiele anfttbien: Ein Epileptiker neiiier
Beobachtung von 18 Jahren hatte Nachts seinen SeUafkameraden
mit einem Beile fiberfoUen und in dnem sogenannten „Dftmmer-
asustande'' schwer verletzt Er wurde mit blutigen Binden und
Kleidern m benommenem Zustande an der Thfiie liegend yorgefnnden.
Diese letztere Situation zeigte dem yemehmenden Gendarmen mit be-
sonderer Deutliohkeit die ralfinirle Simulation des Thiters. Es gelang
ihm daher auch in kurzer Zeit einen yollständigen liebesroman klar*
zustellen, bei dem dar Thäter und der Verletzte als Nebenbuhler
betheiligt waren. — in vielen Fällen alkobolistiBoher Störungen ist
es bekanntlich von grOsster Wichtigkeit, das Benehmen eines Ange-
schuldigten vor und nach der Tbat kennen zu lernen. Die Angaben
darüber gehen aber nicht selten sehr wesentlich auseinander. In einer
Gerichtsverhandlung, in der ich vor Kurzem als Sachverständiger
mitwirkte, wurden von den verschiedenen Zeugen alle Grade von
Angetrunkenbeit bei dem Angeklagten constatirt. Der Eine hatte den
Eindruck, dass der letztere vollkommen betrunken war, ein anderer
hatte nichts Auffälliges bemerkt, wieder andere hielten ihn für voll-
kommen geistesgestört. Kommt nun ein solcher Fall verhältnissmässig
spät zur psychiatrischen Begutachtung, so können alle acuten Sym-
ptome vollkommen verschwunden sein und die Diagnose hasirt auf
lückenhaften, weni^,^ ol)jectiven Angaben, während nachträgliche ein
gehende Erhebungen, besonders bei vagabondirenden Personen, nator*
gemäss erfolglos bleiben.
Neuerdings hat Bonhoeffer-Breslau '), der bereits eine grössere
Reihe von Arbeiten dem Delirium tremens gewidmet hat, in einer
eingehenden Studie die acuten Geistesstörungen der Gewohnheitstrinker
einer eingehenden Analyse unterworfen. Seine Arbeit stützt sich auf
das umfangreiche Material, das ihm Gefängniss und Krankenhäuser
der Stadt Breslau bieten konnten. Bonhoeffer weist nun mit Recht
darauf bin, dass die bei Alkoholisten nachgewiesenen, wohl charak-
terisirtm StSmngen nicht ausschliesslich auf dieser Basis der chronischen
Alkobolintozication entstehen, sondern dass gleiche oder im Weaentlichen
ähnliche Processe auch auf anderer Grundlage ausbrechen. Oerade
dieser Umstand zeigt ttbrigens auch, wie viele Bedenken Gruppirungen
der Psychosen nach Ätiologischen Momenten entgegenstehen. Für
1) Die acuten Geisteskrankheiten der Gowohnheitstiinker. Eine klinische
Studie von Or. K. Bonhoeffer, Privatdooent in Brealan. Elidier, Jen» 1901.
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Beltxige rar BegatMhtuog «IkohoUsdscher StOnrngoi in foro. 157
die forensische l'raxis wird in vielen Fällen nicht nur die klinische
Diagnose, sondern auch die. Entstehungsursache von grosser Bedeutung
sein, da beide Moniente uns unter Umständen in Stand setzen, Schlüsse
auf den Beginn der Krankheit, etwaige frühen^ Anfälle, Wahrschein-
lichkeit eines längeren Bestehens u. a. m. gestatten. So wird man in
die Lage kommen, in gegebenen Fällen mit einiger Sicherheit sagen
zu können, ob der Thäter bereits bei Begehung einer zurückliegenden
strafbaren Handlung krank war, wenn er kurz nach Beginn der
Untersuchungshaft Symptome von Geistesstörung erkennen lässt Z. B.
hatten in einem meiner Fälle eine Reihe Uowdies Nachts ein Liebes-
pärcben überfallen und das Mädchen der Reihe nach in bnitiilster
Weise vergewaltigt. Einer der Thäter verfiel, nachdem er in mehreren
Verhören seine Sache sehr geschickt vertreten hatte, in einen Hemmungs-
zustand, der fast ein Jahr anhielt Hier konnte mit grösster Sicher-
bdt gesagt werden, dass weder das Verhalten bei noch nach der
That Symptome geistiger Stibnng ergeben hStte; es handelte sich nm
sine acute Haftpsychose, die zur Heflnng gelangte. Bei den alkoho-
Nstisehea Psychosen wird die An^be des Begutachteis wesentlich
dadurch enchwerl^ dass Tielfach die ErankbeitsbÜder eine bedeutende
Besserung ei&hien nnd oft gSnzlich znrfickgegangen sind, wenn der
Ersnke rar Begntechtnng gelangt, besondeis wenn mit der Entadehnng
des Alkohols das sdiidigende Moment wegfiUlt
Bonhoeffer bat in dem genannten Werke Yier venchiedene
Krsnkhdtsbilder abgegrenzt; er nntersebeidet das DeBihun tremens» die
acnte Hallndnose — Ton Kraepelin acuter ballncinatorischer Widin-
smn der Trinker genannt — und die acuten pathologischen Bausch-
zast&nde, dazwischen behandelt er, gewissermaassen auf der Grenze
zwischen acuter und chronischer Störung stehend, das chronische
Delirium, das meist unter der Bezeichnung Eorsakof f 'sehe Psychose
erörtert wird. Der Verlauf dieser Störung ist meist mehr chronischer
Katur mit Uebergang in unheilbare Geistesschwäche.
Man kann mit einigem Rechte das Delirium tremens als Prototyp
der acuten alkoholistischen Psychosen bezeichnen, da sich alle Sym-
ptome dieser Krankheit bald stärker bald schwächer hei den übrigen
wiederfinden. Als charakteristisch für das Delirium bezeichnet
Bonhoeffer in Uebereinstimmung mit W ern i c k e ^) die „totale Ver-
kennung des Bildes der Aussenwelt". Der Kranke ist über die
eigene Persönlichkeit vollständig im Klaren, er hat keine Grössen-
1) Wornicko irintiidrias der Psychutrie), S.2S2, bezeichnet den Znstand
aU nailupsychbche Deäurieutirtheit**.
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158
XI. Poixm
ideen und keine hypochondrischen Waluiideen, dagegen verkennt er
vollkommen die Unii^ebung, er ist desorientirt über Zeit und Ort.
Die gesammte Situation ist für ihn verändert, aber nicht, wie man
meist annimmt, durch zahlreiche Sinnestäuschungen, sondern durch
eine Schwäche der Associationsthätigkeit bei mangelnder Aufmerksiuu-
keit. Die Sinnestäuschungen spielen sich beim Deliriuni vorzügUch
auf optischem Gebiete ab und haben einen mehr ,,scenenhaften'*
Charakter. Als weitere Symptome nennt Bonhoeffer die starke
Suggestibilität der Kranken, das Beschäftignngsdelir und die motorische
Unruhe. Für die nachträgliche Feststellung eines abgelaufenen oder
früher bestandenen Deliriums sind zwei Momente von groamr Wiebtig^
keit, erstens die Dauer der Störung — sie ttberachreilet selten die
Zeit Yon emer Wooiie — und sweitens die Bllekerinnenuig des
Kranken. Viel&eh besteht eine scharfe Erinnerung an die Vorgänge
während des Detiriums, allerduigB mit partiellen Erinnemngslfioken
und fidseher seitlicher Succession der Eidgmsse 0- Dieser Satz gilt
zwar nicht ohne jede EinschiSnknng, dilifke jedoch in der weitaus
gfössten Zahl von Fullen seine Geltung haben. Heilbronner^ hat
darauf hingewiesen, dass der Alkoholist besonders bei Beginn des
Deliriums eine roUkommene KrankheitBeuiBicht hal^ die ihn — man
macht solche Beobachtungen gelegentlidi in der Praxis — vor Aus-
bruch der Krankheit zum Arzte treibt. Der Kranke kennt aus früheren
Attacken den Verlauf der beTorstehenden Krankheit, ein Zeichen, dass
ihm die Einzelheiten derselben nicht verioren gegangen sind. Er steht
auch später vielfach der Krankheit mit guter ^Kritik*^ gegenüber.
Diese Krankheitseinsicht und Krankheitserinnemng ist ein wichtiges
Moment bei der Beurtheiiung abgelaufener DeliriumfaUe. Schildert
ein UntersuchungBgefuigener seine detiranten Erlebnisse in zutreffen-
der Weise, so wird man geneigt sein, ihm Glauben zu schenken,
zumal die Erfahrung stets zeigt, dass viel eher die Neigung b^teht,
Erinnerungslosigkeit auch da vorzugeben, wo solche höchst unwahr»
scheinlicli ist.
Die andere nahe verwandte Form der acuten Alkoholvergiftnni;,
die acute llallucinose, unterscheidet sich von dem Delirium durch
das Vorwiegen von acustischen Täuschungen gegenüber den optisch-
tactilen bei Letzterem, ferner durch die Neigung zu Erklärungswahn-
ideen, die meif^t einen systematisirenden Charakter haljen.
Der nachfolgende Jball, der zu einer eingehenden Begutachtung
1) S. ör> 1. c.
2) Uc'ber Ki-aiikheitseinsicht. AHgt'ui.ZtiUjclu.l.i'.-yciiiater. 5S.Bd.4. Heft. 1901.
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Beitrlge zur Begataehtnng alkohofittischer StSfangen in foro. 169
Anlass gab, dürfte zeigen, dsas «ucb längere Zeit nach Ablauf einer
hallncinatorischen Erkrankung eine Diagnose möglich ist und eine
gute Erklärung für das ei<2:enartige Verhalten eines Angeklagten giebt
Der Irrenarzt wird somit am ersten in der Lage sein, gleichzeitig
Vorgänge, die sonst unverständlich sind, psychologisch zu erklären.
Aus dem der Könijjlichen Staatsanwaltschaft zu D. erstatteten
Gutachten soll hier nur das Wichtigste Erwähnung finden.
Der Angeklagte wurde in der Nacht vom 12. — 13. August 1901
gegen '/il Uhr verhaftet, als er sich auf dem Dache des Besitzthums
des Kaufmanns J. in N., anscheinend in der Absicht, einen Einbruch
zu versuchen, zu schaffen machte. .Nach Angabe des J. vernahm
letzterer Nachts mehrere Hülferufe und Ijärm — Hin- und Herrennen
— auf dem Dache seines Hauses. Bei dem Versuche den An-
geklagten zu verhaften, war dieser auf ein benachbartes Dach ge-
klettert. Dem Besitzer dieses Hauses schien ein Einbruchsversuch
von vornherein schwer erklärlich; da das benachbarte Terrain dmoh
einen wachsamen Hund bewacht wurde. Der Angeklagte bestritt im
y«hOr jede yerbreeheriselie Abncbt, er sei erat spSt in der NacM in
N. angekommen nnd habe nch geflfiehtet, weil man ihn fortgesetzt
▼erfolgte nnd ihm naehrief ,)der M. kommt", üeber seine Personalien
gab «er richtige Ansknnft: er sei 27 Jahre alt, nnehelioh geboren,
war Soldat nnd bisher nicht Torbestialt Unter dem von M. nnte^
zeiehnelen Protokoll fiUlt die zittrige Handsohrift ant Ans den An-
gaben des Gensdarmen Langerich interesrirt hier noch die Fest^
steOnng, dass bei M. kdnerlei verdächtige Instnunente oder Gegen-
sOnde bei seiner Veriiaftnng gefunden wurden. In einan weiteien
YerhOr gab M. femer an, er sei dnrch Stimmen, die sdnen Kamen
riefen, yerfolgt worden; es seien eigenartige Geräusche um ihn ge-
wesen, so dasB er in seiner Angst schliesslich auf ein Dach geflüchtet
sei. Der yerhörende Amtsrichter macht hier die Bemerkung in den
Acten, dass M. anscheinend geisteskrank sei. M. wurde daraufhin
einem Krankenhause Überwiesen, jedoch nach zweitägiger Beobach-
tnng entlassen, da er nach Ansicht des Aiz^es „simuUre'^. Der Kran-
kenhauswärter fand den M. hinter seinem am Zellenfenster auf-
gerichteten Bette stehend, er gab an, dass Soldaten durch das Fenster
auf ihn schiessen wollten. Au8weisi)a[)iere brauche er nicht mehr,
da es ihm in der nächsten Nacht doeli an den Kragen gehe. ....
Es sei schliesslic'li noch hinzu^^efii^t, dass die früheren Dienstherm
des M. Ulli meine Anfrage hin niittheilten, dass M. periodischer Säufer
gewesen sei. Aus den Notizen über die Beobachtung in der Anstalt
sei f olgendes erwähnt M. war während der 6 Wochen dauernden
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160
XI. POIXJTS
BeobachtiinfTSzeit f^tets orientirt und bot keine Symptome geistiger
Störung. Bereits einige Tage vor der Tliat habe er, wie er selbst niit-
theilte, fortwährend Stimmen gehört wie: „M. hat Läuse, da ist M., den
müsst ihr verhauen, er hat keine Militärj)apiere, die Läuse sitzen ihm
im Nacken"^. Vor Angst irrte er planlos umher und wollte einmal
sogar in den Rhein springen; immerfort hörte er Beschimpfungen
und Drohungen. SchliessUch sei er in hfichster Angst auf das Dach
eines fremden Hauses geklettert Hier hörte er Rufe wie: „Wir
wollen ihm die Eier schleifen u. a. m." Der ganze Zustand habe
etwa 14 Tage gedauert, — Da^ Gutachten lautete etwa wie folgt: „Bei
der Beurtheilung des vorliegenden Falles ist a priori festzustellen,
daas M. währen^ der ganzen Beobachtongszeit keine Symptome von
GeisteBstörong dargeboten hat Hb sei dabei hinsngefilgty da»
er auch memals Terraoht hat, daieh Simulation von KiaakheitB-
ersdheinnngen geistesgestört zn meheinen, obgleich ihm durch Sog-.
geBtirfragen dies mehrfach nahegelegt worden war. Es bleibt daher
nnr die Frage zn beantworten, war M. bei der Bähung jenes eigen-
artigen BSnbmches geiateskiank? Knn geht ane den Angaben seiner
Mheren Arbeitgeber mit Sicherheit hervor, daas IL periodiabher
Trinker ist Eb ensohelnt ferner bat abaolnt aioher, daas H. nnter
dem Emflnss ungenügender Em&brung — er war gerade arbeitslos
— und yermehrtem Alkoholgennas ron einem AnfoU yon DeUrium
tremens befallen worden ist IMeser etwa 14 Tage dauernde Anfall
ist charakterisirt dnrcb Angst^ schreckhafte HaOncinationen, bedro-
hende und verspottende Stimmen, Hallucinationen des Allgemein-
gefühls (liiuse), Gesichtstäuschungen (Sehen bedrohender und ver*
folgender Männer). . Auch jenes Verbarrikadiren mittelst des Bettes
im Krankenhause zn N. ist als eine Abwehrmaassregel gegen ver-
meintliche Verfolger anzusehen. Die Antworten, die M. dem Arzte
des Krankenhauses gab: er brauche keine Papiere, es werde ihm
doch an den Kragen gehen, ist fast charakteristisch für die eigen-
thümliche Gefasstheit (Wcrnick e '))? mit der der Alkoholhallucinant
seiner Zukunft entgegengeht. Man hat diesen Zustand mit vorzüg-
lich hallucinatorischen Symptomen ohne stärkere Trübung des Be-
wusstseins von dem bekannteren Bilde des nahe verwandten Delirium
tremens unter der Bezeichnung acute Hallucinose'' (Wernicke) ab-
getrennt. Im vorliegenden Falle sehen w'ir den Kranken nach un-
stetem Umherreisen und Wandern in jener Nacht vor seinen ver-
meintlichen Verfolgern auf das Dach eines ihm uabekauuten Hauses
1) Gruudms, S. 273.
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Bdtifge zur Bcgntaditaiig alkohoHBtiflcher StOmngen in foio. 161
flüchten. Der Unistand, dass er durch sein lautes Verhalten und üm-
hülferufen die Hausbewohner weckte, die Thatsache ferner, dass ihm
jedes Instrument zum Einbrüche fehlte, dürfte auch vom kriminell-
psychologischen Standpunkte gegen die Absicht eines Einbruches
sprechen. Es entäpriciit dem hier vorliej;enden Krankheitsbilde, die so
auffällige dauernde Orientirung über die Aussenwelt und die eigene
Person, schnelle Besserung unter allmählich sich einstellender
Einsicht und andererseits eine — in's Einzelne gehende — Erinne-
nmg an die Krankheitserscheinungen. Dass aber M. sich dieses
ganze, wohl charakterisirte Krankheitsbild erdichtet haben sollte, würde
ein nicbt geringes Maass you psychialrimlieii Kenntiussea bei ihm
Toanasetzen, wSbieiid hingegen die Art seines EinbraohsvenaeheS}
den bisher nnbestraften, sonst reeht intelligenten Menaehen als einen
ftbenuis thörichten Verbiecber eraeheinen lassen wflide. M. ist daher
als geisteskrank im Sinne des § 51 des StGB, m eraebten. Er wurde
▼om Geridite freigesprochen.
An diesen Fall dürfte sieh wk weiterer anscfaliessen, der das
Symptom der reinen HaUneinose sehr dentliob darbietet Zu keiner
Zeit fehlt dem Kranken die allgemeine Orientimng Uber die gesammte
Sitoation, wie sie dem DeUnmten meist verloren geht; es zeigt sich
femer, dass anob hier die akustischen Halluzinationen im Vorder-
gründe stehen, während die optischen allerdings in weniger inten-
siver Weise dauernd mit bestehen. Wichtig für die Unterscheidang
beider Zustände ist auch die Dauer, die, wie bereits erwähnt, beim
Delirium selten die Zeit von einer Woche überschreitet, dagegen bei
der Hallncinose, wie auch im vorliegenden Falle, mehrere Monate
dauert. Im nachfolgenden waren wahrscheinlich mehrere Anfälle
von Delirium vorangegangen, ehe Hallucinose sich einstellte; nicht
selten tritt jedoch statt letzterer das chronische Delir mit Uebergang
in Verblödung ein, und macht dem geistigen Leben des Trinkers ein
mehr oder weniger frühes Ende.
Der Strafgefangene W. Schmidt wurde Mitte October 19U0
in die Strafanstalt aufj^^enommen. Er ist etwa 20 mal wegen Dieb-
stahls, nausfrieden:sl)ruchs, Betteins, Sachbeschädigung u. s. w. mit
Gefängniss und Zuchthaus bestraft. Seit seinem 21. Lebensjalire —
er ist ca. 4(i Jahre alt — hat er zahlreiche Anfälle von Delirium
tremens durchgemacht und mehrfach, wie eine Reihe Narben er-
kennen lassen, in diesem Zustande Selbstmordversuche gemacht.
Bei der Aufnahme ist er ängstlich und klagt Uber Herzbeklemmung,
sein bisheriges Durchschnutsquantum betrug ea. l 1 Schnaps pro Tag.
Seine Arbeitsleistung war gering; ich wandte ihm mit Bücksiebt auf
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163
XL Poixizz
seinen Zustand ein grösseres Maass von Aufmerksamkeit zu und ver-
anlasste daher auch, dass ihm möglichst einfache Arheit überwiesen
wurde. Mitte Januar 1901 — also nach etwa dreimonatlicher Straf-
verbüssung, machte Seh. am Nachmittage mittelst seines AibeitBineaBen
einen Selbstmordversuch, indem er sich an den Annen md am Halse
eine grosse Beihe oboflielifiölier Hantwnnden beibiachte. Als Gnmd
für fldne Tbak gab er hochgradige Angst an, die er ia Folge loct-
gesetzter Drohungen verspttre. Es wird ihm zugerufen, daas man
ihn lebendig begraben w^e, man möge ihm noch Steine anf den
Kopf legen, er sieht yerdächtige Figuren, ist schlaflos, da er in jedem
Geiiosohe eine feindliche^ bedrohende Handlung befBrchtet Nachts
blieb er wach, da er nichtliche Uebeiffille seitens der anderen Kran-
ken erwartete. In YordcKgmnde standen dauernd die OehMin-
schnngen, wihrend der Kranke im üebngen allgemein richtig orien-
tirt war, die gesammte Situation richtig anfissste und ein gewisses
Verstfadniss dafür besass, dass sein Zustand krankhafter Natur sei
Dieser Zustand ängstlicher Erregung und Hallucinose hielt etwa
5 Monate an, dann trat Beruhigung, allmählich Krankheitseinsicht
und die Fähigkeit zu regelmässiger Thätigkeit ein. Der Kranke hat
sodann den Rest seiner Strafe ohne Nachtheil abgebüsst Auch die
Einncht, dass sein Zustand eine Folge übermässigen Alkoholgenasses
gewesen war, fehlte ihm nicht
Gegenüber dem Delirium tremens treten hier die Unterscheidungs-
merkmale deutlich hervor: Vorherrschen der Gehörshallucinationen,
gute allgemeine Orientirung, d. h. Fehlen dos deliranten Momentes
und längere Dauer der Störung als Folge der langsameren Restitution
der bereits des Oeftoren erkrankten Gehirntheile. Diese Dauer be-
trägt meist nur einige Tage oder Wochen, selten Monate. Die länger
dauernden Fälle sind meist complicirter Natur, indem sicli — wie
auch in unserem letzten — Oehörs- und Gesichtstäuschungen com-
biniren '). In lieiden Fällen fand sich ein hochgradiger Angstaffect,
der aiK'li <lurcli Zureden in keiner Weise zu beeinflussen war; beim
letzter wiili Ilten Kranken kleidete ersieh in die stete Befürchtung, von
seiner Umgebung Nachts ermordet zu werden, so dass der Kranke
meist in Isohrstuben zu schlafen wünsclite. Auch Bonlioeffer be-
zeichnet im Gegensatz zu Kraepelin diese Form des Affectes als
die charakteristische. Für forensische Zwecke ist eine Feststellung
dieses Symptomes und des von ihm abhängigen ganzen Gebabrens
eines Gefangenen yon grosser Wichtigkeit und kann auch spiter
noch einen werthTolIen Hinweis auf Torangegangene St5rangen geben.
1) Nach llberg: Kraepelin, ö. l»'.
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Bdtxige snr Begatachtung alkohoUsUscher Stömngea in foro^ 163
In unserem letzten Falle scheint es nicht ohne Interesse zu
sein, dass die acute Stönin^' ausbrach, nachdem der Kranke bereits
mehrere Monate ohne Alkohol g:cwesen war. Eine gleiche Erfahrung
machten wir bei einem zur Beobachtung überwiesenen (Jefangonen,
der seit Langem dem Trünke ergeben, wegen exhibitionistischer Hand-
lungen bestraft worden war. Bei dem ca. 23 jährigen Burschen
stellte sich reichlich 3 Monate nach seiner Inhaftirang eine acute
Hallucinose ein, über die er später mit ausserofdentlich guter Er-
innerung Auskunft geben konnte. Auch diesear kehrte naeh Ablauf
dfir etwa 10—12 Woeben danemden StSnmg in den StrafroUnig
nirttck und blieb geennd.
Ich scblieese diesen FUlen die MittbeUnng dnes wdteien an, in
dem essiGh am die Wirknng des danemden AlkobolmiBsbianeheB bandelte;
Daneben muute die IVage anfgewoifen werden, ob es sieh nm eben
sogenannten pathologiaohen Baaeobzaatand bei Begebung des Ver-
brocbenB gehandelt habe. Ans dem umfangreichen Gutachten soll hier
nur ein orientirender Anssng fdgen.
Am 25. Mai 1902 wurde der Staatsanwaltschaft su D. berichtet^
dass der Händler Jakob B. den im gleichen Hause mit ihm wohnenden
Schneidermeister Heinrich Och, am Tage vorher gegen 8 übr Abends
durch BeFolverschüsse getödtet habe. Als B. in Haft genommen
worden war, erklärte er dem Beamten mehrfach: Es ist gut, dass der
schlechte Hund kaput ist, so ein T.iimp, so ein schlechter Kerl, ich
mache kein Hehl daraus, ich habe ihn kaput geschossen .... ferner
«es schadet ihm nichts, er ist selber schuld, und wenn es den Kopf
kostet, es ist mir ganz gleich, ich habe es gethan"*^. Weiterhin findet
sich die Notiz, dass B. bei der Einlieferung in die Haft l)etrunken
gewesen sei. Der Polizeisergeant Müller theilt mit, dass B. am frag-
lichen Abend etwa '/j Stunde vor (kr 'l'hat zwei anderen Polizei-
heaniten gegenüber die Bemerkung gemacht habe: Wenn er (sc. Oeb.)
nochmals kommt, „dann schiesse ich ilm kaput, und wenn ich meinen
Kopf dabei verliere.'^ Der 8ohn des Erschossenen, der, wie gleich
erwähnt sei, den B. kurz vorher Nachts bestohlen hatte, gab an, dass
sein Vater niemals mit B. Streit gehabt habe .... an jenem Abend
habe er ihm mitgetheilt, dass B. ihn — den Vater — des Diebstahls
bezichtige .... B. sowolil wie Oeb. sind gegen Abend in einer Wirth-
schaft zusammengetroffen, jedoch ist Ersterer Letzterem ans dem Wege
gegangen. Von Wichtigkeit sind eine Reihe Zeugenaussagen. So
bat der Wirth des nahe gelegenen Gasthauses nicht bemerkt, dass
die beiden Genannten Streit hatten, auch nicht, dass B. angetrunken
war. ,Er machte auf mich einen nttcbtemen Eindruck", sagte dieser
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164
XL POLUXS
Zeuge. ^In den ersten Ta^^en des Mai hat er stark getrunken,
später ist mir das nicht aufgefallen."
Eine ganze Reihe von Zeugen bekunden , dass B. Bemerkungen
maehte, er werde sich einen Hevolver kaufen, um sich gegen den
Oeb., der ihm keine Rahe lasse, zu vertheidigen. So wandte er sich
um Hälfe an einige Polizeibeamte, denen er ebenfalla »kUbrte, er
werde den Oeb. todtachieasen. Diesen Beamten erBohien er sowohl
am Nachmittage wie naeh der Verhaftung angetrunken, ebenso maohte
er auf einen Wirth den Eindruck eines Angetrunkenen, wfthrend ein
anderer ihn für Tollkommen nftchtem eridirte. Es stehen sieh in
dieser Hinsicht die Teischiedenen Aussagen scharf gegenüber.
B. selbst giebt folgende DaisteUung des ganaen Vorganges. Der
ErschoBsene, den er wegen des von seinem Sohne yerttbten Dieb-
stahls angeseigt hatte^ aei ihm an dem betreffenden Mittag fortgesetzt
nachgekommen, so dass er sdiliesslich Angst vor ihm bekommen
habe. Da er ein Zusammentreffen mit ihm befürchtet habe, sei er
zuerst, statt in seine Wohnung, auf die Strasse gegangen, habe einige
Wirthschaften besucht und sei schUesslich auf die Polizeiwache, mit
der Bitte um Schutz, gegangen. Man habe ihn dort yermahnt und
nach einer Revision auf Waffen entlassen. Er sei nicht betrunken ge-
wesen. Ein seit mehreren Jahren geladener Revolver habe seit seinem
Einzüge in seine Wohnung auf dem Tische gelegen. Nach der Rück-
kehr in die letztere habe er sich einj^eschlossen. Als es kurz
darauf klopfte und auf Befragen die Antwort „der Briefträger" er-
folgte, habe er geöffnet und den Geb. vor sicli gesehen. Dieser sei
sofort in seine Wohnung eingedrungen, habe auf ihn losgeschlagen,
er sei in ein zurückliegendes Zimmer geflüchtet und habe schliesslich
nach dem auf dem Tische liegenden Revolver gegriffen. Nach einem
ersten Schreekschuss habe üeb. ihm mehrere Faustschläge versetzt,
er habe daher einen zweiten Schuss abgefeuert, der Jenen 'todt zu
Boden streckte. Nach den ergänzenden Zeugenaussagen hat B. sich
sodann eine Pfeife angezündet und versucht, in die nahe gelegene
Wirthschaft zu gelangen. Er selbst erklärt, diisä er in Noth-
wehr gehandelt habe. — Ueber sein Vorleben war festzustellen, dass
er noch vor ca. 10 Jahren in sehr guten Vermögensverhältnissen ge-
lebt hal^ allmählich jedoch durch den Trunk immet tiefer gesunken ist
Er war frtther selbständiger Besitzer und ist jetzt Tagelöhner. Erbliche
Anlage zu Geisteskrankheiten in der Ascendenz ist nicht festgestellt
In dem erwähnten [Zeitraum ist B. vielfach wegen Beleidigung, Be-
drohungi Hansbriedensbruchs und Bettehis bestiaft worden. Der in
der Sache zuerst vernommene Gerichtsaizt Dr. Sch. führt eine Reihe
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BeitrSge zur Bcgutachtang alkoholiadscher StSranfoi in foro. 166
wichtiger Momente an, die den Verdacht einer {^'eisti^'on Stijrunp: bei
B. berechtigt erseheinen lassen , insbesondere eine Erzählung des B.,
dass er zu einem bestimmten Tage sterben müsse, dass ihn die Jung-
fna Maria gewarnt habe iL a. m. Der Sachverständige beantragte
db Beobachtung dea B. in &aia Inenanstalt
B. wurde 6 Wochen lang in der Iirenabtheilung der Strafonatalt
eingehend beobaehtet Diese Beobachtang ergab folgendes Besnitat
In körperlicher Hinsicht ist B. von kleiner untersetzter Natur, mit
eoeigisohem, stechendem Blick, Tollkommen eigrant Die Schftdelr
bildnng bietet nidits Abnormes, die Papillen reagiren anf lichtein&U,
es besieht kern Zittern der Hfinde und Znnge. Die Bewegungen er-
folgen schnell und ungestört, die Reflexe sind leicht erhöht Ein
Itedonos ist nicht nachweisbar. Die Sprache ist fliessend, deutlich
und in keiner Weise erschwert Der Urin ist frei von Eäweiss. B.
war dauernd über die gesammte Situation orientirt Im Allgemeinen
ruhig und fügsam, wurde er lebhaft erregt, wenn er sich über seine
Strafsache äussern musste. Kiemais wurden Erampftmfälie oder An-
fälle von Bcwusstseinstrübung, von Erregung oder krankhafter Angst
beobachtet. Ueber sein Vorleben gab er ohne fiiinnerangslUcken be-
reitwillig Auskunft; er habe in guten Verhältnissen gelebt; nachdem
sein Bruder seine Ehe hintertrieben hätte, habe er sich dem Trünke
ergeben, und es sei ihm jetzt alles gleich, da er nichts mehr zu ver-
lieren habe. Er liahe oft bis 1 Liter Schna])s getrunken, sei oft
schwer betrunken gewesen, habe aber nie ein ])eliriuni gelial)t. Seine
ganze Lebensführung sucht er immer wieder durch den Hinweis auf
die Intriguen des Bruders zu erklären und zu beschrmigen
. . . Seine Strafsache besprach er mit absoluter (ileichgültigkeit
und ohne jede Zurückhaltung und Reue, indem er stets den Stand-
punkt vertrat, dass Oeb. ihn verfolgt und getödtet hätte, wenn er sich
nicht zur Wehre gesetzt hätte. Oeb. sei doch zu ihm in die Wohnung
eingedrungen, er, B. sei der Bestohlene. Im Uebrigen habe er nie
irgend eine Feindschaft gegen Jenen gehegt und ihn früher nicht
gekannt. Gelegentlich hob er hervor, dass er stets ein guter Christ
gewesen und noch wenige Woche vor der That gebeichtet habe.
Auf Vorhalt, dass seine That Yon wenig Gottesfurcht zeuge, blieb B.
dabei stehen, er habe in Nothwehr gehaadelt und werde im gleichen
Falle ebenso handehL Seinen oben kurs erwähnten Traum, in dem
er die Mutter Gottes gesehen habe, bezeichnet er als eine I^zählung,
deren Wirklichkeit er nie behauptet habe, es ja nur ein Traum
gewesen sd. Es sei zusammenftssend erwähnt, dass B. weder in
B^nen Aeusserungen noch in seinem ganzen Wesen den Eindruck
änUif fBr bialoalaiitiiiopologlia. ZU. 12
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166
XI. PoLhoz
eines llallucinanten machte, auch zusamnjcnhängende Wahnvorstel-
lungen wurden niemals — auch nicht im provocirten Affecte —
geäussert
Das Ergebniss 6ßt Beobachtung wurde in folgenden Ausfüb-
ningen zusammengefosst, die kii hier möglichBt vollständig folgen
lassen muss.
Bei der Verwerthnng des gesammten Hateriales steht die That-
saehe im Vordeigninde^ dass & notoriseher Trinker ist und seit yidea
Jahren in bald stSikerem, bald geringerem Haasae dem Alkohol-
gennsse ergeben war. Bei dem Aiter des B. mnss diese danemde
Trnnksnoht sa wesentliehen Yeründernngen der gesammten PersOn-
liehkeiten führen. Diese Veränderungen sind danemde; [sie sind die
Folgen des ehronisohen Alkoholismns; wir mUssen sie trennen ron
den Symptomen, die an dem YerhängnissroUen Abende der Alkohol
ganz acut Temrsacht hat Eine regelmässige V^ändmng in ersterer
Hinsicht ist die sogenannte Charakterdegeneration, die sich vorzüg-
lich durch den Verinst aller höheren Gefühle, wie Seham, Bene^ Mit-
gefühl u. s. w. äussert.
Diese gemlithliche Abstumpfung erklärt den fast regelmässigen
Verlust der socialen Stellung des Trinkers, sie erklärt ferner die Häufig-
keit manobw Arten von Verbrechen bei Trinkern. Diese Symptome
finden wir in grösster Deutlichkeit bei B.: er ist vom woblsituirten
Besitzer zum bettelnden Tagelöhner herabgesunken. Sein Verhalten
nicht nur nach joner Strafthat, sondern auch später in der Anstalt,
als er lange Zeit ohne Alkohol gelebt hatte, zeigt eine geradt^zn bru-
tale Gleichgültigkeit und Rohheit seiner That und Uige gegenüber.
Weitere Symptome, die der Alkoliohnissbraiicli hervorzurufen geeignet
ist, wio das Auftreten von Smin stiiuschungon und Walinvorstellungen,
sind nicht festzustellen. Dass B. sie während der ganzen Zeit zurück-
gehalten hätte (Dissimulation), ist bei seiner sonstigen Mittheilsjimkeit
nicht wahrscheinlich. — Aber ohne Zweifel liat B. zur Zeit der That
auch unter dem Einfluss des acuten Alkoholgenusses gestanden; fast
alle Zeugen, besonders die Polizeibeamten, bezeichnen ihn als an-
getrunken, er selbst giebt eine ganze Reihe Kneipen an, in denen er
Schnäpse getrunken hatte. Man hat als die erste Folge der acuten
Alkoholvergiftung die erleichterte Uebertragung von Impulsen oder
auch den Wegfall centraler Hemmungen bezeichnet; mit anderen
Worten: beim Angetrunkenen setzen sieh Voistellnngen sohneUer und
leichter in Handlungen um. Wie im Torliegenden Falle, so finden
wir auch in den früheren Handlangen des B. diesen Mangel an
Hemmung. Eine wichtige Bolle spielt dabei der bei Alkoholisten so
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Beitrigo zor B^tacfatniig alkoholistisdier StSrnngw in foro. 167
häufige Ang^taffect, der ihn zu seinen zahlreichen Drohungen und
mehrfachen Bitten um Hülfe trifb und nicht zuletzt den schnellen
Act vermeintlicher Nothwchr auslöste. — Es bleibt schliesslich noch
die Fraj^ zu beantworten, ob B/s Handlung nicht überhaupt das
Product einer wahnhaften. Auffassung der Situation oder einer hallu-
cinatorisch bedingten Angst gewesen sei. In dieser Hinsicht ist einmal
der Thatsache zu gedenken, dass B. in der That vom Sohne des Oeb.
bestohlen worden, und dass der Erschossene, wie aus seiner Lage
nach der Tbat innerhalb der Wohnung des B. hervorgeht, thatsäch-
Keh eingedrungen war. AuB diesem Grande kann auch an eine
Handlang, die als Firodiiefc dnea Verfolgungswabnea sa deuten wiie,
kaum gedacht werden.
Fflr die geriehtsirzdiohe Wftrdigang des FaUea ersehenen m. E.
folgende Erwfignngen berechtigt B. ist seit Langem dem Tnmke
ergeben imd hat aneb an jenem Abend nnter dem Einfhus des
Alkohols gestanden. Aber er ist weder im eigeatUoben Sinne geistes-
krank noch anch in einem Znstande des sogenannten paihologischeii
Sansdies gewesen. Letxleies aeigt sich am deutlichsten an seiner
ansgezeiobneten Erinnemng für die Einselheiten bei nnd nach jener Tbat
Die oben erwähnten Symptome der Alkoholintoxikation geben eine
vollkommen ausreichende psychologische ErklXmng des ganzen Vor*
ganges und das gesammte Verhalten des B. vor und nach der Tha^
sie erscheinen aber nicht ausreichend, denselben als nnzurechnongs-
fthig im Sinne des § 51 StGB, zu erachten, so lange keine prtg-
nanteren Symptome geistiger Störung hinzutreten.
Im Schlusssatze wurde die Zurechnungsfähigkeit des B. unter
Betonung der Wichtigkeit der chronischen und acuten Alkohol Wirkung
bei Begehung der verbrecherischen That hervorgehoben. In gleicher
Weise äusserte ich mich in der Schwurgerichtssitzung, indem ich be-
sonders auf den erhöhten Angsteffect der Trinker, die Schnelligkeit
des Entschlusses und das Fehlen hemmender Gegenmotive hinwies,
Moment»', die eine Ueberlegung bei der That nicht aufkommen lassen.
Unter diesen Umständen Hess die Staatsanwaltschaft die Anklage auf
Mord fallen und B. wurde unter Zubilligung mildernder Umstände
zu 5 Jahren Gefängniss verurtheilt.
Eine wichtige Frage ist in dem vorstehenden Gutachten nur
ganz kurz in die Erörterung gezogen worden, die Frage, ob
es sich bei B. um einen sogenannten pathologischen Rauschzustand
gehandelt liaben kann. Unter diesem Zustand haben wir Rausch-
zustände zu verstehen, die auf einer pathologischen Grundlage oder
besser auf dem Boden krankhafter Veranlagung entstehen. Nicht
12»
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168
XL POLUTZ
jeder Ilausch ist iiatholD^Msch. Cramer') hat diese Scheidunj; mif
Recht betont, aber es scheint niirwenip zweckdienlich, wenn Cramer
dem Sachverständijrcn räth, über einen normalen Rausch ein Gut-
achten zu verweigern. Gerade die Beurtheilung, ob der Rausch in
die eine oder andere Kategorie fällt, ist Sache des Sachverständigen,
Im Allgemeinen wird sich jedoch zeigen, dass die schweren Affect-
entladungen uiit ilirrn kriminellen Folgen sich fast ausschliesslich bei
pathologischen Kau^ili/.ustünden finden. Der Boden für derartige
Zustände kann durch Alkoholintoleranz bei Epilepsie und Ilysterie,
bei Trauma oder Neurasthenie vorbereitet sein. Cramer nennt
ferner Ueberanstrengung, Reconvaslescenz und Infectionskrank-
hmtea o. a. m. Es fragt sieb, ob die Kriterien eines derartigea
ZnslandeB im vorii^genden FaUe iiadisaweisen gewesoi wSren.
Bonhoeffer^ unterscheidet zwei Formen des pathologischen Ban-
sehes bei Gewohnheitstrinkern: eine mit delirantem und eme mit
epileptoidem Ohaiakter. In der ersteren ist die Orieotimng nicht
▼oUsÖndig «ofgehoben, wie Heilbronner nachgewiesen hat Aber
sie geht überaus leicht rerloren. In solchem FaUe kommt es, wie
Bonhoeffer an einem Beispiele aeigti zu brutalen Acten ingst-
licher Abwehr unter Verkennung der gesammten Situation, die
epUeptoiden Zustünde gehen aus den Torfaerigen nicht selten henror,
charakterisiren sich als lebhafte AnfSlle hochgradigen Zorn- und-
Wutbaffectes bei thalweiser Desorientirung. Unter den Symptomen,
die die Diagnose dieser Zustände ermöglichen, steht die Trübung des
Bewusstseins, die mangelhafte, oft gänzlich, aufgehobene Erinnerung
an die Vorgänge und der den Anfall fast regelmfissig abschliessende
Schlaf im Vordergrund.
Von Gudden ist neuerdings auch auf die Trägheit der Pu-
pillenreaction während des Anfalles hingewiesen worden. In unserem
oben erwähnten Falle, fehlen aber gerade eine Reihe wichtiger Sym-
ptome. Von voraherein charakterisirt sich die Handlung des B.
nicht als eine unniotivirte Angriffshandlung, denn B. wurde von dem
Erschossenen in seiner eigenen Wohnung aufgesucht. Die Angst,
die B. vor Letzterem hatte, war nicht ganz unbegründet, da er
den Oeb. in der That wegen Diebstahls angezeigt und dessen
Rache zu fürchten aUen (^rund liatte. Aber auch nach der Hand-
lung zeigt sich dauernd eine bis in s Einzelne gehende Erinnening
1) Officieller Bericht über die Haiiptver»nininlung der deutschen Mcdicinal-
beamtoii in iMünchcn. ScpL 1902. Zeitfichr. f. med. Beamte. &41. Verl, i^'i^cher*»
BucbhanUluQ^. Berlin 1U02.
2) & 209, 1. C
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Beibige xur B«giitMlitiiiig aIkoh<rii8tiidier Stttnugien in foro. 169
an alle zeitlichen nnd öitlichea Momente, die mit jener That zu-
sammenfielen.
Unter diesen Umständen erschien mir die Annahme eines patho-
loj;ischen Rauschzustandes nicht berechtigt. Dem B. wurden unter
Berücksiclitigung meiner gutachtlichen Ausführungen mildernde Um-
stände bewilligt, die Anklage auf Mord wurde fallen gelassen und
statt der hohen Zuchthausstrafe des § 212 des StGB, eriiielt er eine
Gefängnissstrafe, es entsprach dies ganz besonders auch der ärzt-
lichen Auffassung, die einen Menschen wie B. keinesfalls für voll-
kommen zurechnungsfähig bezeichnen kann. Die Schwierigkeiten,
die der forensischen Bewerthung solcher Fälle entgegenstehen, werden
bei der Lage der gesetzlichen Bestimmungen, nicht leicht zu be-
seitigen sein. Auch der Weg , den Schrenck-Notzing') ein-
schlägt, indem er die Zurechnungsfähigkeit jjrucentual abschätzt,
scheint mir wenig zweckmässig, weil die Entscheidung über die Zu-
rechnungsfähigkeit dadurch dem Richter statt dem Arzte überwiesen
wird. Ich glaube aber, dass die Interessen des Gerichtes wie der
P^ehiatrie besser gewahrt sind, wenn der Arzt in solchen HUlen
ein bestimmtes Gntteliiea abgiebt, auf dem d» Bioliter sein tXrtheil
aufbauen kann.
1) Archiv f. Krlminalanthropologie. 8. Bd. & 77. Jahig. 1903.
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XII.
Zar Kenntniss der Zeichen des Erh&nganptodeB.
Prof. MnMBunii'Bcrihi*
Im 10. Bande dieses Archivs hat Albin Uaberda eine lehr-
reiche Studie über die Art des Vollzuges der Todesstrafe veröffentlicht
In dieser theilt er mit (S. 249), dass bei dem in Wien gehenkten Raub»
mörder Voboril neben Abquetschung der beiden oberen Kehlkopfhömer
eine quere Durchquetschung des linken Kopfnickerrauskels ohne Spur
von Blutunterlaufung und eine ebenfalls ganz reactionslose Durcli-
reissung der rechten Kehlkopfseingangsfalte (Plica ar^--
epiglotticar) nachweisbar war, eine seines Wissens noch nie beschriebene
Verletzung.
Auch mir ist nicht bekannt, dass in der Literatur schon eine
analoge Verletzung als Folge der Erhängung mitgetheilt worden ist.
Dagegen verfüge ich selbst über eine bisher noch nicht veröffent-
lichte Beobachtung, die meines Erachtens hierher zu rechnen ist und
ein völliges Gegenstück zu dem Falle Haberda's darstellt, nur, dass
in meinem Falle die vitale Keaction nicht fehlte.
Am 28. Not. 1898 habe ich mit meinem Collegen Mittenzweig
die gerichtliche Obduction eines 64jährigen Mannes ausgeführt, der
einige Tage TOiber todt mit waiet Sehmswonde in der lediten Schläfe
«ofgefnnden worden war. dar nicht dndentigen Kainr des Ob-
dnctionsbefnndeB halte ich es fflr geboten, um ane objectiTe Würdigong
des Falles nnd eine kritisdie Nachprüfung maner Anschairang sn
ermSgUchen, das von uns aufgenommene Pkotokoll woitgetren wieder-
sngeben. Es lantet:
A. Aeussere Besichtigung.
1. Der Leichnam des 64jährigen Mannes ist 168 cm lang^ von rogel-
mAsdgem Köi'perbau und mässiiL'em Emälirunpiziistande.
2. Die Haut iät an der Yurderfläche grauweiäs, am Kücken blaurotb.
Bei Ebsehnitt zeigt sieh keui frei ausgetretenes Kut im Gewebe.
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Zur Kamtnias der Zcidioo des Erhingungstodes.
III
3. I^ichenstane ist nur noch in den nntei'en Gelenken vorliamlen.
4. Zielit man eine horizontale Linie vom rechten äusseren Auj,'en-
vinkel nach lünten und erriehtet man auf dieser 4 cm vom Ausgangspunkt
«ne Senkraofate, so trifft naB, wenn man letztere ebenfalls 4 cm nadi oben
▼«rfolgt, auf eine unregdminig rundliche HautdurchlrK-liening, deren Dorch-
• messer 1 — 1 ' ? Durchmesser beträgt. Die IJünder dei-selben sinil im All-
gemeinen bloss in einem schmalen Saum stlnvär/.licli vertrocknet, nur
entsprechend dem unteren Quadranten findet sich eine bis zu 2 cm reiclicude
vertrocknete, gransefawarae Partie nnd awar wird diese Verfftrbnng nach
unten zu — also mit zunehmender Entfernung von der Durchlöcherung —
desto lichter; die Hautliärchen im Bereicbe dieser Partliie sind versengt, zn
kurzen Stummeln verwandelt
5. Das reclite obere Augenlid ist blutunterlaufeu. Die Augenbinde-
hinte sind weissy Hombinte wenig getrflbt, Papillen gleich mittdweit
6. In den natttriichen Oeffnnngen des Kopfes liegt >iel trodcenes Blnt.
7. Die Zungenspitze liegt hinter den zahnlosen Kiefern.
8. Hals nicht widernatürlich beweglich. 6 eni unterhalb des rechten
Unterkieferraudes, demselben parallel, verläuft etwa 5 cm lang ein wenige
Millimeter breiter, brftnnHcher, leicht vertrockneter Hantstreifen. Derselbe ist bei
Euuchnitten nicht blntnnterlaufen ; die vorderste Spitze des Streifens ist
etwa 3 em von der Mittellinie entfernt.
9. Brust von rejrel massiger Form.
10. Bauch nidit besondere aufgetrieben.
11. Im Hodensack liegen beide Hoden, HanurOhrenOffonng frei
12. Aftar offen. Koth ist nicht ansgetreten.
13. Zeichen anderweitiger Verletzungen finden sich an der Leiche
nicht. Am linken Unterschenkel findet sich eine aosgedehnte, bräonlicfae
Uautverfärbung. (Altes Fussgesdiwür.)
B. Innere Besichtigung.
I. Kopfhöhle.
14. Die weichen Schädel bedeckungen sind in der Umgebung der ge-
nannten Oeffnung in grosser Ausdehnung blutunterlaufen und durch ein-
gesprengtes Pulver sdiwars veifftrfoi
15. Das knöcherne Schädeldach zeigt rcclitcrseits eine kreisförmige
Dun liiriclieninp-, deren Durchmesser 1 3 Millimeter beträgt. l>ieselbe sitzt im
Stirnbein und zwar in dessen hintei-sten Abschnitt einige mm vor dem Treff-
punkt von Kronen- und Scliuppenuaht; au der luuenflüche zeigt diese
Oeffnung einen Durchmesser von 16 mm, der Rand ist hier abgeschrägt,
^vährend er aussen scharf ist. Von dieser Durchlöchening, deren Umgebung
ebenfalls eingesprengte Pulverkömehen erkennen lässt, geht ein feiner Spalt
nach unten ab.
16. In dem linken Scheitelbein liegt eine rundliche Durchlöclierung,
die Ton vom nach hinten etwa 2, von oben nadi unten etwa 1 em misst
IHe Mitte derselben liegt 2 cm hinter der Kronennaht und etwa 3 cm
unter der halbkreisfftrmigen Linie Von ihr geht eine cm lange, feine
Spalte nach hinten Mid oben ab. Sonst ist das Schiidcldach unversehrt
und von regelmässiger Form. Die zweite Oeffnung ei'scheint uacli aussen
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172
XII. Stbabhhawk
abgesdirägt. Das heraudgebrochenc Knodienstück ist iu mehrere Splitter
zorfaUen, die in die weieben Sdiideideoken eingesprengt sind.
1 7. Die harte Hirnhaut ist aussen mit dem Scliüdel verwaehBcn, inneo
frlatt. lilutleitcr und Bhit^'ofiiBse fast leer. Entsprechend den beiden I^hem
im Knitchen ist auch die liarte Hirnhaut durchlöchert. Das roditsseitige
Lueli hat 2 cm im Durchmesser, seiue Umgebuug ist ebenfalls mit i*ulver-
kOrndien getipfelt.
IS. Weiche Hirnliaut im Qenxeii zart nnd durchsichtig, nur an der
Convexität stollciiw <Mse sehnijr getrübt. Die Venen sind scliwach gefüllt,
die Arterien leer, iliie Wand fleckweise verliäitet. Entsj»recliend den
Knocbenbrttclien zeigt auch die weiciie iiiruhaut 2 kreisrunde Duiciibuhrungeu,
welcbe oanalfOrmig in das Innero des (JeliiniB fOhren. IHe rechte deneiben
sitzt in der 3. Stimwindung, am Uebergange von der Basis znr Convexität,
die linke etwa 2 cm höher und etwa ebensoweit nach hinten. In der
letzteren Stelle liegt eine an der Spitze gestauchte, etwa 1 cm im Durch-
messer haltende Bleikugel, welche wir zu den Acten überreidien. In der
Umgebung dieeor Oeffnungen ist die weidie Himhant idotnnterlaolBii.
19. In den Himkammem liegen etwa 30 cm tiidli flOnigeD, theils
geronnenen Blutes Kammern nicht erweitert, die Wand ist leiefat gelESnit.
Adergeflechte und obere fJefässplatte blauroth.
20. Im Urosshirn findet sich ein Canal zertrUmmorter Substanz, welcher
die beiden genannten Oeffnungen verbindet; derselbe verläuft durch die buden
Stimlappen und betrifft noeh die 8|ntMB beider Streifenhtgel, besonden rechts.
21. Sonst sind die Schnittflftchen der Grosshimhalbkugehi glänzend
weiss, feucht und enthaltoi eine niXsaige Anzahl abepttlbarer Blatpnnlcte.
Hirnrinde hellgrau.
22. Die grossen Himknoten,
23. das Kleinhirn,
24. I^riicke und verläng^*tes Mark zeigen kdne Herderkranknngen
und verhalten sidi im T/eltrijrcn wie das Grosshirn.
25. Dil' S<h;ulel;j:rundfläche zeigt eine ausgedehnte, unregelinä,s.si;re
Splittening ui beiden Augenhöhlendäcliern. Dieselbe hängt zusammeu mit
der von der rechten Emsehnssl^iing ausgehenden Ftenr.
IL Brost- nnd Banobhöhle.
26. Die Muscnlatnr ist ziemlich krftflig, Fettpolster an den Bancfa>
decken wenige Millimeter dick.
27. Bamlifcll glatt und glänzend, Baucheingeweide in natürhcher Lage.
28. Im kleinen Becken kein auffallender Inhalt. Das Zwergfell steht
beiderseitB hinter der 5. Rippe.
a. Brustliöhle.
29. Die Rippenkorpel smd stark g^bränot Das Brustbein ist zwischen
den Ansätzen der 4. — 5. Rippe qner darchbrodmi. Die Bmchflidie verläuft
von vorne oben nach hinten unten, die Knochenhaut ist nicht durclitrennt, aber
die Weichtheile v(»r dem Brustbein sind hier blutunterlaufen. Der Knorpel
der 4. linken Kippe ist iu seiner Verbindung mit dem Brustbein gelockert.
30. Die Brusteingeweide befinden sich in natürlicher Lage, bade
Langen sind nicht venmfasen, in den BmstfelläUsken kein aotfallender Inhalt.
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Zur Kenntniu der Zeidien des Eriiingangstod«.
178
31. Im Ilerzbc'utrl kein auffallender Inhalt.
32. Das Herz selbst niisst von der Spitze bis zur Furche 13 cm, vom
Bnkeo bis tum Teofaten Rande 14^2 em; es ist rddiKoh mit Fett bewaehaen,
entliält in simmtlichen Höhlen mSMige Mengen locker geronnenen Bhitt^s.
Die Vnrhofkammeröffnunfron sind ftlr 2 — '^ Fin<::er dureli;rän^i*r, die li.ilb-
ni«)ndfürmi;;en Klappen schliessen wa.s-serdielit. Herzinnenhaut zart und
unversehrt. Die Klappen des linken Herzeus und der ^kifaugstlieil der
Aorta entlialten eahlreidie Terdicktey mm Hieil ▼erimOefaerte und Twkalkte
SteDen. ATuseuIatur kräftig, gratiroth. Das Herz wiegt leer 4 SO g.
33. Die linke Lnnjro zeigt glatten und glänzenden Ueherzug, ihre
Känder sind ausseronlentlich stark ^'eblfiht, auf die Schnittfläche der Lnn^au
tritt blutiger Scliaum in mässiger Menge. Gewebe der Lunge überall luft-
haltig, in den grosMD Laftwflgeii Hegt viel flOnigiB Bist, In den groaien
Blatgettsaen der Langen kein auffallender Inhalt
34. Die rechte Lunge verhält «eh wie die linke.
35. Die Prossen lilutgefäsÄe des Halses sind leer und wie auch die
Nerven unversehrt. Dagegen findet sich entsprechend dem braunen Streifen
an der Halshaut eine Blutdorchtränkung im rechten Kopfuidcer etwa
1 — 2 cm im DnrohmeiBer.
36. Mund und Rachenhnhie leer, Zunge und Mandeln niofat geBChwollen.
37. Speiseröhre leer, Schleiinliant V»lassroth.
38. Kehlkopf und Lufti"öhre enthalten etwas flüssiges Blut, Schleim-
haut blassroth. Das Skelett des Halses ist unversehrt Dagegen findet sidi
em 1 em laoger, fetsdger Einrus der Sdildmhanty welcher von der rechten
Kehldeckel-Giessbeckenknorpelfalte hoiisootal nach aussen zieht; die Ränder
des Schleimhautnsses sind zurückgezogen, stark blutunterlaufen und im
oberen Abschnitt auch derart geschwollen, dass eine fast kugelige Wölbung
entsteht.
39. SehüddrllBe nidit vergrOaaert
b. Bauchhölile.
40. Die Milz ist 12 ein lani;, S cm breit, 4 cm diek, Kapsel glatt, etwas
verdickt; Obei-fläche röthlichgrau, Schnittfläche dunkelroth, lässt etwas Blut
anatreten, Gewebe semUeh weich, FoUikd nndeatlidi.
41. Die linke Nebenmere zeigt gelbe Rinde und branne Maricaubstanz.
42. Linke Niere von der Kapsel leicht trennbar, von glatter Ober-
fliielie, auf die Selinittflilche tritt wenig Blut, Zeichnung von Binde und
Mark deutlich, erstere nicht verbreitert, nicht getrübt
43. Rechte Nebeontere nnd
44. Redito Niere veriialten sich ebenso.
4 5. Harnblase mit flüssigem Urin trotzend gefüllt, Schleimhaut granweiss.
4H. Hoden und Nebenhoden oline krankhafte Verändenmgen.
47. Im Mastdarm sehr derbe Kothballen.
48. Derselbe Inhalt im Dickdarm. Im DQnndarm hellere wdchere
Maeann Dannachlelmhant granweisB. DrOaen nicdit geediwoUen.
49. Im Zwölffmgerdarm galliger Inhalt Gallengang durchgängig.
50. Iii) Mairen etwa 100 ccm dicken Speisebrnee^ Magensdbleimhaut
grauweiss, <»lme Blutungen oder Substanzverluste.
51. Die Gallenblase ist mit flüssiger Galle etwa halb gefüllt
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174 Zn. SnLUSMAiiXi Zur KenntiiiM der Zdoben des EriiSogungstodet.
52. Hio Loher zeijrt glatten und glänzenden Uel)erzufr. es findet sich
ein S eni hiuger, zackiger Riss vuu Kapsel und obersten Gewebe, der sicli
von der Mitte dee HmtemuideB dee rechten Lappens sdirig ntdi yom und
rechts an der oonvexen Flldie entlaiig seht Em iweiter, sonst ebenso'
hesi'h äffen er, etwa 1 eni langer Riss sitzt an der Oberfläche des linken
Leberlappens und verläuft von rechts nach links. Auf die Schnittfläche
der I>cber tritt flüssiges Blut. Die ächuittfläclie ist von braunrother Farbe.
Läppcheozeioliniing tatlMi.
53. BsndispeicheldrQse nidit krukhaft Terinderk
54. Gekröse fettreich, Drttsen nicht fjeschwollen.
55. Die grossen Blutgefässe vor der Wirbelsäule enthalten etwas
flüssiges Blut, die absteigende Aorta verhält sicli wie der Aufaugstheii.
Muskeln und Knochen des Rnmpfes und der CHieder unversehrt
Wir haben in unserem Torlänfigen Gataohten ab die wahnofaein-
liohite ErklSning folgende angenommen:
Der Ventoibene hat zunächst einen SelbBterhSngungsvenmcb ge-
macht Dieser miasglttckte^ Tielldcht durah Beiasen dee Strickes» der
Mann stürzte, noch be^or sich one danemde vollständige Stnmgmarke
gebildet hatte, herab und zwar auf Brust und Bauch und zosr nch
dabei den Brnstbeinbrnch und die oberflächlichen Lebenisse zu.
Nachher hat er dann den — alsbald erfolgreichen — Selbstmordver-
such durah Schuss in den Kopf ansgefflhrt Dass es sich um einen
selbstmörderischen Schuss gehanddt hat, machten die Torhandenen
Kriterien des Nahschusses nud der fische Sitz des Einschusses an
der rechten Schläfe wahrscheinlich.
Man kann freilich nicht sagen, dass eine andere Erklärung, dass
speciell die Annahme einer verbrecherischen Tödtung gänzlich ange-
schlossen ist, aber jede andere Construction des Vorganges erscheint
uns bei weitem weniger natürlich und begreiflich.
Offenbar hat sich auch irgendein Anhalt für eine verbrecherische
Tödtung bei den polizeilichen Ermittelungen nicht ergeben; denn wir
haben nie wieder etwas von jenem Fall gehört.
Ist unsere Annahme richtig, was ich hiernach nicht bezweifele^
so würde daraus folgen, dass auch bei der Selbsterhängung Risse in
der Schleimhaut des Keiilknpfeinganges ontstuhen können, wenigstens
wenn die Erhängung zusammentrifft mit einem Sturz aus gewisser Höhe.
Das ist ja überhaupt die Conibination , bei der wir häufig schwere
Verletzungen am Halse: Kehlkopf brüche, auch an den nicht typischen
Stellen, Conti nuitätstrennungen der Wirbelsäule u. s. w. antreffen. —
Eine sehr naturgetreue, alsbald an der Leiche angefertigte farUige
Abbildung der seltenen Verletzung bewahrt unsere Samndung; sie ist
kürzlich in der Sectiun für gerichtliche Medicin des internationalen
medicinischen Congresses zu ^ladrid vorgelegt worden.
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XIII.
Die Technik des Steinpel:föl8cher8
and das Arbeitshaas als seine technische HochBcliiiIe,
sowie einige Vorschläge zur Abliülfe %
Dr. W. SoliütM, Bofltock L II.
(Hit 6 AbbildtiDgen.)
Seitdon ich in Bud 8 S. 1 ff. dieses Arehivs doi Lebensgang eines
. Fälschers von Stempefai und Ijegimationapapiefen geschildert habe^ ist
mir eine solche Menge yerschiedenartigeii neuen Materials auf diesem
Qebiet unter die Häode gekommen, dass ich es für geboten halte
nochmals anf die in diesem Gewerbe liegende nngebeure Gefahr für
unsere Rechtspflege hinzuweisen. Fast jeder gewerbsmässige Stromer
fälscht oder lässt fälschen, nur haben die Fälschungen in neuerer Zeit
vielfach eine solche Vollendung erreicht, dass die Entdeckung oft recht
schwer ist Zudem verschafft sich der Kunde, besonders wenn er
auf falschen Namen reist, ^em auf Grund der falschen Ausweise ein
paar echte, z. B. eine (^uittungskarte und ein Wanderbuch und lässt
dann die verdächtigen verschwinden, sei es dass er sie wegwirft oder
iür Bier und Schnaps an andere Bedürftige verhandelt.
Um so wichtiger dürfte es sein, dass jeder praktische Krimi-
nalist die Herstellungsart und Merkmale der „linken Flebben'' kennt
und so in stand gesetzt wird, wenigstens alle ihm vorgelegten als solche
zu erkennen und anzuhalten.
Am häufigsten findet sich auch heute noch die gewöhnliche Ver-
iSIsebung der Schrift durch Foitradiren einzelner Buchstaben und
Zahlen, an deren Stelle dann an anderer Name, ein günstigeres Jahr
u. B. w. gesetzt wird. So bequem sieh aher aneh anf diese Art ein
fremder Arbeitsschein, der ttber Tage Umtet, in eben eigenen Uber
Monate und Jahre yerwandebi ISsst, der echte FSlscher macht von
1) Vgl Hans Gross, Hsndb. f. UntexsuchnngBilchter 8. Aufl. S.69Slf.
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176
XnL SuuCtkk
diesem Mittel kaum je Gebrauch, da die neuauffxetra^ene Tinte in der
raubea Radirstelle fast immer ausläuft, zumal wenn es sich um eine
grössere Fläche liandelt . Kann er die gewünschte Veränderung: nicht
einfach durch Zwisehenschreiben und Verwandlung-en erreichen, z. B.
aus einer 1 eine 10 oder eine steife 2 machen oder dergl., ein Zweck,
zu dem manclie Künstler einen ganzen Kasten verschiedener Tinten
bei sich führen, und will er doch ^'ern den echten Schein benutzen,
so greift er zum Tintentod. In einem lileciilöffel wird eine kleine
Messerspitze Chlorkalk mit einem oder zwei Tropfen Essijrsiiure in
Wasser angerührt; hat sich alles schön gelöst und vermengt, so wird
mit einer Stahlfeder oder einem spitzen Streichholz die zu vertilgende
Schrift sauber mit dieser Flüssigkeit nachgezogen, und sobald ein
Strich yerschwunden ist, die ätzende Feuchtigkeit mit einqpi weissen
LöBchblatt abgetupft, damit sie das Papier selber nicht mehr angreift
Sodann wird das ganze Blatt mit Talkam und einem reinen Lappen
abgerieben, wobd natOrfich die wnnde Stelle besonder» bedacht wird,
und mOglichBt mit einer weiehen, nicht hackenden Feder nnd genan
pausender Tinte der neue Eintrag gemacht, den man so lange trocknen
liest nnd mit dem Löschblatt Yerschont, bis er die gleiche Dnnkel- '
httt hat, wie sie die ftbrige Schrift aufweist Wer ganz sicher gehen
will| fthrt noch mit der feucht angehauchten Hand Aber den staubige
schmutzigen Fusshoden der Penne und dann Aber das Pafvier, dem
nun besondeis nach du paar Tagen AufeafhaHs in der Bocktasche
kehl Mensch mehr etwas VerdSchtiges ansieht Ich habe vor meinen
eigenen Äugen auf diese Art unter der Hand eines geschickten Kunden
die Schrift ganzer Quittungskarten spurlos verschwinden sehen. Diese
eignen sieh bei ihrer gelben Farbe und groben Faserung allerdings
besonders gut zu solchem Verfahren, dessen Kunst vor Allem darin be*
steht, einigermaassen richtige Mischung — auf 100 g Lösung hdchsteas
5 g Essigsäure — und genau den Augenblick zu treffen, in dem man
nach Verschwinden der alten Schrift mit dem Löschblatt abtupfen muss.
Die Entdeckung solcher Fälschungen ist, wenn sie nicht sehr gut
gemacht sind, besonders durch die gelbliche Verfärbung der geätzten
Stellen möglich, zumal wenn niclit die einzelnen Buchstaben nach-
gezogen sind, sondern, wie dies oft geschieht, die ganze Schreibfläche
befeuchtet ist. Ferner wartet d*T Fälscher oft nicht, bis das Papier
völlig trocken ist, sondern ui:u lit seine ganze Arbeit in einer Sitzung,
dann (luellen die neuen Buehslaljeu nu'ist etwas aus und zeigen unter
der Lupe rauhe, unscharfe Ränder. Ist die Arbeit aber gut gemacht,
und ist gar noch die Unterlaire gelblich, wie bei den Quittungskarten,
oder farbig verschieden wie bei den Versicherungsmarken, deren Ent*
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Die Xeobnik des Stenq>eUilschen.
177
werthung gern auf diese Art beseitigt wird, so ist die Entdeckung oft
kaum möglich.
Mitunter ist es'müheloser, die ganze Bescheinigung neu zu machen.
In diesen Fällen imiss man sich zunächst darüber klar werden, ob
liezw. was für ein Siegel chirunter gesetzt werden soll, da der Schein,
mit dessen Ort und Bedeutung stimmen muss. Allerdings sind mir
auch schon oft genug Papiere vorgekommen, anl denen elirA mit dem
Siegel einer norddeutschen QHmusAMtd» das angeblich von irgend
onem aftddeotBcliea Geweibelrabe&den atugeBtellteZeiigniss beglaubigt
war, und auf die der Inhaber Stadtgesohenk und Verpflegungen be-
zogen, sowie Strafen Terbflsst hatte; doch gehören diese auf die Naofa-
Ifissigkeit der Behörden und die Unanfmerksamkeit der PriTaten
speknlirenden Dreistigkeiten immerhin zn den Ausnahmen . Der ge-
wiegte Kunde hat es anch nicht ndthig, sich der Oebhr ansznsetBen,
dasB er mit solchem Machwerk an den Unrechten kommt, da ihm
von allen Seiten genug gutes Material geboten wird.
Geht da z. B. einer in Batsebnrg auf der Stnuse und sieht im
Binnstein einen alten Briefumschlag mit zwei grossen rothen Siegeln
liegen. Das eine Siegel ist nicht mehr sonderlich, das andere aber
zeigt in starker völlig unversehrter Prägung in einem Wappenschild
einen Pferdekopf und trägt die Umschrift: „Kreis-Kommnnal-Kasse.
Batzeburg". Das ist zu brauchen. In schöner Fractur wird ein
Zeugniss hergestellt links oben: ^Kreisausschuss des Kreises Herzog-
thum Lauenburg J.-No. 6708 11^, dann folgt die Beurkundung , dass
der Inhaber dieses, Kaufmann N. N. vom 1. August 1899 bis heute im
diesseitigen Kreis-Kommunalkassen- Bureau diätarisch beschäftigt i^e-
wesen ist, besonders gewissenhaft und correkt gearbeitet hat, und ent-
lassen ist, weil die höheren Orts angeordneten Revisionsarbeiten be-
endet sind und die laufenden Hüreauarbeiten von den etatsmässig
angestellten Beamten weiterhin bewältigt werden, „Herr N. sei mit
diesem bestens emi>fohIen. Ausgefertigt Ratzehurg, den l. Juli 1900.
V. Hell mann, Kreisdeputirter"'. Der Nanu' ist zwischen Datum
und Titel mit blauer Tinte fiüclitii,'' hingeworfen und in der linken
Ecke unten prangt in starkem rothem Siegellack diis Amtssiegel, das
der Künstler aus dem Briefumschlag gelöst und nach sorgfältiger
Dftnnschabung der Papieruntcrlaircrun^' mit Tütenkleister unter den
neuen Sehein geklebt hat. Mit diesem Ausweis, der einen täuschend
echten Eindruck macht, hat er als stellensuchender Kaufmann andertr
halb Jahre bei Behörden und Privaten reichliche Unterstützungen
gefunden, die ihm auf seinen Endassungssdieui meh 21m(Hiatigem
Arbestshans schwerlich gegeben wfiren. Solche Zeugnisse werden
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178
XIII. äcHl TZB
selten bearguiibnt, da zu Siegellack ein Metallstenipel gehört, der
heutzutage tiberhauj)t selten ist und der schwerlich in der Kunden Hände
kommt, wenn er nicht gerade gestohlen ist. Ist das ursprüngliche
Papier unter dem Siegel sorgfältig weggeschabt und beim Aufkleben
sorgfältig verfahren, dass der Kleister die benachbarten Theile des
Scheins nicht kraus gezogen bat, was allerdings schwer za Termeiden
ist, dann bleibt zur Prüfung nur ein Mittel, n&mlich m dem Siegel-
land ein kleines Stück hemuiabnehen, da dann erentaell die alten
Papieneate oder der Elebeetoff achtbar werden *)
Weit beliebter sind, schon weil weniger umständlich nnd halt-
barer, die mit irgend einem Farbstoff hergestellten Abdrücke. Am
bequemsten ist es da natürlich, wenn es gelingt^ einen echten Stempel
za stehlen, ein üntemehmeo, das besondeis bei kleinen Polisetümtem
nnd noch mehr bei anderen kleineren Amtsstellen keine sonderlichen
Schwierigkeiten bietet Die Stempel liegen mmst soiglos frei auf dem
Tisch, an den die Leute herantreten, um ihr Gewerbe vornibringen,
sodass jede Wendung des Beamten, etwa nach einem Schrank, einem
Buch, dem mit hereingekommenen Helfershelfer des Kunden, diesem
reichliche Gelegenheit zu einem kühnen Griff bietet Oft mag sich's
auch treffen, dass überhaupt Niemand drin ist So erzählte mir kün>
lieh ein fahrender „ Kaulmann dass er vor Jahren in Durlach etwa
anderthalb Stunden allein auf der Polizostobe gesessen habe, in der
alle Stempel frei auf dem Tisch herumgelegen hätten, bis der Be-
amte gekommen sei und ihm die erbetene neue Quittnngskarte aus-
gestellt habe.
Das Schlimmste ist, dass in solchen Fällen der schuldige Beamte
sicher meist seine Unaufmerksamkeit und I^sigkeit lieber verdeckt,
indem er stillschweigends einen neuen Stem{)el machen lässt, als dass
er sofort Meldung macht, damit der alte in allen Blättern aufgerufen
und nach dem Dieb gefahndet wird. Obwolil mir wiederholt von
Kunden versichert ist, dass eine nicht unerhebliche Anzahl gestohlener
1) Anmerkung des Herausgebers: Sehr häufig wird bei der Befesti-
gung von I.acksiff^eln noch viel voraichtigor und sicherer vorgc{?angen. Dsis Siegel
ivird auä dem Papier herauagcschuicten und so lange in Walser gelegt, bis das
Papier enreidit ist und nun mit dem Finger voUstSndig und grfind&di abgwiebeii
Verden kann. Mittlerweile hat man etwas Siegelladc (von m^V^üdist ilmlldier
Farbe, wie das Siegel selbst) in Spiritus gel5st, mit welcher LSsaog da.s Siegel
rückwärts leicht bestrichen und dann mit Hülfe dieser i-neklosung auf dem falschen
Papiere befestigt wird. War die Farbe reclit älinlicli. und das Siegel rückwärts
völlig papierfrei, so klebt es gut und unkeoatlich auf dem „Docoment*.
H. Orosa.
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Die Technik des Stempelfälschen.
179
echter Stempel unter ihnen in Umlauf ist, habe ich noch nie von
einem solchen Aufruf gehört.
Vereinzelt finden sich auch von Kunden selber Ii ergestellte Me-
talbtempel ans Messing, Alnaiinium oder Blei, doch fehlt den meisten
die FBhigkeit zur Hevstdliuig dieser Werthgegenstände, da auch die
ührmaeher und Gold- und Silbenurbeiter, die man anf der Walze trifft,
meiat an frtth ana der Lehre gelaufen sind, als daas sie ea m «ma
nennenswerthen Kunst gebracht htttten, und die eigenfliohen GraTeure
sind dflnn gedtt. ~
Eine geradezu erschreckende Vertnreitnng dagegen hat die Her
Stellung Ton Schieferstempeln gewonnen, die einem in der Prazia in
giOBser Anzahl von den plumpsten Yeranehen bis aur feinsten Aus-
arbeitung begegnen. S<Auld daran dürfte neben der leichten Be-
handelbarkeit dea Stoffes besonders der Umstand aem, daaa dieaer
auch in Arbeitshäusern und Gefiingniasen jederzeit leicht zu haben
ist, da die meisten derartigen Gebäude mit Schiefer gedeckt sind,
Mindestens nach jedem Sturm finden sich Stückchen in den Spazier-
höfen, die begierig auslesen werden. In den Gefängnissen treibt
die Langeweile schon zur Verarbeitung und im Zucht- und Arbeits-
hans sagt sich der Mann, dass er mit seinem Entlassungsschein all-
überall unbequeme aufmerksame Beachtung, aber schwerlich Arbeit
und noch unwahrscheinlicher eine reiche Ernte beim Fechten finden
wird. Die noch immer weitverbreitete Gemeinschaftshaft, die in den
Arbeitshäusern sogar durcliweg besteht, äussert auch hier ihre schäd-
lichen Folprcn. Ich l)esitze eine vollständiiro Anweisung zur Herstellung
von Schiefer- und anderen Stemiieln in Form von Zettelcorrespondenz
zwischen zwei Iläiislingen, nebst deren fruchtbarem Ergebniss von fünf,
zum Theil vorzüglich gearl)eiteten, doppelseitigen Sehieferstenipeln.
Der früliere Kellner Adolf Mucker aus Berlin, der schon wieder-
holt wegen Steiiiitrlfälschung, Gebraucli falschen Namens und dergl.
bestraft war und sich auch sonst auf den verscliiedonston Gebieten
versucht hatte, so dass ihm auch das Zuclitliaus nicht mehr neu war,
wurde im April IS93 wegen Betteins und Landstreichi-ns in das
Giistrower Landarbeit^ihaus gescliafft. Am 30. September 1893 fand der
Aufseher in seinem Brodkasten ein kleines, leinenes Säckchen, das
einen mit einem Wappen versebenen Knopf, mehrere StQckchen Papier
mit Stempelzeiehnungen und ein StUck Oelpapier yon der Grösse
einea Briefbogens enthielt, sowie einen primitiTen Zirkel , der dadurch
hergestellt war, dass zwei Kägel, denen die Köpfe abgebrochen waren
4n ein zu zwd Schenkeln gebogenes Stttck Hollunderholz gesteckt
und darin mit Faden befestigt waren. Der Hann bekam seine Dis-
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180
XllL SCULTZK
di^ioantnile und wurde seitdem iiooli tadmeAsam^ beobeehte^ jedeoh
ohne Erfolg, bis ihn im Febraar 1894 ein Genosse vmetb. Bei aber-
maliger genauer DnrehsnohuDg seines Brodkastens fanden sich in einer
kleinen Dose nnter dem sorgfiUtig aufgesparten Sehnnpfiabak nenn
Yollstftndig fertige Schieferstempel und fönf hergeriehtete Schiefer-
ptetten nebst einem kleinen Bleistifl, femer förderte die körperliche
Dnrchsnchnng em spitzgeschabtes Stttck Knochen zn Tage und ein
HolsstSbchen, das wohl als Griff für die Grarimadel gedient hatte^
sowie ein Taschenmesser, das mit den fibrigen Sachen zwischen
Stoff und Unterfutter der Weste gesteckt hatte. Alle bisher entdeckten
Materialien will er auf dem Weg von und znr Arbeit aufgelesen haben,
das Messer habe er bei seiner Einliefening durchgeschmuggelt; da
et an zweites abgeliefert, habe man dies wohl nicht bei ihm ver-
muthet. Nachdem noch festgestellt war, dass er seine Kunst in den
Freistunden getrieben hatte, indem er eng an die grosse Säule gelehnt^
neben der sein Platz war, und scheinbar eifrig lesend in der linken,
auch das Buch haltenden Hand den Schiefer hielt, während die rechte
mit Grabstichel, Zirkel oder Messer arbeitete, wurde seine Nachhaft
um 3 Monate verlängert, die ihn wohl mehr geschmerzt haben als
die zehntägige gt riclitliche Haftätnife aus § 360 » StGB. Am 6. Oc-
tober 1894 wurde er entlassen, konnte jedoch wohl seine Falscher-
correspondenz und weitere fünf (lojtpelscitige Schieft'rstem])el nicht mit-
nehmen, die er in Zeitun^^spapier ^^ewickelt in einem kleinen Geäcbirr-
schuppen versteckt hatte. Die Schriftstücke lauten:
1) „Maukisch Dresden Schützenregiment. Berlin Dresden Teplitz
Karlsbad Prag den Kuusul briefl. wegen Kleidung und Aufenthalt
Wien Pest Ofen Insbruck Bozen Meran.**
2) „Freimaurer-Logen, Kellner .... steht Atteste für Kaufleute,
hrschl. Diener und Kellner besorgen m Böhmen sehr nothwendig.
In Oestreich sich als Ilanoveraner nicht Berliner ausgeben Zeugnisse".
3) „Berlin . . . schreiben Unterstützung kleine Druckerei? für
Kinder — 2 Hk. 2 Satz Lettern, Typen ( S ) VerfielfiUtigungs-Papier
Berlin, x Die Briefbogen passend fOr Hotel-Best. Einriehtnng . . •
schiek. lassen nnter der Adresse den HerbergsT. als Gastwirth be-
zeiehnen*^.
4) „X Hnster fOr Briefbögen mit GeschSflsköpfen für KanE nnd
Hotels. Heikendorf, Berlin S. W. 19 Eommandantenstr. 15. Stettin
Briefbogen von Dmekereien besorgen, Erankenhans-Atteste z. Op. nach
Dr.? Hamburg? Freibg. l B.*"
5) ,,Garl Fr. Nicoldi Lanbenheim a/B., Vater Herbrieh Wallstr«
letztes .... Krankenzengniss von 3.Noy. — 11. Hai. Die Karten
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Die Technik des StempelfälBchera.
181
und Briefe luiisst stets in den Eisenbafanpostwagen werfen da-
mit der Ort der Aufgabe nicht zu sehen ist".
6) „Brief Bezngnehm . . ermebe ich Sie mir Ma(Bter) für Brief-
bogen mit (Vordrnek) zur Eimriehtong meines GKesehäfts) z. (?)
B(e8teiiiantB) begn (?) Auswahl gefälligsf^ dazwischen nebenstehende
Figor (Doppelkreis mit 34 Theilstrichen und drei dnrchgezogenen
Diametem)^ unter der die Zahl „34*^ steht
7) ;9Bei Adresse nur das Hans der Heibeige z. H. angeben z. B.
Kaufmann Mft Beriin, Kl^penstr. 10. 2 Satz Typm rnchen hin ffir
den Zweck. Wappen Schiefer*' dazwischen folgende Figuren:
8) ^Erst mal wegen der Typen und Lettern mich in der Buch-
druck . . erkundigen und dann auf der Druckerei für Kinder nicht
nu lir als 2 Mark an(wend en da Type billiger sind (Buchdrucker-
zeitungj*" dazwischen folgende ^^gur:
Der Stempel trägt ebenso wie eine zweite, der unter 6 mitgetheilten
gleichende, Figur ein unleserliches Wort im Mittelstück. Dieser zweiten
Figur zur Seite stehen die Worte „Alles Grossschrift. Pl(atten) z(um)
St(empeln). Verschiedene Typen. Grossen Anfangsbuehstab . . /
0) „Schieferplatten so dünn wie möglich suchen. ImScbweiss-
leder des Hots einnähen blaue und schwarze Farbe. Zeugniss t. 1886
InUv Hr griwhwlMrtfctciokilfc XIL 18
182
XIII. ScbCtsb
1. Octolier bis 1. Alltrust 18S8 Cafö zur Oper I'criin u. „d. Linden
Coucurä oder aufgelöbt Geschäftsführer für Z Unterächrift
eammenhaltea aoznlöthen.
11) „Zwei runde Hinge von lilech beim Klciuimer lötlicn lassen,
80 das die Typen passen und eingelegt werden können und auf einer
Seite zngeUHhefc 1 gross und 1 kleiner^.
Dazwischen folgende Figur:
_L
12) „Kreise ich will sehen wie es mh. in der GrOsse macht,
welche die Kreise haben".
13) »Die beiden Adler in die bdden Kreise, welche ich g;exeichnet
und fiberechrieben habe und wenn du noch mehr Stadtwappen kennst,
«0 zeichne dieselben in die anderen Kreise"^.
14) 15) usw. sind Zettel mit Kreisen, in die die richtigen oder
vermeintlichen Wappen von Magdeburg, Gollnnw, Stettin, Grünberg,
ßernburg gezeichnet sind, auch sind mehrere Zeichnungen da, die die
Unterschiede zwischen demßeielis-, dem prenssischen und dem Lübecker
Ailier erklären sollen, sowie der .Meeklenbur^'cr Büffelskopf in der
längliciien vom Landurbeitshaus - Sie^^el entnommenen Form. Eine
Keihe von Wappen sind auf Oelpapier.
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Die Technik des StempetfSlseben.
188
Endlich findet sicli noch ein aus ir^^end i'ineni Journal i;eris.sener
Zettel mit einem Rezept zu Oelfarbe für Mctall^tenipel, das schliesst:
„Kautschukstempel würden bei Venvendung der Oelfarbe in kürzester
Zeit vollständig unbrauchbar werden
Die schmutzigen Zettel sind z. Tb. äusserst schwer zu entziffern,
da de Jahrelang stark zerknittert m dem früher gefundenen Lein^
afickehen «ifbewalurt sind, und auf demselben Stttck oft die Antwort
Uber die Anfinge gesetzt ist, dabei aoeb die Schriftsflge nur flflobtig
mit Bleistift hingeworfen sind. Unmöglich war es mir, die beiden
einander sehr fthnebiden Handsehriften von einander za trennen, ao dass
ioh mieh, snmal aaoh manche StUeke fehlen, mit der obigen Wiedergabe
begnüge musete. Derlnhaltzdgtdeatlich,wie gründlich nndgewandtdie
beiden Snbjecte, von denen Mäcker offenbar die technische Ausführung,
der andere die geistige Leitung ttbemahm, auf Grund der ausgetauschten
KenntniBse zukünftige Thaten Torzubereiten wussten. Zettel 1) enthält die
SU empfehlende Reise mit einem Wink, wie der deutsche Konsul in Pra^
zu benutzen sei, die übrigen besprechen mit eingestreuten guten Rath-
schlägen die Ausrüstung mit falschen Papieren und die eigentlich tech-
nische Frage der Herstellung falscher Stempel. Ueberall tritt uns das alte
Verfaliren entgegen, das mit Vorliebe Hriefbiigm mit Vordrucken ver-
wendet. Zur Herstellung etwa nicht zu l>cs( liaffender soll die Kinder-
druckerei scheinbar auch mit verwindet werden. Ferner wird das für
Stempel aus Anilinfarben wichtige Hektographenpapier in 3j erwähnt,
das unten noch näher zu besprechen ist, das Wichtigste jedoch sind die
Zeichnungen, die ms auf s Anschaulichste zeigen, wie der FKlsoher auf
die möglichst dflnn gewählten Sehieferplatten, die er in 3) und 9) ver-
langt, die ihm von seinem Knmpan mitgetheilten Inschriften und
Wa^wn arbeitet. FOr Schieferstempel kommen dabei jedoch nnr
die Figuren Yon 6) 7) nnd 8) in Betracht, die kemer Erttnterang be-
diliieo. Diese Arbeit wird mit dem oben beschriebenen Zirkel, zwei
durch einen Faden Terbnndenen Nähnadehi, ja im Nothftül mit den
entsprechend gebogenen Zinken der Hosensohnalle hergestellt Das Be-
denklichste sind die Mittbcilnngen in 10) nnd für deren Aus-
führung auch die Kinderdruckerei mit Typoi und zwei Sätzen Lettern
hauptsächlich bestimmt ist. Danach sollen zwei Blechstreifen ^wa
von der Rrcit«- dt'r Tj^-ttcnililnge kreisrund so zusamraengelötliet werden,
dass der eine um die doppelte Letterndicke weniger Durchmesser hat
als der andere. Von diesen beiden K'ändern wird dann der kleinere
in den grösseren hineingestellt, und damit beide Zusammenhang be-
kommen, werden auf der einen Seite zwei Blechstreifen kreuzweise
darauf gelöth et. Zwischen diese liänder werden die für die jeweds ge-
184
XIII. ScBönx
wünschte Umschrift nüthi^,'t'n lottern gesteckt, in den mittleren Ilohl-
rauin werden ein paar Pappringe gelegt, und in deren Oeffuung die
Type oder in deren Ermangelung vielleicht auch eine Münze mit ent-
spreohendem Wappen, Adlei od. dergl. gedrückt. Damit ist leicht
und bfllig der BfÄQnste Metallstempel fertig, der bei Verhaftiiiig oder
sonstiger Gefahr ruhig weggeworfen werden kann, da er sieh jedeizeit
wieder beschaffen ttssti und der vor jedem echten Stempd den nn-
schSlzbaren Voizng besitsl^ dass er beliebig yeifindeiliob ist. Da die
Letten ja nicht ihre nnprüngUche Lfinge za behalten brancheni sondern
ihr Stiel ohne Gefahr für ihre Verwendbarkeit bis auf wenige Milli-
meter abgesSgt werden kann« ist dies leichte^ flache^ vielfach zerleg-
bare Werkzeug ganz besonders gut zu verbergen und fiberall mitzu-
ffibren. Die ungeheure Gefährlichkeit dieser Hülfsmittel bedarf
wohl selbst für den Gleicbgültigsten und Nachlässigsten keines Hin-
weises.
Wesentlich bctiucnier und daher äusserst beliebt ist das Abziehen
der Anilinstempel und aller Farben, die mit (ilyeerin angemacht sind.
Diese Farben werden für die Kautschukstempel benutzt, die die alten
Oelfarben nicht vertragen können, und deren Einführung erat die
heutige Ueberflut von Falsifikaten in die Welt gebracht hat.
Allgemein bekannt ist wohl, dass mit der frischen Schnitt-
fläche einer rohen Kartoffel oder eines Apfels ganz gute klare Ab-
züge von frischen Stempeln zu haben sind, doch ist dies Verfahren
meist dann kenntlich, dass auf beiden Papieren ein Saftmnd anrllck-
bleibt, der deutlich die Form der verwendeten Frucht seigt
Hftnfiger mmmt deshalb der er&hrene Mann, wenn er nicht, wie die
allerdings anch nicht selten verkomm^ so frech oder gleichgflltig ist, dass
er einfisch den mit Schnaps befenohteten echten Stempel auf das nene
Papier abdrückt^ seine Znflncht schon znm Ei, das er mit der schmalen
Spitze nach nnten mindestens eine Viertelstande in kochendes Wasser
hängt Dann befeuchtet er den echten Stempel, besonders wenn er
schon ilt» ist, auf der Rückseite so lange mit Schnape, bis er feucht
schimmern wird, rollt das Ei, besonders wenn es sich um einen läng-
lichen Stempeln handelt, darüber und drückt damit den abgezogenen
Stempel auf das zu beschcinifrende Zeugniss. Da sich hierbei jedoch
leicht die Linien vt'iv.iehen. schneidet man lieber die breite Sj)itze des
Eies mit einem schmalen scharfen Messer glatt ab, um so eine flache
Dnickfläche zu erh.alten. Da der schwere Dotter beim Kochen in die
seliinale Spitze gesunken ist, kann man dabei nach und nach sehr
tief gehen und durch eine grosse Anzahl von Schnitten dasselbe Ei
vielfach verwenden. Grösse des Stempels ist ausserdem kein üiiider-
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Die Technik des StenpeUilschen.
185
niss, da ja anch Enten- und Gänseeier zu haben sind. Das Bild wird
klar und scbarf. zumal wenn nmn auch das Ei leicht mit Schnaps
oder Benzin bestrichen hat, und die Fäisciuin;^'- ist nur daran zuweilen
zu erkennen, dass zu stark jredrückt, oder das Ei schief gerollt ist,
80 dass die Linien ausbuchten, oder dass der Sclinitt nicht glatt war
und seine Unebenheiten im Abdruck zu Ta^re treten.
Alle diese Fiiiirlichkeiten vermeidet der dufte Kunde durch An-
wendung des Ilektographenpapiers, das in jeder grösseren Papier-
handlung käuflich ist und fast nirgends Verdacht erweckt. Wenigstens
muss ich ehrlich bekennen, dass ich mich in den ganzen ersten Mo-
ntton memer bioigen Tbttigkdt ab Amtaiwalt oft gewimdflrt babe,
was die Leute vielfiieh fOr merkwflrdigeB j^Hamlraiger Pflaster^ bei sieb
bitten, bis mir endlicb die Augen aufgingen. Von diesem Papier
schadet man ein Stfiek ab und bedeckt damit, nachdem man es an-
gdianebt bal^ den nöthigen&lls auf der RUekseite etwas bescbnapsten
Stempel, legt das Ganse in ein Bnob und setzt sieb ein paar ICinnten
darauf, dann legt man das I>mckpiq)ier anf den neuen Schein, besitzt
auch diesen ein paar Minuten, und ein tadelloser Absug ist fei-tig.
Auf diese Art lanen sich von einem Stück eine ganze Anzahl Ab-
züge machen, von einem frischen fetten Stempel z. B. acht und mehr.
Sind sie sorgfältig gemacht, so sind sie überhaupt nicht von echten
zu unterschoidon , nur sind sie meist etwas matt Hat man aber das
Hektographenpapier zu lange darauf liegen lassen, so werden die Um-
risse weich und verschwommen, war es schon .schmutzig, so zeichnen
sich die Ränder ab, ebenso, wenn der benutzte Schein schmutzig war.
Besonders häufig aber findet man die Spuren an dem Stempel, von
dt III d»T Abzug genommen ist, da die meisten die Dummheit begeben,
diesen auf der rechten Seite anzufeuchten, dann zeichnet sich fast
stets das meist viereckig geschnittene Stück Druckpapier auf diesem
Sebein ab. —
Jedoeb nicbt nur die Farbstempd weiss des Eunden findiger
Geist auszunutzen, aucb die scbeinbar ganz barmlosen gepressten Pa-
pientempel, mit denen die Amtsbriefe yerklebt werden, müssen ibm
herbalten. Eine solebe Versoblnssmarke wird sorgfiUtig abgeKtet, mit
Leinöl, Scbmalz, einem Stilek Scbweinefleiseb leicbt angefettet unter
ein Stfiek dicke Pappe gelegt, aus der ein rundes Stück yon der
Grösse des Stempels berausgesebnitten ist, und dann wird Walzenmasse
der Buchdruckermaschinen, die, wenn ich recht berichtet bin, aus Leim
und Synip besteht, die man in jeder Druckerei als Abfall kaufen und
in einem Blechlöffel leicht sciimelzen kann, bineungegossen. Diese
Masse, die zum Andrücken des Papiers an die Typen benutzt wird,
186
XUL ScH€ne
drin^ in die feinsten Vertiefunj^en ein, und der so erzielte Stempel
ist daher von ausserordentlicher Schärfe; er ist femer sehr haltbar,
besonders wenn auf eineii Enldffel Hasse etwa ebie Messenpitee f ehmter
Zementgips yeirflhit ist Dasselbe Verfohien wird anoh mit Gutta-
pereha geübt, das duch Emtauehen in heisses Wasser nnd Kneten
derart erweicht wird, dass es sich zu solchen Abdrttoken feinster Art
ebenfalls voizilglich eignet Ja» es bietet noch den Voithdl, dass es
nach Erkalten sehr hart wird, so dass es frei in der Tssohe getragen
werden kann, ohne Gefslir der BesohSdignng oder Formverfindernng.
Zu diesem Verfahren sind gutgeprSgte fehlerlose Siegellaeksiegel
als Vorlagen natfiriich gleichfalls ^^cei^et, und mit den Guttapcrchar
stempeln kann man besonders schöne Lacksiegel hersteilen, auf denen
alle Formen richtig erscheinen, während bei der Verwendung von
Farbe Höhen und Tiefen, d. h. gefärbte und farbfreie Theile auf dem
Abdruck natürlich verkehrt vertheilt sind. Da dies jedoch hei allen
Metallstenipeln, die eigentlich für Siegellack bestimmt sind, erfahrungs-
geuiüss aber vielfach auch mit dem Farbkissen benutzt werden, auch
der Fall ist, so ist das kein ausschlaggebender Nachtheil.
Trotzdem hat der Kunde auch diesen Umstand zu würdigen ge-
wusst. Wenn er irgend kann, trägt er deswegen, wenn er ein Amts-
zimmer betritt, ein Stück Formwacbs, geknetete Brotkrume od. dergl.
bei sich, in das er in einem unbewachten Augenblick den Kautschuk-
oder Metallstempel hineindrückt Wird er dabei bemerkt, so hat er
immer noch niciite Steafbares begangen md kann höchstens hinaus-
geworfen werden, geht die Sache aber gut, so hat er eine Matiiie^
ans der er sich mit Gnttapersha oder Bucfadmckermasse die schdnsten
Stempel abformen kann, deren Abdmok nnn alles richtig giebt
Hat er etwas mehr Zeit nnd kann nngenirtcr ari>eiten, so legt
er ttber das Petschaft ein gewöhnliches St&ck Schreibpapier, falls er
keinen Formstoff bei sich hat, und klopft ein paar Mal mit einer
Bürste daianf, dann hat er ebotifslls eine vorzügliche Matrize, die sich
allerdings nur für Buchdruckermaase verwenden lässt; das Stück wird
nämlich mit grossem Band rund ansgeschnitten, der Band, nachdem
er mit einer Reihe von Einschnitten versehen ist, rundum aufgebogen
und der besseren Haltbarkeit wegen mit einem Papierstreifen umklebt,
so dass eine regelrechte Form zum Einguss der Masse entsteht Für
Guttapercha bietet diese jedoch nicht genug Widerstand.
Am kostbarsten ist für diese FäMe der Besitz eines Stückes As-
bestpapicr, da man in dieses sogar Letternmetall giessen, also Metall-
Stempel damit herstellen kann.
Aeusserst beliebt endlich ist die Verwendung von Copirtinte. Ein
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Die Tecbnik des StempeUälschen.
187
echter Stempel wird am Fenster, mit Oelpupier oder dem Blaubogen
durchgezeichnet, mi ersten Fall nach der Rückseite, in den letzteren
beiden wird die Schrift nachträglich • in Spiegelsohiift umgeaelEt, dann
wird allee mil Oopirtinte nachgezogen nnd das Absieben kann be>
ginnen. Da diese Art der Herstellung aber leicht eme gewisse Steif-
heit und Ünaieherheit der linien mit sieh bringt, die TerrStherisob
werden kann, entwirft der geschickte Zeiehner lieber den ganzen
Stempel frei mit Oopirtinte oder zeichnet ihn gar sofort mit Tinte
oder itebe auf das zu stempelnde Zeugniss. Ich habe z. B. eine an-
gebliche Bescheinigung der Kaiserlich deutschen Gesandtschaft zu Wien
in Händen, die mit Wappen, Vordruck und Stempel den denkbar
echtesten Eindruck macht, und doch ist alles von einem verlaufenen
Conditorgehülfen frei mit der Feder gezeichnet. Die Fälschung ist
80 täuschend, dass man nur mit einer guten Lupe und fcrosscr Auf-
merksamkeit entdeckt, dass es sich um Federzeichnung statt um Stein-
druck und Stempelung handelt.
Und wo lernt der Kunde alle diese zum Tlieil künstlerischen
Fertigkeiten, wo sammelt er die nüthige Belelirung und Erfahrung?
Auf der Fenne, in der verwerflichen geuunnsainen Haft, besonders
wenn sie noch gar ohne Arbeit ist, und vor Allem im Arbeitshaus.
Besonders die letztere Erfahrung habe ich bei einer grossen Anzahl
von Fälschern gemacht. Zumal die Arbeitshäuser mit Druckereicod
sind wahre BnitetStten fOr diesen alle Strafireohtspflege untergrabenden
Gewerbebetrieb. Sdbst bei guter Aufsicht ist es nnvermeidlicb) dass
der als Giesser oder Stecher, ja auch der nur als Dmcker bescfaSfiigte
yHlnsling" nicbt Kenntnisse erwirbt^ die er in der IVmheit zum Bdsen
verwendet Als Dmcker bes<diSfiigt diese Leute bei ihrer Vergangen-
heit und bei dem stets bedeut^iden Angebot einwandsfreier Arbeits-
krSfte hinterher doch kein Mensch, er ist also durch die Beschäftigung
in der Nachhaft nicht wirthschaftlich tüchtiger, sondern höchstens zu
der sich ihm meist nur bietenden körperlich schweren Arbeit unlustiger
geworden, er hat ausserdem jetzt einen Wog kennen gelernt, auf dem
er guten Verdienst findet auch ohne Arbeit und meist auch ohne jedes
Risiko, da alle Betheiligten das lebhafteste Interesse daran haben, ihn
und seine Thätigkeit sich zu crli alten — er wird gewerbsmässiger
Stenipelfälscher, und das Ariicitsliaus liat ihn dazu erzogen.
So bei guter AuCsiclit. Icli liahf ai)tT ( irund anzunehmen, dass
es auch Arbeitsliäuf^er mit Druikereii'U giei)t, deren Aufsichtsführung
man mit dem ^\'orte ..liederlich'" nicht zu hart bezeichnet.
Mir waren iiäniluli vielfach l^apiere in die Hände gekommen,
die trotz tadellos echten Eindrucks nachweisbar falsch waren, und
188 XUL Schütze
Ewar wiederholte sich auf mehreren denelhen der Stempel des Poli>
seiamts Pldn, das auf Befragen erklirte, dass sehon häufiger wogen
dieses falschen Stempels dort angefragt sei, zuerst vor etwa sehn bis
zwölf Jahren, doch war die Qnelle niemals festzustellen. Endlich fiel
es mir auf, dass .die Leute mit so vorzüglich gefälschten Papieren
meist kürzlich ans einem und demselben Arbeitsbanse gekommen
waren, und nach monatelangem Mühen gelang es, durch vielstUndige
Verhöre einen Menschen so in die Enge zu treiben, dass er das hart-
näckigst gehütete Geheimniss verrieth. Die Fabrik war ein preussischea
Arbeitshaus mit Druckerei. Nachdem die Spur oinmal ^'efunden, er-
gab sich dann bald eine Menge von einander uiiabhüngigen Materials,
das sowohl den staunenswerthen Umfang, als auch das bedeutende
Alter dieser Misswirthschaft bewies.
Die Drucker dieses Arbeitshauses hatten danach seit Jahren viele
Hunderte von Vordrucken für liriefbögen, Quittungskarten der Alters-
nnd Invaliditäteversipbernng und Legitimationspapieren aller Art für sich
gedrackt, die sie samTheil erst eigens hatten Betzen mttssen. Femerhatten
sie die Typen wie Adler, Wappenn. dgL, die zum Bedraoken der Firmen-
Briefbogen, TUten, Rechnungen n. s. w. dienten, bennlzl^ um sich damit
nadi EmfOgung anderer Lettern in den ümBchriftsiaad falsche Stempel
zu drucken, die auf weisse oder mit entsprechendem Vordruck Ter-
sehene Bögen gesetzt, massenhaft als Bhmkets verhandelt wurden,
wenn nicht die so* beigestellten Stempel selber einfach gestohlen und
mitgenommen wurden. Endlich ist auch die Giesserei benutzt, um
zusammenhSagende Metallstempel — etwa von Thalergröaae — zu
giessen. Das alles sind nicht etwa nur Verdachtsmomente, sondern
Thatsacben, die ich durch die in meine Hände gerathenen Stempel
und Fälschungen beweisen kann, denen allerdings durch die überein-
stimmenden Geständnisse von Leuten, die nichts von einander ahnen
konnten, noch mehr Halt und Zusammenhang gegeben wird. Das
Ausschmugeln muss nicht besonders schwer gewesen sein. Am schwie-
rigsten hatte siclrs noch ein Gärtner gemacht, der sein Packet Fäl-
schungen unter einer auch von der I^andstrasse erreiclibaren Brücke
versteckt und es von d(»rt siiäter geiiolt hat, die meisten Anderen
haben sich dieSacben scheinbar, nachdem sie bei der Entlassung ihr eigen
Zeug anbekommen; von den abschiednehmenden Genossen zustecken
lassen. Auch mOgen noch andere Wegß offen gestanden haben, soll doch
ein Kaufmann £. aus Bestock, der dort saas, für einen Bekannten in der
Stadt unbemerkt einen Photographenkasten gebaut und ihm den zu-
gestellt haben. Da diese Dinge meiner Ansicht nach gemeingeffihrlicb
sind, mir auch sonst geradezu haarsträubende^ allem AuBchein nach
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Die Technik des StempelOiBcheni
189
wahre und jedenfalls leicht zu prüfende Vorkonnunisse aus dieser
Anstalt niitgetheilt sind, habe ich vor vielen Monaten die jranze Ge-
schichte mit allen nicht wegzulcuf^nenden Beweismitteln eingepackt
und an den zuständigen Herrn Oberpräsidenten geschickt, um gewiss
vor die rechte Schmiede zn kommen, habe aber bisher weder eine
Empfongsbescheinigung, noch überhaupt eine Antwort oder wenigstens
die Acten znrttdLbekommen.
Fragen wir nns znm Schlnss, ob und wie diesem Krebsschaden
abzuhelfen ist, der nicht nur dem gewerhsmSssigen Verbrecher im
engeren Sinne eine bedeutende Stütze bietet^ sondern anch dem nach
Hnnderttausenden zählenden Bettler- und Landstreichertfaum, das dem
Deutschen Reich allein, vom sittlichen Schaden ganz abgesehen,
jahrlich nach den verschiedenen Schätzungen zwischen 36 nnd 200
Millionen Mark kostet, überhaupt erst seine Existenz recht eigentlich
ermöglicht, so ist die Antwort eine verhältnissmässig einfache: Man
beseitige einlieitlich alle l)isher irebräuchlichen Steinpelarten , die sich
im Obigen erwähnt finden und führe ausschliesslich die doppelseitijren
Schlagstempel ein, die ohne P'arbe und Siegellack dem Papier ein-
jjepresst werden, und mit denen wir heute fast nur noch unsere Acten-
böj;en stenii)eln'). Deren Nachahmung ist nur dem eigentlichen Graveur
m<»glich und verliert völlig ilire Gefährlichkeit, da solch Stempel wegen
seiner Schwere und Grösse niemals hinreichend versteckt getragen
werden kann. Dieser Vorschlag dürfte vor dem von Gross a. a. U.
gemachten den Vorzug haben, dass dabei GrSsse und Inhalt des
Stempels beliebig gewihlt werden kann, ohne seine Sicherheit gegen-
fiber Nachahmungen zn g^hrden, wie dies bei allen Farben- und
Laekstempeln der Esll sein wttrde, und dass hier alhnfthlicfae Ein-
führung, erfahrungsgemftss das höchste, was man erhoffen kann, auch
schon erheblichen Nutzen brBchte. Heute steckt der Stromer s^en
fslschen Stempel in ein StBck Brod oder Wurst, das ihm auch bei
Festnahme meist belassen wird, trägt ihn im abschraubbaren hohlen
Holzhacken oder Stockknopf, im Sti^elschaft, in den Zeugnähten, im
Shlips, im Mund, im After, in den pomadisirten Haaren oder mit
Tuch übemäht als Rockknopf, im Hutleder und an ähnlichen möglichen
und unmöglichen Orten — das alles fällt fort, sobald von einem be*
stimmten Tage an allgemein der Schlagstempel eingeführt wird. Und
wenn das bei der bekannten Gleichgültigkeit und Schwerfälligkeit
des Gesammtorganisnuis vorläufig nicht zu erreichen ist, so sollte
wenigstens jede einzelne emsichtige ßehörde, die nicht wünscht, dass
1) Vgl. Uaus (iruss, üandbuch f. Lutei-äudiungsiicliter. ü. Aufl. Ö. 7üU.
190
Xm. äcuüT2£, Die Technik dos Stempelfälacbero.
ihr Beglaubigungszeichen beliebig gemissbianoht wird, äoh zu dieser
Aendenmg entsehlieaseii, wie es kflrzUch z. B. schon der Bostoeker
Bath gethan hat liesse sieh daan noch gar die Uebnng einfuhren,
das8 die Stempd stets unmittelbar links unter die zn b^glanbigende
S(^rift gesetzt werden, so wflrde diese Nenansohaffang dnfdi fast
ToUstindige Beseitigung des StempelftlsehertbumB und seiner Folge-
erscheinangen sich bald als Ersparniss nngebeurer Sommen herausstellen.
Daneben muss natürlich doch jeder einzelne Beamte streng seine
Pflicht thun und jeden ihm vorg:ele^'te Pajjier nicht nur technisch,
soDdern auch diplomatiflch prüfen, d. b. sich vor Allem darüber klar
werden, ob der Mann nach seinen übrigen Verhältnissen im Besitz
solcher Papiere sein kann. Vielfach wird jrerade hierin der erj^te An-
halt zu finden sein, da die meisten falschen Zeu«rnis?^e jrleich über das
Ziel hinausBchiessen und den Inhaber zu gut machen. Ein verstünd-
nissvolles Lesen der Vorstrafeiiiiste kann hier, wenn man sieh danach
den Lebensgang und den Charakter des Beschuldigten i)raktiseh vor-
stellt und veranschaulicht, oft vorzügliche Dienste leisten. Ferner ist
schärfste Aufsicht über die Herbergen zu fordern, auf denen sich
heutzutage oft wochenlang der gewerbsmässige Flebbenmacher aufhält
Tbut die Polizei hier ihre Pflicht und verlangt spätestens am dritten
Tag genauen Ausweis Uber den Erwerb seines Lebensunterhalts, so
kann er nirgends recht warm werden und keine ausgebreitete Kund-
s<^aft erwerben.
Aufs Allerentschiedenste endlich aber ist die Beseitigung der
Druckereien m den Arbeitshäusern zn veilaagen. An Ersatz fOr diese
Beschiftigung ist kein Mangel Schon Bodelschwingh hat ein-
gehend dargelegl^ dass sich flberall Landwirthschalt treiben lasse, und
dass es bei dem heutigen Arheitermangel auf dem Iimde dringend
geboten sei, diesem Berufe neue Kräfte zuzuführen. Verlfisst der
Hänsling die Anstalt als tüchtiger Landarbeiter, so kann er ausserdem
überall sein Brot finden und braucht nicht für Lebaiszeit das Prole-
tariat der Landstrasse und der Grossstadt zu vermehren. Jedenfalls
wäre es dann aber ausgeschlossen, dass, wie mir kürzlich ein Fall
l»ekannt geworden, ein Mensch mit einem ganzen Verlag von melireren
hundert Fal^^iflcaten die Anstalt verlässt, um von deren Verhamleln
ein faules Leben zu fristen und dann abermals in ein Arbeitshaus mit
Druckerei zu gehen.
Endlieli sei mir noch die Bemerkung gestattet, daas alle obigen
Ausführungen auf praktischen fjfahrungen beruhen, und dass ich
keine Art der Fälschung erwähnt habe, von der ich nicht reale Be-
stätigung in Händen habe.
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XIV.
Zar Frage der Yorantersocliang.
Ym
Hans Otom.
Die Intcrnationalo kriminalistische Vereini^'un^' hat sich soeben
(5. Juni llto3 in Dresikn) 7Aim dritten Mal (zuerst in Bremen, dann
in Petersburg) mit der Frage der Beseitigung der Voruntersueliung
befasst, und es darf nach den Ergebnissen dieser dreimaligen \'er-
handlung angenommen werden, dass die Aufhebung der NOrunter-
suchung in ihrer heutigen GestaU einen Programmpunkt der 1. K, V.
darstellen wird. Als einem der treuesten Anhiinger dieser Vereinigung
steht es mir allerdings nicht zu, als Gegner eines solchen Programui-
punktes aufzutreten — aber einerseitä muss mein „Archiv'* in einer
seinen Arbeiten so überaus wichtigen Sache offen Stellang nehmen
und andeieneitB handelt es mcb mir hier znmeist daram, die so ttber-
ans wichtige iYage Tom sy mptomatologisohen Standpunkt ans
ansnsehen. —
Das erste signifieante Moment, welches in den drei Verband-
Inngen zu Tage trat^ war die allseito empfondene Uebenengnng, dass
man in der Frage des Vorreifohrens unbedingt eine Aendemng wünsche;
das zweite: dass man, nicht blos bei den beiden ersten Verband-
hingen, sondern anch bei der dritten in Dresden von mehreren Seiten
mndweg erUSrte: ,|die Sache sei noch immer nicht genügend Yor-
bereitet, um zn emem endgültigen Besoltate^ einer Abstimmung gdangen
sn können"^.
Fassen wir diese beiden symptomatischen Momente zusammen,
so ergeben si«', dass man einerseits mit den gegenwärtigen, diesfälligen
Zuständen durchaus unzufrieden ist und andererseits, dass man, zum
iiiinilesten im Unterbewustseiu empfinde: die Frage sei nicht am
richtigen Ende angepackt worden.
Das Erste wird kaum bestritten werden, es ist nur eine andere
Formuliruug der festgestellten Thatsiiche — aber auch das zweite lässt
192
XIV. Gboss
nch darthniii es handelt sidi vm eine oft genug beobachtete nnd nnter-
Bnchte p^chologische Enefaemimg. Es kann doch kanm bezweifelt
werden, den jeder erwachsene Kriminalist sich ISngst fiber die IVage
der Yoruntersuchung seine Gedanken gemacht hat: nicht dass er zu
einer abschliessenden Ansicht darOber gekommen sein nniss, wohl
aber, dasB er sich die Frage soweit znrecht gelegt hat, als er dies
zu thun yermag; er braucht daher nicht weiter vorbereitet zu werden
und die Vorbereitung der Sache besteht darin, dass Referate von
Berufenen erstattet werden; das Letztere ist geschehen und wenn
dann der Huf laut wird, es mangle an nöthiger Vorbereitung und
wenn dies nicht blos einmal sondern zum dritten Male geschieht, so
kann dies nicht in der Sache liegen, sondern es muss ein
Symptom darstellen. Fragen wir aber, auf was beide Symptome,
das der zweifellosen Unzufriedenheit mit den bestehenden Formen,
und das der Empfindung luani^elhafter Vorbereitung, gedeutet werden
können, so finden wir die Antwort in vielfachen ganz ähnlichen Er-
scheinungen: in der Sache selbst liegt gewiss ein wichtiger
nnd grosser Fehler, aber der betretene Weg ist nicht der
richtige um die ersehnte Abhülfe zu finden. Auf unsere
Sache angewendet: whr Alle empfinden ganz richtig, daas die heutige
Form der Vomntenuchung ihren Zwecken durchaus nicht entsprich^
es muss geSndert werden, aber der yorgeechlagene Weg, die Vor-
untersuchung zu beseitigen, ist doch nicht der richtiga
Sehen wir den bis jetzt eingehaltenen Vorgang näher an, so
müssen wir zur Ueberzeugung gelangen, dass wir ans auf einem nicht
unbedenklichen W^^ befuiden — denn nichts ist gefährlicher
als Verbesserung am unrichtigen Orte. Angestrebt wird Ver-
besserung der Zustände durch Aenderung der diesfälligen gesetzlichen
Bestimmungen, also legislatorisches Eingreifen. Nehmen wir an, dass
das erstrebte Ziel erreicht und eine gesetzliche Aenderung im ver-
langten Sinne erreicht wird, so haben wir dann ein neues Gesetz,
Welches, will man nicht geradezu Kechtsunsicherheit erzeugen, doch
auf altsehbare Zeit Gültigkeit behalten muss — ein Gesetz zu er-
zwingen, dessen Grundlagen aber immer und immer wieder als „nicht
genügend vorbereitet" bezeichnet wurden, das wäre bedenklicher Ge-
winn — ich wiederhole: der Auspruch „die Sache ist nicht genügend
Toibereitet'^ war nur der Ausdruck für die im UnteibewustBein
aufgetretene Empfindung: „wir sind nicht auf dem richtigen
Wege^
Sehen wir uns aber den Weg an, den man dennalen einzu-
schlagen trachtet, so will es vor Allem bedttnken, als ob man nicht
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Zar Frage der Yomnterrachtiiig.
193
hinlänglich erwo^^en hätte, ob und wie die gemachten Vorschläge in
Wirklichkeit durchgeführt werden könnten, als ob man über theo-
retischen Erwägungen die praktische Verwendbarkeit vergessen hätte;
hiennit soll sicher nicht dem theoretischen Kriminalisten ein Vorwurf
gemacht werden: auch dem erprobten und geechnlten Praktiker kann
eine theoretiBohe Aneehannng Uberweithig werden, wenn er nieht
Punkt für Punkt Toigelit und die Durohffihrfaftrkeit eines Gedankens
IBr alle erdenklichen HOgliohkeiten kühl und kritiseb durchprobt
Wie Ideht dann eine Institution selbst fftr ihre Erfolge rer-
antwortlioh gemacht wird, die nicht in ihr, sondern in der
Sache gelegen sind, das hat gerade in den letzten Tagen wieder der
Umstand gezeigt, dass man das Eröffnungserkenntniss für die sozu-
sagen infamiite Stellung des Angeklagten bei der Hauptverhandlung ver-
antwortlich macht; in Oesterreich giebt es keinen Eröffnungsbeschluss:
wenn die Anklage überreicht ist^ und der Angeklagte keinen Einsprach
dagegen erhebt, so wird die Hauptverhandlung angeordnet, und es
hat noch Niemand wahrgenommen, dass der Angeklagte in Oesterreich
deshalb, weil kein Eröffnungsverfahrcn vorausgegangen ist, eine bessere
Stellung geniesst als in Deutschland. Diese Situation des Angeklagten
liegt eben nicht im Verfahren, sondern in der Natur der Sache, und
kein Verfahren der Welt wäre im Stande, hieran etwas zu ändern.
Die Anklage ist eben nicht „eine Ilypothese'*, wie neuerlich behauptet
wurde, sondern lediglich das qualifizirte Aussprechen eines dringenden
Verdachtes, mit dem Verlangen um Gelegenheit, diesen Verdacht in
prooessual yorgesebriebener Weise als richtig bewasen zu können.
So Umge es aber ein Straf rerfiüuen in, dem heutigen nur annlhemd
ShuUchen Formen geben wird, so lange wurd es eine Anklage oder
etwas der Anklage Aehnliches geben müssen; jedes dieser Anklage
ihnfiche Gebilde wird dem Wesen nach etwas sein, wie ein qualifizirt
ausgesprochener Verdacht, und mit diesem untrennbar wird immer
eine den Betreffenden schidigende, ihn herabziehende Situation sein
mfissen. Ebenso wie es der Heilkunde keiner Zeit gelingen wird,
grossere Operationen ganz ohne I^ebensgefahr, ganz ohne Schmerz
mid ganz ohne böse Folgen zu vollziehen, ebenso wird es auch keinem
Strafprocess gelingen, den Angeklagten als unbedingten, dem Staats-
anwalt V()llig gleichgestellten Ehrenmann existircn zu lassen — das
liegt auch in der Natur der Sache, an der wir Menschen nichts ändern
können — wir sehen ein, dass es sehr gut wäre, wenn wir es ver-
möchten, aber es ist uns ebenso unniöglich, wie zu erreichen, dass
alle Menschen gleich gesund, gleich schön und gleich reich sein sollen,
was auch sehr wünschenswerth wäre. —
194
XIV. Gbobb
Was also mit dieser Erörterang gesagt sein will, das geht dahin:
es ist erwttsbar, dasB die inferiore SleUang des Angeklagten in der
nnabttndeiliGbea Natur der Sache, nicht aber in dem Inrtitnte
dea ErSffnnngsveifiihrena liegt^ nnd es ist deshalb wenigstens die
▼oiUnfige Annahme gerechtfertigt, dass die untoagbaren Fehler nnd
MlUigel nnserea Torbereitenden Verfahrens nicht in der Inslitntion
der richterlichen Vomnteisaohnng, sondern in gaas anderen Orttnden
zn SQchen sind. — Es wird tot Allem zu erwägen sein, ob man nicht
auch hier in den, bei so vielen Disciplinen und auch im gemeinen
Leben so oft begangenen Fehler verfallen ist: Eine ganze Sache zn
verwerfen, weil sie niolif richtig gemacht vrarde. Wie oft das ge-
schehen ist, das weiss Jeder, die Geschichte von Metlioden, von Werk-
zeugen, von Ileilniittcln, von Theorien, von Institutionen zeit,'t dies
zur Genüp:e: Der Eine hat's erdacht, der Zweite sohlecht versucht,
der Dritte hat's verworfen und der Vierte erfindet es von Neuem;
vielleiclit <^'eht die Sache abermals und ein zehntes Mal denselben
Weg und ob sie endlieh durchdrinjj^t oder verloren bleibt, hängt oft
und oft nicht von ihrem wirklichen Werth, sondern von der richtigen
oder falschen Durchführung ab.
Sehen wir nun zu, was die Gegner dea heutigen Verfohrens be-
haupten, so finden wir zwar im Aensseren eine Anzahl grösserer oder
kleinerer Verschiedenheiten, aber im Ganzen kommt man daran!
hinans, dass die gerichtliche Yornntersnchnng fallen soll, dass der
Staatsanwalt das Ifateriale^ die Beweise für die HanptForhaadhing,
sammeln möge, dass es Sache der Gegenpartei, des Beschuldigten
sein kann, die Gegenbeweise zn ertiringen und dass AUee daran zn
setzen ist^ dass es möglichst bald znr Hanptverbandlung kommt
Will man nnn daran gehen, die Möglichkeit der Ausführung zn
pr&fen, so hätte man es viel leichter, wenn nns irgend Jemand genau
nnd in den Einzelheiten gesagt hätte, wie jeder Betheiligte in einem
einfachen Falle und wie bei einem complicirten vorzugehen hätte.
Das hat uns aber noch Niemand gesagt, nnd so können wir nur an
dem etwas schemenhaften, allgemein gegebenen Bilde unsere Untw-
suohungen vornehmen.
Wir wollen uns also vorstellen, dafs jeder Straffall der zur An-
zeige kommt, direct an den Staatsanwalt geleitet wird, der nun den
„Fall vorbereitet", damit er zur Ilauptverhandlung gelangen kann.
Bleiben wir einmal bei der Thätigkeit des Htaataanwalts in ihren
einfachsten Formen; er kann durch die Sicherheitsbehörden gewisse
Vornahmen, FestateUnngen, Erhebungen n. s. w. yeranlassen, er kann
bestimmte Acten beischaffen (Vorbestrafnngsacten, Verfaaltiingszeug-
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Zur Frage der Vonmteimiciiting.
195
nisso. Tnufschein, Militäracton ii. s. w.) er kann nllonfalls auch in)
scliriftliclien Weg:e erheben, wo sich der Verdiichtige zu. einer be-
stimmten Zeit befunden hat, wie viel Geld er besass, was er getrieben
hat u. 8. w. — alles das bietet keinerlei Schwierigkeiten, wohl al)er
stossen wir auf solche, wenn es sich um Zeugenvernehmungen handelt.
Man verlangt dermalen, dass Zeugen, womöglich das erste Mal
sehon bei det Haiipt?erbandliing vefnommen werden. Wie man sieh
das denken soll, ist mir durchaus nicht erfindlich; zwdfellos richtig ist
es, dass unvermittelte Aussagen oft, aber nicht immer, die besten
sind: aber anch dieses „Beste*^ ISsst sich mit den nns znglnglicben
Mitteln nicht erreichen. Ob Jemand ein Zeuge ist^ d. h. ob er etwas
ftlr die Sache Dienliches weiss, das wird man in der Regel nur
durch ihn selbst erfahren, d. h. er mnss erst einmal als Zenge ver-
nommen werden. Allerdings erfährt man anch dnrch dritte Personen
mitunter, dass Jemand z. B. einen Vorgang gesehen oder gehört hat,
aber diese Fälle sind nicht häufig, und wenn sie vorkommen, so er-
fahrt man doch erst durch die Vernehmung dieser, so namhaft ge-
machten Zeugen, ol) sie wirklich etwas wissen und ob ihre Ver-
nehmung die Sache nicht etwa auf einen solchen Standjmnkt
bringt, welcher wieder weitere Erhebungen in ganz anderer Rich-
tung nothwendig macht. Jeder erfahrene Praktiker weiss, wie
oft eine I ntcrsuchung durch einen nur zufällig oder nebenbei ge-
nannten Zeugen in vollständig neues Fahrwasser gebracht wird:
Solche 1* üUe sind so alltäglich, dass sie fast als regelmässig erwartet
werden.
Aber wir macheii diesSsllB auch noch eine andere, ebenso wichtige
als psychologisch leicht erklärbare Erfobrnng. Es ist ja richtig, dass
hslbwegs wichtige Zeugen in der Regel dromal vernommen werden;
zaeist „emirt" der Polizist oder Qendarm den betreffenden Ansknnfts-
mann und lässt sich von ihm erzählen was er etwa weiss; der Polizist
Q. s. w. thdlt dies dem Untersochnngsrichter mit, dieser vernimmt den
Mann nnn förmlich zn Protokoll nnd bei der Hanptverhandlung
inssert er sich endlich znm dritten Male. Es ist nun freilich nicht
zu leognoi, dass dies seine misslicben Folgen hat: Die Aussage wird,
wie es im Kriminalistenjargon heisst, „abgenützt^, sie verliert an
Frische und Unmittelbarkeit, der Zeuge wird durch die mehrfachen
Vernehmungen molestirt, und sagt er in den drei Malen verschiedon
ans, so giebt das erhebliche Schwierigkeiten — der psycholo-iscb ge-
schulte Vorsitzende vermag es allerdings, solche scheinbar weit aus-
einandergelieiide Aussagen zu vereinen und die Differenz zu erklären,
aber solche kriuiinalpsychologisch gebildete Vorsitzende sind nicht
196
XIV. ÜR088
häufig und den Andern bieten die „nicht atimnienden Ansaagen* Siger-
liehe Unannehmliebkeiten.
Aber hierbei ist noch etwas Anderes zu bemerken; abgesehen
davon^ dass eben auch diese Schwierigkeiten unbeeeitigbar in der
Sache selbst liegen, abgesehen hieiYon ergiebt sich sogar, dafs diese
mehrlachen Wahrnehmungen, wenigstens sehr oft, dringend noth-
wendig sind. Ich habe einmal irprendwo des Genaueren ausgeführt,
dass von den drei Aussagen, die nach dem Gesagten die meisten
wichtigen Zeugen ablegen müssen, in der Regel die vor dem Unter-
suchungsrichter abgegebene die weitaus beste ist. Der Grund hiervon
ist psychologisch leicht dahin zu geben, dass dem Zeugen sein eigenes
Verhör vor dem Gendarmen u. s. w. zu wenig, vor dem Vorsitzenden,
zumal im Geschworenengericht, zu viel imponirt. Nehmen wir die
Sache vor, wie sie sich zu ereignen pflegt; sagen wir, es sei auf dem
Lande irgend etwas Grosses geschehen und der erhebende Gendarm
erfährt, dass der Bauer N. von der Sache etwas weiss, und beschliesst,
den Hann, an dessen Behansnng er TorBbecgefaen muss, zu befragen.
Er findet ihn bei der Arbeit, und vor dem Stall stehend, besprechen
die zwei Männer die Sache. N. weiss allerdings Namhaftes zu sagen ;
dabei giebt er sich aber keine grosse Mühe: Die Wichtigkeit seiner
eigenen Aussage ist ihm noch nicht khir — vidleicht such dem
Geodamen nicht — die ganze, gewohnte Umgebung vor seinem Vieh-
staU stimmt ihn auch nicht feierlich ; mit den Gendarmen, deu er gat
kennt^ hat er schon oft, auch vom AllergleichgUltigsten gesprochen, kurz,
seine Aussage erhält auch heute nur den Charakter des UngefiUireii,
Namen werden auf Gerathewohl gesagt, Zahlen ohne weiter nachzu-
denken, ein Datum, wie es ihm gerade einfällt und was ihm nicht passt,
das dem Gendarmen so ohne Weiteres zu sagen, dazu fühlt er sich
nicht verpflichtet — kurz: viel werth ist die Aussage vor dem Gen-
darmen, von dem man auch nicht verlangen kann, dass er ein Meister
in der Vernehmungskunst ist, gewiss nicht.
Nun kommt der Zeuge zum Untersuchungsrichter; er erscheint
schon mehr in gesammelter, etwas andächtiger Stimmung, die ruhige,
stille Amtsstube erhöht dieselbe, er weiss, daas er heute etwas ueuueus-
werth Wichtiges zu prästiren hat. Wir wollen annehmen, dass der
Unteranchungsrichter seinem Amte gewachsen ist, er ▼ermag dem
Zeugen klar zu machen, dass von seiner Aussage viel, vielleieht
Schuld oder Unschuld seines Nebenmenschen abhängt, er Temimmt
ruhig und sachlich, er vermag es, mit geschickten mnemotech-
nischen Kunstgriffen gewisse Aussagen z. B. Uber ein Datum, eine
bestimmte Situation, ein gewisses Nebeneinander oder Nacheinander,
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Zur Frage der VorunterBuchung.
197
^enuu und \ crlüsslicli zu niaclien. er wciidtt lii<^rzu dw nötlii;:e Zt.il
auf und hütet sicli vor nWw Su,i,'-i_''e>ti(>n. i r lu-spriclit dieselbe Anp'-
U'frenheit mit dem ^chwcrfälli^vn Manne niclinnals, maclit den Leiclit-
sinni^'en /jrewissenliatt, den allzu Za.iiliafttn vertraulicher, den zu
Schwunghaften nüchterner, kurz, wenn er seine Sache versteht, so
▼emug er eine Aussage so genaa mid wahrheitsgetreu als möglich
nt machen. Dabei hat es der UnterBnohnngsrichter in so ferne leieht,
als anaser ihm, dem Gerichtsschreiber und dem Zeugen Niemand da
ist, der den Zeugen durch Zwisch^ifragen, Eopfechtttteln oder auch
Uoes durch seine Anwesenheit rerwirrt oda schüchtern machen
kann, der Zeuge befindet sich in der für die Sache yortheihaften*
Situation.
Nun kommt er in den Schwurgerichtssaal, der dem Zentren
durch Grosse, Ausstattung, kirchlicbe Form, durch die Art des Ein-
tretens auf das Höchste imponirt — die vielen Menschen, der feierlich
adjustirte Gerichtahof, der Vorgang verwirrt den Mann, die vielen,
auf ihn gericliteten Au<ren nrhrnen ihm den letzten Rent von Fassung:.
Nun kommt das V^TlK'ir; wir wollen von den so oft coufuse machen-
den Zwischenfra-ren von Staatsanwalt und \'ertlicidij;:er iranz absehen,
es ist schon der ^'erkeh^ mit dem fragenden Vorsitzenden schwer
genug. Sogar das räuudiche Vt rhältniss ist nicht gleichgühig; beim
Untersucliungsrichter sass Zeuge bfliaglich nt'b<'n liiui, hn r steht er
weit entfernt vor dem hochthronenden ^'orsitzen(len und die so g«'-
schaffene Schwierigkeit des Verkehrs ist nicht zu unterschätzen. Daun:
Der Vorsitzende hat unmöglich die Zeit, mit dem Zeugen so ein-
gehend und so lange zu verkehren, wie es beim Untersuchungsrichter
geschehen konnte, er muss die Sache kurz machen, dieses „kurz
machen*^ ist aber bei vielleicht 'Vs aller Zeugen von der bösesten
Folge: sie wissen zu wenig und sagen zu viel. —
Ist nun der Zeuge vorher gar nicht vernommen, so ist sein
Niditwissen oder seine unrichtige Aussage ein maassgebender Factor
im Process geworden, der nicht bloss einen gerechten Schuldspruch
▼erhindert, sondern auch einem Unschuldigen den rettenden Ent-
lastungszeugen geraubt haben kann.
Anders aber, wenn der Vorsitzende, ein von einem guten Untcr-
Buchnngsrichter aufgenommenes Protokoll vor sich hat. Ich glaube
nicht versichern zu müssen, dass ich der Letzte bin, der ein gedanken-
loses Abfragen des schon einmal TJesagtru reclitft rtigt'n will — aber
wenn der Vorsitzende weiss, wass «Icr Zeuge zu sagen vermag, so
wird er ihn entsprechend fraireii. ihm entsprechend lieli'en und ihn
eatsprecheud currigiren konueu. ist das Protokoll gut aufgenommen,
Itehhr nr Kiiailiialanthiopologie. XII. 14
198
XIV. GBoen
und virnia^' der Vorsitzende put zu leiten und zu fm^en, so ist ein
Versa^^en, ein Feldf?elien geradezu aus^jeschlussen. Wiis das für den
Process bedeutet, brauche ich nicht zu sagen.
Das Angegebene ist aber ein typischer, alle Tage yorkommender,
temgendftieb, aber immer in derMlbea Biehtaog variiiler Fall. Ans
einer deadennenlangen Praxis Icann ich die bttndige ErklSmng ab-
geben, daas ieh gerade die hier besprochene Ersoheinang wiederholt
beobaehtet und verfolgt habe, ja daas ich mir oft die Mfihe ge-
nommen habe, gerade solche Leute, die in der Hanptverhandlnng
das erste Mal yemommen wurden und nichts auszusagen wussten,
bdw entschieden unrichtig deponirt hatten, später nochmals zu ver-
nehmen. Fast immer hat es sich herausgestellt, dass sie dann viel
mehr und viel richtigeres zu sagen wussten, als in dem, ihnen un-
heimlichen Gewirre des Verhandlungssaales. Und das waren nicht
bloss ungebildete Hauern, sondern auch T^ute aus höher stehenden
Kreisen, die alle in der Amtsstube des Tlntersuchunprsrichters ruhig,
sicher, genau und viel wahrheitsgetreuer zu reden wussten als im
feierlichen V'erhandlungssaale. Das sind nicht theoretische Erörte-
rungen, nicht in der Studierstube gemachte Constniolionen, sondern
in langer Praxis gemachte Erfahrungen auf meinem besonderen Ar-
beitsgebiete und daher wieder nicht bloss Erlebnisse eines Praktikers,
sondern auch theoretisch vielfach untersuchte psychologische Erschei-
nungen — sind aber diese Beobachtungen richtig, dann würden sie
allein ea für unbegreiflich erscheinen lassen, dass man sich der so
wichtigen Vernehmung durch den Untersuchungsrichter kurzweg ent-
ftussem wollte.
Aber die Zeugenyemehmungen sind noch in anderer Weise wich-
tig nftmlich dann, wenn sie wohl früher aber nicht bei der Haupt-
▼erhandinng geschehen konnten, wenn die Zeugen gestorben, e^
krankt, verrdst, nicht aufeufinden waren; ist der Zeuge früher gar
nicht yemommen worden, oder hat man sich bloss mit einer der
jetzt so yiel besprochenen „Notizen'^ über das, was der Zeuge zu sagen
wusste, begnügt, so ist sie einfadi werthlos und der Zeuge ist yer-
loren — man vergesse nicht, dass nicht jeder Zeuge ein Werkzeug
in der Hand des Staatsanwalts ist, dazu dienend, den Beschuldigten
zu verderben, und den Letzteren eines oft rettenden Entlastungszeugen
ZU berauben, ist geradezu newissenssache. Naiiuntlich wichtig sind
in dieser Richtung die durch das \ erbrechen zu Tode Verktzten, die
der Untersuchungsricliter gerade nocli vor iiireni Ableben vernehmen
kann, und deren Aussage bei der llaujttvrrhandlung vielleicht den
Drehpunkt derselben darstellt. Und bterbende lügen nicht, sie können
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Zur Frage der VoraDtenacliuiig.
199
in ihrer VerwimiDg unrictitig beobachtet und wiedergegeben haben,
ilwr dies richtig sn stellen ist Sache des guten und erfahrenen Arztes.
Niemand ist yon dem misehitzbaren Werthe der Unmittelbaikeit
mehr ttbeizengt als ich, und das „Selbstsehen und Selbsthöien'* ge>
hdrt fOr mich zu den Gmndprincipien aller kriminalistischen Arbeit
Aber auch hier darf man nicht znm Schaden der Sache extrem
werden nnd ein Hfilfsmittel von der Hand weisen, welches in Süsser^
sten Fällen das grundsätzlich Anzuwendende ersetzen soll und oft
auch kann. Es sind allerdings Ausnahmefälle, in welchen Protokolle
▼on Zeugen yeriesen werden mttssen, aber so selten sind sie
auch nicht, dass man sie vernachlässigen darf und kaum Eine grosse
Verhandlunfj: wird es geben, in welcher nicht doch das eine oder
andere Zeu^enprotokoll verlesen werden muss. Ich wiederhole: Dass
man einem bloss verlesenen Zeugenprotokoll iranz anderen Werth bei-
lejren wird, als dem persönlich vernommenen Zeugen, das ist selbst-
verständlich, aber entbehren kann man solche Ersatzmittel doch nie
vollständig.
Allmählich entsteht nun die Frage, wie wir uns eine Hauptver-
handlung ohne Voruntersuchung in einem halbwegs compliculen Falle
vorstellen sollen. Einen sogenannten „passiven"^ Vorsitzenden, wie in
England, können wir nns nicht denken — das dortige Verfahren ist
gewiss nicht besser als das nnserige nnd wollten wir es einführen,
so mfisste nicht bloss nnser Strafverfahren total geSndert, sondern
unsere ganzen Lebensanschaanngen, unsere Gewohnheiten nnd Anf-
fsssnngen völlig umgestülpt werden, man müsste andere Menschen
ans nns machen, wenn wir nns in diese nns dnich nnd dnrch frem-
den Verhältnisse einfinden sollten. Wir werden also, will man nns
nicht den bedenklichsten Gedanken aussetzen, noch für absehbare
Zeit unseren gewohnten Vorsitzenden vor uns haben. Will aber ein
solcher sein schwieriges und höchst verantwortungsvolles Amt richtig
nnd gewissenhaft versehen, so ist es seine allerwichtigste Pflicht, auf
dius Peinlichste genau informirt zu sein: eine schwierige V^erhandhing
zu leiten, ohne auf das Sorgfältigste davon unterrichtet zu sein, was
vorkommt und vorkommen kann, erkläre ich als grenzenlose Oe-
wissenlosigkeit. Eingehendste Information des Vorsitzenden ist vor
Allem die einzige Möglichkeit, um sich für die Verhandlung einen
guten Plan zu machen: Vom richtigen Nacheinander der Beweisauf-
nahme hängt eigentlich Alles in der Verhandlung ab. Dabei giebt
es hierfür keine allgemeine, für alle Fälle passende Regel: Im einen
Fall ist nur Khirheit zu schaffen, wenn man chronologisch vorgeht;
im zweiten Falle tritt sofort Confnsion ein, wenn man nicht zuerst
200
XIV. Uaoss
mit einem HaaptCaotam beginnt und das Voiausgegangene später
bringt; im dritten Falle mfissen Beweise und Gegenbeweise stets
paarweise zusammengelegt werden; im vierten mttssen, nm Verstind-
Üchkeit zn erzielen, zuerst alle Beweise zusammen nnd dann wieder
alle Gegenbeweise zusammen vorgeführt werden; im fünften Falle
entsteht volle Verwirrung, wenn man nicht in der Vorführung der
Beweise eine gewisse Steigerung oder aber eine Abflachung eintreten
lässt; im sechsten Falle hängt wieder die überzeugende Dcutliclikeit
allein davon ab, da.^ etwa zuerst die Sachverständigen und dann die
Zeugen sprechen, oder uinp'kehrt — kurz von dem richtigen Plane
des Vorsitzenden hängt Verständniss und Missverständniss, Mitgehen-
können oder Fremdbloihen, riclitiixe oder falsche Auffassung, also
auch oft und oft SchiiKlspriu-h oder Freisi)ruch ab. In langer Er-
fahrung habe ich es oft bei Anderen und mir selbst walirnelnuen
können, wie eine Processleitung einen ungefügten, wackeligen, ver-
ständnisaiosen und im höchsten Grade gefährlichen Gang annehmen
kann und wie im Gegenfalle eine sichere, zielbcwusste I^itung sofort
den Eindruck macht: es gebt Alles geordnet, sicher, verstebbar und
logisch zu, ein Fehlgriff ist nach menschUcbem Können geradezu
ausgeschlossen.
Ob aber das Eine oder das Andere der Fall ist, hängt einzig
und allein davon ab» ob der Vorsitzende einen guten Plan hatte und
dieses davon, ob er informirt war, und die Mögliohkdt einer guten
Information hängt wieder nur davon ab, ob dem Vorsitzenden eine
gute, sorgfältige und correcte Voruntersuchung vorgelegen war. Ohne
•eine solche ist alle Mühe umsonst, ja der Vorsitzende wird durch
eine schlechte Voruntersuchung geradezu irregeleitet.
Aber nicht bloss sein Plan hängt von ihr ab. Ohne eine gute
Vonintersuoliung gehen fast alle Vortheile der echten Unmittelbarkeit
verloren; nur wenn ein Zeuge schon vorher gut vernoniinen ist. weiss
der Vorsitzende wann, wie und um wa.s er ihn fragen kann und
muss, nur dann wird auch der Zeuge unmitteli)ar und riclitig wirken
können. Die gute Voruntersueliung ermöglicht es al>er auch allein,
dass der Vorsitzende die Eutiastungsbeweise voll und ganz kennt,
dass er sie am iielitigen Orte vorbringt, nichts vergisst und die He-
und EntlastungsmonieiUe zu logischen Gebilden formt, deren richtige
gegenseitige Abwägung dem Richter möglich wird.
Unabsehbar gestaltet sich die Wichtigkeit der Voruntersuchung
darin, dass nur durch sie falsche Aussagen entdeckt werden kOnnen.
Der ehriiche Zeuge sagt in der Hauptsache stets glach ans, der
Ifigende vergisst Einzelheiten und widerspricht sich, seine Aussage
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Zar Frage der Yoranteraachtuig.
201
passt nicht in das ^anzc, li;irinonist'b frt laute Reweismaterial, und
nur wenn dem Vorsitzenden Alles, was pro und eontra vorcrebraclit
wurd»' ininier und deutlich vor iVuj^en ist, wenn er ununterbn^chea
während der ^ranzen Verliniidlunp: verp:leicht und coitihinirl, nur dann
kann er Widersprüche und Unwalirheiten entdecken und erweisen.
Aber auch das ist nur möglich, wenn der Vorsitzende voUkoiumen
fix und sattelfest ist» wenn ihn nichtB ans der Buhe bringt, nichts
Teiblüfft und oonfnse maeht — und auch das ist nnr möglich, wenn
beste Information auf Grand einer guten Vonrntennehnng vorliegt
Dem Vorsitzenden darf niebts neu und fremd sein, was sebon be-
kannt war; dann und nur dann aUein kann er das wirklich Nene
eist heute Dazugekommene als solches erkennen und sicher und
richtig in seinen sicher und fest gefügten Plan einfügen.
Freilich kennen wir Alle jene plötzlichen Uebenaschungen, die
gerade bei den grössten und schwierigsten Verhandlungen sich ein-
ziistellen pflegen und alles Geglaubte und Angenommene über den
Haufen werfen — aber wehe dann dem Vorsitzenden , der sich auf
Grand einer mangelhaften Untersuchung auch nur mangelhaft infor-
miren konnte! Wenn rine solche ..Rond»e*', wie man einen wichtigen
neuen, oder umsattt lnden Zeugen, eine unerwartete Saeliverständigen-
aussa^e, eine ganz neue Vertheidiguug des Beschuldijrten zu nennen
pfle^'t, in <len Gerichtssaal fällt, dann drelit sieh Alles um die Frage:
,,Wie stand die Sache früher^"" und „wie steht sie jetzt?" — findet
sich der wohlinforniirte Vorsitzende sofort zureclit, so hat die ^Bombe"
nicht nur nicht geschadet, sondern die Erkenntniss nur gefördert,
konnte sich aber der Vorsitzende nicht gut informiren, dann ist ge-
ffthriiche Verwirrung auf allen Linien fertig.
Wie man sich eine, wirkliche Bechtssicberfaeit gewährende Haupt-
Terhandlung über emen grossen Fall ohne die sichere Basis einer
guten Vornntersuchung denken soll, ist mir unerfindlich.
Kehren wir wieder zum Vorverfahren zurück, so gelangt man zu
schwierigen und unlltobaren Consequenzen bei dem dermalen yorge-
schlagenen Verfohren, wenn man diejenigen Amtshandlungen des
heutigen Untersuchungsrichters erwägt, welche entweder diiect die
persönliche Freiheit d« s Pieschuldigten angreifen (Verhaftung, Be-
schlagnahme von Briefen und Sendungen u. s. w.), oder aber end-
gültige Feststellungen enthalten (Obductionen, Localaugenschein, Haus-
suchung, Constatiningen. Agnoscirnngen u. 8. w.). Hier kann man
nur zwei Wege einschlagen :
En t WM' der überträgt man consecjuenter Weise auch diese Amts-
handlungen dem Staatsanwälte! dann muss man ihn aber mit derselben
202
XIV. 611088
Gewalt und demselben richterlichen Ansehen ausstatten, wie heute den
Untanaehiingsrichter. Allerdings ist dann der Sache absolut nicht
gesehadet und die Untennchungen weiden gerade so gut oder
gerade bo scblecht abgeführt werden, wie dies heute gesefaieht— aber
dann hat man nichto Anderes, durchans niehts Anderes erreicht, als
eine NamensSnderungy und der heutige Untersuchungsrichter
heisst dann eben Staatsanwalt Aber auch zu einer solchen
blossen Namensänderung ist Zeit und Sache zu ernst, geholfen ist
damit nicht das Mindeste.
Oder: man behält diese Amtshandlungen doch wieder dem
UnteiBUchnngsriQhter bevor, so zwar, dass immer dann, wenn es
sich um eine dieser Amtshandlungen dreht, der UnterBUchungsrichter
in die Arbeit einspringen müsste. Den Vertretern dieser Aendemng
ist es selbstverständlich nicht entgangen, dass dadurch die Einheit-
lichkeit des Vorganges Schaden leiden könnte — aber darin liegt
das Wichtigste der Sache i,'ar nicht, es ist darin zu suchen, dass ein
solcher Vorgang schlechtweg unniöglicli wäre, so kann eine Unter-
suchung nicht nur nicht gut, sondern überhaupt nicht geführt werden.
Freilich sagen die Gegner: „Ja, wir wollen doch überhaupt keine
Voruntersuchung*' — gut, so nennen wir es Vorbereitung, Zurecht-
legung, Beweissammlung, oder wie immer, aber das Eine muss zu-
gegeben werden, dass gewisse AmteTerrichtungen, wie etwa Obdnc-
tionen, Localbeslchtigungen, chemische und physikalische Unter-
suchungen, Zusammenstellungen, Tabeltenaalegangen, mikroskopische
Vergleiche, Zusammensetzen von zerrissenem, yerbianntem oder sonst
ruinirtem Papier, FussspureuTcrgleiche, daktyloskopische Untersu-
chungen, Aufnahme von Photographien, Handschriftenentzifferungen
Untenudiung von Gannedrice, Feststellung der tausendfach möglichen
Betrügereien u. s. w. n. s. w. — in der Hauptrerhandlung nicht ▼o^
genommen werden können, das muss in einem Vorverfohren ge-
schehen, nenne man es wie immer und am bequemsten ist es, wenn
wir es heute noch Voruntersuchung als Wort für den Begriff der
vorausgehenden Arbeiten, nennen wollen.
Also wenden wir uns abern)als dem wirklichen Vorgange zu und
denken wir uns, es handle sich um irgend ein schweres Verbrechen,
der Staatsanwalt hat i)egonnen seine „Beweise zu sammeln" und sich
^Notizen darüber zu machen, was die in der Hauptverhandlung zu
vernehmenden Zeugen auszusfigen vermr»chten'", und er gelangt nun
so weit, dass irgend eine der eben genaunteu Amtshandlungen vW-
genommen werden soll.
Wir müssen nun selbstverstSndlich darttber ebig sdn, dass die-
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Zur Frage der Voruntersachuiig.
203
selben constatirender Natur sind, dass sie etwas feststellen, also
stetB etwas in sich enthalten, was tu tbnn eigentlieb nnr
Sache des erkennenden Richters wftre, und nnr weil diese
Constatimng«! der Natnr der Sache nach (weil sie entweder keinen
Zeitanfachnb gestatten, oder zn ihrer Dnrchfllhmng zu viel Zeit he-
anspmchen) nicht in der Hanptrerhandlnng Torgenommen werden
können, mfissen sie decselben vorw^genommen und yon jemand
Anderem besorgt werden. Dieser «Andere'* kann aber nur eine
richterliche Person sein, denn er besorgt Geschäfte des er-
kennenden Richters, er arbeitet statt ihm, er thnt etwas, was
eigentlich der erkennende Richter liätte thun müssen, und es nnr be-
sonderer Umstände wegen nicht thun konnte und wenn man be-
hauptet, dies k(>nne auch der Staatsanwalt besorgen, so begeht man
dnen arfren. logischen Fehler.
Wir stehen dann wieder vor der Alternative: lassen wir div ^e-
nannten Besorgungen dem Staatsanwalt, so statten wir ihn mit richter-
liehen Befugnissen aus, und man nennt dann meinetwegen inconse-
quenter Weise einen, richterliche Geschäfte besorgenden Mann, aus-
nahmsweise Stiuitsanwalt. Verlangt man aber, dass diese Dinge doch
durch den Untersuchungsrichter besorgt werden, dann kommt man
mit den piaktiscben Vorgängen in WiderspmcL
Whr sind nftmlich dabei stdien geblieben, dass der Staatsanwalt
bei seinem „Beweiseeammeln*^ bei einer der genannten Amtshandlungen
angelangt ist, und dass man de lege ferenda bestimmt hat, er mfisse
hiersn den ITntenacbnngsrichter Terwenden. Dass dieser Vorgang
der noch allein zn billigende wfire, mnss zugegeben werden, denn der
Untersnofanngsrichter bandelt hier ansdrAcklich im Namen des spS-
teren, erkennenden Richters. Sagen wir, es handelt sich um eine
fianssaehung nach Gift, und der Untersuchungsrichter stellt fest^ dass
•im Sehranke des A. in der That (Jift zu finden war; in dem seiner-
zeitigen Urtlieilc des erkennenden Richters, der den A. ob Giftmord
vHrurtheilt. wird es z. B. einen wichtigen Grund seines Schulds))niches
bilden, dass das Gift im Schranke des A., und nicht etwa in dem
des B, gewesen ist. EigentÜcii hätte dies der erkennende Richter
selbst unmittelbar wahrnehmen müssen, dies war aber nach dem Her-
gänge nicht möglich, er Hess sich für diese Wahrnehmung gewisser-
maassen a priori vertreten, und es kann somit dieser Vertreter un-
bedingt nur ein Richter und nicht der Staatsanwalt sein.
Man wird einwenden, dass eine solche Feststellung nicht unbe-
dingt durch den Richter geschehen sein mfisse, es wäre ja gerade so
gut anch möglich, dass m Z enge das Gift im Schranke des A. ge-
20i
XIV. Gross
gefanden hat» dasB er darüber aussagt nnd dase der erkennende Biefater
die Anssage dieses Zeugen zur Grundlage seines Urthals macht
Hierin Kegt aber ein wesentlieher processualer Unterschied: hat der
Zeuge etwas gesagt^ so hat der erkennende Bichter stets zwei Un-
tersuchungen zu machen: 1. Ist die Sache selbst von Wichtigkeit und
von welcber? 2. Hat der Zeu^^e dir Wahrheit sagen können und
wollen? Ist aber etwas amtlich durch einen Richter festgestellt, so
hat es dieselbe Bedeutung, als ob es der erkennende Richter selbst
wahrgenommen hätte und die Erörterung der zweiten Frage kann
nur ausnahmsweise geschehen, wenn eben von anderer Seite die
Möglichkeit eines menschlichen Irrthums behauptet wird.
Wir nehmen also an, dass der Staatsanwalt wegen einer der ge-
nannten Amtshandlungen den Untersuchungsricliter heranziehen muss.
Vor Allem gielit (iits rnniengen von Zeitverlusten, die auf djiij Ötö-
rendstc einwirken, wenn der Staatsanwalt sein „Heweisesammeln" am
Orte des Gerichtshofes vornimmt, das aber zur platten Unmöglichkeit
werden muss, wenn er sich wegen der Wichtigkeit des Falles an Ort
und Stelle begeben hat, oder wenn die Erhebungen überhaupt — nnd
das ist ja die Mdirheit der Fülle — am Orte oder im Bereiche eines
entfernten Amt8-(Bezirks-)gerichte8 stattfinden sollen.
Nehmen wir an, der Staatsanwalt sammelt Beweise dnrch Ver-
nehmung von Zeugen nnd es wird plötzlich die Vornahme eines
Localaugensoheines nothwendig. Was soll der Staatsanwalt thnn?
Seine Amtshandlung nnterhrechenf heimrdsen, den Untersuchungs-
ricliter hinsenden — und die wichtigste Zeit verloren haben? Oder
soll der Staatsanwalt gleich jedes Mal den Untersnchnngsrichter eil
reserve hei sich haben, damit dieser nöthigen Falles einspringt, viel-
leicht aber gar nichts zu thun bekommt? Wenn da Jenmnd zusieht,
müsste es ihn nicht Wunder nehmen, dafs man lediglich um eines
Principes willen veranlasst hat: es mussten da zwei statt eines ihre
Zeit verlieren, und wenn man einen Unhefaiifrcnt n fragt, welcher von
den Beiden der Ueberflüssige war, so würde doch jeder als solchen
den Staatsanwalt bezeichnen.
In schwierigen Fülltn wird die Sache aber noch confuser. Es
geht allenfalls an, daiss der Staatsanwalt verlangt, der Untersuchungs-
richter möge eine Obduction veranlassen oder selbst eine liaussuchuug
vornehmen, um ganz bestimmt bezeichnete Gegenstände zu finden
u. s. w. Das kann der Untersnchnngsrichter machen, ohne den Act
genau zn kennen, aber allerdings nur zur Not, nnd besser wird auch
in solchen Hillen mit bestimmter Directive der arbeiten, der in der
Sache vollends informirt ist Aber in gewissen FKllen ist die ver-
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Znr Frag« der Vonmlenadinng.
206
lan^'te Arbeit (.'infach niclit zu niaclien, wenn man den Act nicht {re-
nan kennt — sa^ien wir etwa, es Bei ein ^ericlitliclier Aujrtnscliein
vorzunelimen. leli lial)e wiederholt ^resa^'t, eine solche I^eistung ist
der Prüfstein für einen Untersucliim^'srichter, und einen iruten Aug:en-
schem aufzunehmen, der alles Wesentliche einfach und klar bringet,
oichts Ueberflüssiges beimengt und den erkennenden Bichter wirklich
in dieselbe Lage verBetzt, als ob er die Saelie selbet gesehen hitte»
ein solcher Augenschein ist gewiss eine schwierige und anstrengende
Arbdt Sie kann auch absolut nur dann befriedigend geleistet werden,
wenn der Anfnehmende mit der Sache, mit dem betreffenden FsOe^
bis in die allerkleinsten Einzelheiteii Tertimnt ist, wenn et genau weiss,
nm was es sich bandelt, was wichtig ist nnd wichtig werden kann
— also eigentlidi nnr dann, wenn er den Fall von seinem eisten
Entstehen an kennt, d. h. wenn er ihn selbst gearbeitet hat.
Dass dies richtig ist, weiss jeder Praktiker ans jenen Fällen, in
welchen er für einen fremden Richter im Requisitionswege eine der-
artigre Vornahme zu jiflegen hat, oder wenn er eine solche von einem
fremden Richter re(|uiriren rauss. Bei aller Mühe, die sich der Re-
quirirende gegeben hat, um den Re(|uirirten niögliclist irmau zu in-
formiren, bleiben dem Letzteren fast ausnahmslos erlieljiiclie Schwie-
rigkeiten, und das (ieleistete ist regelmässig lange nicht so gut, als
wenn es in eigener Sache wäre gearbeitet worden.
In unseren Zukunftsfällen wäre der Untersuchungsrichter aber
immer in der Lage des requirirten Richters, er würde stets in fremder
Sache arbeiten, und trotzdem bei der Infonnirung immer sehr viel
Zeit yerioien ginge, wfirde doch beim besten Willen anf beiden Seiten
nie etwas Ordentliches geleistet werden.
Aber es giebt noch andere Schwierigkaten. Die eine Gruppe
wSien allerdings bloss Kompetenzfragen: wer hat einzugreifen, wenn
es sich z. B. um Agnosdrungen handelt? Der Beschidigte hat z. B.
erklSrt, er kenne zwar den Thäter, aber nicht dem Namen nach,
er vermöge ihn aber unter dem A, B, G, D herausznfinden. Dies ist
nicht bloss Zeugenaussage, sondern ein constatirendcr Vorgang,
der als die einzige Ursache zur Verhaftung des Bezdchneten führen
kann. Solche Vorgänge giebt es aber zahllose, der angeführte ist
bloss eine T\ pe.
Dann: wer soll jene zahlreichen, so wichtigen und klärenden
Vornahmen leisten, ohne welche sich eine modern geführte Unter-
suchung nicht melir denken lässt: Tabellen, Zusammenstellungen,
Uebersichten, \'ergleiciie, graphische Darstellungen, Bewegungstafeln,
u. s. w. Wir wissen, dass oft nur durch eine einzige solche Darstel-
206
XIV. ÜBoea
luii*r (lio Srliuld oder Unschuld einos Meiisclif-n evident gemacht
werden kann, wir wissen, dass solclie eoiistatirende Instnniiente einer-
seits unerlässlich sind, andererseits al)er nicht in der Hauptverhandlung
an«2:efertigt werden können, sie hrauclien tagelange Arheit und ge-
opferte Nächte des Untersuchungsrichters, sie sind aber unentbehrlicb
im Interesse der Verfolgung des Schuldigen und Entlastung des Un-
echiüdigen.
Wir fingen dann wieder: soll das der Staatoanwalt nuiidien —
dann iat er eben der mit dem Titel eines Staatnnwalts ausgestattete
UnterBnehnngsrichter; soll es aber ein Untetsaefanngsriobter fflr den
Staatoanwalt veiridit^ dann wissen wir, dass es fOr ihn sebwer, tut
nnmOglieb ist, in fremder Saehe derart heikle nnd veiantwoiiliebe
Dinge zu machen ; w ir müssen aber auch mit den normalen Erschei-
nungen im Wesen des Menschen rechnen. Nennen wir es meinetwegen
Eitelkeit Aber es kann t«i Niemandem verlangt werden, dass er
seine beste Mühe für einen Anderen aufwende Hat der tüchtige
Untersuchungsrichter eine schwere Untersuchung, sagen wir einen
grossen Betrugsprocess, zu führen, so wird er sein Aeusserstes daran
setzen, wird keine Mühe und Arheit scheuen und wird seine Unter-
suchung so gut führen, als es in seinen Kräften liegt — aber es ist
eben seine Untersuchung, für die er Alles einsetzt, er ist eben
ein Menscli, und von dem kann mau nicht verlangen, dass er dies
für einen Anderen tliut.
Man wird einwenden, das sei eben d.as Gefälirliche: gerade der
ambitionirte, temperamentvolle Untersuchungsrichter engagirt sich zu
sehr ffir seinen «FaU^i nnd er setzt dann Alles daran , an positiTem
Resultate zn kommen, d. h. den dnmal Verdächtigten aneh sam An-
geklagten nnd znm Verortbeilten zu machen. Dass dieser schwere
Vorwvrf ungerecht ist, kann ich nicht mathematisch beweisen, ich
erkUüre aber, wer dies sagt, der war nie ein wirkliche Untersnchnngs-
richter. Ich war viele, viele Jahre Untersnchnngsricbter nnd habe
mit nnzShligen Untersnchnngsrichtem zu thun gehabt, und ich sfebe
mit mdner Ehre dafür ein: einem rechten Untersuchungsrichter ge-
währt es allerdings stets Genugthuung, dnoi wirklich Schuldigen
überführen zu helfen, und je schwieriger es war, desto grösser die
Befriedigung — aber tausendmal grösser ist die wahrhafte P'reude,
die Empfindung wirklicher, wcrtlivoller eigener I^eistung, wenn es
dem Untersu('liniii:>ri('lit( r irelungen ist. einem unschuldig Verdächtigten
wieder zu seinem clirliclieu Namen verhelfen zu können.
Man l)edenke docli , was (lir Behauptung heisst: ein .Mensch
könnte, um eine fixe Untersuchung abgeführt zu haben, w ider besseres
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Znr Fnge der Vonmteniidiuiig.
207
Wissen und Gewissen oder wenigstens in nnsajrbar leichtsinniger
SelbstsupTfrestion einen unfrliicklichen ünschuldip:en in's Verderben
jagren, auf seine „Schuld" zuarbeiten, obwohl er wusstc oder wissen
musste, dass er unsehuldifr oder minder schuldig ist? So ohne Weiteres
und ohne Beweise zu haben kann man doch nidit einen Unter-
suchuno:srichter oder ganze CTru|)j)en derselben als ehr- und gewissen-
lose, gottvergessene Schufte hinstellen. Und gäbe es ja unter vielen
Untersuchungsrichtern einen solchen Elenden — dann ist wieder
nicht das iDsdtiil der Vorantersuchung schuld daran, sondern die-
jenigen, die den Meoschen nioht erkannt und trotz seiner Teiftehtlichen
Gennniing auf den Tecantwortangsvollen Posten eines üntereachnngs-
richteis gestellt haben.
Es ist selbstrerstSndlich, dass man dann, wenn veriangt wird,
da« eme Partd, der Staatsanwalt, die belastenden Beweismittel fOr
die Hauptverhandlnng sammelt, ancb in irgendeiner Form anl oontra-
dictorischos ^'orverfah^en stSsst Das ist um so natflriicher, als man,
ohne die Natur der Staatsanwaltschaft als verfolgende Partei
vollständig zu ändern, nicht verlangen kann, nicht einmal zugeben
darf, dass der Staatsanwalt selbst die entlastenden Beweise zusammen-
trägt, das m u SS die andere Partei, der Beschuldigte thun. Auch das klingt
überzeugend und vielverheissend, alter durchführen lässt es sich, wie
80 viel Schönes auf der Welt, in der Praxis doch nicht Wir wollen
per exclusionem construiren.
Vor Allein wollen wir frajren. ob die Parteien oiine (»der mit Mit-
wirkung eines Untersuehungsriehters arbeiten sollen. Ersteres stellt
man sich so vor, dass der Staiitsaiiwalt seine Belastungsbeweise, der
Beschuldigte seine Entlastungsbeweise zusammenträgt und d unn kommt
es zur üauptverhandlung, bei welcher das gegenseitig Vorgebrachte
geprflft wird. So ist es gewiss unmöglich, denn ein Beweis ist kein
Ding an sieh, er erhfilt erst Existenz an der Bebanptong nnd diese
Behanptnng mnss man wissen, bevor man ihr gegenüber be-
weisen kann, i^reilich, wenn es sieh bei jeder Besehuldignng nm
eine einzige Behanptnng nnd eine einzige Gegenbehauptung handeln
würde, dann kQnnte man sich ja Manches als denkbar vorstellen.
Wenn z. B. der Staatsanwalt behauptet, A. hat den B. am 1. Juli in If.
todtgesehlagen — und wenn A sagt: Ich habe es nicht gethan, ich
war am 1 . Juli nicht in M., sondern in N. — dann steht die Sache
sehr einfach, dann lässt man den Staatsanwalt seine Beweise für die
Thäterschaft des A, und den A. seine Beweise für sein Alibi sammeln,
jeder weiss, was der Andere behauptet, sie brauchen vor der Haupt«
208
XIV. Gbms
vorlmndlun^ keine gepenseitige VerBtändij^iinjj:. Aber so einfach sind
die ullenvenigsten Fälle, ihre Zahl ist zuverlässig: so j^erinj;, dass sie
kaum einer BerückHiclititrung werth sind, fast immer handelt es sich
bei läufrnenden Besehuldi^'ten um einen zusaninien<;esetzten lieweis,
der wieder nur mit zahlreichen Behauptun^j:en und Beweisen wider
Ge^,^enhehau|ttun;;^en und Ge^jenheweise jii;eführt werden kann. Diis
Alles liefet aber nicht auf einmal vor, es entwickelt sich nach und
nach, Eines aus dem Anderen, Eines gegen das Andere; es ist also
noth wendig» daas die Parteleii von ihrem HaAeriale gegenaatig Ter>
at&ndigt werden, aonat atockt die Arbeit^ Allea wird erst bei der Ver-
handlnng bekannt und Vertagungen Aber Vertagangen werden die
Haaptarbeit der Gerichte bilden.
Eine gegenadtige VerBtandigong während des Beweiaesammelna
nmsa also mSgttch sein, und es fragt eich, wie dieeelbe gedacht
werden soll. Daas man das auch wieder den Parteien überlasaen
könnte, wird Niemand emadich yermeinen: es wäre eine geradezu
lächerliche Vorstellung, wenn man behaupten wollte, der Staatsanwalt
BoU sieb beim Beschuldigten und der Beschuldigte beim Staatsanwalt
meldm, wenn er wieder ein Beweisstück gefunden hat, mit der An-
frage, was Gegner nun dazu sajre? Diese Vorstellung ist einfach so
unmöglich, dass wir nur daran denken könnten, dass die Verständi-
gung der Parteien einzig und allein (hirch Vermittehin«; eines Unter-
suchungsrichters geschehen könnte. Al)er auch hier führt die Durch-
fühmng unbedingt zur Unmöglichkeit. Soll sich der Untersuchungs-
richter um das Meritorisehe der Sache annehmen, so arbeitet er dann
doch die Untersuchung selbst noch einmal, nachdem sie der Staats-
anwalt schon gearbeitet hat, und der Effect ist wieder der, dass nun
zwei ihre Zeit für dasselbe aufwenden, was früher einer, der Unter*
snchnngsriebter, gearbeitet hat.
Soll der Untenmchungariehter aber blos formell arbeiten, ohne sieh
nm das Wesen der Sache zu bekümmern nnd bloe dem Einen mit-
theUen, was ihm der Andere gesagt hat, dann sinkt der Üntersnchnngs-
richter zmn Beamten emea Ansknnftsbnreaos herab, mit dem die Pai^
teien sielen kQnnen wie sie wollen. —
Und die aufgewendete Zeit!
Man behauptet, dass durch das künftige Verfahren Zeit gewonnen
werde: ea hat doch heute kein üntersnobungsriclitrr ein Interesse
daran, eine Untersuchung zu verzQgem nnd triebe ihn Bequemlich-
keit und Gewissenlosigkeit dazu, so ist seine vorgesetzte Behörde
dazu vorhanden, um ihn zu rnseherer Arbeit zu bewegen. Aber wenn
man sich das „künftige'' Verfahren vorstellt, in dem die Parteien selber
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Znr Füge der Vonmtanadiaiig.
209
arbeiten sollen, und wenn man zu^^eben wollte, dass die Sacbe wirk-
lieh anderweitig ginge, so scheitert sie zuverlässig an dem endlosen
Gange des Verkehres. —
Nun aber zu der unübersteiglichsten Schwierigkeit. Dass der
Staatsanwalt seine Beweise sammelt, das wäre ja am Ende denkbar,
er thut es ja anch heute, wenn anch meistens mit loaospniehnahme
des üntersnchnngsrichten. Aber wie denkt man sich denn das auf
Seite der Partei? Man weias, dan nngefiUir 95 Ptoc. aller Angeklagten
▼ermögenBlose Leate sind, die sieh einen Vertheidiger nieht zahlen
können. Das wfiide anoh im „kflnftigen*^ VerCabren so sem, nnd
es wiien nur 5 Proc. aller Besohnldigtra in der Lage, sieh ihre Be-
weise dnreh einen von ihnen bezahlten Vertheidiger sammeln zu lassen.
Bleibt also das fiberwiegende Gros der Beschuldigten mit 95 Proc.
fibrig. die ohne Vertheidiger dastehen. Dass sich diese Leute, auch
die Gebildeten unter ihnen, ihre Beweise in verlässlicher Weise nicht
sammeln können, braucht nicht bewiesen zu werden — es giebt anch
Anfänger unter den Untersuchungsrichtern, die das nicht können, ein
kriminalistisch nicht rnterriclitetor kann es gewiss nielit.
Es erübrigt also niebts, als dass allen diesen 9ä Proc. ex officio
Vt.-rtreter beigestellt werden iiüissten. Ich will zugeben, dass sich diese
95 Proc. durch die Geständigen etwas verringern, aber ganz un-
bedenklich wäre es doch nicht, diese Geständigen st^butzlos zu l)elassen.
da für sie gar Niemand sorgt, Untersuchungsrichter giebt es ja keinen.
Aber ich will annehmen, dass sich die 95 Proc. auf etwa 80 Proc.
▼eiringem, imd dann ist es noeh eine nicht zu bewiHagende Zahl,
f&r die Advokaten nnd BechtsbeistHnde beschafft werden sollen. Man
wiege sieh nicht mit dem Gedanken ein, dass man von diesen Rechts-
beiständen keine grosse Leistung verlange — die Leistung ist eine
sehr grosse^ mfihe- und seitranbende^ wenn sie gut gemacht sein soll,
wird sie aber schlecht gemacht, so w8re es geradezu eme Gewissen-
losigkeit, wenn man die vermögenslosen Leute schlecht vertreten znr
Haupt Verhandlung kommen lässt Man braucht also gnte^ mflhevolle
somit auch thenere Leistung. Da$s die Advocaten dies umsonst thun
sollen, das kann Niemand ernsthaft verlangen. Und wenn man es
— ich weiss allerdings nicht wie — etwa durch Gewährung anderer
Vortheile erreichen könnte, dass die Advokaten die, man unterschätze
sie nicht, sehr grosse Arbeit dieses Heweisesauiinelns umsonst auf sich
nehmen, so dürfte man doch nicht vergessen, dass auch der beste
Rechtsanwalt nur ein Mensch ist, und ein Mensch will leben, hierzu
muss er verdienen, und wenn er etwas umsonst machen soll, SO wird
er es, Heroen ausgenummeu, schlecht machen.
210
XIV. Gxon
Will man also niciit die Gewissenlosigkeit begehen, dem Rechts-
anwalt eine unerträgliche Last aufzubürden und die Beschuldigten
ganz unzulänglich vertreten zu sehen, so muss man die Advocatea
bezahlen. Vorerst wird der Finanzminister fragen, wie er dazu komme,
statt jedes früheren Einen Untersaehnngsrichter nun 10 AdTocaten
za bezahlen und diese Unsummen werden eben niebt vorbanden
sdn. —
Geht nun das Eine nicht und das Andere auch nicht, so wird
man vielleicht vorscbhigen, die UnvermOgenden, Bechtsunkundigen
durch den UntersucbungBricbter vertreten bu lassen. Dann sind wir
aber auf demsdbea Punkte wie Mher. Um nicht endlose Doppel-
arbeit zu veranlassen, wird der Staatsanwalt sein ^iBeweisesammeln*^
in die Form von Anträgen an den Untersuchungsrichter kleiden, der
dann für den Staatsanwalt arbeitet, und bezüglich der Beweise für
den Beschuldigten wird er es gerade so machen wie heute. Es wird
doch Niemand emstlich glauben, dass der Untersuchungsrichter an
den beschuldigten Bauer, Arbeiter, Handwerker u. s. w. herantreten,
ihn um seine Absichten we^en des Beweisesammelns befragen, ihm
Lehren geben und dann die Sache so einleiten wird, dass jjclieinbar
der Beschuldigte, in Wirklichkeit aber der Untersuchungsrichter die
Beweise sammelt. Kurz wenn der Untersuchungsrichter vernünftig
ist, so wird er dann haargenau so vorgehen wie heute: er wird die
Sache mit dem Beschuldigten besprechen, ihn befragen und bdehren,
und dann wud der Untersudiungsrichter thun, was er vor seinem E^Snaen
und Gewissen verantworten kann; bekamen wir dieses künftige Vor-
fohren, so wird es je nachdem, wie man es eingerichtet hat, entwede
sofort Schiffbruch Idden, oder es kommt nach einigen Schwierigkeiten
und Yerwirmngen genau wieder auf das alte VeiCshren zurück.
Man hat onmal behauptet, in dem Institute des Untersuchungs-
richters liege eine gewisse Unehriichkeit, weil man den Mann einen
Btchter heisse, er habe ab^ nichts zu richten; ich mein^eswfire ein viel
unehrlicherer Zustand, w^m man })eliaui»ten würde, es liege wirk-
licher Parteienbetiieb vor, während in dt r Tbat doch Alles der Untere
suchungsrichter macht und machen muss.
Uebrigens ist es auch gar nicht richtig, dass die Thätigkeit des
heutigen l'ntcrsuchungsrichters nicht dem Begriffe eines Kichters ent-
spricht. Schon ethymologisch liegt ducb im Worte ^«Richter'* nicht
der Sinn des „Entscheidens", wie man heute es gerne herausbringen
möchte — Richter und Recht hängt sprachlich und begrifflich zu-
sammen, und es heisst Richter der, der die Sache zum Rechten bringt
und wendet. Will man durchsetzen, dass jeder Richter lediglich zu
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Zur Frage der Voranteraachung.
211
entscheiden hätte, wer von den Streitenden recht hat, so leirt man
in den Begriff etwas hinein, was ^ar niclit in ihm zu liegen hat und
was ganz andere Auffassungen zur Folge hahen niüsstc — ja es ist
nicht unmöglich, dass die ganze Tendenz der Ahschaffung der Vor-
imtersuchmig lediglich auf einer falschen Construetion des Begriffes
Siebter, Untenachtmgsriehter, beruht Darf der UDtersuchungsrichter
Uo88 entseheiden, dann ist seine heutige Enslenx aUardings un-
berechtigt, hat er aber nach dem Rechten za sehen und durchzusetzen,
was Recht ist, dann darf man ihn beruhigt leben lassen. Dass
Ersteres wahr ist, das steht nirgends, das Letztere liegt aber im Worte
selbst
Aber auch aus anderen Institutionen unseres Proeesses können
wir entnehmen^ dass der Richter nicht bloss zu entscheiden hat^
namentlich aus der Stellung des Vorsitzenden in der Uau|itverhandlung.
Dass er auf den Namen eines Richters Anspruch hat, das hat noch
Niemand bezweifelt und dass die \'orsitzenden in Deutschland und
Oesterreich ihre Pflicht erfüllen, wird auf der ganzen Welt zugegeben:
die doch gute Rechtspflege ist zum grossen Theile ihr Verdienst,
und wird im Processe ein Fehler l)*'gangen, so macht man regel-
mässig mit Recht zuletzt den Vorsitzenden dafür verantwortlich. Es
giebt ja Anglomanen, welche sich englische Vorsitzende wünschen,
<iie dem Kreuzverhör der Parteien zulnhen und zuletzt Ja oder Nein
sagen. Aber einerseits gieht (i<teli jt'der iil)erlegsauie Kenner der Zu-
stände zu, dass englische Verhältnisse sehr selten auf continentale
Zustände passen und andererseits dürfte kaum ein deutscher Krimi-
nalist zustimmen, wenn man ihm ernsthaft und reditSTerbindlieh tot-
schlüge, den enghschen Vorsitzenden gegen unsere denlsehen und
fisteneichischen Vorsitzenden einzutauschen. Theoretisch sohwirmt
man vielleicbt für den englischen Zustand, aber wirklich danach zu
greifen wagte heute doch Niemand — wir haben an dem Erwerbe
der Geschworenen gerade reichlich genug. Aber: wenn man uns
unsere Vorsitzenden als sicher zweckentsprechend bdisst, so wollen
wir zusehen, ob denn ihre Tliätigkeit bloss eine entscheidende ist
Nichts könnte der Gerechtigkeitspflege mehr schaden, als wenn
man statt der heute anzustrebenden materiellen Wahrheit formelle
anstreben wollte; wer noch so sehr für den Parteienbetrieb eintritt,
wird doch zugeben müssen, dass es 8aolie der Ilauptverhandlung ist
nnd sein muss, das Wirkliche, die materielle Wahrln it zu Tage zu
fördern — bedürfte es hierfür noch eines l?<'weises, so würde man
darauf hinweisen, dass im (legenfalle auch ein l^nschuldiger ver-
urtheilt werden könnte, obwohl der Gerichtshof von dessen Unschuld
212
XIV. Oboss
überzeugt war. Wird aber zugegeben, dass der Gerichtshof nach
FeststeUnng materieller Wahrheit streben mnss, ao istanofadie bloss
e&taebddende ThJUigkeit eines Vollzugsorganes, als was der Vor*
sitzende angesehen weiden kann, beendet Der Vorsitzende ist nach
dem Gesetze Terpflichtet, fehlende Beweismittel, ob sie für Scbnid
oder Unschuld sprechen, herbeizuschaffen, Zeugen und Saefayerstündige,
die zur Klärung des SachTerhaltee dienen könnten, vorzuladen und
nöthigen Falles die Verhandlung zu vertagen, wenn erwartet werden
kann, dass bei einer neuen \'erhandlung die Wahrheit sicherer zu
Tage treten könnte. Und alle anderen Vorschriften, welche die
Tbätigkeit des Vorsitzeaden betreffen. ir*')i«'n alle darauf hinaus^ dass
er das Acusserste daran zu setzen hut, das Rechte zu erreichen, er
hat bei jeder Vernehmung, jeder Verfügung, jedem Worte einzig da-
rauf zu sehen, dass dem Angeklagten und der Sache Keelit werde
— seine Tbätigkeit: zu entscheiden, tritt nur in den wenigen Fällen
einer Differenz und beim Urtheile hervor.
Wenn aber zugegeben werden niuss, dass die Tbätigkeit des Vor-
sitzenden der Il.'iuptverbandlung in vieler Richtung dasselbe verfolgt,
was dem Unlersuehungsncbter zu thun obliegt, so niuss auch ge-
folgert werden, dass die (dermalige) Tbätigkeit des Untersuchungs-
richters nichts enthält, was dem Begriffe des Richters wiederspricht,
er kann andi seine jetzige Tbätigkeit fortfahren , er muss es sogar
thun, denn die Vorschläge des Beweisesammehis duiefa Staatsanwalt
und durch den Beschuldigten sind in jeder denkbaren Form undurch-
führbar, Sie sind undurchführbar in den ffir die Gegner noch günstigsten
FUlen: bei ganz einfachen, am Sitze des Gerichtshofes durchgeftlhrten
Processen, sie kdnnen aber nicht einmal theoretisch oonstmirt werden
fttr grosse, langwierige Untersuchungen überhaupt und für das Vor-
geben auf dem flachen Lande. Für diese Fälle bedarf es nicht ^nmal
der Praxis, um die Unmöglichkeit zu beweisen, sie kann auch am
grünen Tische dargetban werden. —
Fassen wir das Gesagte zusammen, so kommen wir zu dem Er-
gebnisse :
dass die Unzufriedenheit mit dem Wesen der beutigen Vorunter-
suchung eine allgenu'ine und liereehtigte ist;
dass man sich »ifri;:* bestrebt, diesfalls eine Abhülfe zu treffen;
dass man geglaubt hat die Aliliülff zu finden, wenn die Vorunter-
suchung beseitigt und ein eontnidictorisches Verfahren durch die
Parteien eingeführt wird, und endlich,
dass dieser Vorschlag praktisch und theoretisch unbedingt nicht
durchgeführt werden kann.
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Zur Frage der VoruDtennidiiiDg.
213
Iliermit wären wir allerdings nur zu ne;rati\ rm Kesultate gelangt
und wenn wir etwas Positives einsetzen wollen, &o gehen wir vielleicht
iecht| wenn wir nochmals auf die Erfabningsthatsachen hinweisen,
di88 80 oft eine Institution als solche Tollkommen ver-
worfen wird, weil man nur nicht eingesehen hat, dass
sie an sich gut ist, aber schlecht gehandhabt wird.
Dass dieser allgemeine, oft erprobte Gnindsats anch in unserer
i^age Anwendung findet, will ich nicht genauer nachweisen : es ist
hier nicht der Ort dazu und an anderen Stellen habe ich es schon
wiedortiolt darzuthun versucht; nur allgemein will ich darauf hin-
weisen, dass einerseits das Amt eim s Untersuchungsrichters und die
damit verbundenen Thätigkeiten unläugbar sehr schwierig sind, und
dass andererseits heute kein Untersuchungsrichter Gelegenheit hat, das
Viele und Schwierige, was er in seinem Berufe braucht, systematisch
zu lernen. Niemand wird behaupten, dass für die untersuch ungs-
ricliterliche Arbeit das genügon kann, was der Jurist :iuf der Uni-
versität lernt, Niemand wird sagen, dass das Bisclien Tradition im
Amte Kenntnisse schaffen kann und Niemand wird es für gerecht-
fertigt halten, wenn ein Untersuchungsrichter einzig und allein durch
Fehler und Missgriffe lernen soll, Fehler und Missgriffc, begangen am
Leibe des vielleicht unschuldig verdächtigten Nebenmenschen.
Ich glaube, dass man mit völliger Sicherheit sagen kann: der
von uns gehaadhabte Vorgang bei Scfaatfnng eines Uolenuchungs-
richters steht absolut einzig in der Welt da, auch nichts annähernd
Aehnliches ist au&ufinden. Der Jurist lernt auf der Universittt so und
so viele hundert Paragraphen, deren Auslegung und systematische
Stellung; wie ein Verbrecher aussieht, wie es mit seiner Pi^che und
seinem Handdn steht^ wie ein Verbrechen im Leben begangen wird,
wie es aussieht, wie man es wahrnimmt, was dabei vorkommt, wie
es der Zeuge sieht und falsch sieht, welche innere Vorgänge im Sach-
verstandigen und Bichter bestehen, wie und wann man schliesst, wer
helfen kann, wie man sich um Hülfe umsieht und tausend Anderes
— Niemand sagt dem künftigen üntersuchnngsrichter etwas davon,
sorgfaltig wird alles verhüllt und er kommt in die Praxis, ohne einen
Verbrecher, ohne ein Verbrechen und alles, was drum und dran hängt
auch nur gesehen zu haben. In der Praxis sieht er eine kurze Zeit
zu, zu einem Unterrichten und Erklürt-n hat Niemand Zeit und Lust
und dann wird der junge Mann Untersuchungsrichter, und hat die
ganze verantwortungsv(dh', tief einschneidende Arbeit erst zu lernen —
ich wiedcrhule, ein Analoguu von Kühnheit und (»It icljgültigkcit gegen
das Objcct giebt es auf der Welt nicht. Wenn dann das Institut der
liohlT flbr KilBliMilMrtittopotoglft. Xlt. 16
2U
XIV. Gbow
Voruntersuchung keine Freunde gewinnt, so ist das walirliaftig nicht
zn verwundem, wohl aber wenn man den offen zu Tage liegenden
Grund nicht sieht: Nicht die Voruntersuchung als Institut ist daran
schuld, wenn rie bankbrtlohig würden sondern die mangelbafle Aus-
bildung der Untersnehnngsriobter tilgt allein die Schuld. Und da
wieder kann Niemand die Untersncbmigsricbter dafttr ▼emntwordich
machen: nltra pome nemo tenetur, schnld smd die^ welche die Unter-
sncbnngsricbter ohne Voibemtong, ohne Ansbildong für ihr sehweiea
Amt in's Leben senden, schuld sind die, welche nicht winm nnd
wissen wollen, wie überaus schwer die Arbeit des ünteranchungs-
lichtere ist und die unbegreiflicher Weise vergessen, dass alles,
was geübt werden soll, erst einmal gelernt werden mnsa.
Wenn daher Jemand gegen die Voruntersuchung in ihrer heutigen
Form auftritt, so hat er recht, aber nicht, weil die Idee einer
Voruntersuchung falsch ist, sondern weil die heutigen Untersuchunirs-
richter keine Gelegenheit haben, sich für ihr Amt auszubilden und
vorzubereiten.
Eine Voruntersuchung mit ül)el unterrichteten Untersuchungs-
riciitern ist nicht bloss zweckwidrig, sondern ein geradezu gefähr-
liches, die Rechtssicherheit schädigendes Institut Eine Voruntersuchung
mit gut vorbereiteten, in ihr Amt eingeführten, gründlich geschulten
und in der Zahl genügenden Untersuchungsrichtern ist die einzig
mögliobe nnd dnrcbfttbibare^ wirklich ratsprecbende nnd gute Form
eines Yorrerfabrens. Alles andere sind Cktnstmctionen nnd Ideale.
Bliebe es bei der alten Vonintennchnng aber mit wirklieb gniien
Untersttchnngsrichtem, so wüie es dann selbstverstlndlicb, dass die
Geschworenen grfindlich nnd endgültig beseitigt werden. Es ist hier
nicht der Orl^ nm die unabsehbaren Gefahren, die bedeutende Rechts-
unsicherheit und die unehrliche, unwahre Stellung zn beleuchten,
in die wir durch das unselige Geschworeneninstitnt geratfaen sind —
aber das Eine muss hier gesagt werden: mit einer sorgGUtig wissen-
schaftlich begründeten und logisch vorbereiteten Voruntersuchung und
mit einer ebenso durchgeführten nau])tverhandlung i>t der Gedanke
an Geschworene einfach unvereinbar. Einen schwierigen F-.iW juristisch,
logisch, ])sycliologisch und kriminalistisch unangreifbar vorzubereiten
und dementsprechend correct und feinfühliij: hei der nauptverhandlung
\orzufiiliren und zu leiten ist ein grosses und schwieriges Kunst-
Htiick und da mitzugehen, Missverständnisse und unrichtiges Auf-
fassen auszuschliessen, (bis ist ebenso schwierig, es erfordert viel
Können und viel Wissen und ebenso viel Erfahrung und Schulung
— das haben die Geschworenen nicht nnd kOnnen es nicht haben.
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Zur Frage dar V orantenadniiig.
315
Wenn wir also ebenso sehnlich als dringend die Beseitijjunn: des
T^ieneleraentes aus der Rechtssprechuns: wünschen, so lautet der
Wunsch auf völlige Beseitigung, denn jedes Herumbessern und
Flicken wäre das Unerwünschteste, es vermöchte höchstens den Todes-
kampf des Institutes zum Schaden aller Betheiligten zu verlängern;
deshalb sind auch gewisse Versuche, die man z. H, in der Schweiz
diesbezüglich unternommen hat, das Ailerbedenklichste. Es ist kürz-
lich (von Mittermaier) gesagt woideo, da» seh das Genfer Gesetz
Tom 1. Oetober 1890 gnt bewShrt hitte^ naeh welehem der Geriohta-
pfiddent mit den Gesehworanen Aber die Sehuldfrage benähet und
wob« die Gesehwoienen an der Abstinimnng Aber die Strafe theil-
nehmen. Daaa sich ein solober VoiKang bewäbrti glaube ich gans
gerne, aber der Grund, warum hierbei etwas Kluges her-
auskommt, liegt nioht darin, dass die Gesehwoienen dabei
sind, sondern darin, dass der Gerichtspräsident dabei
ist. Zu dieser Würde beruft man schon keinen Thoren, und es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass der Vorgang bei solchen Berathungen
dahin gebt: der erfahrene und unterrichtete Gerichtsprilsident schlägt
eine Entscheidung vor und giebt sich alle erdenkliche Mühe, die un-
erfahrenen und kenntnisslosen Geschworenen zur Annahme seiner
Ansicht zu bewegen, und sie von allerärgsten Fehlgriffen abzuhalten;
schliesslich wird das gelingen und das Ergcbniss werden verhältniss-
raässig kluge Urtheile sein, die aber nicht die Geschworenen, sondern
der rechtsgelehrte Präsident causirt haben. Dann ist man aber glück-
lich um fast vier Jahrhunderte zurück und auf dem Standpunkte der
Carolina angelangt, nach welcher die Schöffen lediglich zu dem Ur-
theil des Richters in umständlicher Form „Ja" zu sagen hatten.
Wir sehen aus diesem Vorgange zum so und eo nelten Male das
ganz unwilrdlge Bestreben: auf der einen Seite das „fortsohritdiohe und
freiheifliehe^ Institut der Geschworenen einfuhren und aufrecht erhalten»
auf der anderen Seite aber alles Ecdenkliehe Torkehren, was die un-
erliSglich BohXdIicben Wirkungen desselben aubuheben rermöchte,
SU diesem Scheinspiel ist aber Zeit und Sache denn doch zu ernst
— an Erkenntniss mangelt es nicht, im Innersien sieht jeder erfahrene
Kriminalist ünwerth und Schädlichkeit des Gesohworeneninstitutes ein
— einzig und allein die Courage fehlt, um eneigisoh damit zu brechen:
so habe man sie doch endlich einmal!
Zum Schlüsse noch einige Worte über das Aeussere des Vorganges
ffir den Fall, als eine Aendeninir durchgeführt werden sollte.
Die Gegner der Voruntersuchung verlangen Beseitigung des Ver-
fahrens, wie es jetzt ist, Einführung von Parteiealeistung, Sammeln
15*
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216
XIV. G«M8
der Beweise durch Staatsanwalt und Bescbuldi^'ten — also eine neue
gesetzliche Bestimmung. Eine solche, fast das ganze Gesetz durch-
ziehende AeoderuDg des Vorverfahreuä wäre also nicht als Sonder-
besliraiDiiiig, Bondem nur dann zn denken, wenn man an eine Bevisiony
eine Nenanagabe der ganzen SlnfproceaBordnong an gehen gedSchte.
Ob das in absehbarer Zeit zn erwarten steht^ ist sehr zweifelhafl^ und
so bitten wir für den Fall, als man in der That den neuen Vor-
schiigen gerecht werden wollig zwei Gefahren Tor nns:
t. Bis znr Neosehaffong disf neaeii SiP.O. geschieht gar nichts
— man erwartet von dieser alles Heil und wartet daher rohig, bia
sie erlassen wird, auch wenn das viele Jahre dauert, und wenn man
die Unerträglichkeit der heutigen Zustände eingesehen hat
2. Hätte man wirklich eine neue St P.O. und hätte man wirk-
lich den Wünschen der Gegner der Voruntersuchung entsprochen, so
hätte man die neuen Experimente auf eine voraussichtlich lange Zeit
fixirt, und wir niüssten mit ihnen unser Auslan^ren finden, auch wenn
sie sich als undurchführbar, unbrauelibar und genieinschädlich erweiseu
Werden, Eine neue St P.O. kann man nicht alle Jahrzehnte erlassen,
und so müsste man, wenn schon auf die neue Idee eingegan^j:en
würde, sich mit derselben auf eine erhebliche Anzahl von Jahren ai>-
finden, auch wenn es noch so schwer geht Die Folge von solchen
Zuständen ist regelmässig die, dass man sich anderweitig zu helfen
trachtet, wenn man ein undurchführbares Gesetz erhalten hat: es wird
daran gedrfickt und gemodelt, gepresst und geformt^ bis man zn leid-
lichen, halbwegs brauchbaren Formen gekommen ist Was das aber
bedeote^ wenn man willklixticb und Tencfaieden em Gesetz nmSnder^
zn welchen, yom Gesetzgeber durofaans nie gewollten E<mseqaenzen
man gelangt und wie dann Bechlsansicherheit und Bechtswidezaiiroch
die nnansweichlicfaen Folgen sein müssen, das Alles ist bekannt genng.
Jedea Experiment ist um so gefährlicher, je folgenschwerer seine
Wirkungen sind, nnd je schwerer eine Gntmaclmng des Schadens, die
Beseitigung seiner Grundlagen ist; man wird sich also zu einem so
äusserst riskirten Schritt in's Ungewisse, besser geagt in das gewiss
Unrichtige, um so länger zu hüten haben, als noch ein anderes, ebenso
ungefährliches, als sicher helfendes Mittel vorhanden ist Erst wenn
auch dieses Mittel keinen Erfolg haben sollte, wird man sich zu dem
folgenschweren Mittel einer (usetzesänderung auf (Jrund eines neuen,
noch nie erprobten und jedenfalls sehr bedenklichen Trincipes ent-
schÜessen. Zeit w ird w enig verloren, unbedingtes pjngreifen ist nicht
nothwendig, nnd wenn wirklich eine völlige Aenderung und Verbesse-
rung uiclil erreicht werden sollte, trotzdem man gut geschulte Unter*
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Zar. Frage der Vomotenadiniig.
217
Blieb unpiricliter {^esciiaffcn li:it. so ist hiermit nichts Uoblos odor
Ueberfliissifres j^esehaffcn. Freilich : wenn man die Voruntersuchung
fallen lässt, so fallen auch die Untersuch un{i:brichter, ob sie nun
schlecht vorbereitet oder ausgezeichnet geschult sind; aber mag man
in di«Mr Biditaaff noch so weit greifen: anch die abenteneilicfaBte
St P.O. wild Toitieffliche Kriminalisten doch noch branehen kOnnen.
Man hat tot mehr als hundert Jahren ein ^sicfa sdbst anwendendes
Straf geselz" erfanden — heute will man dne St P.O. schaffen, die
▼on selber ISoft, da dies aber physikalisch unmöglich ist, so wird
man stets der Leute bedOrfen, die sie in Bewegung erhalten, und
wenn man daher gute Kriminalisten geschaffen bat, so könnte dies
auch unter jeder Art von St. P.O. nur von Nutzen sein. —
Der alte englische Grundsatz, dass ein guter Richter der beste
Schutz des Angeklagten ist, bleibt immer wahr, und wenn wir uns
Untersuchungsrichter im besten Sinne des Wortes denken , so haben
auch alle Beschuldigten den allerbesten Vertreter; der gute Unter-
sncbnngsricbter vertritt den l't iehen und Armen, den (lescbickten und
den llülflosen, er suciit dem ixechte (leltung zu verschaffen, dem Un-
schuldigen zu helfen und den Sdiuldigen zur Strafe zu bringen —
hat man noch durch ein gutes Kechtsmittelverfahren dafür gesorgt,
dass über jeder llandhing eine höhere Instanz bi-stelit, die jederzeit
angerufen werden kann, dann iiat man überbau j)t ohne Risico, ohne
Experiment und ohne Abenteuerlichkeit alles gt^than, was in dieser
Richtung von Menschen und mit menschlichen Mitteln gethan werden
kann. —
Der hier gemachte Vorschlag geht also abermals dabin: man
schütte das Kind nicht mit dem Bade aus, man verwerfe nicht die
Voruntersuchung, bevor man sich nicht davon überzeugt hal^ dass sie
nicht blos verbesserungsfähig sondern sogar so zu gestalten ist
wie sie unter menschlichen Verhältnissen nicht besser sein könnte.
Haben wir genug Untersuchungsrichter, die ihre Arbeit im Verhältaiss
snr Zeit setzen können und nicht überhast* t und fibenmstrengt arbeiten
mfissen, haben wir diese Untersuchungsrichter, bevor sie ihr Amt an-
traten, in moderner Weise unterrichten lassen, haben wir ihnen gesagt
und gezeigt, was und wie sie arbeiten müssen, haben wir uns endlich
davon überzeugen lassen, dass es ausser dem eigentlichen Strafrecht
die für da.s kriminalistische T.ebon absolut un» iit]>elirlicben strafrecht-
lichen Hülfswissenscliaften triebt — haben wir dann einen General-
stab tüchtig gescliultrr Untersuchungsrichter, dann k«)nnen wir uns
getrost an die Bekämpfung des \ erl)recbens wahren, und Niemand
wird uns sagen, dass es eine bessere Hülfe gebeu kann.
XV.
Sind wir dem anatomischen Sitze der„VerbrecherneiguDg"
wirkliclL n&ker gekommeo» wie Lombroso glaubt?
Medidnainth Dr. P. Vldk« in Hnbertnabiirir.
Man hat witzig seiner Zeit einmal ^sagt, das arme Italien habe
eigentlich nur drei Exportartikel: Wein, Kunst und — Kriminalanthro-
pologie. Aber auch diese Artikel gehen jetzt schlecht, am schlech*
testen entschieden die Kriminalanthropologie.
Jeder, der den Verlauf der letzteren verfolgt hat, wird gesehen
haben, wie die anfängliche Begeistening für Lombroso 's Lehren
immer mehr abgenommen hat und jetzt ausser in Italien eigentlicli nur
noch in den weniger kultivirten iJLndern und unkritischen Köpfen be-
steht. In Deutschland sind sie überhaupt wenig in Aufnahme ge-
kommen, eher schon in England, viel mehr leider in Amerika, wo nur
ganz wenig kritiBolie MSiineri wie Spitzka Ben., energisch dagegen
FtcuA machten.
Den Verlanf der Dinge wird mao nur natfiilieb finden. Lom-
broso brachte yon Nenem die üntersnebnng des Verbrechen —
und nicht des Vefbrechena» was entschieden sein Hanptrerdienst ist — ,
in Flnss, imponirte dnrch massenhafte Zahlen, ktthne Schlösse, grosse
PerspectiTen nnd fihte so anf hypnotisirbare Gemftther fascinirenden
Einfluss aus. Derselbe mnsste natürlich verstärkt werden, als eine
fieihe l)Oi::eisterter Schüler, meist Landsleute, ihn nnterstützten und
seine Verdienste in allen Tonarten sfingen. Die neue Schale wusste
auch sehr geschickt für sich in der Presse Tamtam zn schlagen,
Congresse zu arrangiren u. s. w.
Sehr bald aber kam der unvennoidliche Rückschlag. Ver-
schiedene klare und ruhige Geister prüften näher Lombroso 's Schrif-
ten und erkannten st hr bald ihren mehr als zweifelhaften Werth.
3Ian weiss, Lombro.>>o hat eine ganze Bibliothek zusammen-
geschrieben, das Meiste ist aber fast gleicher Qualität, d. h. un-
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Sind vir d. anatomischen Sitze der «Verbrediemeigung'' nälier gekommen? 219
wissenschaftlich, oberflüchHoh , unkritisch, minderwerthig. FUr ihn
gilt nicht das: moltum, sed noa multa, wohl aber: niilla dras sine
linea, obgleich das Meiste lieber nngesehri^en bitte bleiben mttssen.
Lombroso leidet entschieden an Schreibwnth, Graphomanie, die er
sonst nur den „Mattoiden** suschrdbt. Er glaubt überall mitreden
SU dfiifen nnd zu sollen. Mit der giOssten Seelenrabe würde er
hente über das System des Orioni morgen Aber das Plankton, über-
morgen über die vierte Dimension oder asqrrisohe Archäologie
schreiben. Was bei solcher Sohrdbeeligkeit hecanskommen rnnss, ist
leicht erfindlich.
Das Meiste in seinem Uonio (If'lin(|uente ist längst
widerlegt worden, ebenso in seinem Buche über das Genie, am
schärfsten bezüglich des letzteren, vielleicht von dem deutschen Irren-
arzt Binder. Lombroso lässt sich durch solche Kleinigkeiten aber
nicht abschrecken. Er wiederholt einfach djis tausendmal Widcrloirte
und versucht immer von Neuem den Leuten Staub in die Augen zu
streuen, indem er alle Augenlilicke neue Ideen vetrbringt, die aber meist
wieder das Scliieksal der alten haben oder alte Ideen wieder aufputzt.
Es ist daher nur natürlich, dass sehr bald ernste Forscher von
der Kriminalanthropologie, wie sie Lombroso lehrte, nichts wissen
wollten und diese Wissenschaft — die ich seiner Zeit nicht als
eigene Wissenschaft, sondern nur als Hülfs Wissenschaft der forensen
Psychiatrie angesehen haben wollte Oi worin mir anch t. Krafft-
Ebing nnd Ändere Beoht gaben — ganz verwarfen, womit sie frei-
lich das Kind mit dem Bade ansschfltteten.
Lombroso und seine Sohnle hat der guten Sache also,
d. h. der von den Schlacken gereinigten Kriminalanthropologie, später
nur geschadet und wäre er zur rechten Zeit von der literarischen
Bühne abgetreten, so würde die Kriminalanthropologie nur gefördert
worden sein, indem dann auch wirklich ernste und kritische Männer
aller Nationen die Ideen Lombroso 's, so weit sie gesund und frucht-
bar waren, untersucht und vertieft hätten. So haben sie sich jetzt
grösstentheils von den massenhaften Uebertreibungen und falschen
Behauptungen Lombroso 's, dessen Werk derart nur Waiirheit und
Dichtung ist, abgestossen gefunden, dass sie mit der Disciplin nichts
mehr zu tiiun haben wollen.
Von Zeit zu Zeit glaubt er nun M'inem verbleichendem Glänze,
den er trotz grosser Eitelkeit doch dahinschwinden sehen muss, durch
Ii Nücke, kriminalunthropolof^isclie Themen: 1. Gehört die Kriniinal-
atithropolofrie melir zur Anthropoh>t,'ii' oder zur forensen Tsyrhiatrie ? 0. 8. W.
Archiv tur KnuiinulauUirupolui^o u. s. w. G. Bd. '6. u. 4. Hüft. l'JOl.
220
XV. Näckb
neue p«nidoze und oft geiBtrdehe Ideen wieder «of einige Zeit auf-
zuhelfen. Kürzlich hat er sich nun in einer grosseren Arbeit ') folgenden
Passus geleistet, der freilich inhaltlich für Lomhroso nicht neu ist:
„Es ist cig;enthünilich, dass der Epileptiker und der Verbreelier, die
80 häufig die mittlere Uinterhauptsgrube aufweisen, und in Folge
dessen eine Hypertrophie des Vermis, der, gereizt, so oft den Zwang
Böses zu thun erzeugt, auch so oft eine grosse Reizbarkeit zeigen,
mit Fühlen jejrlicher Inhibition, die den Ausgangs|)unkt einer solchen
Neijrunii: darstellt. Man m()chte meinen, dass wir auf den»
Wege sind, die specifische Liision der Verbrecherneigung
zu finden''-!. Wie fast jeder Satz Lombroso's, so ist auch dieser
in verschiedenen Punkten anfechtbar. Da aber sein Schluss für
Lombroso von |)rineii)ieller Bedeutung zu sein scheint, so verlohnt
es sich wohl hier näher darauf einzugehen, freilich nur für andere,
da Lorabroso bekanntlich absolut unbelehrbar ist.
Dureh diese nene und grössere Arbeit ist er zunächst auf einen
seiner Lieblingsgedanken zurückgekommen, nämlich auf die angeblich
hohe Bedeutung der sogenannten mittleren Hinterhauptsgrube und
deren sichere oder sehr wahrscheinliche Erzeugung durch Hyper*
trophie des Vermis am Kleinhirne. Das hat er alles schon früher
Yorgebracbt, doch stammt ea wiederum Ton Albrecht her, der zwar
ein sehr gelehrter, aber ganz ezcentriaoher Anatom war, deshalb eben
für Lombroso gut passte. Lombroso sucht hier von Neuem zu
beweisen, dass die genannte Grube bei Verbrechern und Irren, speciell
bei Epileptikern viel häufiger als bei Normalen und deshalb, aber auch
noch ans anderen Gründen, ein schweres Stigma ist, und zwar ein
atairistisches.
Nun sind schon früher seine Anga]»en nicht iinwi(l('rs])rochen ge-
blieben, so z. B. von Benedikt, Ferc, Heger, Dalleniagne,
Debierre, Sernoff u. s.w. Debierre'), ein ausgezeichneter und
kritischer Anatom, fand diese mittlere Uinterhauptsgrube bei Normalen
nur in 2 — 3 Proc, bei Verbrechern in 3 l^roc, also fast ebenso oft,
und will hier nichts von einem Atavismus wissen, da er bei 31 Anthro-
poiden diese Grube nie fand.
Sernoff^) wiederum, der grosse russische Anatom, der mit
1) Lombroso, Sul Tennis ipertrofioo e snlla fossetta oodpiUito mediana
nei normali, degli alienati o noi dclinquenti. Archivio di psichiatria ctc 1 0OH. p. 1 1 ff
2) Die gesi)crrt froihut ktoii Worte sind im Texte nicht c;c8pcrr< gedruckt.
3) Debierre. Le eniue des ciiruiaelä. Lyon, Paris. Ötorck. lYJb.
4) Sernoff , Die leckre Lombroso's und ihre anatomischen OmndlagoD im
Lichte moderner Forschong. Biologisches Gentialbl. 1896. ApiUS nnd 15.
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£Snd wir d. automiBdieii Sitze der «Verbrechemeigang" oAher gekommen? 821
mScbtiger I^nze ge^en den DeliiKiuente nato loszog, sa^jt ausdrücklidi:
„Beim Menschen konimt sie (die wurinnirinif^e Grube), wie zahl-
reiche Beobachtungen festgestellt haben, selten (2 — 3 Proc.) vor und
zwar bei normalen Menschen ebenso oft wie bei Ver-
bre ehern."
Bezfiglioh des Znaammenhanges mit dem Wunne sagte er weiter:
„Der mittlere läppen des üntarwurms, die sogenannte Fynunisi
welcher der Lage nach der in Bede stehenden Grabe enteprechen
würde, nnteriiegt allerdings gewissen GrOssenschwanknngen, allein
diese sind so geringi dass von einem Hinansragen ans der Valleoala
gar keine Kede sein kann. Das Vorhandensein der wnnnfSrmigen
Gmbe am Hinterhauptbeine kann demnach mit einer stärkeren Ent>
wickelang thierischer Instincte (Lombroso) in keinem ursächlichen
Zusammenhange stehen/ Er hatte speciell 80 Kleinhirne auf diese
Verhältnisse hin untersucht, und ich bemerke noch aosdrttcklich, dass
Sernoff einer unserer ersten Gehimkenner ist
Wir sehen also schon daraus, dass Lombro80*8 Behau ptun;ua>n
bezüglich der Fossa occipitalis mediana durchaus noch unbewiesen
sind. Seine alte Taktik hat er freilich auch hier wieder bewährt,
intltMu er kritiklos alle möglichen Autoren anführt, die zu seinen
Gunsten sprechen, die anderen aber einfach — wcp:cscauiotirt! So
bestehen Sernoff und Debierre für ihn nicht und ihre Beob-
achtungen und üenarkungen ebensowenig. Wir haben es hier beim
Wurme offenbar mit Grössenunterschieden zu thun, die nur ein sehr
genauer Gehimkenner, wie z. B. Sernoff, richtig schätzen kann
nie aber ein Lombroso. Vor eimgoi Jahren eizählte mir einer der
eisten italienischen Gehimforscher, dass Lombroso's Gehimkennt-
nisse nar gering seien.
Daraus sieht man schon, wie wenig yertraaenswfirdig alles ist
was er ans Ton der Anatomie des Gehirns erzfthlt Sehr wahrschem-
lieh bezieht sich das aber «ach aaf die Pathologie, da die patho-
logiscb-anatomisehen Kenntnisse Lo mbroso's mir gleichfalls sehr zwei-
felhaft erscheinen.
Dass er sich manchmal kurz liintereinander selbst widOTspricht,
stört ihn nicht So hat er z. H. durchaus selbst nicht immer bei
dieser „fosse yermienne'' Hypertrophie des Wurms gesehen, wenn auch
in dor Mehrzahl. Trotzdem sagt er dann ruhig in seinem oben
citirten Satze: die mittlere lliDterbauptsgrube und in Folge dessen
eine IIyj)ertro])hie des Wurms . .
Zur Zeit steht also nur so viel fest, dass diese Grube bei Wilden,
Normalen und Verbrechern in sehr verschiedener Häufigkeit gefunden
222
XV. 2iÄCK£
wurde und ausser Zn&ll — Sernoff weist z. B. mit Recht darauf
hin, dass die Sammlungen von Verbreeherach&deln schon
ein Auslesematerial sind, was tou fundamentaler Bedeutung
bei der Benrttieilung ist — sieher auch, wie bei vielen anderen Din-
gen, looale Diffefensen bestehen. Wie steht es nun aber mit den
Irren und speciell den Epileptikeni? Für Lombroso ist natürlich
die Sache absolut sicher gestellt und zwar derart^ dass hier die ficag^
liebe Grabe viel häufiger ist als bei Normalen.
Auch hier protzt er mit Zahlen und kümmert sich nicht um deren
Qualität Ich selbst kann wohl behaupten, dass ich bei Hunderten
von Sectionen Geisteskranker, Idioten und Epileptikern mich nicht
entsinnen kann, auch nur ein einziges Mal diese abnorme Grube in
ausgeprä^er Gestalt gesehen zu haben. Specielle Aufzeiclimin^en
darüber besitze ich allerdings nicht, aber diese Anomalie ist so frai)paiit,
dass sie Jedem ohne Weiteres auffallen niuss, der die innere Schädel-
basis auch nur oberflächlich betrachtet. Ich glaube auch nicht, dass
in Wuhlgarten, der grossen Epilei)tikeranstalt von Berlin, wo
ausserordentlich genaue und sachkundige Sectionen vorgenoinuien
werden, diese Grube besonders häufig sich vorfand. Wenigstens habe
ich hierüber in Referaten nichts gelesen. Ja, in Deutschland über-
haupt, wo in den Irrenanstalten sicher mit die genauesten Unter>
suchungen gemacht werden, liest man kaum von solchem Yoifcomnmiss.
Also ist auch die These Lombroso*s bezüglich der Irren und Epi-
leptiker noch durchaus nicht sicher begründet und bedarf noch weiterer
Prüfung. Zum grossen Theile liegt die Verschiedenheit der Häufig-
keitsangabeo wohl auch darin begründet, dass diese mittlere Hinter*
hanplvgrube ganz verschiedene Dimensionen aufweist, und der Eine
nur die ausgeprägten Grade, der Andere schon die Anfilnge davon
hierher rechnet u. s. w.
Wir sahen weiter, dass es für Lombroso eine absolute Gewiss-
heit ist, dafis die besagte Grube ein KUckschlag ist. Viele bestreiten
das, so z. H. Debierre. So viel aber steht fest, dass in Fragen
des Atavismus nur die Anatomen und Embryologen zu-
stündig sind, nie aber Andere, am wenigsten wieder Lom bro so.
Diese Fragen sind so schwierig, dass z. H. bezüglich verschiedener
Bildungen seihst diese Fachleute noch nicht im Klaren sind. Ja der
bekannte Anatom und Anthropolog Prof. Stieda leugnet überhaupt
den Begriff: „Atavismus'" ganz')!
1) Wenn Lombroso bei l.!2i) Eurojweni iu 4,3 Proc. eiue öolclio Grube
berechnet, so kann man streng genumnien, von einem Atavismus hier deselialb
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Sind wir d. anatomiedieD Sitze der „Verbredienidgiiiig'' nihergekommea? 223
Map: fliese Bildung nun aber ein Atavismus sein oiler nicht, so
halte ich auch sie für ein Stigma degenerationis, vorausgesetzt,
daas sie wirklich bei den Entarteten aller Classen h&nfiger, als bd
Normalen isl, znmal Lombroao bei Soleben mit der beregten Gmbe
besonden viele andere DegenerationsEeichen Teizeicbnet
Bei den Irren giebt Lombroso anoh einige HänfigkeitBsahlen
naeb der Farm der Pqroboae an. Aneh bier ist aber selbst für sein
Material Beeenre geboten, da seine Psyebiatrie ebenso excen-
triscb und nnwiasenacbaftlicb ist, als seine Kriminal-
antbrbpologie. In seinen Specialfäohem der Psychiatrie und
forensen Medicin hat er nichts Bleibendes geschaffen und sein Name
findet sich daher in dieser Hinsicht mit vollem Rechte wohl nirgends
in einem anaseritaUenischen Lehrbuelie der Psychiatrie und gericht-
lichen Medicin verzeichnet und selbst in italienischen psychiatrischen
Arbeiten bleibt sein Xame meist unerwähnt. Spricht er doch noch
z. B. von Monomanien und seine ii^unz extravaganten Ansichten über
Epilepsie, Hysterie n. s. w. sind bekannt und berüchtigt! Es stünde
schlimm mit der italienischen Psycliiatrie, wenn üire Corj'phäen
solche Psychiater wären. Zum Glück haben wir es hier aber mit
Männern zu thun, wie Marro, Morsclli, Tanzi, Tamburini,
Sciamanna, Bianchi, d'Abundo u. s. w., Männer, die auch im
Auslande geehrt sind, weil sie in ihrer Wissenschaft ernst forschten und
Treffliches leisteten. Sie haben sich meist auch mit den specifischen
Lombroso'sdieii Aoncbten siebt oder nnr mit grosser Besenre be-
freondet und in ihren Beihen spielt Lombroso als Pi^ehiater keine
grosse BoUe.
Doeh kehren wir jetzt zn nnseram Thema zorttck. Lombroso
berichtet Ton Terschiedenen fremden raien mit (angeblicher) Hyper-
trophie des VermiS) und findet hier psycbischerseits eine Menge bdser
Neigungen verzdchnet, z. B. Neigung zu Kindsmord (?) 1 mal, Tendraz
zu Selbstmord und Melancholie 7 mal, Immoralität und Sexualexcesse
9 mal, Neigung zum Diebstahl 3 mal, zu Alkoholismns nnd Vagabon-
dage 4 mal, Monomanie mit Hallucinationen 3 mal u. s. w. — folglich
— nnd das ist einer der unzähligen kindischen Schlüsse Lom-
broso's — hängen diese disparaten Dinge mit jenem Venuis zu-
sammen! Er selbst l)ringt 2 Fälle bei.
Natürlich kommt auch die Epilepsie hierbei nicht zu kurz weg.
nicht sprechen, wdl diese Blldang also schon normaler Wdse beim Menschen vor^
Iconimt. wenn auch seltener als bei vielen Tbieren. Erst wenn sie beim nor-
malen iMen^clu n so gilt wie e:an7 verschwunden wSro nnd i)lör/,li('li hei einer
besondereu Oasm von Leuten wieder auftauchte, könnte man von Kiak:H:lilag reden.
224
XV. Nacks
Luciani erzengte durch Reizung des Kleinhirns und des Wurms
Epilepsie. Uierbei fallt es Lombroso nicht ein 1., dass künstliche
Epilepsie mit natllifioher oiebts odor nur wenig so thnn hat; 2., dam
nach einem der besten Kenner der Tbier-Nervenkrankbciten, Prof.
Dexler in Prag, Epilepsie bei Thieren mit Sicherheit bis-
her noch nicht nachgewiesen ist, nnd dass alle die bezeich-
neten Himezperimente Luciani 's neneidingB nnr mit Reserve hin-
genommen nnd besonders von Prof. Hnnk scharf kritisirt weiden.
Bei Lombroso sind eben Analogien, Aehnlichkeiten ohne
Weiteres Identitäten. Lächerlich ist es ferner, dass er aus einer
Reihe von Fällen mit Atrophie des Kleinhirns mit oder oline solche
des Wurms, Kapital für Epilepsie und Verbrechen schlägt. Er über-
sieht dabei, dass man gerade diese pathologischen Veränderungen bei
beiden nur sehr selten findet und andererseits sicher solche vorkommen,
ohne da^s Epilepsie oder Verbrechen bestehen. Pagano fand l)ei
ähnliclier Erzeu^unj:: von künstlicher Epilepsie wie Lncani: Furcht
und die Tendenz zu Büseni. Fol^Hch — I — Lombroso sajrt dann
triumphirend : „Da es mir geianj;, den Zusammenhang der .fossetta
occipitale' mit der Hypertrophie des Wurms nnd die jrrossere Häufig-
keit des einen oder beider bei Verbrechern nnd Irren, speciell bei
Epileptikern oder Melancholikern, nachzuweisen, so glaube ich, dass
dies von Wichtigkeit ist; zuerst, weil dies bis zu einem gewissen
Grade den von Vielen behaupteten Zosammenhang zwischen Anomalien
des Wnrms nnd der Seznal- nnd motorischen Tendenzen bestätigt, dA
der frObzdtige starke Oeschlechtstrieb nnd die grosse Mnskelgewandt«
heit bei Beiden hänfig sind nnd ein nener Bewds für die SolidarüSt
nnd Identität zwischen beiden Formen sind, wie ich sie find; sodann er
klSzt es die hftnfigen epileptischen AnftUe .... die Impnlsivitäti die
beiden eigentbümlich sind.^
Auch dieser Satz ist voller Fehler, wie zum Theil schon aus dem
Früheren hervorgeht. Es ist nicht wahr, dass häufig frühzeitiger und
starker Geschlechtstrieb bei Epileptikern und Verbrechern vorkommti
ebauowoug Muskelgewandtheit Es sind dies vielmehr nur Ausnahme-
zustände. Man befrage hierüber z. B. nur Ha er. Ich habe früher
sehr viel Epile])tiker behandelt und sah obige Eigenschaften nurs( lir
selten. Von einem Zusamnionhange oder gar, wie er sagt, Identität
zwischen Verbrechen und Ki)ilepsie ist aber erst recht keine Kedel
Ein Verbrecher kann Epileptiker sein, ist es aber nur relativ selten,
und für eine epileptische Basis des Verl)rt'cliertliiuus — ehenso für eine
utavislisclK' — si)riclit niclits. Kein bekannter Deutseher — vieileiclit nur
mit Ausnahme von Kurella — folgt ihm hierin; trotzdem lääst sich
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Sind wir d. aottomlschen Sitze der «Verbredienieigaiig'' nähergekommen? 226
Lombroso die Sache niclit ausreden und ist stolz auf seine anj^eb-
liclie Entdeckung. Lassen wir ihm also dies kleine X'er^^nüiren !
Kürzlich erst hat einer der ausirezeichnetsten l*svcliiater und Kenner
der Gefangenen, Prof. Aschaffenburg'), diese ganze Theorie
Lombroso 's ad absurdum geführt und fast auch seine sämmtlichea
sonstigen Leits&tze Tcrwoifen. Nicht ein einziger foraiser Psychiater
in Dentsehland will von der epileptisohea Grundlage des Yeibrechena
etwas wissen, überhaupt von der tollen Yerwaachnng dea Begriff ea
Epilepsie, wie de Lombroso beliebt Wohl hat sieh mit der Zeit
dieser Begriff erweitert — > vnd zwar aneh ohne Lombroso ~|
wir sind aber sehr weit davon entfernt^ alles MOgliehe derselben auf-
halsen zn wollen. Nieht jeder DSrnmemiigszustand oder ImpnlsiTitSt
oder Baptus ist Zeichen einer «psyehischen** Epilepsie! Er kann es
möglicher Wose sein. Sicher aber nur dann, wenn vorher oder nach-
her Anfälle von grand oder petit nuil bemerkt wurden. Bis dahin
ist er nur der E|)ilepsie verdächtig. Der sogenannte ^epileptische"
Charakter besagt sehr wenig, da er ein selir dehnbarer Hegriff ist.
Wir seilen also als das f'acit unserer liisherigen iietraclitung, dass
wir trotz der Ausf ü Ii rungen Loniliroso's noch ebensoweit
davon entfernt sind, den eigentlichen anatomischen Sitz der
Verbrecherneigung gefunden zu haben, wie vorher. Das
Kleinhirn ist uns kaum weniger rätiiselhaft als das (Jehirn, wenn wir
nicht Lombroso sind. So wird es wohl auch noch lange bleiben!
Uebrigens hat Lombroso diese seine Ansicht, wie bereits gesagt
wurde, schon frUher ausgesprochen, wiederholt sie hier einfach nor
mit Varianten, wie er dies zn thun beliebt.
Znm Schlnsse wird es vielleicht nicht tlbeifUlssig erscheinen, zn
zeigen, dass Lombroso auch im Jahre des Hdls 1903 nnwanddbar
seinen alten Ideen anhängt, nnbehdligt nm die Kritik der Anderen.
In seinem Archivio di psicbiatria etc. 1903» p. 123 in einer Kote sagt
er nämlich wörtlich Folgendes: ... ich habe sowohl den geborenen
Verbrecher, wie auch den moralisch Schwachsinnigen unter ein kli-
nisches Bild gebracht, das sehr gut durch die Schädel-, Gesichts-
Empfindongs-, Stoffwechsel- (^Differenz in den Phosphaten)^ Bewegnngs-
(Kancinismus), Sinnes- (periphere Skotome) und Seelenanomalien aus-
geprägt ist . . Dinge, die heutzutage fjust nur er und seine Schüler
für wahr halten, aber meist schon längst wiederlegt sind. An den
ifgeborenea'' Verbrecher glauben bei uns nur ganz Wenige, wie auch
1) Asciiaffen bürg, Diu Verbxecheu und seine Bek&napfang. üeidel-
berg im.
226
XV. ÜMXE
die meisten Deutschen und viele andere auswärtige Gelehrte von einer
moral insanitj' als eigener Krankheitsform nichts wissen wollen. Wohl
ist bei Gewissen — einer kleinen Classe nur — die Prädisposition zum
Verbrecher eine mehr oder weniger grosse — das sind manche Ge-
wohnheitSTerbrecher speoiell und yiele GlewaJtthätigkeitsTerbredier —
aber dämm mtlssen sie noeh lange keine Verbrecher werden, sondern
daa hingt dann vom Milien ab. Also ist der Ansdmok «göbcrener'
. Verbrecher falsch. Immerhin ist hier das endogene Moment grosser
als das exogene. Bei der Mehrzahl der Verbrecher aber ist
sicher der exogene Factor grösser als endogene. Dahin
gehören die meisten Gewohnheits-, Gelegenheits- and AffeotFerbrecber.
Die Psychopathen und Irre, die man ziemlich oft unter den Ver-
brechern findet, sind hauptsächlich unter den GewohnheitSTerbrechem
ansntreHen. Ein Unsinn ist es aber, ohne Weiteres jeden Ver-
brecher als krank zu bezeichnen. Nur ein kleiner Theil
ist es; der grössere sicher nicht, will man den Kiankbeitsbegriff
nicht in 's Ungemessene ausdehnen.
Auch der „Verbrechertypus^, der absolut nicht charakteristisch
ist, wird von den Meisten mit Recht abgelehnt. Ein Typus, der nach
Lombroso's eigenem Zeugnisse nur bei etwa einem Viertel aller
Verbrecher sich findet, ist eben höchstens ein Typus — ilazu noch
mit vielen Willkürlichkeiten behaftet — , aber nicht der Tyi)us, il tipo
criminale. Baer und Andere haben nachgewiesen, dass auch obiger
Typus sogar ziemlich selten ist Für Lombroso ist femer Stigma,
Stigma, wobei er ethnische Verhiltnisse so gut wie gar nicht berück-
sichtigt
Auch die Psychologie des Verbrechers ist noch ganz
wenig bekannt, wie besonders Aschatfenbnrg neuerdings betont
Für Lombroso dagegen ist Alles klar! Ganz albern sind seine
Schlüsse bCBÜgiich gewisser Stoffwechselanomafieo. Ein paar Mal
fand man bei Verbrechern und „moralisch Irren'' eine geringere Aus-
scheidung von Erdplios])haten im Urin und zwar — nota benel —
nur nach wenigen Analysen. Sofort schloss Lo m bros o , dass dies m
Oharakteriatioum für sie sein sollte^ was anch gewisse Experimente an
Thieren beweisen sollten! Weil man femer einige Male bei Verbrechern
und Epileptikern gewisse Verlagerungen von Xervenzellen-Sebicliten
in der Grosshirnrinde fand, sind sie für Lombroso schon typisch für
Beide! Was soll mau zu solchem kindischen Gebahren sagen?
Wer ferner seine Arbeiten über Genie, Anarchismus u. s. w. kennt,
wird dergleichen Albernheiten auf Schritt und Tritt wiederfinden.
Man fragt sich nur, wie ein solcher unwissenschaftlicher Kopf die
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Sind wir d. anatomischen Sitze der nVerbrechemeigang'^ nihergekommm? 227
Menjre so fasciniren konnte. Seine Verdienste sollen ihm sicher un-
geächinälert bleiben. Er brachte das ganze neuere Studium der Kri-
minalanthropologie inFIass, er betonte die Untersuchung des Veibrecbeis
und nicht des Verbrechens, besonders aber die wichtige Bolle des
endogenen Moments hierbei, die er freilich flbersehätzte^ wShrend er die
des HUieosnnterBohXIzte nnd wies auf die Wichtigkeit der Stigmen hin,
die er jedoch gleichfUls sehr libecBchiUzte. Auch dass er dnrch seine
Arbeiten das Stadium der Psfchopatheni Hnren, Anarchisten, Genialen
n. s. w. neu belebte, soll ihm unrergessen sein. Sein Hanptverdienst
liegt aber vielleicht in der Anwendung dieser lehren auf das prak-
tische Lfeben. Er fordert mit Hecht Abschaffung des Strafmaasses
nnd statt Strafe den Begriff des socialen Schutzes.
Das sind sicher grosse Leistungen, die freilich durch sein wissen-
schaftliches Arbeiten leider sehr getrübt werden. Von seiner «ranzen
Bibliothek wird nur wenig später dem Zahne der Zeit Stand halten,
und Lombroso wird in der Geschichte des Irrthums einen
der ersten Plätze einnehmen. Alle seine grossen Fehler im
logischen Denken würde man ilun aber verzeihen, wenn er bescheiden
seine Thesen als seine persönliche Meinung würde vortragen, statt
stets ex cathedra zu reden. Das fordert natürlich ßeaction heraus!
Er leidet fast an Grössenwahn und hält sich sicher für noch un-
fehlbaier als der Papst Seine SchfUer erklXren ihn orfoi et nrbi f&r
ein Genie nnd er hält sich gewiss anch dafür, doch zieht er wohl
schwerlich fdr sich die Folgen daraus, die er immer besQglich der
Geistesverfassung des Genies predigt Man weiss ja, dass fttr ihn
Genie nnd Irrsinn identisch oder nabeau identisch sind. Immer wiede^
holt er die alte Sache nnd bringt angeblich immer neue Beweise vor,
die freilich, wie fast alle Lombroso'schen Beweise, sehr
fadenscheinig sind. Wenn je einer die Statistik missbraucht, so
ist er es. Bindert) hat ihn geiner 2Ieit schon bezüglich des Genies
wie einen A-B-C-Schützen henintergemacht und kürzlich erst wieder
hat ihn Löwen feld-^) widerlegt. Das nützt aber Alles nichts. Lom*
1) Binder: Das I. u. H. Gapitel aus Lombroao'a Bnch «Der geniale Menadi'',
Wüitr. Medic, Corre^ipürxlenzblatt 1S02, und: Das letzte Capitcl dea Lombroso'adien
liuclies ^Der geniale Mensch", neigst ileii Kr^'olunV.sen eijreiier Uuteniuchnngen.
Ibidem, lb94. In der ganzen Literatur kenne ieh wenige solche niederschuiet-
tenide KrtÜken. In derselben Weide sollten auch die übrigea Werke Lombroäo's
betraditet worden und ea wfirde davon nicht viel mehr flbrig bleiben! Gans neuer-
dings hat auch Locard (Archivee d'anthropologie criminelle ete. 1908, 1& jnni)
iu milder Weise allerdings, sieh gegen Lonihroso's Genie-Lehre ausgesprochen.
2) Löweufcld: Ucber die geniale Geistestbütigkeit u. s. w. Wiesbaden,
Beigmann, 1903.
228 XV. 2sl\cK£f äiüd wir d. auatomischen Sitze der «Verbreciiorneigung'' u. &. w
broso kant Beine alten Geachichten wieder! Dawelbe gilt auch von
den Anarehiflien, und hier bat ihn Bpitzka sen. wiederbolt t&ditig aof
die Finger gekloj^
Mag man darüber Btreiten, ob Lombroeo wirklich ein Genie
ist oder nioht loh m(k)hte ihn faat dassn reehnen, freilich für ein sehr
nnregelinässigee nnd wenig liebenswOrdigeSi dessen meistoB Thnn
später Bioher der Vergessenheit anheimfallen wird. Ihn sdbfit flber-
kommen Ton Zeit zu Zeit Boheinbar Begüngen einer Art von Selbst-
erkenntniss. Doch nur sehr selten; er tröstet sich dann gleich mit
der Zukunft und sitzt sofort wieder auf dem hohen Rosse. So fügt
er z. B. ol)i<rem Satze der Note sofort folgende Betrachtung bei:
„wenn der Moment für eine Idee in einem I^nde noch nicht reif ist,
versteht sie Niemand, und um ilie Rathschläire der Kurzsiclitigen bei-
zubehalten, erneuert sich die Fabel vom Vater, Sühnchen und Esel/'
Gewiss ein sehr geschmackvoller und effectvoUer Öatz, der aber leider
an der undankbaren Welt abprallt!
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XVI.
Einfloss irriger Bechtsanschannngen bei der Begehung
Yon Verbrechen.
loa
Dr. Jur. Bndolf XolliM.
Während friilicr Recht war, was die Volksfrpriosson für Recht
hielten, ist jetzt Recht, was in den j^eschriebenen Gesetzen enthalten
ist. Der Inhalt der geschriebenen Gesetze deckt sich aber nicht aller-
wegen mit der Rechtsüberzeugung des Volkes. Der Gesetzesinhalt
ist überhaupt nicht Gemeingut des Volkes. Zutreffend weist hierauf
Krück mann (Die Entfremdung zwischen Recht und Volk. Leipzig
1899) als aal eiaen Ifoataiid hin. In Deatedilaiid ist dieser Zustand
anch ganz erklbrUch. Die Beohtseiiiheit ist hier nur erat nnvoU-
kommea und noch nicht alt Die frühere Zenissenheit war einer
Popnlaiisimng des Rechts gewiss hmdertich; gegcnwSitig ist die ab-
stracte Sprache der Oodificationen ihr sicherlich nicht förderlich. So
kommt es denn, dass im Volke mancherlei irrige Rechtsanschannngen
verbreitet^ znm Thett weit yerbreitet sind.
Selbst über iamilienrechtUche Verhältnisse bestellt nicht volle
Klarh^t So wird in den unteren Schichten der Bevölkerung ein
Paar nur dann für verlobt gehalten, wenn es „in der Zeitung ge-
standen" hat Wenn er nur „mit ihr geht", gelten beide nicht als
verlobt, wenn sie sich aueli noch so ernsthaft die Ehe versprochen
haben. Wenn es sich daher um das Zeiiirnissverweigerungsrecht,
die etwaige JStraflosigkeit einer pM-i^iinstigung, den Strafantrag bei
Diebstahl oder Unterschlagung handelt, darf man sicli mit der blossen
J^Yage, ob der A. mit der R. verlobt sei, nicht begnügen, sondern
muss das zwi.sciien ihnen bestehende Verhältniss näher erforschen.
Auch über die Eliehindernisse und ihre Bedeutung sind die Leute
zumeist nicht unterrichtet. Im Herbste 1900 erschien bei mir auf dem
Amtsgerichte in L. eine Fabrikarbeiterin ledigen Standes und erkttrte,
der Arbeiter H. habe ihr die Ehe versprochen, nnd sie geschwängert^
stehe aber jetzt im Begriffe eine andere zu heirathen; sie beantrage^
AicUt fir Kiimluliatiirapok«!*. Xlf. 16
230
XVL MOTHM
diese Ehescliliessunf? zu verhindern. In ihr lebten wahrscheinlich
Reminiscenzen an das dem modernen Rechte fremde Ehehindemiss
des andervveiten Verlöbnisses. Sife war sehr schwer zu belehren und
fast entschlossen, die etwaige kirchliche Trauung ihres ungetreuen
liebhaben zu stDien. — In Ebeaeheidungsprooenen begegnet es
nieht selten, daas der auf Scbeidimg Verklagte Ebemann die Mist-
bandlnngen, die er der Fran zugefügt hat, damit zu rechtfertigen
sneht, daea er angidit, nach Lage der Umatlnde b&tle er sieh für'
befugt erachte^ von „aeinem Zfiehtigiingarecbte'' Gebrauch zn machen.
Ein ebemSnnlichea ZÄcbtignngarecbt ist dem modernen Bechte &emd.
In manchen dentschen Particularrechten kam es jedoch vor (Stobbe-
Lehmann, Deutsches Priyatrecht 3. Anfl. Bd. 4, S. 63) und lebt in
der Rechtsüberzeugnng weiterer Beydlkerungakre^ noch fort. Die
Körperverletzungen, die an Ehefrauen tob ihren Männern begangen
werden, werden sich häufig auf diea yermeintliche Recht zurück-
führen lassen.
Das Züchtigungsrecht gejrcnüber dem Gesinde ist für ganz Deutsch-
land durch Art 95, Abs. 3 des EG. zum BGB. abgeschafft worden.
Doch ist mir in letzter Zeit noch manche Hausfrau und mancher
Gutsherr begegnet, die davon keine Kenntniss hatten und sich nach
wie vor für berechtigt hielten, bei Unfleiss oder Ungehorsam des Ge-
sindes mit einer levis castigatio einzugreifen. Ja von einem Kitter-
gutsbesitzer aus dem mehr östlichen Theile Deutschlands wurde mir
erzählt, er sei ausserordentlich erstaunt, förmlich in seinem Rechts-
gefühle yerletzt gewesen, ala er in Folge der Anzeige eines von ihm
durchgepeitschten E^nechtea vor Gericht geatdlt und yerurtbeilt worden
war. Die HUle der Qeaindemiaahandinng, die zur gerichtlichen Ahn-
dung gelangen, smd ja im Yeifaältniaae zu denen, die Torkommen,
nicht beaondera zahlreich. Dies hat seine Ursache zum guten Theile
mit darin, daaa in den Geaindekrdaen die Beseitigung dea herrschaft-
lichen Zfichtigungarechtea noch weniger bekannt iat wie unter den
Dienstherrscliaften.
Bei den Eidesdelicten spielt nicht nur der Aberglaube (zu vgl.
Sohnrey. Der Meineid im deutschen Volksbewnsstsdn* Leipzig 1894,
S. 23ff.), sondern auch die Rechtsunkenntniss eine grosse Rolle. So
glaubt im Civilprocesse die Partei häufig, sie habe mit der Norm des
ihr auferlegten Eides nicht die Wahrheit der darin bezeichneten That-
sache, sondern lediglich ihre Ueberzeugung von ihrem Rechte zu be-
schwüren (Fetersen-Anger. Uvm. 2 zu § 415 der CPO., Str>lze], Schu-
lung. 1. Aufl., S. 51, Note 2). Es kostet dem Richter bisweilen Mühe,
die Schwurpflichtige Partei zu belehren.
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£inHuM iniger BechtsanschagiingMi bei der Begehung von Verbrechen. 231
Eine eigenthümliche Rechtsparömie ist mir wiederholt be^^egmet
sie lautet: Dreie schwüren einen meineidig. Zuerst habe ich sie in
der sächsischen I^usit/: ^'ehört, dann auch von Berliner Bauunter-
nehmern und Chemnitzer liandwerkera, die vor dem Oberlandes«
geriehte in D. ab Zeugen Temommen winden. Ihr Sinn ist: „Wu
ein Henscli befehwoien bat, kann nnr dnreh die ddliohe Aussage
dreier glaubwürdiger Stengen wideil^ werden.*^ Die GefiUuliehkeif
des Satsee lencbtet ein. Eine ErkUmng fftr seine Eotatehnng babe
ieh nieht finden könnoi. Vielleicbt entbält & eine BeminifloenE an
die zwei daasiachen Zeugen des gemeinen PtooeBses.
Diese waren noch lebendig in einem Falle, der im April 1902
vor dem Amtsgerichte in D. spielte. Dort weigerte sich eine Frau
ihre Aussage zu beeiden, „weil bereits zwei gescbworene Zeugen das
Gegentheil ausgesagt hätten." — Em Irrthum eigener Art trat mir
im Januar 1903 bei der Vernehmung einer Zeugin vor dem Ober-
landesgerichte in D. ent;j:ej;en. Die Zeugin war bereits in einer an-
deren S.ache über dieselben Thatsachen vernommen worden. Da
jedoch damals der (Jegner des jetzigen Beweisführers die Beweislast
hatte, so war das Beweistheraa seiner Fassung nach das contradic-
torische Gegentheil von dem im zweiten Falle vorliegenden gewesen.
Die Zeugin hatte damals das Beweistheiua im vollen Umfange be-
stätigt und schickte sich auch bei der neuen Vernehmung wieder zu
einer Bestätigung an. Da dies befremden musste, bemühte sich der
mit der Yemehmung beauftragte Biebter, die Saebe an ergründen.
Es BteUte sieb beians, dass die Zeugin glaubte, sie mfisse auf jeden
IVO! daa ibr naob % 377, Absats 2, Ziffer 2 der CPO. in der lüdung
mitgetbeilte Beweistbema bestätigen.
Im OffenbarungseidsTerbbren begegnet es bäufig, dass die Mani-
festanten ibr VermOgensTeReicbmBS mit dem Yerspieoben abscbliessen,
dass sie etwa darin vergessene Sachen alsbald anzeigen wollen. Naeb
der allgemeinen Gerichtsordnung für die preussischen Staaten gehört
das Versprechen der nachträglichen Anzeige in die Norm des Offen-
bamngseides. Seine Nichterfüllung stellte § 162 des Reichsstraf-
gesetzbuches unter Strafe. Der Offenbarungseid nach der deutschen
Civilprocessordnung enthält das Versprechen nicht mehr, ^fit ihm
bescinvfirt der Manifestant, dass er sein Vermögen so vollstiimli^; an-
gegeben habe, als er dazu im Stande sei. Lebt er nun der Meinung,
dass die Pflicht der nachträglichen Anzeige besteht, so wird er es
mit der sofortigen Angabe des Vermögens nicht so ernst nehmen, wie
das erforderlich ist Die Folge wird eine fahrlässige Verletzung der
Eidespflicht sein. — In vielen Fällen schien es mir auch so, als
16»
232
XVL Homu
schwöre der Schuldner leichthin den Offenbaningseid, weil er glaubte,
or befreie flieh damit rmi Minan Schulden.
Weit verbleitet ist der Irrtfanm, da» man in sonen vier Winden
sagen können was man woUe, ohne in Strafe sn veifidlen. Die Leute
glauben insbesondere, daas sie wegen einer Beleidigung oder einer
MiyestStsbeleidigung^ die sie im yertraoten Kreise in ihrer Wohnung
aussprechen, nicht verfolgt werden kOnnen. Vielleieht beruht dieser
Iirthum darauf, dass erbüinrngsgemSss die Verfolgung in diesen Flllen
SU unterbleiben pflegt.
Im Recht von 1902 S. 583 erwähnt Soergel eine irrige Ansicht,
die sich gleichfalls weiter Verbreitung erfreut, nämlich, dass ein Haus-
friedensbruch erst vorliege, wenn der Ilausfriedensberechtigte dreimal
zur Entfernung: aufgefordert hat Den Gastwirthcn will ein g:rosser
Theil des Publiciinis nur ein sehr l)e8chränktes Ilausfriedensrecht zu-
erkennen. Es bestellt die Meinung:, dass ein Gastvvirth auf Grund
der behördlichen Schankerlaubniss verpfliclitet sei, jedermann in seinen
Schankräumen zu dulden und zu bewirthen. Es geschieht daher
nicht selten, dass ein Oast auf sein vermeintliches Recht pochend,
sich weigert auf die Aufforderung des Wirthes dessen Räume zu
verlassen.
Auch in Beziehung auf die Eigentbumsverletzungen bestehen
manche unzutreffende Beehtsansichten. So weist Bartolomftus im
Becht (1900, S. 365) darauf hin, dass in nichtjuristischen Kreisen die
Meinung weit verbreitet ist, dass die Wegnahme einer werthlosen
Sache kein Diebstahl sei. Zutreffend hebt er hervor, dass es unsere
Bechtsttberzeugung nicht duldet, dass Jemand wegen Entwendung
einer Stecknadel oder einer Nussschale bestraft wird. Ich möchte
hier auch auf die Stein- und Pflanzensammler hinweisen. Stone und
Pflanzen sind wesentliche Bestandtheile der Grundstücke, worauf sie
sich befinden. Dem Sammler, der eine Feuersteinversteinerung vom
Felde oder eine Blume vom Raine nimmt, kommt es sicherlich nicht
zu Bewusstsein, dass er in fremdes Eigenthnm eingreift. In vielen
Gegenden ist das Privateigenthum am Walde noch nicht in seiner
vollen Bedeutung dem Volke zu Bewusstsein Lrekoninien. Man er-
achtet es dalier auch in den gebildeten Ständen nicht für Unrecht,
in fremden Wäldern ohne Zustimmung der .Eigenthiimer Pilze und
Beeren zu sammeln.
Nach § 69 des Militärstrafgesetzbuches für das Deutsche Reich
wird wegen Fahnenflucht bestraft, wer sich von seiner Truppe ent-
fernt, um sich seiner gesetzlichen Dienstpflicht zu entziehen. Dem
Fahneneide kommt hier keine Bedeutung zu. Ein Soldat kann fahnen-
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Einflnn ixriger Reohtaanaehaamigeii bei der Begehnng von Veibredieo. 238
flüchtig werden, auch bevor er den Fahneneid geleistet hat. Gleich-
wohl trifft man nicht nur bei Mannschaften, sondern auch bei Offi-
cieren häufig die Ansicht, dass vor der LeistODg eines Fahneoeidee eine
Fahnenflucht unmöglich sei.
Zu den im Vorstehenden aufgefülirten Rechtsirrthüuiern Hessen
sich bei sorgfältigem Sammeln und Beobachten gewiss noch manche
hinzugesellen. Aber nicht nur reehtlich, sondern auch sittlich unrich-
tige Anschauungen haben oft grosse Bedeutung bei der Begehung
▼on Verbrechen. So halten es bisweilen Ehebrecher für eine Art
Bitterpfliehty znr Schonung der pfliohtreigessenen Ehefrau dadurch
beizutragen, da» sie den Ehebruch unter Eid in Abrede tteUem In
der dentsehen Jnriatenzeitang (1902, S. 246), theOt I>r. Heller mit,
daas die Abtrdbimg im Volke für niohtB UiuntÜicheB gehalten und
demgemSsB gaai haimlos vom Arzte gefordert werden
xm
Zdi Frage der Strai^roeesBrefoim.
Euptntnii-Aiiffitor Dr. Oeorg liolewor in Wm.
£b wild seit einiger Zeit wieder vid yon StnfpfooeBsreform ge-
sprodieii und geschrieben, die Frage der geriohdidien Yorunter-
Bnehnng steht in Discussion, Deutschland hat Yor wenigen Jahrm
eine neue Militärstnlg^chtsordnuDg bekommen, auch mit der Eeform
des österreichisch-ungarischen Militäistrafproceflses scheint es ernst zu
werden, und der von Herrn Janrös wieder aufgerollte Dreyfuss-
process wird gleichfalls das allgemeine Interesse auf die strafpro-
ccssualen Fragen hinleiten. Es lässt sich nicht bestreiten, dass auf
dem Gebiete des Strafprocesses Vieles ganz und gar nicht so ist, wie
es sein sollte, aber ebenso sicher ist, dass Manches von diesem Vielen
nicht anders sein kann. In jener Beziehung muss zugegeben werden,
dass viele Verbrecher noch unentdeckt benimlaufen, d.ass hingegen
schon Mancher unschuldig verurtheilt oder wenigstens in Unter-
suchungshaft gehalten wurde oder einer minder schweren Gesetzea-
yeiletzDng halber nieht mar die entsprechende geridifltehe Strafe^
sondern auch daiBber hinaus unverhältidsBmjissigen Naehtheil an Ehre
oder Vermögen erlitten, ja vielldeht sogar seine Existenz dngebüsst
hat In sweiter Beziehung muss aber daran erinnert werden, dass
aneh der beste Strsf^oees em Menschenwerk ist, das als solches
unanswdcfalich von Fehlem behaltet sdn muss, und dass er tof-
Sufig nur von Menschen gehandhabt werden kann, solange der
Staat in der Auswahl seiner Beamten auf diese der fehlerlosen Yet'
vollkomnmung unzugänglichen Lebewesen beschränkt ist
Mehr Schutz dem Beschuldigten, mehr Schutz dem Verurtheiltenl
So lautet der allenthalben ertönende Schlachtruf. An sich gewiss
eine menschlich-schöne Ix)sung, eine bestechend schöne Losung. Aber
in dieser ihrer zweiten Ei^'t nNcliaft liegt ihre Oefährlichkeit. Wir
wollen yeiBucben, dies zu begründen. An dem Vorgehen gegen Ver-
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Zur Frage dar Stra^trooeflarefonn.
286
urtheilte und Beschuldij^te liat man wohl einen trefflichen Massstxib
für den Geist der Zeit und für deren Ilunianitätsiilcc. Die entsetz-
liclien Strafen und die torquirende Untersuchungsmetliude vergangener
Jahrhunderte passen ebenso in das geistige und seelische Milieu ihrer
Zeit, wie der Wandel zum Besseren za dem der Aufklärungsepoche
zu Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts. Denkt man an
die vom Gesetze mit sozusagen harmloser Gemttthlichkeit als „pein-
liehe Frage** henannle Tortur zur Eizieiung des Gestfindnissee, an die
Verbrechen der „HeKerey'* und «Zauber^**, für die die am 31. I>e-
eember 1768 erschienene Theresianische Gerichtsordnung noch ganz
ernsthaft nicht nur den Thatbestand anfiitdlt, sondern auch noch „Vet^
dachtsgrttnde** an die Hand giebt, so muss man sich erschauernd
feagen, was eigentlich zu jenen Zeiten grtteser war: die Bohheit oder
die Dummheit der Menschen. £s gehört zu den schönsten Errungen-
schaften unserer Zeit, dass wir uns bestreben, human und wohl-
wollend auch gegen jene zu sein, die gefallen und durch eigene
Schuld aus unserem Kreise ausgeschlossen sind, und dass wir nicht
ermüden, auch in der verworfensten Bestie, die uns in Menschen-
gestalt entgegentritt, noch irgend etwas Menschliches zu suchen. So-
weit sich die Ilunianität mit einem vernünftigen Strafzwecke, wozu
wir in erster Linie den Schutz der Gesellschaft gegen das Verbrechen
und die Verbrecher rechnen, vereinigen lässt, sind wir für ihre An-
wendung auch dem verworfensten Verbrecher gegenüber, darüber
hinaus aber müssen wir sie unbedingt ablelmen, sonst wird die Strafe
zwecklos. Jede zwecklose Strafe ist aber an sich inhuman, denn die
in jedem Strafflbel liegende Humanitätswidrigkeit Ifisst sich nur in-
soweit rechtfertigen, als das Stnfttbel Mittel zur Erfttllung des Straf-
zweckes ist Dass die Strafe Selbstzweck sei, ist wohl heute ein
schon ilbmundener Standpunkt
Gehen wir nun Über zur Fhige der Behandlung des Beschul-
digten, von dem also noch nicht feststeht, ob er Überhaupt ein Ver-
brecher ist Haben wir schon zugegeben, dass man auch dem ttber^
wtesenen Verbrecher jede mit dem Strafzwecke vereinbare Humanität
angedeihen lassen muss, so müssen wir in noch weitreichenderem
Maasse dem Beschuldigten, der ja möglicher Weise ein Unschuldiger
sein kann, dieselbe Rücksicht zubilligen. Es fragt sich nur, wie weit
diese Rücksicht gehen soll und darf. Und t^uf die Gefahr hin, zu
den Reactionären gezählt zu werden, müssen wir uns zu dem Grund-
sat7.e bekennen: nicht weiter, als es der Zweck des Unter-
suchungsverfahrens, die Wahrheit und insbesondere
den wirklichen Tbäter zu erforschen, gestattet £s ist ja.
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236
XVil. Leleweb
unbestreitbar, dass die Untennchiuigshaft eine harte Maaflsregel fllr
den Betroffenen iat^ insbesondere natttrlich dann, wenn er unschuldig
ist; dennoch können wir ihrer nicht entrathen. Könnte der Staat mit
seinen Machtmitteln unbedingt verhindern, dass ein auf freiem Fusse
belassener Angekleideter die Flucht ergreift, dann brauchten wir aller-
diD'^ keine Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr, könnten wir die
Verabredung eines auf freioni FuSvSe befindlichen ßeschuldi^^ten mit
Complicen und Zeugen verhindern, so brauchten wir keine Unter-
suchungshaft wegen Collusionsgefahr. Die Erfüllung dieser und so
mancher anderer Bedingungen scheitert jedoch an der inensclilichen
Unzulänglichkeit, und so sind wir im Straf processe ebenso, wie auf
vielen anderen Gebieten gezwungen, von zwei Uebeln das kleinere
zu wählen, weil wir in der Auswahl unserer Mittel eben auf ^Uebel"
beschränkt sind. Dazu kommt noch, dass gerade nur die — verhäitiiiss-
mSsaig wirklich sehr seltenen — Fälle in die Oeffentlichkeit dringen
und diese erregen, wo einem Unaoiiuldigen oder weniger Sehnldigen
ein nicht wieder got zu machender Naehtheil zogefUgt wurde, und
man darf sieh auch nieht dadurch verhltiffen lassen , dase auf die
grosse Zahl derer hingewiesen wird, die in Untersuchungshaft ge-
halten wurden und dann freigesprochen worden sind.
Nach der amtlidien Statistik fiber die Ergehnisse der Osterreichi-
•oben Stra^eriehtspflege im Jahre 1898 wurden im genannten Jahre
47,099 Personen aus der Verwahrangs- oder Untersuchungshaft ent-
lassen, d. h. in Freiheit gesetzt oder als Vemrtheilte der Strafhaft
überwiesen. Hiervon waren: a) 23 143 Personen oder 49,1 Proc,
gegen die eine Anklageschrift wegen Verbrechen oder Vergehen gar
nicht eingebracht wurde, die also entweder nur wegen Uebertretung
dem Bezirksgerichte übergehen oder ganz ausser Verfolgung gesetzt
wurden, und h) 23 050 Personen oder 50,9 Proc, gegen die eine An-
klageschrift eiugebraclit wurde. Von den zur Gruppe a) Gehörigen
waren in Haft: 11 784 Personen oder 51 Proc. bis zu 8 Tagen, 5256
Personen oder 22,7 Proc. von 8 — 14 Tagen, 3676 Personen oder
15,9 Proc. über 14 Tage bis zu l Monat, 1669 Personen oder 7,2 Proc,
über 1 bis zu 2 Monaten und 758 Personen oder 3,2 Proc über zwei
Monate. Von den zur Gruppe b) Gehörigen waren in Halt: 7000
Personal oder 29,2 Proc bis zu 8 Tagen, 5S14 Personen oder 23 Proc
Aber 8 bis zu 14 Tagen, 6300 Personen oder 26,3 Proc Aber 14 Tage
bis zu 1 Monat, 3319 Personen oder 13,9 Proc flber 1 bis zu 2 Ho*
naten und 1823 Personen oder 7.6 Proc länger als 2 Monate
Von je 100 Angeklagten waren 35 in Haft, Yon je 100 Ange-
klagten wurden 15,5 freigesprochen.
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Znr Frage der Stra^rooeaueform.
237
Eine objective WUrdigung dieser Zifforn ergiebt, dass wohl ein-
zelne Härten bie und da vorgekommen sein können, dass aber die
in letzter Zeit vielfach erhobenen Klagen und Anwürfe im Grossen
und Ganzen durchaus nicht gerechtfertigt sind.
Jeder praktische Kriminalist wird uns wohl l)eistimnien, wenn
wir behaupten, dass ein sehr beträchtlicher Theil der Freigesprochenen
nicht freigesprochen wurde, weil sie unschuldig waren, sondern nur
darum, weil man die Tbatsacbe ihrer Schuld nicht bis in's letzte
Detail naohweisen konnte oder, weil sie trota scUagendstsr Sohnid-
beweise Ton einer das Biehteramt als GnadeDamt auffassenden Ge-
sohworenenbank „begnadigt** worden. Da finden sieh dann genng
Lente» die unendlich befriedigt und erfreut sind, dass die Richter und
der Staatsanwalt „sich iigem''. Nun, wir woUen hoffen, dass sie
sidi ebenso, wie sile weiter denkenden Leute Aber einen ungerechten
Sprucb ärgern, sei er Terurtfaeilend oder freisprechend, und wehe dem
Staate, wo den Justizorganen ein ungerechter Spruch gleichgültig
bleibt Wer leidet unter Fehlurtheilen in erster Linie? Der Richter
oder die Gesellschaft? Auch sahen wir noch keinen Humanitäts-
apostel, bei dem die Befriedigung über den „Aerger** des Staats-
anwalts auch dann bei einem Freispruche vorgehalten hätte, wenn
er selbst zufällig der durch die strafbare Handlung Beschädigte, etwa
der Bestohlene oder der Vater der genothzüchtigten Tochter war.
Der unabhängigkeitsdurstige Staatsbürger, der in jeder in Sehweite
befindlichen Polizeihelnispitze eine unerträgliche Beeinträchtigung
seiner stiiatsgrundgesetzlich gewährleisteten Freiheitsrechte erblickt,
kann sich gewöhnlich nicht genug darüber aufregen, da&s ,,man auf
der Strasse nie einen Wachmann sieht'^, wenn beispielsweise ein
Automobilist seinen zu Folge vorgeschrittener Altersschwäche und
Fettsucht invalid gewordenen Hops ttber&bren und sieh dann ans
dem Staube gemacht hat, ohne den zwei Gassen entfernten Stehposten
▼orher yon dem berorstehenden Todtschlage versUndigt zu haben.
Jedermann trachtet doch yemfinftiger Weise, die Mittel, die er znr
Eneichung seiner Zwecke gewählt hat, nicht nur nach Möglichkeit
SU Terbessem, sondern anek sie ron allen ihre Anwendung beeinp
trachtigenden Hindernissen freizumachen. Die Gesellschaft aber, die
Polizei und Gerichte zu ihrem Schutze organisirt hat, trachtet in
Wort und Schrift und That, den Organen der Strafverfolgung die
Hftnde zu binden, und, statt sich an den staatsgrundgesetzlich ge-
gebenen Schranken obrigkeitlicher Willkür für den Normalfall ge-
nügen zu lassen, will sie die Actionsfäliigkeit der Strafverfolgungs-
organe 80 weit einengen, bis es diesen uumöglicb wird, ihre Aufgabe
238
XVIL LSLKWEB
zu erfüllen. Käme diese Tendenz zum DurchbrucbCf so wäre die
praktische Consequenz einerseits eine odiose Prämie filr den reuigen
und geständigen Vertmohery da nur nodi dieser der Stmfe zugeführt
werden k9nnte, andererseite ^ne Vorniehtang jedes EhrgeizeB und
aller Bemfsfreade der öff entliehen Organe, denn wer sollte in einer
Thätigkdt aufgeben, welcher tttehtige und fShige Hann sollte sich
einem Berufe nodi zuwenden, wo die Bedingungen you Hans aus
den Erfolg ansschliessen. Will man also den Beschuldigten vor ^Hll-
kür und Missbnnoh der obrigkeitlichen Gewalt schfitien — und em
solcher Schutz soU und muss gewährt werden — dann muss man
andere Wege und Mittel suchen, als die Lahmlegung: der poli2sdlichen
und gerichtlichen Thätigkeit. Mit Gesetzen und Vorschriften ist da
nichts gethan. Treffend sagt Meister Gross in seinem Aufsatze „Zur
Frage der gerichtlichen Voruntersuchung" (3, Tieft des 10. Bandes des
Archivs, S. 259), dass wir ^über die Idee von dem ,sich selbst an-
wendenden Gesetze' doch schon lange hinaus sind.**
Wir wiederholen in diesen Zeilen eigentlich nur das, was Gross
am eben bezeichneten Orte berufener und besser gesagt hat, aber
trotzdem wir uns dessen bewusst sind, wiederholen wir es doch, weil
man es nicht oft genug in dieser Zeit sagen kann, die wieder einmal
dabei augelangt ist, alles Ueil vou der Reglementirung zu erwarten.
Besonders im Kriminaldienste nützen die Mittel und Mittelchen nichts.
Wenn sieh der Kriminalist nicht durch seme Kenntnisse^ seinen Ehr-
geiz und sein Gewissen den rechten Weg weisen Ifisst, so werden
auch die schönsten Vorschriften yersagen. Wohl sind gute Gesetse
und Vorschriften Ton grosser Bedeutung, you ungleich grosserer aher
die Qualitäten der sie anwendenden Penonen. Deshalb sind es diese
in erster Linie, denen du vemfinftiger und erfolgrersprechender Be-
formgedanke seine FQisoige zuwenden muss. Man yeiiange einer-
seils vom Kriminalisten mit Strenge herrorragende Qualitäten in jeder
Biehtnng, statte andererseits die Stellung des Kriminalisten materiell
und social so auB> dass die Besten und Tüchtigsten es der Mtthe und
ihrer Leistungen werth finden, diesen Beruf zu ergreifen, und man
wird — bei dem grossen Angebote juristischer Arbeitskräfte — Be-
werber in so grosser Zahl finden, dass man die Tüchtigen und Ge-
eigneten wählen kann und nicht nu^hr darauf beschränkt sein wird,
nur an die Besetzung der Aperturen denken zu müssen und, statt
einen wirklichen und fähigen Kriminalisten anzustellen, lediglich den
freigewordenen systemisirten I)iL'nsti)Ostcn zu besetzen. Und nicht
nur vom Untersuchungsrichter allein gilt dies, sondern auch — mutatis
mutaudis — vom Gerichtsschreiber, von Polizeiorganeu aller Dienst-
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Znr Frage der Stra^roceBsreform.
239
grade und DienststelluDgen, yom Gendarmen nnd nicht zuletzt yom
Sachverständigen, diesem alter ego des Kriminalisten.
Zum Schlüsse noch einig:e Worte über das Thema der Unter-
such im trshaft: Auch wir verlangen gesetzlich festgelegte Beschrän-
kunjren der Anwendung dieses strafprocessualen Mittels, aber wir be-
grenzen diese Beschränkungen dahin, dass sie den Zweck des Unter-
suchungsverfahrens, die Wahrheit zu erforschen, nicht beeinträchtigen
dürfen. Auch in dieser Beziehung liegt die beste Gewähr gegen
Misebräuche und Härten in der Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit
des Biehten. Ein Untersuchungsrichter, der über dem Straf falle
Mki, wild oft auf die üntonaehungshaft yemditen, weil er andere,
diieot wizkende Mittel zur Erfonchung der Wahrheit erkannt hal,
und wenn er auch die UnterBuohungshaft Terhftngt hat, wird er
dureh seine nelbewusBte Aibdt die Dauer deor ünterBuohungBhaft auf
eu mOgliehst geringes Maass heiabdrftoken. Der unsieber tastende
Riehter aber, der des lUlea niebt Herr werden kann, „sioh nieht
auskennt", aber doefa das GefBhl ha^ i^dass etwas geschehen mass**,
befriedigt seinen Thatendrang mit der nächstliegenden und für den
Augenblick einfachsten Verfügung, das ist mit der Yerhängung der
Untersuchungshaft. Da er natnrgemäss auch Unger brauch t, u m mit der
Untersuchung zu einem mehr oder weniger gedeihlichen Ende zu
kommen, dauert auch die Untersuchungshaft entsprechend länger. Uni
solchen Missständen zu entgehen, haben wir zwei Auswege: entweder
die Untersuchungshaft abzuschaffen oder nur tüchtige Untersuchungs-
richter heranzuzielien. Die Wahl kann da nicht zweifelhaft sein.
Was schliesslich die Frage der Untersuchungshaft wegen Gefahr
der Wiederholung des Delictes anbelangt, so haben wir Kriminalisten
daran kein unmittelbares Interesse, da diese Maassregel im Wesen
lediglich polizeilicher Natur ist und mit dem eigentlichen Unter-
suchungszwecke, der Wahrheitserforschung, nichts zu tbun hat Wenn
die Gesellsehaft es also für human und reoht findet^ einem sieher-
heitsgefthrliehen Individuum die HSglichkeit sur Begehung neuer
Gesetzesrerietzungen und zur Endelung noch grosserer Stralwürdig-
keit zu bewahren, den friedlichen Staatsbürger aber zugleich den An-
griffen dieses Individuums noch weiter auszusetzen, kann dies den
Kriminalisten als solchen kalt lassen. Eher wird er vieUeicht sogar
gelegentlich der üntersnehung des zweiten DeHctes willkommene Ver-
dachtsmomente (Aehnlichkeit der Ausführung beider Delicto u. 8. W.)
für die erste Untersuchung finden. Wir verzicliten also gerne auf
die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr, und wenn der
See der UeberhumanitSt sein Opfer haben wiU, dann nehme er dieses.
XVIII
fieohteaiiflnge bei den Grönländern nach STerdmp.
Tob
D. P. Baron OwM» in Nenenahr.
Die KriminaUinthiopologie mnss als Einleitang eineneitB die
BechtsanBohawiiigen der ältesten erschliessbaren Völker, andererseits
diejenigen der primitiysten Völker betrachten. Beides entspricht mehr
oder weniger den ursprünglichen Kechtsbegriffen , aus denen heraus
genetisch eine Reihe von Ent\vicklun<::sstufen durchlaufend die mo-
dernen Rechtsanschanungen der Culturmenschen entstanden sind.
Der Polarforscher Sverdrup in seinem Werke ^Neues Land**
führt uns in seiner ersten Lieferung gelegentlich die Grönländer vor,
und aus seinen lebendigen Schilderungen ist zu ersehen, dass diese
Grönländer noch recht primitive Rechtsanschauungen eines Natur-
volkes besitzen. Die Belege dafür seien darum hier als Beitrag zur
Kriminalanthropologie reproducirt.
Der QiSnUiider eneheiut im Grundzug demokralisoh Temnlagt,
gleiches Beoht zu verlangen und zu gewähren, soweit von Beoht die
Bede sein kann.
Hans Edge, der einstige ehristliehe Bekehier Grönlands ¥niide
einst Ton einem „GrossOnger^ besacbt, den er durch die Fordemng
blinden GHanbens an. die ehristliehe Lehre bekehren wollte. Der
GrOnttnder hörte aber allem, was Bdge enShltOi geduldig zu und
veränderte während des ganzen langen Vortrages keine Miene. Als
Bdge endlich fertig war, erhob sich jener und sagte:
„Nun will ich erzählen. Ich war hoch oben im Eise, da kam
ich an einen grossen Fjord und da traf ich einen so grossen Bären,
dass ihm ewiges Eis auf dem Rücken wuchs!'
Hans Edge, dem die Pointe dieser Erzählung nicht gefiel,
wurde hüse und schimpfte den Mann in so schönen Worten aus, als
er sie nur iiiinior gelernt hatte.
Da sagte dieser:
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EechtBanfSnge bei den GrSalindem nadi Sverdrap.
841
^Du verlangst, dasä ich Dir glauben 8oU| so glaube auch Du
mir!*
Damit ging er.
Diee findet noh auf S. 20 und 21. Auf S. 18 sagt STordrnp:
Düse HenBchen nnd von der Heidenzelt her gewöhnt, sich ge-
memaam nm ihre Nahrung abzumühen, ihren Fang zu erbeuten, wo
sie ihn finden und ihn unter rieh zu theilen, ohne sieh sondodich
um Mein und Dein zu kflmmem.
Einfache Gutmüthigkeit der Bevölkerung in DInisch-GiOnland
scheint der Grund zu sein, dass Mord (S. 20) zu den grössten Selten-
heiten gehört In der ganzen dänischen Zeit sind nach Sverdrup's
Erkundigungen in Dänisch-Grönland nicht mehr als zwei Mordthaten
vorgekommen. Dass aber auch die Rechtsanschauimgen über das
Leben des Nebenmenschen im Allf^emeinen recht primitiv unentwickelt
sind, beweisen die Zustünde in Angmaksalik an der OstkUfite, wo die
Leute viel streitsüchtiger sind.
Von einem Manne aus Anj^maksalik, der um Tabak zu holen,
die lange Reise nach Däniscli-Grönland machte, wird erzählt, er habe
sich vorgenommen, an jedem Wohnplatze, den er südwärts län^s der
Kübtu antreffen würde, einen Manu zu erschlagen. Dies bat er auch
mit grosser Gewissenhaftigkeit gethan. Doch als er und seine Be-
gleiter sich Dänisch-Grönland zu nShem begannen, sahen die Kame-
raden, die sehon früher dort gewesen waren, em, dass dergleichen
anf dinischem Boden nicht angehen wflrde. üm wdteren Unan-
nefamliohkdten Torzubeogen, beschlossen sie dahw, ihn selber todt
zu schlagen. Gesagt, gethan.
Die Beschleunigung des Todes alter oder sterbender Leute gilt
nicht als Mord, auch nicht im christlichen dänischen Grönland (S. 19).
Ein alter Glaube befiehlt, dass, wenn Jemand im Hause stirbt^
dieses abgerissen werden niuss, sonst giebt es ein Unglück. Ob dieser
Glaube aus der Zeit der Kinderblattern stammt oder uralt ist, weiss
ich nicht, aber eine Thatsache ist es, dass man die Eltern, wenn sie
sehr alt geworden sind, oder einen Sterbenden ohne Weiteres lebendig
in's Meer wirft. Das Verfahren ist recht einfach. Man legt einen
Strick um den Betn ffcndt ii, zieht ihn anji:ekleidet aus dem Hause
nach dem Strande, tjindet ihm Steine an Kopf und Füsse und lässt
ihn dann untergehen.
Ebenso wie Frivateigenthuni und das Leben des Nebenmenschen
nicht mit liechts.sentinientalitiit respectirt werden, ebenso wenig ge-
schieht dies mit der Ehe, welche natürlich der Form nach christlich
monogam ist.
342 XVIII. OsFELE, Eechtaanfftnge bei dea UrönläDdem nach Sverdrap.
Der Grönländer ist in semen EBmilienTerbftltnissea ausserordent-
lieh naiv und unbefangen; es haltet noch immer vuA. Heidnisehee an
dem Volke.
ÜHemand eehimt aoh, Kinder anaaer der Ehe zu haben. Im
Gegenthol, kann ieh beinahe sagen. Unter den VerhSltniaaen dieaes
LandeBi bd der weit zeiatrenten BeTÖlkerong nnd der langaamen
Yermehrong ist ein Kind ein Capital, beaondeia ein Knabe. Eine
Wittwe mit zwei Söhnen güt für reich, und ein Mädchen mit einem
Kinde kann mit weit g^rösserer Sicherheit daianf reehnen, aieh an ver-
heiratben, als eines, das kein Kind hat
Aoeh in der Ehe geht es recht ursprünglich zu. Diese Menschen,
nehmen ee auch in der Ehe mit dem Eigenthumsrechte nicht ao
genau.
Das ^Frauentauschspiel", l)ei dem die I^inpen aiisfrelöscht werden
und jeder Mann im Dunkeln eiue Frau hascht, ist ein Ueberreet ans
jenen rohen Zeiten.
Es ist ein ungemein weit ausgedehnter Amtskreis, den ein grön-
ländischer Prediger zu versehen hat. Obwohl er sich einen Kate-
cheten zur Hülfe hält, kommt es oft vor, dass er nicht im Stande ist,
die verschiedenen kirchlichen Amtshandlungen rechtzeitig zu ver-
richten. Der Katechet, der zugleich Lehrer nnd Oaator ist, beaoigt
zwar die Beerdigungen, aber Trauungen nnd Tanfen mnaa der Paater
aelbat ToUziehen.
Daher iat ea gar nicht ungewöhnlich, daaa „Ehel«ite'' in den
abgelegenen Theden dea Landea lange nngetiant bleiben; ja, ea iat
▼oigekommen, daaa einer yon Ihnen oder gar alle Beide acbon todt
wann, ehe der Paator zu ihnen kam, nm aie zu tränen.
Aber es geht auch so.
Im Uebrigen sind die Grönländer nette, friedliche Leole, die
keüiem Menschen etwas Böses thun.
Ihre Streitigkeiten schlichten sie durch den sogenannten Trommel-
tanz, bei dem der stärkste Ausdruck des Streites Scheltworte sind,
und als Sieger güt der, der seinen Gegner am meisten herunter-
gemacht hat.
Von bewussten Ilechtsan8chauuug:en kann hiernach eigentlich
nicht die Rede sein. Es zeigen sich nur die ersten Ansätze dazu.
Reisebeschreil)uiif;en aus anderen (lebieten könnten in gleicherweise
nach der Gestaltung; der primitivsten Rechtsformen durchsucht werden.
So kann zu einer umfassenden Krimiualanthropologie einstweilen das
nöthige Baumaterial gesammelt werden. Und wenn gebaut werden
soll, so ist diea Maierial für das Fundament zuerst nothwendig.
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XIX.
lieber Gedankenlesen,
Hsai SehxMlalMrt, BeditspraktUumt in Uflndien.
Einleitung;. — Wie werden Gedanken üliertraj^eny —
Welches sind die psychologischen Voraussetzungen zum
Gelingen der Gedankenübertragung? — Ist die Aus-
übung des Gedankenlesens eventuell strafbar? — Lassen
sich auch auf rein psychologischem Wege Gedanken
lesen? — Schluss.
Xiomand kann die Gedanken eines Mcnsclien errathen, wenn er
nicht eine untrügliche Stütze in dessen Gesten und Geberden hat,
oder wenn er nicht in mn eniotechn iscli er Verbindung mit
einem Dritten steht, der die Person, deren (iedanken von ihm er-
rathen werden sollen, auf ganz bestimmte Gedanken lenkt. So kommt
es, dass das Gedankenlosen wegen seiner grossen Unterhaltungsfähig-
keit gern m Gesellschaften aller Art geübt wird. Wie aber alle Kunst-
griffe zu erlaubten, zu guten Zwecken dienen können, so können sie
aber auch zu unerlaubten, zu scbleohten Zwecken dienen. Der Kri-
minaliat hatte z. B. erst in der letzteren Zdt G^eg^eit, dies ans dem
Beriiner Sensationsprooess „Anna Bothe, das Blnmenmedinm" zu
erfahren, in dem die Behauptung anfgetancht isl^ dass dieses Medium
in mnemotechnischer Verbindung mit ihrem Impresario Jentsoh
gestanden haben mfisse^ Näheres konnte man aber nicht nachweisen,
was vieUeieht nicht in letzter Linie die Flucht des Impresarios yer>
ursacht haben mag. Ich beschäftige mich schon seit einer Reihe von
Jahren mit den Hülfsmitteln der geheimen Verständigung
und ynH im Nachstehenden meine auf diesem Gebiete genuushten Beob>
achtungen, insbesondere über die Kunst des Gedankenlesens, schildern.
Vor etwa zwei Jahren besuchte ich hier mehrmals die Vorstel-
lungen eines Gedankenleserpaares. Gleich hier will ich bemerken,
dass es sich bei dieser Kunst immer nur um zwei Personen handelt,
wovon die eine mit oder ohne verbundene Augen auf der Bühne oder
244
XIX. ScHMmCKKBT
eineni erhöhenden Podium dem zur steten „Oontrole" aufgeforderten
Publieam gegenübersitzt, die andere^ der „Impresario" oderGedanken-
fibertrager, im Pablicnm umhergeht und nadi Wnnseh die Gedanken
des Einzelnen dem Gedankenleser — zumeist ist das „Hedinm*' eine
Fhinensperson — tlbertrSgt Ulan wurde bei jenen Vorstellungen zu-
nSehst aufgefordert, ein Schriftstück, eine Legitimationskarfte oder
etwas Aehnliches vorzuzeigen, worauf der ImpireBario einzelne darin
vorkommende Wörter oder Xamen zum Bewusstsein der Gedanken-
leserin brachte, die sofort die betreffenden Wörter und Namen aas-
sprach, natürlich zur Verwunderung des „verblüfften" Publicums.
Um nun den „Kunstgriff" dieser Gedankenübertragung ausfindig zu
machen, besuchte ich an verschiedenen Tagen dieselbe Vorstellung,
zei{2:te jedes Mal dieselbe Legitimationskarte dem Impresario vor,
der durch den kurzen Inhalt dieser Karte gezwungen war, das „Me-
dium'' jedes Mal dieselben (von ihm übertragenen) Wör-
ter aussprechen zu lassen. Beim dritten Besuche der Vorstellung be-
merkte ich schon, dass der Impresario mit den ganz gleichen
Worten wie das erste und zweite Mal dii* Gedankenleserin auf-
forderte, die in der Hand des Impresarios befindHche, von mir
überreichte Karte nach deren Inhalt zu beschreiben. Es war mir
sofort klar, dass zwischen den beiden Gedankenlesern ein auf Ver-
abredung beruhendes Alphabet zur Anwendung kam in der
Weise, dass jeweils ein bezw. mehrere vom Impresario auszuspre-
chende, an die Gedankenleserin gerichtete Worte der „Aufforderung
zum Gedankenlesen'' 1 Buchslaben (eventuell auch 2—3 Buchstaben,
z. B. s, sp, soh), des vom Medium zu „lesenden" Wortes bedeuteten.
Diese Art der üebertragung der Gedanken bezw. der „gedachten**
Wörter und Namen der Karte erklärte sich auch daraus, dass das
Aussprechen des betreffenden Wortes durch das Medium stets
langsam und nach Silben erfolgte, woraus zu schliessen ist, dass
auch die Gedankenübertragung, das Gedankendictat des Impresarios
grundsätzlich nach Silben geschah, was erst recht erforderlich er^
scheint durch den noth wendigen Gebrauch langer, die Aufforde-
rung zum Gedankenlesen*' enthaltender Phrasen, namentlich winm
mehrsilbi^a' \\'ürttT zu übertrai^en smd. Der Name „Hans" wurde
z. B. übertragen mit den Worten: „Nennen Sie mir schnell noch den
Namen!"" Selbstverständlich kann auch die irewechselte Stellung
gewisser vereinbarter \\ iirter ihre Bedeutung; haben, so dass z. B. die
A'uffordenmgen: ,,Noch schnell den Namen nennen Sie mirl*' oder:
„Noch den Namen schnell!" wieder ganz andere Buchstaben, Silben
oder WOrter auszudrücken bestimmt werden.
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Ueber Geiiaiikeulesen.
245
Em weiterer Tricy bei dessen Anwendnng aber gar nichts vom
Impfesario gesprochen wird, diente bei folgendem Experiment als
Mittel der Gedankenttbertragang: Der Impresario Hess von einem
Herrn aus dem Pablicum eine Visitenkarte in eine Schatulle legen,
welche alsbald yerschlossen wnrde^ d. b. erst nachdem der Impresario
den darauf stehenden Namen — möglichst unauffällig — gelesen
hatte. Nach einiger Zeit nannte — diesmal also ohne vorherige
mündliche Aufforderung seitens des Impresarios — die Ge-
dankenleserin den auf der erwähnten Karte stehenden Namen. Die
Gedankenübertragung ging bei diesem Experiment so von statten:
Bei lautloser Stille ging der Impresario, nachdem er den Namen
gelesen und die Karte in der Schatulle verwahrt hatte, in der
Nähe der Gedankenleserin, also unmittelbar vor dem Podium, mög-
lichst unauffällig auf und ab; das Medium brauchte nur
die einzelnen Schritte des Impresarios zu unterscheiden, z n z ft h-
1 e n, nnd ihr war dadurch der Name bald Ubertragen. Das geheime
Alphabet wnrde bei dieser VerstSndigungsart zosammengesetst dnroh
die Zahl der vor- oder rttekwärts gemachten Schritte» wohl
waren auch die Schwäche oder Stärke des Auftretens, das
langsame oder schnellere Gehen, schliesslich anoh ein un-
anffälliges Bänspern oder Httsteln des Impresarios als Mittel
der geheimen Verständigung Tcrabredet nnd systematisirt Noch weitere^
aber ganz ähnliche Experimente füllten jeweils eine Vorst^ung ans.
Das gleiche Princip dieser Art der Gedankenübertragung beob-
achtete ich auch zu einer anderen Zeit bei einem anderen Gedanken-
leserpaare. Damals wurde einer Dame, die, mit dem Rücken gegen
das Publicum gewendet, im Hintergrund einer Bühne an einem Gra-
viere sass und die von einzelnen Leuten aus dem Publicum ge-
wünschten Melodien spielte bezw. auch sang, natürlich nur etwa 10
bis 20 Tacte derselben, von ihrem Impresario jeweils der Name der
gewünschten, diesem ins Ohr gesagten Arie, Ouvertüre u. dergl. gleich-
falls „durch Schritte übertragen", wohl auch durch verabredete
unauffällige Gesten des Impresarios, die durch einen verborgenen,
nur für die Ciavierspielerin sichtbaren Spiegel dieser bemerklich
gemacht werden konnten. Ebenso wurde unter den gleichen Um-
stünden einem Herrn der experimentiiettden Gesellschaft, einem Per-
sonenimitator, vom Impresario die Darstellung allgemein bekannter
Ghaiaktertypen, historischer Peisönlichkeiten u. A. auf Wunsch des
Publicums zur Aufgabe gestellt, die er nach geschehener Gedanken-
tlbertiagung mit Hfilfe der bekannten Imitationsmittel (PerräckeD, Bärte
u. dergl.) zum allgemeinen Eretaunen des Publicums löste.
AteUv nr Xilminalaiitliropolo^t. XIL 17
246
«
XIX. ScHinDCKSBT
Psych olopri seil liedeutsam ist bei allen diesen Arten der
Gedankenübertragung die Nutzbarmachung der geschickt ab-
gelenkten Aufmerksamkeit der Znaebaner. Die Leate,
einmal in Staunen Tersetzl, haben keine Zeit mehr zur Ueberlegung.
Wenn aber die Yentandeanttebtemheit wieder surackgekehrt ist, fehlt
auch die Gelqi^eit, den Schwarzkflnstlem „auf die Finger zu
Beben**, und selten kommt einer in die Lage, dieselbe Vorstellung
noch einmal und nur zum Zwecke der Ausforsohung zu besuchen.
Der Impresario yersteht es sehr gut — wie jeder Tascbenkfinstler —
die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf Nebensächlichkeiten zu lenken*
So verlangt er z. B., es möge sich jeder mit Schriftstücken oder Legitimar
tionskarten, deren Inhalt das Medium lesen soll, versehen, um, wenn
die Reihe an ihn komme, sie sogleich vorzeigen zu könnm. Wäh-
rend nun jeder Einzelne alle seine Taschen und Papiere durchsucht
nach einem geeigneten Schriftstück, geschehen die „Wunder"*, die
man dann nur noch in ihrem Resultat anzustaunen Gelegenheit hat
Hat aber einmal das erste Experiment die Zuschauer in Staunen ver-
setzt, so hält dieses in der Regel auch bis zum Schlüsse an, ja, es
steigert sich immer mehr und hemmt damit nothwendig die normale
Denkfähigkeit, so dass der Impresario leicht weiter arbeiten kann,
ohne ertappt zu werden.
Bewundemswerth bleibt ja immerhin die Gabe der raschen Auf-
fassung der Abertrsgenen Gedanken; aber unerklärlich ist diese Fer-
tigkeit keineswegs. Denn durch fortgesetzte Uebnng gewöhnt sieh
das GehOr wie an die Eigenart fremder Spraehen, so auch an ön
aus Wörtern oder Phrasen zusammengesetztes Alphabet, so dass es
sich nur noch um ein Dietat, um ein Vorbuchstabiren der ins-
geheim geSusserten Gedanken durch den Impresario handelt
Wie sich das Gehör durch Uebung an die Bedeutung auch nicht
gesprochener Laute, Töne und Geräusche gewöhnt, wissen wir
z.B. aus der allgemein gemachten Erfahrung, dass Telegraphenbeamte
ebenso leicht als sicher den Inhalt der entstehenden Depesche
verstehen, ohne dass sie sich unmittelbar an dem 'in Thätigkeit ge-
setzten Telegraphen aufhalten und die dort entstehenden Schriftzeichen
ablesen. Hierher gehört auch das Verständigungsklopfen „nach
System M orse", von Gefangenen vielfach geübt. (Vgl. Gross' Handbuch
für Untersuchungsrichter, S. 281 f.). Und als Beispiel dafür, dass es keine
besondere Schwierigkeit ist, durch blosse Zeichen und (nbiirdon (auch
Mienen), die unter den Gedankenlesern verabredet werden, sich im Ge-
heimen zu verständigen, nenne ich die bekannten Finger- und Zeichen-
sprachen, wie sie namentlich unter Bauerufängern (Falschspielern) und
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Ueber Gedaukenleeen.
247
Hocbstaplem in Uebung sind. Wer kennt nieitt aaeb das anf dem gideben
Pnndp beruhende, in GeaellBobaften viel geübte ünterbaltungsspiel, bei
dem «ne Penon sieb der Ennst rflbmt, unter — sagen wir beispielsweise
— drei gleichen der Reibe naeh nnteiv oder nebeneinander gelegten
Geldstttoken, das von einer dritten Person berührte Geldstftek beraus-
snfinden, ohne die BerObrung selbst beobachtet zn haben? Hierbei
gebt die Verabredung sweier Personen dabin, dass der , Gedanken-
leser'', der sieb während der Berührung des Geldstückes entfernt;
durch die mündliche Aufforderung zum Gedankenlesen odw ohne
Bolclie durch geheime Zeichen des bei der BerfUirung anwesenden
„Verbündeten" auf das betreffende Geldstück aufmerksam gemacht
wird. Gewöhnlich wird dem Gedankenleser das Geheimniss so über-
tragen, da.ss der „Vcrbündcfc", der die Rolle des Impresarios über-
nimmt, nach erfolgter Üeriilirung jenen herbeiruft, z. B. mit den Wor-
ten: 1) „Fertig!" 2) ,Jetzt kommen Sie!" 3) „Jetzt können Sie
kommen!" Je nach der angewandten Redensart, weiss der herbei-
gerufene „Gedankenleser ' genau, ob das erste (oberste, links liegende),
zweite 'mittlere) oder dritte (untere, rechts liegende) Geldstück von
einem unbetlieiligten Dritten aus der Gesellschaft berührt worden ist,
und wird dieses nach einer scheinbar genauen, aber nichts bedeu-
tenden Unteisucbung bezeichnen. Falls die Gedankenllbertragung
lautlos oder bei der „Aufforderung** durch einen Kichteingeweibten
geschehen soll, werden geheime Zeichen verabredet, so dass s.B. der „Im-
piesario'* ganz unaufflülig mit der Hand 1) über seine Stime oder sdn
Haupthaar fithrt, 2) seine Nase berfihrti 3) sein Kinn berührt, um
dem herbeikommenden „GedankenlcBer'' das berührte Gddstfick an-
zudeuten. In noch unauffiUligerer Weise wird der „Impresario*^ dem
„Gedankenleser'^ geheime Winke geben können, wenn jener z. B.
roncht und eine verschiedene, leicht wechselbare Haltung der Oigaire
(im Mund oder auch in der Hand) entscheidend sein Ifisst
Das sind wohl Spielereien, aber sie sind bei ihrem primitiven
Charakter doch so lehrreich für das Princip der complicirten Ge-
dankenübertragungsarten, dass sie niclit unerwähnt bleiben dürfen,
zumal man ja stets geneigt ist, bei der Erforschung Anfangs uner-
klärlicher Dinge gleich mit den sohwierigsten, com]»licirtesten Nuan-
cirungen alltäglicher Erscheinungen sich den Kopf zu zerbrechen.
Ich zweifle nicht, dass auch zwischen dem Blumenmedium Anna
Rothe und deren Impresario Jentsch bei ihren spiritistischen Sitzungen
eine mnemotechnische Verbindung bestand, diu das Gelingen vieler
„Wunder" fächerte und die Täuschung des Publicums förderte.
Jenlaoh war wohl schlau genug, um in ganz geschickter, unanfOUHger
17 •
248
XIX. SCHNEICKEBT
Wdsei so en paasant pereönliehe nnd FamiliengebeiiiiiuaBe ansznfor-
aeben, die dann dem Medinm in einer der oben geBehildeiten Weise
ttbertragcn worden, so dass dieses „Wnnder wirken^ und das Pnbli-
onm leicht in Stannen versetzen konnte.
Wenn man annimmt, dass Anna Bothe von der Unwahrheit
ihrer Behauptungen überzeugt war, so war sie gewiss strafbar
wegen Betrages; denn hierfür reicht nach der herrschenden straf-
rechtlichen Meinung auch die Vorspiegelung einer unmöglichen
Thatsache aus, z.B. die Behauptung, dass man hexen könnte').
Ausschlaggebend war bei der Verurtheilung der Rothe wolil die
Kaffinirtheit in ihrem ganzen Vorgehen, die rücksichtslose, zum Ge-
werbe ausgeartete Ausbeutung der Unerfahrenheit, der Dummheit des
Publicums. Den gleichen Maassstab kann man daher unmöglich an-
wenden auf die Taschenkünstler und die Gedankenleser der oben ge-
schilderten Art Diese gehen nicht so weit, zu behaupten, dass sie
sich zur Anafilhrung ihrer Experimente mit Geistern in Verfoindiing
setzen» dass sie persönliche GebeimniBse der Vergangenheit oder Zu-
kunft erforschen können, wie z. B. die Wahrsager, yiehnehr machen
sie zom Theil ganz obeiilAebliche Knnststftcke, ziehen nur ganz all-
gemeine VerbSItnisse, objeetiTe Thatsachen in den Kreis ihrer £z-
perimente und können selten nur ihre «Knnst*^ vertheidigen, wenn
Widersprach im Publicum geltend gemacht wird, so dass jeder
gleich ahnt, dass die «Kunsf^ nicht weit her ist Durchweg wollen
sie das Publicum nur unterhalten und werden regeUnässig nur eng»>
gilt durch Unternehmer von Vergnügungsetablissements, die man ja
nie mit dem Vorsatze besucht, durch die nur zur Unterhaltung ge-
botenen Kunststücke sich nicht in seinem Vermögen schädigen lassen
zu wollen. Und sieht man sich liier doch getäuscht, so ist es immer nur
eine angenehme Täuschung, der Niemand, auch bei vorheri^^cr Kennt-
niss, ernstlich aus dem Wege gehen würde. Es thut gar nichts zur Sache,
wenn der Process Ilothc in dieser Richluni; auch Ausnalimen constatirt hat.
Schliesölich noch einige Worte über psychologisches Ge-
dankenlesen. Darunter verstehe ich das Errathenkönnen der
Gedanken einer Person ohne mnemotechnische Verbindung.
Es ist ja bekannt, dass für den scharfen Beobaehter ans den Mienen
ond Gesten eines Maischen nicht bloss die jeweilige Stimmung des-
selben klar endehtlich ist, anch sichere Schlflsse kann er oft daraus ziehen
auf die angenblicklichen Gedanken derselben. Ich denke hier gerade
an dn geeignetes Beispiel aus meiner Beobachtung: Mit einem Frennde^
den man allgemein wegen seiner Torgebengten KQxperhaltung tadelte,
1) Vgl. hiena aach Frank, Kommentar zum B.St.G.B. td.§368, Zfff.IIL
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Ueber Gedankentoseii.
349
ging ich eines Tag'es über die Strasse. Plötzlich schnellte er seinen
Oberkörper zurück und nahm eine gerade, stramme Küri)erhaltung
an. Dies fiel mir auf, ich sah über die Strasse und erblickte einen
Officier, der in gerader Körperhaltung seines Wej^es ging. Die sofortige
Frage, ob ihn vielleicht die musterhafte Körperhaltung dieses Officiers
an die ihm allgemein gegebene Emuüinang, eine gerade Körperhal*
tang ammtreben. efianert habe, bejahte mir mein Begleiter.
Der Eriminaligt hak in seinem Beruf bei Erforsehiiiig der angen-
btieküehen Gedanken einee Henaohen dn Haapigewieht auf die bei
der anagesprochenen LUge geheim gehaltenen Gedanken
der Wahrheit zu legen. Prot H. Gross' Eriminalp^ychobgie ent-
hmt hierOber Einschlägiges in dem Capitel „PhibiomenologisoheB''»
S.51ff., woran! ich hier ansdrücklieh hinweisen mochte.
Mit Prof. Gross theile ich auch die Zweifel, die er in seinem
„Handbuch für üntersuchungsriohter" (3. Aufl.), S. 210, über die in
oner photographischen Zeitschrift erörterte Frage aasgesprochen hat,
ob nämlich ein Gedanke auf die photographiscbe Platte gebracht
werden könne und zwar in der Weise, dass ein länger in 's Auge
gefasster Gegenstand, 'im speciellen Falle war es eine Brief-
marke), mit Wirkung der Wiedererkennung auf eine lichtempfindliche
Platte projicirt werden könne.
Die Kunst des Gedankenlesens kann, wie der Process Rothe darge-
than hat, leicht zu unerlaubten Zwecken ausgeübt werden, so da.ss es ge-
wiss nicht unnütz ist, die Kriminalisten auf dieses „Gewerbe" der Neu-
zeit aufmerksam zu machen und sie zu weiteren Forschungen aufzurufen.
Ffir Jedermann^ insbesondoe aber für den Eriminalisteo, ist es
von grosser Bedentnng, „Gedankenlesen* sn lenien und zwar in der
Wesse^ dass er in den Teischiedensten Lagen des Lebens nnd Berufes
scharf beobachten lernt, dass er nie seine Anfmerksamkeit ablenken
ttsst, dass er insbesondere, wenn auch nicht den Inhalt der ge>
heimen Veralftndignng, so doch znm Wenigsten die zweifeUose Exi-
stenz einer solchen erkennt Wer sich mit Unbekannten in ein Ge-
winnspiel einlässt, mnss die Augen oder den Beutel aufmachen, sonst
wird er leicht betrogen. Der Falschspieler weiss seinen „stillen Ge-
sellschafter'* im Gebeimen genau zu verständigen, z. B., welche Karten
er oder der Gegner in der Hand hat Hier geschieht die geheime
Verständigung entweder mit den Füssen, indem der eine Falsch-
s]tieler dem Anderen auf Grund eines veral)redcten Alphabetes durch
Anstossen, Berühren des Fusses seines Complizen den Inhalt der
eigenen bezw. der gegnerischen Karten zur Kenntniss bringt Auch
durch gewisse verabredete Hand- und Fingerstellungen, Mienen (Augen-
260
XIX. ScmiBICKEBS
zwinkern) und andere, oben schon erwähnte Winke läset sich eine
geheime Verständigung bewerkstelligen. Ay^-Lallement bat in
flekem bekannten Werke «Das denfsehe Gaimeiihiim* em ganzes
Alphabet, ans yersobiedenen Hand« und FingenteUnngen ziiBammen>
gesetzt, bfldlich dargestellt YgL hieiza aneb Gross' „Handbach für
UnteranefanngBiichter*', S. 275tf., sowie meinen AnfiBstz „Geheime Ver-
stSndignng dnreh i^boUsohe Zeichen nnd GebSiden', im „Dentsehen
Hansschatz" (Pnstet, BegensbwgX Jahrg. 1900, Nr. 58.
Aehnlich geht der gewerbsmässige Betrüger anoh vor beim Ver-
kauf angeblich werthvoller, thatsächlich aber ganz minderwerthiger
Gegenstände (namentUch Raritäten). Es liegt hier aber in der Natnr
der Sache, dass die geheime Verständigung zweier Betrüger regel-
mässig in der Abwesenheit des zu betrügenden erfolgt. Zumeist
wird der Betrug so ausgeführt, dass der eine Betrüj^er mit einem
Dritten unter Ilingabe einer angeblich sehr werthvollen Ilarität einen
„Trödelvertrag'^ abschliesst, während der andere Betrüger so zufällig
entweder während der Anwesenheit des Complicen oder später (wiia
die Regel ist) sich bei dem „Trödler" einfindet und ein grosses In-
teresse an der betreffenden Rarität bekundet, schliesslich eine hohe
Summe dafür bietet, wobei er aber vorläufig noch einen definitiven
Kauf geschickt vermeidet. Dadurch wird auch das Interesse des
„Trödlers" geweckt, so dass der erste Betrüger, der Uebergeber, der
ach gelegentlich ttber die inzwischen etwa gemachten Angebote er-
knndigt, ohne Schwierigkeit die Anszahlnng dnes hohen Preises für
die werthloseBaritit durch den Trödler erzielt Dieser Gaonertric kommt
unter den vendiiedensten Variationen thatsichlieh sehr hinfig vor.
Ueber andere Arten der geheimen Yenlfindignng, insbesondere
der Gefangenen unter sidi oder mit ihren nicht gefangenen Mitschul-
digen und Angehörigen, ist schon sehr vieles bekannt nnd veröffent-
licht worden. Auf Einzelheiten brauche ich daher hier nicht näher
einzugehen nnd verweise auf die in Gross' „Handbuch für Unter-
suchungsrichter'' im VII. Abschnittes. 239 ff.) eingehend besprochenen
„Gaunerpraktiken". Wegen ihrer Neuheit ist vielleicht noch ein
Hinweis auf die in meinem Werke „Moderne Geheimschriften ')">
S. 41 f. und S. 77 ff, besprochene X ih i liste ngeh ei mschrift hier
angebracht; dieselbe bezweckt nämlich, die Aufsichtsbeiimten des Ge-
fängnisses nicht nur Uber den Inhalt, sondern sogar über das Vor-
handensein der in einem hannlosen Briefe verborgenen geheimen
Mittheilung zu täuschen. Das Geheimniss liegt hier nicht in der An-
wendung sogen, sympathetischer (d. h. unsichtbarer) Tinten,
1) Verlag; der Dr. üaas'schen DrackereL Mannheim 190U.
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Ueber Gedankenlesen.
251
flondem lediglieb in einer Tembredetea besonderen Conatraetion
der Schriftzeioben. A.a.O. babe icb eingehende Belebrongen
über die MOglidikeit der Entdeekung solcher geheimen Hittbeiliingen
gegeben. Die Beachtung der in Gross' ^,Handbneb für üntersachnngs-
riebter^, S. 273, erwähnten Vorsicbtsmaassregeln hinsichtlich des schrift-
Hohen Verkehrs Gefangener mit anderen Personen verhindert aller-
dings in den meisten Fällen eine Täuschung der Aufsiclitsbeamten;
doch so lange nicht ein directes Verbot jeden irgendwelche Ver-
ständigung hezweokoiden Verkehrs der Gefangenen mit in der BYei-
beit lebenden Personen besteht, ist auch eine Täuschung nicht aus-
geschlossen, so dass noch mancher Gauner den Scharfsinn seiner
Aufsichtsorgane zu übertreffen Gelegenheit haben wird. Selbst die
gröbste Vorsicht könnte nichts helfen, wenn zur gegenseitigen Ver-
ständigung Geheimschriftmethoden angewendet werden, die durch Ab-
schreiben- oder Vorlesenlassen, also durch Einwirkung dritter
Personen auf das Geschriebene niclit entkräftet, nicht
spurlos gemacht werden können, Vergl. in dieser Hinsicht
z. B. meine beiden neuen Geheimschriftinetliodeii S. 89 und 91 des
citirten Werkes. Allerdings sind dies seltene Ausnahmefälle.
Das gleiche scharfe Augenmerk ist bei der Confrontation
eines Beschuldigten mit Mitschuldigen oder Zeugen (namentlich Ent-
btttnugszeugen) oderancfa beider Hanptverbandlung an! etwaige
Versnobe geheimer Verständigung zn richten. Hier sind ebentslls
die strengsten Vorsichtsmaassr^efai geboten: die Verdächtigen dttrfen
sieh nicht zn nahe stehen, ihre Mienen und Bewegungen sind scharf
zu controliren, nie dulde man, dass der Verdächtige die Hände auf
den Rficken lege u. deigl m. Aber auch Belastungszeugen gegenüber
ist dne geheime Verständigung seitens des Beschuldigten bezw. An-
geklagten leicht möglich. Dabei handelt es sich aber meistens um eine
unzulässige Suggerirung; denke man nur einmal an das Verhältniss
des Zuhälters zu seiner t^ rannisirten, ihm auf den Wink gehorchenden
Dirne. Ich habe darauf sciion einmal gelegentlich ') hingewiesen.
Es wäre sehr zu bedauern, wenn der junge Kriminalist bei der
zur Zeit leider noch herrschenden grossen Vernachlässigung des Stu-
diums der strafreciitliehen Ilülfswissenschaftt'n sich keine Mühe gäbe,
zur erfolgreichen Beobachtung und Bcurtheilung dieser so wichtigen
Erscheinungen des täglichen Lebens sich einen gewissen Scharfblick
anzuerziehen, und sich schon mit der vielleicht sieher, aber doch sehr
langsam kommenden „eigenen Erfahrung" vertrösten wollte.
1) „Das Recht.'' 1902. 5U5.
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XX
Aberglaube, Wahrsagerei und Karpfascherei.
Von
Dr. W. Bohütao, Gericlitsasaessor in Bostock i. M.
Der fUl Jinicke ans Beriin, In dem ein thörichtes junges Men-
gohenkind, das Aberglaube nnd die Sebnsnclit nach Glficfc und Beieh-
tbnm einem Wahrsager , d. h. einem betrügerischen Schniken an-
gefühlt hatte^ sdnen tranrigen Wahn mit dem Leben besahltei dflifke
noch frisch in aller Erinnerong sein, die Tagesblätter haben ihn aus-
giebig behandelt nnd aoeh die „Gartenlanbe^ hat im Jahrgang 1900,
Nr. 25 eine eingehende Sohildemng gebrachi Alle Tiraden nnd
wohlgemeinten Batbscblä^e, die bei dieser Gelegenheit darüber in
die Welt gegangen sind, haben natürlich nichts genützt, aber doch
scheint es mir geboten, wiedor und wieder alle einschlagenden Fälle
der Oeffentlichkeit vorzulegen. Vielleicht kommt die Richterwelt
dann schliesslich doch zu der Ueberzeugung, dass die beriilimte Ver-
theidigung der Wabrsagerzunft: sie liätten an ihre Kunst geglaubt,
eine plumpe Unverschämtheit ist, die als solche behandelt zu werden
verdient. Die uralte Geschichte von den beiden Auguren dürfte auch
für die Wahrsager gelten.
Ganz so grausig wie die Thätigkuit des Jänicke war allerdings
die des früheren Bäckers Plessen nicht, der sich kürzlich \or dem
Rostocker Schöffengericlit zu verantworten hatte, aber sie hat u. A.
doch hingereicht, einem in Ehren ergrauten Manne seinen guten
Kamen an ranben und ihn in seiner wirthschaftliehen Bdstens schwer
zn treffen.
In Rnnow bei OriTitz brannte Tor etwa iVs Jahren eine dem
Erbpftchter Bose gehörige Eommiete ab. Die üntersnchnng wurde
sofort «frigst betrieben, da jedoch, wie gewöhnlich in solchen FXUeo,
der Platz, anf dem die Miete gestenden, so sauber reingebnmnt war,
als sei er mit dem Besen gefegt, nnd Httlfsmannscbaften wie Neu-
gierige den Grund ringsum festgetreten hatten wie eine Tenne, so
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AbeigUnbe, Wahiwgvni und Empfnacbefci. 268
liess sich wohl feststellen, dass Brandstiftung vorliegen müsse, von
dem Tliäter fand sich aber keine Spur. Etwa zwei Monate s})äter
jedoch hiess es im Dorf: ,,Rose und sein Schwager wollen morgen
nach Rostock fahren, da wohnt einer, der kann ihnen sagen, wer's
gethan hat." So geschah's. Als nach ein paar Tagen Kose und sein
Schwager zurückkehrten, tauchte erst leise und schüchtern hier und
da im Dorf das Geracht auf: „Gastwirtii S. hett% daha**. Doch bald
war 60 «shon kein QttentlioheB GeheimnisB mehr, das ganze Dorf
spraeb laat davon , and lawinenartig anflehweilend TergrSsBeite sich
das lible Gerede, bo dasfl bald ganz GriTita und ümgegend mit voller
BeBtimmtbeit woBSten: S. hatte die Ifiete aagesteekt Zwar war
nicht der entfernteste Grand za entdecken, weshalb er die üebelthat
bergen haben sollte, denn das Korn war ja nicht das Seine ge-
wesen, er war ein wohlhabender Mann mit altem, flottgehendem Ge-
schäft, und der geschädigte Eigenthümer war seit mehr als 20 Jahroi
sein guter Freund und lohnender Kunde, aber das machte nichts, ge-
than hatte er es trotzdem, — der kluge Mann in Bostock hatte es
ja gesagt. S. sah die Sache eine Zeit mit an, in der Hoffnung, das
alberne Gerede werde sich schon verlieren, aber Leute, die seil Jahr-
zehnten in seiner Gastwirthschaft verkehrt hatten und in seiner Schmiede
hatten arbeiten lassen, mieden ihn ängstlich und andauernd, und Rose
und sein iScli wager gingen an ihm vorbei, ohne seinen Gruss zu er-
widern. Sein Haus war veq)önt, sein (Geschäft ging zurück. Schliess-
lich wendet sich der Mann in seiner Noth an den Staatsanwalt in
Schwerin, der, nachdem er festgestellt, dass gegen S. thatsächlich
auch nicht der geringste Verdacht bestehe, und dass Plessen der
kluge Mann in Bostock sei, mir die Sache flhermittelte.
Ich suchte mich annftohst Aber Flessen^ Betrieb su nnterriditen.
Allfiberall hdrte man von ihm munkeln. Er konnte nieht blos wahr-
sagen, nein, er konnte auch bei Diebstählen den Thiter aus den
Karten nennen und ihn zwingen das Gestohlene surttckbringen, er
konnte geheime Curen machen, war bald Spiritist, bald Antispiritisl^
und für 6 Mk. konnte er sogar Geister erscheinen lassen, aber ob-
gleich alle Welt ihn kannte, war doch mit bestem Willen nichts Greif-
bares festzustellen.
Ich wandte mich also an nneere Polizei, die sehr bewährt und
rührig und stets sehr entgegenkommend ist. Nach etwa zwei Mo-
naten jedoch bekam ich auf Anfrage den Bescheid, dass die Ermitte-
lungen keinerlei Erfolg gchnbt hätten. Da die Liste der Schutzleute
ergab, dass Drei von iimt n mit dem Besclnildigten in derselben kleinen
Strasse wohnten, einer sogar im selben Hause, liess ich die drei
264
XX* SouCtu
Leute und einen Kriininalserf^eanten koninienj der frülier mit Plessen
zusamnien^ewohnt hatte, stellte ihnen unter Darlegung des Runower
Falles den Ernst der Sache vor und ersuchte sie um sorgfältigste
Nachforschungen. Auch jetzt aber erfolgte gar nichts, die wieder
vorgeladenen Beamten erklärten, sie hätten wohl yiel Leute da ver-
kehren sehen, aber weiter kannten sie aaeh niehts beriehteo. Der
eine^ dem ich seharf zu Leibe ging, da er als mehrjabiiger nnmittel-
barer Nachbar des Plessen dessen in der gansen Stadt mehbaien
Betrieb lingst kennen masse, meinte endlieh etwas veilegen: ja, vor
Jahren sei ihm eb Fall bekannt geworden, in dem in einer hiesigen
kleinen Kneipe etwas fortgekommen ed, beziiglieh dessen Plessen,
nachdem man ihn befragt, den Verdacht auf einen Verkehrten gor
looLkt hidie, doch sei die Schenkmamsell von damals ja sieher nicht
mehr zn ermitteln und der alte Gastwirth nicht mehr vernehmungs-
fähig. Auf die Frage, weshalb er die unerhörte Geschichte nicht
angezeigt habe, wie es doch seine Pflicht gewesen, folgt verlegenes
Schweigen. Ein anderer Schutzmann l)rachte mir endlich die Namen
von 8 Soldaten, die sich vor zwei Jahren in Pfingstmarktsstimmung
bei Plessen hatten Karten legen lassen, das blieb alles. Ich wandte
mich daher an den Aerzteverein , da der Beschuldigte u. A. im Huf
arger Curpfuscherei steht, und hat um Mittheilung bekannt gewordt-ner
Fälle. Von hier habe ich gar nichts erfahren. Da habe ich denn
endlich den letzten Weg versucht und unter der Hand Erkundigungen
Angezogen, auf dem fand sich endlich der Anfang des Fadens. Ein
Bef^iendar hatte eine Tante, die hatte ein Dienstmädchen, das one
Schwester halte, welche wieder eine Freundin besass, und die war
bei Plessen gewesen. Nat&rlich waren auch damit die Schwierig-
keiten noch nicht behoben, aber nnn gab doch Jeder wieder seinen
Gewährsmann, so dass sdiliesslieh eine ganze Anzahl von Fällen
zusammenkam. Alle waren natürlich äusserst veisohämt und ent-
setz^ dass sie in dieser Sache vernommen werden sollten, die Frauen
hatten Angst vor ihren Männern, die nicht wissen durften, dass sie
einem solchen Menschen ihr Geld hingetragen, und fast jeder bat:
„aber ich brauche doch nicht in die öffentliche Verhandlung^^ Ein
Mädchen, die sich nach ihrem Zukünftigen hatte erkundigen wollen,
war die erste. Der hatte Plessen u. A. geheimnissvoll gesagt: was
er könne, das krmne Niemand mit Geld bezahlen, und hatte aller-
hand Erzählungen mit einf Hessen lassen von gestohlenen Dingen, die
er wieder verschafft und dergl. Das Mädciien hatte denn auch,
nachdem si<^ für Geld und gute Worte den erw im siebten günstigen
Bescheid bekommen, als neue Trompete seines Kuhmes mit geheimem
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Abeigtanbe, Wahnagwei mid KtupftudienL 356
Schauer sein Ilaus verlassen. Bunt p:enug allerdings hatte es da aus-
gesehen. An der Ilausthür prangte ein Marniorschild , das in Gold-
buchsiiiben den Namen des Künstlers trug und darunter die Worte:
„Prof. der Magie", ein weiteres Schild trug noch die Aufschrift:
,,Heilraagnetiseur'*. Zunächst kam man vom Flur in ein bürgerlich
einfaches Empfangszimmer, an das sich das Allerheiligste schloss.
Der ans jenem Vorgerufene hatte sich hier auf ein Sopha zu setzen, auf
deBBen Lehne neben ihm ein glUhängiger ausgestopfter Kater sasB,
aof dem Tieeh stand ein ScfaAdely an dar Wand hingen bloase Sfibel,
Bilder mit Schlangen nnd einem rothen Teufel jl dergl. mehr. Der
Hexenmeister selber, ein gnft gewaohsener, etwas blasser Mensch, etwa
Mitte Dreissiger, mit grossem schwarzen Schnurrbart, dnnklem vir-
tuosenhafiem Häarwald nnd melancholisehem Blick, erkundigt sich
einleitend nach dem Begehr und der gewünschten Antwort, nimmt
dann Karten nnd Zanberstab und sagt den Leuten, was sie gern
hören. Bei einer gestohlenen Uhr weist er auch wohl auf einen
Actendeckel unbekannten Inhalts, meint: ja, die Sache sei nicht leicht,
aber er stände mit dem Gericht in Verbindung und verstehe sich auf
80 was. Scheint noch mehr Ilokus-Pokus nöthig, so muss die Frau
auch noch die Kette bringen, an der die Uhr gesessen hat, da der
alte Aberglaube doch auch l)erücksichtigt sein will, dass man zur
Entdeckung einen (legenstand haben müsse, der bei der That vom
Schuldigen berührt sei, und endlich wird die geheime Weisheit ver-
kündet, die je nach den Angaben des Plülfesuchenden z. B. lautete:
Der grosse blonde Jlann am Feuer habe es gethan — nachträglich
widerlegte sich der Verdacht gegen den Schmied, aber erst lange
nachher, und nachdem der Yerietete auf Grand dieser Weisheit Un-
tersuchung gegen ihn und Haussuchung Tennhisst hatte — oder:
der Thfiter sei kein Bettler oder Handwerfcsbursch, sondern wohne
dicht bei der Bestohlenen, auch m es kein Hann, sondern eine Iteu
nnd zwar schon m filteren Jahren — die Bathfiagende hatte nämlich
erzShlt, dass am fraglichen Morgen nur eine alte Nachbarsfran bei
ihr gewesen sd und Kartoffeln gekauft habe; auch dieser Verdacht
traf nicht zu — u. s. w. in langer Zahl. Bis auf über zehn Jahre
Hess sich dies Geschäft zurück verfolgen. Manche der Zeugen gaben
ehrlich oder auch zögernd zu, dass sie an die Kunst des Mannes ge-
glaubt und ihn deshalb bezahlt hätten, andere meinten: ,je^ se seggen't
jo all, un ninn kann't je doch nich weeten" und nur einzelne, be-
sonders ein junger Bursche, stellten noch unter Eid in der liaupt-
verhandlung mit I^ntrüstung in Abrede, dass sie daran geglaubt haben
sollten, obschon sie entschieden nach dem Gegentheil aussahen. Von
266
XX. ScuOiu
allen hatte er Ik'zuhlunf,' fj^enonimen, nur von den beiden Runoweni
nicht. Die Sache war ihm docli wohl zu brenzlich gewesen; so dass
er sich mit dem Ruhm bejrnügt hatte, dass die Leute eine Tagereise
weit aus dem Lande zu ihm gekommen waren. Hezeichnend war
die Antwort, die er ihnen nach geschehener Anshorchung ertheilt
batte. Da er weder im Dorf Bescheid wusste, noch die Fragenden
irgend einen Verdaeht hatten, erklärte er sehÜeiHlieh, daae es Bnmd-
atiftang sei, doeh habe es keui BVemder, noeh Eneoht oder Magd ge-
than, sondern em selbBtilndiger Mann, der diebt dabei wohne nnd
mehr sein woUe als andere Lrate. Anf das dritte Hans im Dorf
aoUten sie achten. Das batte nnglilcklioher Weise aUes nur auf S.
gepasst, nnd somit war er der Thäter. Ueberhaupt hatte er nie Kamen
genannt und sich immer mit allerlei verdächtigenden Andeutnngen
begnügt So z. B* aneh hei einem Kellner, dem eine Geldtasche mit
30 Mk. gestohlen war, nnd den er anf die Hansgenossen verwies.
Auch sonst suchte er sich zu decken, indem er seine Besucher
vielfach mit Redensarten empfing, wie: Kartenlegen könne er nicht,
aber wenn sie es gern wollten, so wolle er ihnen ausdeuten, was für
sie in den Karten stände.
In der Hauptverhandlung gab er rundweg zu, dass er nicht an
irgend welche übernatürlichen oder aussergewölinlichen Kräfte, die
etwa in ihm wirkten, glaube, er wolle die Ixnite nur unterhalten,
wenn sie zu ihm kämen, denn das Schild an beiner Thür bedeute
nicht „Professor^, sondern „Profession ist der Magie*' und er sei
gerade Antispiritist Anf die Frage, was er sich denn fiberhanpt
nnter einem Spuntisten vorstelle, vermag er nicht zn antworten nnd
Uber seinen Beruf „HeUmagnetuseur^ weiss er nnr zu erzftblen, dass
er „KrSfte ttbertnge'*, was für welche^ wodnrdi, zn welchem Zweck,
darüber yerlierea sich sdne Antworten in yeriegenem, zerfahrenem
Gebhsel nnd dem Gandinm der dichtgediSngten Zuhörerschaft Er
entwickelt aber weiter, er habe schon oft geholfen, wo kein Arzt
mehr zn retten yennocht habe, z. B. bei brandig gewordenen Wunden
und ihn ähnlichen schweren EKUen. Und wo er die Vorkenntnisse
her habe?
Er sei einmal kurze Zeit Wärter in einer „epileptischen Klinik*'
gewesen und das andere habe er aus seinen Büchern, von denen er
leider keins zu nennen vermag. Aber seine Kunst i«^t noch nicht zu
Ende; da er früiier zuweilen auf dem Lande gewesen . heilt er den
Bauern, die zu ihm kommen, auch ihr Vieh, und in den verzwei-
feltsten Fällen helfen seine Medicinen.
Dass die Praxis lohnend gewesen, ist anzunehmen, hat bie doch
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Abeixlube^ Wahrug«Bei und KnipfaachereL
267
dem früheren mittellosen Bäckergesellen ein dreistückiges eigenes
Haus mit gut eingerichteter Wohnung eingebracht Die in alle Schich«
ten greif^de jährige Untettnebniig Mbeint ihn alleidings ge<
sehfidigt zu habeiii wenigsteiis geht lein Hans jetzt in Zwangsvoll-
streeknng. Dae jetzt anch von der Strafkammer bestitigte ürtheil
lautete auf 6 Woehen Gettngniw wogen Betrugs, 3 Monate waren
beantragt
Das ist ja sioher ein greifbarer Nutzen, ob aber damit aU der
Sehade gesühnt ist, den dieser Vielgewandte in den langen Jahren
seiner Praxis angerichtet hat? Ich glaube kaum. Der Ruf des Runower
Gastwirths z. B. ist auch jetzt nach Aufklärung des Thatbestandes
und der Verurtheilung nicht wieder hergesteilt wie ehedem. Und nicht
nur der züliflüssig denkende Bauer oder der kleine Handwerker glaubt
mehr an solchen Wahrsager und Kuqifuscher, aucli eine Dame in rei-
feren Jahren aus uraltprciissischem Adelsgeschiecht und ein deutscher
Doctor der Philosophie, die dem Si)iriti8mu8 huldigten, sind in dunkler
Nachtstunde mit anderen Gläubigen einlassbegehrend an seiner Thür
gesehen. Wenn derartiire Dinge geschehen, wenn gar in dem „auf-
geklärten'' Berlin Tausende zu Fräulein Ida und Ulrike Schön pil-
gern, die in der Flott well- und der Bainltergirstrasse den lukrativen
Schwindel der Gesundbeterei nach Mrs. Edd} 's Methode betreiben —
▼on Amerika selber rede ich natürlich gar nicht — und dort die
Tomehme Welt Beriins vereinigen , Leute, denen alle Mittel der Bil-
dung zur Verfügung stehen, kann es da Wunder nehmen, wenn die
Polizeimannschaft, die bei ihrer geringen Besoldung nothgedmngen
ans verhAltnissmlssig ein&ebea, ungebildeten Stinden genommen
werden muss^ völlig den Dienst versagt, sobald das verfSngliche Ge-
biet des Abiffglanbens und der Geheimkflnstelet berührt wird? Ja
von einem erfahrenen Praktiker ist mir einmal ein Fall mitgetheilt,
iu dem die unteren Polizeioigane in einer schweren Sache, in der sie
sich nicht zu helfen wussten, um der Ungnade ihres Vorgesetzten zu
entgehen, zusammengelegt und sich an eine Zauberin gewandt haben,
deren guter Rath ihnen dann sogar auf die richtigen Wege half.
Wie verbreitet besonders der Wahrsagerschwindel noch heutzutage
ist. dafür mag s{)rechen, dass allein in Rostock, einer Stadt von
5CtMHi Einwohnern, an officiell bekannten weisen Frauen und Männern
nicht weniger al^. 1 3 wohnen. Meistens alte, halbblinde und lahme
Weil)er, die ihren Ernährer verloren haben und jetzt mit Hülfe dieser ver-
botenen Kunst ihr Dasein fristen, die Meisten von ihnen mi)gen sich
ja im Wesentlichen auf die verhältnissmässig harmlosen Fragen nach
dem Bräutigam , dem Lotteriegewinn u. dergl. in ihrer Auskunft be-
268 XX. Schütze, Abeiiglaabe, Wahnagerei und Kurpfuscherei.
schränken, doch kann auch schon hierdurch allerlei Unfug und Un-
heil angestiftet werden, so dass es wflnschenswertli erscheint, wenigstens
eine Handhabe zu beÄsen, nm g^gen sie anch einsehreiten sa kdnnen,
wenn die übliehen Begldteiseheinnngen Ton Enppdei n. dergL fehlen,
oder der Betmgspaiagniph versagt Deshalb sollte die von den
Commentstoren noch fOr gftttig gehaltene alte Heoklenbnigisehe
Landesverordnung vom 28. Januar 1681 betr. „Die Bestrafung gottes-
lästerlicher, abergläubischer und unzfiehtiger Dinge^, die auch das
Wahrsagen verbietet, einmal praktisch wieder erprobt werden, es ist
jedoch trotz des notorisch beträchtlichen Geschäftsbetriebes dieser
Kunstgattung und trotz mehrfach angeordneter Nachforschungen nicht
möglich gewesen auch nur einen einzigen unverjäbrten Fall festzu-
stellen, ^die Ermittelungen blieben erfolglos".
Das allein dürfte Beweis genug sein, Staatsanwälten und Ge-
richten darzuthun, dass energisches Einschreiten gegen dies bösartige
eingewurzelte und uucontrolirbare versteckte Gewerbe dringend ge-
boten ist.
Vor Allem aber sollten auch unsere Aerzte nicht nur auf die
Juristen schelten, sondern uns lieber das Material an die Hand geben,
das ihnen in ihrer Praxis reichlich bekannt wird, wihrend es neh
uns entzieht liessen sie ihre Schee, such vielleioht einmal als Zenge
▼or Gerieht zu müaseii, etwas mehr in den Hintergrund treten, so
hätten wir längst aufräumen können mit emer bedeutenden Anzahl
Wahrsager und Geheimnisskrämer, und auch eine ganze Menge grosser
und kleiner NardenkStter wäre längst eiledigt und abgethan.
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Kleinere Mittheilangen.
a) Von Nfteke.
l.
Der Fall Behuert. Kürzlich bat der Erste Staatsanwalt Dr. Siefert
(Bd. XI, S. 209) in gritaetor Kllrae den Troem der RanbrnOrder Behnert,
Fonsse und Goldsehmidt borUhrt, leider aber nur das Vorleben des letzt-
erwähnten gegeben. Vielleiclit wird er ein Cilt iehes auch mit dem der
anderen Kaubgesellen thun und ;rorad(' liior wäre Näheres sehr erwünscht,
leii habe selten von so schaurigeu Mordhuben gelesen, die mit der grössten
KUte und Gemlktiiliehkeit am geringen Ftofit das Leben ihrer HitmeoMhen
anslGschten! Da giebt es kein Fttnkchen Mitleid! Das sind solche FUle»
wo ich die Todesstrafe angewendet wissen möchte, aber erst, wenn eine
psychiatrische Untereuchuug stattgefunden hat. Das ist, so viel icli weiss,
bei Behnert und Fousse nicht der Fall gewesen, offenbar weil sie dem
Riehter keinen Anlass dasn boten. Immeriiin bitte es gesehehen sollen,
aus Princip. Beide sind vielleieht ans ihrem Milieu so heraasgewachsen.
Oder gehörten sie etwa zu den sog. .moralisch Scliwachsinnigen^, die wir
als eigene Krankheitsspecies nicht mehr anerkennen ? Wir werden das wolü
nie sicher erfahren. Jedenfalls gehörten sie nioht zu den «Primitiven" (Pen ta).
Der Rroeess bot aber sonst noch viel Interessantes nnd Lehrreiefaes dar.
Fangen wir glacfa mit Goldschmidt an. Schon in der Arbeitsanstilt ^ord
er als schwachsinnig erkannt, noch mehr dann im Dresdner Irrensiechen-
hause, wo er ca. '/4 Jahr weilte. Mehrere Jalire wird er als solcher in der
Anstalt Hnbertnsbnrg bdiandelt nnd also genugsam beobaehtet Dentlieh
und klar gab ich als Sachverständiger an, dass G. schwaehsinnig nnd ver-
mindert zurechnungsfähig sei. Der 2. Experte, Prof. B ins wanger, der den
G. zum ei-sten Male sah. war natürlich ausser Stande, ein Verdict abzugeben,
da der Angeklagte wie gedruckt sprach und antwortete, was mau bei
leidit Sehwadisbnigen ja oft sieht Man mvss einen solehen erat niher
kennen lernen, um die Risse seines Geistes offen daliegen zu sehen. Man
sollte aber meinen, dass, wenn zwei bekannte Irrenärzte in ihren Anstalten
So lange den (t. beobachtet hatten, dies an sich hätte dem Richter genügen
sollen. Der Staatsanwalt aber untei-stützte den Vorsdilag Prof. Bins-
wanger's, den Qt. eist noeh in der Jenaer Klinik eventneU m beobaiahten.
Als ich deshalb gleidi darauf privatim den toaisanwalt befragte, meinte
er. icli li.-itto mich ja nicht deutlich darüber ausgesprochen, ol» der (1. zn-
reclmungslühig sei oder nicht, was aber wie alle gehört hatten, deutlich
memerseits gesdiehen, vom Staatsanwalt aber wegen seiner Schwerhörigkeit
260
Kleinere JüttheUuogeD«
flberhOrt worden war! Man begreift, dass ein solches Verfahren den beiden
anderen Irrenftrzten g^enttber als ein Mjsstranensvotnm anfgefasst werden
konnte! Der Jenenser Begutachter ist später genan auf meinen Schluss
der verminderten Zurechnungsfälügkeit g:ekommen. Ijcider Imf Dr. Sief er t
in seinem Aufsätze aus meinen Darlegungen einen selir wiclitigen Passus
weggelassen. Idi hatte nimfidi gesagt, O. biete ein elassischeB Beispiel
für die sog. moral insanity dar, d. h. eines leiditen intellektuellen Sdiwädi-
sinns bei tiefem etliischen Niveau. Solrlie I^outo f^oliRrten erfahrungsgeraäss
schecht in die Irrenanstalt und scliloclit in die Gefängnisse. Für sie ratissten
eigene Zwischenanstalten zwischen GefUngniss und Irrenanstalt erst gebaut
worden. Diesen Baiz hatten dann die Zeitungen andi als sehr wiebtig et-
kannt und gesperrt gedruckt. So lange wir tniii soleiie Anstalten lUeht
haben, ist für diese Mensclien das Gofänpiiss dfin Iirrnlianso immer noch
vorzuzielion, doch verlangen sie einen milderen ötiafvollzug, sollen sie nicht
sehr bald geistig erkranken. Goldsclimidt ward zu lebenslängiidiem Zucht-
hanse Terurdieilt, legte aber Revision ein. Herroriiebfln will idi endlidk
noeb, dass anf mdne Anfrage mir erlaubt war, aneh eventuell tlber die
verminderte Zurechnungsfiibifckeit mich anszusprecben. Das ist höclist
anerkennensw erth, da immer mehr die Notliwendigkcit einer solchen Zwisciien-
stufe anerkannt wird und ihre nominelle Wiedereinführung in unser Straf-
gesets nnr noeh ehe BVage der Zeit sein wird.
Dass solche Personen, wie 0., leicht der Suggestion zugänglich smd,
ist bekannt. G. schildert«' das auch sehr classisch. Er und Fonsse hatten
sogar versucht, in einer moralischen Anwandlung sich von Behuert einmal
an trennen, waren aber doch wieder an ihm gestossen. Letzterer war dw
Bedeutenden^ der Soggerireade. Wir haben also bier eine Coppia erimlnale
a tre, d. h. ein Verbrecherpaar zu drei, wie Sighele solche Vereinigunj^ be-
zeichnet, vor uns. Behuert giebt an, die Anderen führen alles aus. Das
setzt uatürhch bei ihnen auch sein: geringe Moralität voraus. Auffallend
ist, dass unter den RanbniOrdem und QewaltthStigen aller Art so viel
Schlosser,f1eiBolier, Fabrikarbeiter u.s. w. sind. So war auch Behnert Sddoaser.
Diese Leute sind gewöhnt, mit schweren und scharfen Instrumenten zu
arbeiten, sie verletzen sich leicht, sehen oft Blut füessen und das alles
scheint auf das >tiveau ihrer Moral seiir oft nachtheilig zu whrken. Je
schwerer die Handarbeit, um so melir ruht andererseits aber andi der Qtui,
um 80 schwerfälliger wird er leicht uml untcnlrückt feinere Begnügen.
Namentlich ist die Gefühllosigkeit der Fleischer, Viditreiber, Bergleute u. s.w.
bekannt. Die Psychologie dieser schwer arbeitenden Classen , die vielen
Gefahren ausgesetzt und gegen Schmerz abgestumpft sind, ist eben eme
andere, als bei anderen Bemfaarten. Beruf und Moral stehen also Bieber in
einon gewissen Zuaammenhange.
2.
In Saehen des Fanatismus. GewOhnlieh spridit man nur von
religiösen Fanatikern, doch giebt es ebenso solche auf wissenschaftlichem
Gebiete und im gewöhnlichen Leben. .Teder, der aicli in eine specielle Idee
verrannt hat, Belelu'ungen absolut unzugänglich ist, ist ein Fanatiker. £r
kann dies nun in Theorie oder Praxis sein. QewObnlicfa geht beides Hand
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Kleinere Mittheilangeii.
261
in Hand. So lange der Mann aber still dahin lebt, den anderen seine
vermeiiitliebe Wahrheit nicht anfdifngen will, kOnnen vir ihn einen atiUen,
harmlosea Fanatiker nennen. Anders im ge|j:entheiligen Falle, wenn er als
Propagandist auftritt und gar zu Feuer und Schwert «rnift, um seiner
Meinung Geltung zu versdiaffeu. IHe Psychologie des Fanutismus ist eine
sehr reiche und interessante. Nur einige Pignikte himon sollen im Folgenden
besproehen werden. Ndimen wir z. B. als Typus des Fanatitmns den
Abstinenzler an, wie er in seinen Scliattirungen bei dem letzten Bremer Anti-
alkoholisten-Congresse sich breit machte, namentlich in seiner abstossenden
Form des rüden Propagandismus. Abstinenzler — dasselbe gilt vom Vege-
tarianer, JagerianerQ.8. w. — wird man auf awd Wegen. Entweder awingt
einen ein Leiden dazu und man handelt dann nur vernünftig; oder man
wird 08 durch Lectilre, Nadiahnuing, Hetrachtunj; der socialen Folgen u. s. w.
r)as hat dann einen altruistischen Anstricii, der aber, sobald er zur Propa-
ganda Ubiirgeht, leicht einen sehr unangenehmen egoistischen Beigesdimack
erfaili In idealster Form eneheint es allerdinga reiner Altmiamna m son,
doch ist ein solcher in letzter Instanz eben aaeh auf Egoismus zurflck-
znfnhren. Wir wollen unseren Willen, unsere Meinuni; Anderen bei-
bringen und das befnedi-rt uns eben, selbst wenn das höhere Ziel allein
maassgebend zu sein seheint
Fiat juBtitia, pereat mnndnat
Dann aber giebt es sicher Petaonen, die am Gewinnsucht, Eitelkeit n. s.w.
Fanatiker werden, eine KoUe spielen wollen. Diese sind natürlich eine sehr
verwerfliche Masse! Neben geistesgesunden — und dazu rechne icli einen
Theil der Anarchisten — giebt es aber gerade unter den Fanatikern eine
Menge gcMig minderwerthiger PenKmen nnd gerade auf soIdM wiedennn
wirken Fanatiker am meisten ein. lUn gehe z. B. nur in ein Speisehaus
der Vegetarianer, um sofort solche zu entdecken. Die gefährlichsten Fana-
tiker sind natUrUch die religiösen und vielleicht hat nichts soviel Blut fliessen
lassen, als gerade der fanatische Religionshaas, mit d«n dar Aberglauben
iidi gorn venMliwistert, wie s. B. bd den Hexoiprocessen. IKe anderen
Fanatiker sind scheinbar hannloser, wtLrden ihre Gegner aber frorn. wenn es
möglich wäre, mit Feuer und Schwert verfolgen, resp. in modernem Ge-
wände, ihnen allen Schimpf und Schande anthun. Stand, Bildung, Kasse,
Religion nnd andere Momoite spielen mit Untw den Ungebildeten wird
man vielleicht mehr Fanatiker finden, als unter den Gebildeten, weil hier
das Ich ja ein viel einfacherer Complex ist. nml der Widei-stand oft ge-
ringer. Becht gefährlicli sind halbgebildete Elemente, wie z. B. viele Volks-
schullehrer, die alles zu wissen glauben und Uberall „uutmachen" wollen.
Et sdi^t franer, daas aneh ^ Rasse nicht nnwielitig ist Germanen sind
schwerfälliger, daher im Allgemeinen weniger zu Eiferern geeignet als Ro-
manen und solchen auch weniger znjrän^'lich. Ein Ferri, I. oni 1» ro.t^o u.s.w.
würden bei uns lange nicht den Effect machen, wie bei ihren heissblütigcn
Landsleuten, und die fanatischen, ekstatischen Heiligen u.s.w. fanden sich wohl
Öfters luer. Em merkwürdiges Geeets beherrseht ferner, wie ich glaabe^
die Fanatiker, wie alle Menschen überhaupt, nimliefa: Je näher die
Meinungen, die (leschmUcker, die Kassen einand< r stehen, um
so mehr befeinden sie sich. Der Abstinenzler hasst den Jeniperenzler
noch mehr womöglich, als den Trinker, was sich wieder in Bremen
AnMw nr KriBiBdMtlivapoloii». SU. 19
202
Kleinere Mittbeilangen.
zeigte. lOnner oder Franen nrit eehr Ihnliobaii Ohankfeer stoHen
sich ab, nahestehende Renen desgleichen, was wir z. B. zwieohen
DciitHchon und Enjrh'indern , Spaniern and Portnpesen, Italienern und
Franzosen. Norwop^rn und Schweden n. s. w. sehen, wobei allerdinj^ noch
viele Fuctureu, beäonders die Religion uiue Holle spielen. Audi sehr nabe-
itohende Seeten befebdea nah Ins auf den Tod* Man sieht das in
Roesland, bei uns, im Uam u. s. w. Wie ist dies mericwttrdigo Verhalten
zu erklären? Icli stelle mir vor, dass, wenn man weiss, daas der Partner
in so manohon I)in*reii ^undverechiedene Ansichten hat. man es gleich von
voniheiein ab ausäichtttius aufgiebt, ihn m belehren. Anders, wenn nur
Uefaie Differenzen bestehen. Dann ist mehr Aossloht auf Erfolg gegeben.
Gltidct es nicht, wie meist, so wird man immer gereister, eben weil die
kleinen, unüberwindbaren Schwieri^'keitcii « inen melir Hrgern, als die grossen.
Um zu ihren Ansichten zu bekehren, i^'pbrauchcn nicht selten Fanatiker
Uebertrfflbungen aller Art, absichtlich und unabsichtlich falsch gedeutete Sta-
tistikea v. s.w. Dies trat aneh in Bremen henror. Es war vonuusnsehen, dass
witste Scenen erfolgen mussten, ebenso) auch war der wirkliche Ei fnl*,' schon
vorgezeichnet. Der Berichterstatter sagt darüher in der Krankfurter Zei-
tung (21. April r.)(i3, 3. Morgenblatt) denn auch lakoniscli: „Die positiven
Ei^bnisse des Cougroäses sind ganz minimal'^. Man wird sicli hierbei
vielleieht erinnern^ was i«b Aber den Werth von Gongressen flberhaapt s. Z.
sagte ') und man wird das Meiste auch in Bremen bcstritijrt finden. In
einer kürzlirlicn Besprochnng eines Huchs von Baer (Hil. XI, S. 270),
habe ich meinen, hoffentlich von den Meisten getheilteu Standpunkt in der
Alkoholfirage dargestellt und zwar auf Grand reldiKdier Erfahrung. Forel,
den man wegen seines Temperaments in einer solchen Gesellschaft von
Extremen, die die ^rrOsste Objcctivität und Diplomatie der Spraehc verlanfft,
am liebsten in Bremen nicht hätte als Redner auftreten htssen sollen,
leistete sich z. B. den Satz, daj>8 jeder iMensch, der einmal betrunken ge-
wesen, geisteskrank sei! Ent spftter, nadi vielem Wtdenpraohe^ reetifieirte
er sich. Es ist sichw, dass der Alkohol sehr v\e\ schadet, aber in concreto
ist dies stets erst ZU beweisen und dies ist ^Mr nicht immer so lei(?lit.
Wenn lierausclite Verbrochen begehen, so liefet der Znsammenhang klar da.
Wenn aber ein irinkei' — uud was rechnen die Abstinenzler nicht alles
dasn! — deiinqnirt, so ist em solcher Zusammenhang absolut nodi nicht
klar. Hier können die gewöhnlichen Arten von Verbrechen stattfinden
und der Alkohol höchstens <len Widerstand vermindert haben. Dies in
concreto nachzuweisen, dürfte seh wer fallen, mag es auch noch so wiUir-
scheinlich klingen. Wenu ferner ein Trunkenbold ein epileptisclies oder
idiotiselies Kind sengt, so ist nodi lange nidit bewMsen, dass der Alkohol
an der Epil< psi.- u. r. w. schuld ist Tritt dasselbe beim 2.. 3., 4. Kinde
ein, so wird dies allerdinp^ immer walirselieinlieher, aber erst nach Ausschluss
von sonstigen erblichen Behistungsmomenten bei den Eltern, etwaiger
schwerer Geburt u. s. w. fast absolut sicher. Beim In:sinn liegt das Ver-
hftltniss nur deutlich beim Säuferwahnsimi. Wenn aber ein Trinker spiter
an F^uvaoia oder Melancholie u. s.w. erkrankt, so ist nioht noth wendig
1) Näckc. Bericht über den Amsterdamer Krimmalautliropologca-Congress.
8. Bd. S. 91, gegen dah Ende hin.
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Kleinere Hitcfaettinigeii.
268
der Alkohol daran schnlfl. Es k5nnen andere Momente sein, eventuell in
Konkurrenz mit dem Alkohol. So sind also die grossen Zahlen cn bloc,
weltlie die Abetinenzler für die Betiieiligung dee Alkdiob und Erzeugung
▼onlrrunn ond Verbrechen nicht anfObrent eindeutig^ sondern sehr vieldratig.
Damm kflmmern sich aber die Herren nicht ! Die besten Reweise für einen
Scliaden durch Alkohol liegen vielleicht in den expcrinientell-psycholofrischen
Untersuchungen. Und gerade Forseher auf diesem Gebiete: Kräpelin,
Asehaffenbnrg n. s. w. sind swar flberzeugte Abetinenzler, sehen aber
die Undurcliführbarkeit der allgemeinen Abstinenz ein und verlangen nur Mög-
liches. Ja in der Schweiz, wo am meisten trowlililt wii d, siolit m.in in den Städten
nur wie bescheidene Veilchen im Dunkeln eiuzcliic l'ii iiienschilder mit blauem
Kreuze. Nacli wie vor wird doi*t tupter gezecht und ich habe nicht ge-
hört, dass die Wdnbergbentaer Uber Abnabme ihrw Weinlirferangen ge-
kla<^ hätten. Als Curioenm sei hier gleich erwihnt^ dass einer der haapt-
silchlichsten ^ Radauf ritzen'^, ^\it• der Berliner sagen würde, seine schönen
Weinberge — so ward mir <lort erzählt — nicht etwa in Kartoffel- oder (!e
treidefelder umwandeln lässt, sondern ruhig fortfäiirt, die Leute mit seinem
CtowSdme zn vergiften. So lange Abetinensler und MSseigkeitler rasammen-
tagen, w ird e^ Radau geben, so in Wien, so jetzt in Bremen. Daher haben
in Zukunft beide Parteien getrennt zu arlieiten. Die Abstinenzler sollten
mit ihrem grossem Erfolge, die Kegierungen und diis Publicum nachdrücklichst
auf die grossen Schäden des Alkohols aufmerksam gemaclit zu haben, zu-
frieden sein nnd nlebt nadi Utopieen jagen. SdiiM^den hat mit sonem
Götaborg-S}'8tem Orossartiges geleistet^ dso mit der Massigkeit, gewiss mehr
als die Scheinerfolge z. B. der amerikanischen Alwtinenzler. .le inflir die
Fanatiker übertreiben/ um so mehr schaden sie der guten Sache. Sie werden
das aber fimKoh nieht einsehen, weit sie eben Fuiatfflnr sind. Socialpolitiker
sind aus solchem Hobse lüeht geschnitst!
3.
Ueber Selbstentmannung. Da die Kastration eine schmerz-
hafte nnd nicht nngeftiirllehe Operation ist^ andern Niemand ohne Weiteres
sich seiner Männlidikeit begeben will, ist es nur natOriidi, dass Fälle von
8ell>stkastratinn ausserordentlirli selten sind und aus verschiedenen Gründen
meist nur bei ( Icisttwkranken beobachtet werden. In Irrenanstalten kommt
solches hie und du vor und vor einigen Jahrein wurde in der Irrenanstalt
an Hnbertnsbnrg folgend« intwessante Fall beobaehtet: Em Paralytiker
hatte sich mit einem li^en gebliebenen Messer den Ilodcnsack fast durch-
schnitten. Nach Zusammennähen deaselben riss er den Verband ab und
wollte nochmals den Hodensack abschneiden, so <lass ihm die Hände be-
festigt werden mussten. Befragt, warum er das getlian habe, sagte er,
Gott habe ihm brfohlen das Scrotnm m entfernen nnd ihm ein goldenes,
ein doppeltes versprochen Tagelang wiederholte er in weinerlichem Tone:
„Lieher (Jott, gieb mir noch einen zweiten S:ick, meine Frau ii^t mit einem
nicht zufrie<len." Dieser Fall, der gliicklieher Weise keine perfecte SelKst
kastration betrifft, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerth. Bei Para-
lytikern sbd tentamina aniddü, emstlich gemeinte^ sehr selten, noch seltener
anf Gcliörstäuschungen hin, abnorm selten ab«r Kastrationen. Die Moti-
vimng in unserem Falle ist eine köstliche. HSnfiger finden sich £nt-
19*
Kleinere MittheUungen.
maDDungen beäoudcrs bei Paranoikern und Melancliolikein, auf Grund vun
WahnideeD, Befehlsstnomen, Yerfolgungswahn n. t. w.
Sonst wird wcmi: darOber bericlitet. In der Zeitsdirift für >[e(liciiMl-
beanitc 1902, in lieft 16 und 20 wird je ein solcher Fall von
Dr. »Schmidt Tctcrsen und Dr. Soibrij? niitgetheilt. In dem ersten
handelt es sicli um einen 40jälirigeu Mann mit zeitweiligen QemUthsvor-
stimmimgeii. Verf. ▼ermntfaet, und wohl mit Beeht, dm der Betreffende
in einer Bdehen den Act vor^renoramen habe. Dieser psychopathischc Zu-
saranienhanp erschoint dem ^"erf. um so klarer, als Patient ^in sicli das
Blut von Vater und 'r()clit<'r vereinigle, bekanntUeh die plnstifrsten Mo-
mente zur Degeneration'. Letzteres ist aber nicht walir, da selbst Incest
für die Naddcommcnsdnft niucliidlieli isty wenn l>eide Elten gerand waren,
und in obigem Falle ist dies nicht verneint Dr. Schmidt-Peterscn
dafrejren fand seinen Kaatrirten geistig gesund und kann sicli die Sache
nur so erklären, dass Patient sicli dies selbst zugefügt habe, etwa zur Hei-
lung einer arg betriebenen Onanie, obgleich für Letztere nbiolut Itein An-
lultqNinlct Toriag. Patient leugnete ^e That^ und gab Tidmehr an, die
Verwnndnn^j: sei durch Zufall geschehen. Hinterher gab er aber zu, dass
er sich selbst kastrirt habe und zwar aus Spielerei. Hier erwähne ich
gleich, daas mich neulich ein Imbeziller, der stark unanii'te und bislier umsonst
hieigegen behanddt wurde, frug, ob er seh oieht kSnne traatriren laaaeOy
um von semem Leiden loezukommen. Es adieint alao in der That beim
niederen Volke der Erfolg einer solchen Operation gegen die Onanie ge-
rühmt zu werden. Einen ganz merkwürdig motivirten Fall von Selbst-
entmannung erfuhr ich aber kUrzlidi von einem Collegen. Vor einigen
Jahren ward er sdilennigst ni einem Ifaane in der Stadt gerufen, der sidi
dieTfealiIcel entfernt hatte und stark blutete. Grund: Er war ausser aieh
gerathen, als er bemerkte, seine Fian. die schon mehrere Kinder hatte, sei
Mieder schwanger geworden. Er iiutte dem fernerhin dadurch vorbeugen
wollen : Der Mann hatte also die That offenbar in einem Zustande acuten
AffectB, der einem Raptna melandiolieiu ähnelt, anageftthrt! Ana reUpOsem
Fanatismus kann es durch eigene oder fremde Hand geschehen (Seopzen),
docli kaum je bei uns. Dann besteht z. Zt der That wohl immer eine
solche Affectlage, dass der Thäter, wenn er die Hand an sich legt, meist
nicht zurechnungsfähig sein dürfte.
Für den Jnriatan kommen dieae ao flberaua seltenen FUle y<m Sdbst-
kaatration praktieeh kaum in Betracht. Man muss aber wissen, dass diese
schwere Verwundung auch durch einen Zufall, endli<']i von Seiten Dritter
gesclieheu kann. Im Falle des Todes, tiefster Benommenheit, Taubstumra-
hdt, bei tiefstem Blödsinn oder Verworrenheit, Vielieicht auch bei fremdspra-
ehigen Menschen, kann es nnter Umatlnden schwer werden zn entsdidden,
ob eine Selbstthat vorliegt oder nicht. Erstere hat für den Strafrichter kein
Interesse, da sie nicht l)e{<traft werden kann, anders wenn die übrigen Mög-
lichkeiten da sind. Im landwirthschaftlichen und maschinellen Geti'iebe
besondera ktanen Entmannungen aoa nnglficMidieni ZnfaDe leicht einmal
geschehen. Solohe von Seiten Dritter aus Radie, Spielerei, Neid, Fahr^
lässigkeit u. s. w. kommen gewiss auch nicht so selten vor. Hier könnte
dann auch einmal der Fall eintreten, dass (b-r Uebei-fallene durch Schreck,
Schmerz, Blutung u. s. w. nicht im iStaude war, die Attentäter zu crkcunen,
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Kleinere MittfaeUangeii.
26&
selblt wenn die That am lichten Tn^e ^'oächah. Es kann aber endlich auch
godiehen, dass ein Selbstattentäter (siehe oben) aus irgend einem Grande
die Tliat Iragn^
Wolter niQehte kdi nodi als hierher gehörig die Selbetverletzung der
Genitalien er\s ilhnen , die nicht etwa alle Versuche von Kastrationen dar-
stdlen. So unglaublich es klingt, so ist es doch Thatsache; dass Manche
sich solche Verletzungen znfligen, am sieh geselkleolitlieh ftafsii-
regen. So eniUt s. B. ein fransOeiMher Sduriflateller im Jahre 1901
(Notiz im Archivio di psychiatria u. s. w. 1903. S. 335), dass ein 68 jäh-
riger Bauer 30 Jahre lang zu diesem Zwecke sich den 1 lodensack ver-
letzte, denselben aufschnitt, ihn wieder zunähte uud später Fremd-
IcOrper unter die Haut des Serotams bnehte. Diese UbemiB eelteneD FMle
sind wohl eher als ein anto-eadistisoher Aet (Vorstellung, dass der Thäter
diese "Wunden u. s. w. einem Partner zum ZM Pcke der geschlechtlichen Er-
regung beibrachte), als ein auto-masochistisciier zu bezeichnen (Vorstellung,
dan Urnen diese Wunden von dritter Seite beigebradit wUi-den). Darauf
bemlien vieDdcht i.Th. wenigstens aneh gewisse Voricommnisse bei Geistas-
kranken, wie Umaehnfiren des Penis, EinfBliren von Fremdkörpern in die
Harnröhre u. s. w , was allcidinp^ auch zur Beseitigung localer Heizungen
und Schmerzen, bisweilen auch auf (irund von Wahnideen und Sinnes-
täuschungen oder nur aus reiner Spielerei vorgenommen wird.
Enäeh konnte einmal — der FtXL ist' aber bisher wohl noeh nie be-
obachtet worden — eine Entmannung in einem Wuthanfall, eine Zweek,
auch vielleicht in einem epileptischen u. s. w. Dämmerzustande vorgenommen
werden. In einer Notiz des Archivio di psich. u. s.w. 1903, S. 287, lese
ich nämlich eine Mittheilung ans einer spanischen Gerichtszeitung, wonach
ein leidensohaftfieher Menseh in einem Momente blinder Wuth, wo er alles
roth sah, sich selbst schwer verletzte (aber nicht an den Genitalien!), wonach
er Andere der That bezichtete. Hier treten dann also sogar noch weitere Com-
plicationen hinzn. Der Jurist wird sich auch diese Fälle merken mOasen.
4.
Haschisch und Verbrechen. Man weiss wohl, d:uss (Ipium und
Haschisch — ein Hanfpräparat — im Orient viel in verschiedener Form
genossen werden, davon das letztere namentiioh in Aegypten. Hasehiseh
als Droge ist für den Psychologen qMciell interessant geworden durch die
dem Genüsse de8sell)en folgenden ganz merkwürdigen llallucinationen, wobei
namentlich der Muskelsinn, die ri!eicli<j:ewiciitslage so gestört erscheint, djiss
was oben ist, unten, was rechts, links ei'scheint und umgekehrt, so dass die
Haüncinanlen ob ihrer neuen Lage nieht ans dem Entannen gerathen. Ifan
weiss ferner, dass Opium die Menschen körperlidi und geiiBtig herunter-
bringt, weniger war dies vom Haschisch bekannt.
Nun hat W^arneck (Insanitj' from Hashesh. Journal of Ment.il Science
1903, jan.), Director der ägyptischen Irrenanstalt zu Cairo gezeigt, dass in
Aegypten diese Droge genau die traurige Bolle beaftgl. Eneugnng von Imfam
•und Verbrechen (ironriegend gewalttliStige) spielt wie der Alkohol in England
und dort schlimmer zu wirken scheint, als in Indien. Der Wirkung nacli ähnelt
sie sehr dem Alkohol, und so unterscheidet Verf. einen Uaschischrausch, ein
266
Deliriam (« dem Delirium tremens), eine acute, cbrouiscbe Manie, eiue ciiru-
nische Draoentia und die sog Gaanabinomaiiie, die dem ehronisclien Alkobolis-
mus an die Seite zu setzen wäre und eine allniälilioli zunehmende DepravatilMl
bedeutet, in der der Betreffende verlumpt, bettelt, flucht, sehr rei/har ist u.s.w.
Körperliche Symptome, wie beim chronischen Alki)liolismus bullen nicht
auftreten. Selbstmorde sind sehr selten und specielle Symptome beim Ent-
ziehen dee Haaehieeh in der AnataU worden nicht beobachtet Eine yOUige
Abstinenz hält Verf. bei Opium und Hascbisdi ffir unmöglich, wohl aber
möglichste Eindämmung. Man hat also naeli Obigem auch den Hanf
als eminent krimimogenen Factor von jetzt ab anzusehen,
und energisoh zu bekämpfen.
Traurige Folgen einer Suggestion bei einem Kinde. leh
habe wiederfadt mit Andern anf die getthilidi«!, beabdehügten oder on-
beabsichtigten Folgen einer Suggestion, die nidit blos durdi das Gehör,
sondern auch durch das Gesicht (= Nachahmun-r) geschehen kann, hin-
gewiesen. Ueute wird dies von Neuem durch folgenden traurigen Vorfall
erläutert^ den ich dem „Thie^ nnd Menschenfrennde* (1903, Nr. 3 ond 4)
entnehme:
Lasset die Kinder nicht beim Sehlachten zujre;;en sein!
Aus OlmÜtz in MäJiren schrieb man uns am 4. Februar H}U3: .In der
Gemeinde Morkowitz bei Prossnitz ereignete sich am vorigen Freitag ein
grBaalieher Fall. ESn dortiger Baner eehlachtete in Änweeoiheit seine»
3 jährigen Knaben ein Sdiwein. Bald darauf lief das Kind in die Woh-
nung, erfrriff ein Messer und schhiclitotc mit den Worten: -Ich niuss
doch sehen, ol» die Marie auch so schreit, wie diia Schwein" sein in der
Wiege liegendes halbjähriges Schwesterchen. Das lund war sofort todt.
Bier also hat das Zoedianen nnwillkürlidi eme schanrige Tbat ver-
anlasst. Man weiBS, dass alle minderwerthi^z^en und unentwickelten Gehirne
— und dazu froheren vor Allem die der Kinder — besondei-s der Sug-
gestion, auch der unbeabsichtigten, wie oben, leicht zugänglich sind. Alles
was das Kind sieht, hört, wird mit Kameraden sofort ausgeführt, meist
allerdingB nnr ab Spielerei, aber oft genug mit tragischem Ausgange, wie
z. B. bei dem Räuber- und Hängeq[nele u. s. av. Hei uns spielen die Jungen
meist Soldaten und das treht gewöhnlich hannlos ab. In Spanien spielt
alles den Stierkämpfer und das wird wahracheinUch weniger un^^efährlich
verlaufen. Ob auf dem Iiande bei uns die Kinder auch ,Schweijieschlacliten^
spielfin, weisB ieh nieht Jedenfdie ^egt dies siemlieh nahe. Daraus ist die
Lehre an entnehmen, Kinder nie bei irgendwie aufregenden
Scenen Zuscliauer sein zu lassen, ihnen auch nie Leetüre
mit solchem Inhalte zu geben. Man vergiftet oft so ihre Seele und
kann gcfährOehe Snggeetionswirkungen erleben. Gerade auf dem Lande
liest man die Kinder ruhig dm rohoi Scfaw^esdilachten xosehoi. Sie
freuen sich Über die Qualen der Thiere, wenn zunächst aucli unbewusst.
Dasselbe geschiebt bei dem öffentlich vor sich gehenden Beepnngen der.
Kühe u. s. w.
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Kldnere Mittheilnugeii.
867
6.
Thier(iiiä lerei nnil Aberglauben, Kürzlich (ll.Bd., S. 256) habe
ich eiiiijje intt'res.S!inte Facta bezüfrlich (»liijjen Themas gebracht und bespro-
chen. Heute füllt mir ah dazu gehüriges weiteres, instnictives Beispiel fol-
gender Vorfall m die Augen, den ieh ^eidifalb dem «Tliier^ nnd Meneehen-
frennde (1003, Nr. 3 und 4) entnehme:
rhierquälerei aus Aberglauben. Aus Bayern wird der
^Fiankf. Zl^'." ;;osclinel)en: In einem Ort zwischen den Städten Fürth
und Erlangen verurt sich ein Huhn in den Huf des Xachbam, gerätb
in den Stidl nnd fliegt einer Kuh auf den Rfldcen. Die Bäuerin sieht* b
nnd erbleicht bis in die Lippen; denn ihr wird eB mit einem Male klar,
wanim ihr in letzter Zeit dies nnd jenes zngestossen ist: das Thier, das
da oben anf dem Kulirücken sitzt und sie mit starrenden Au]L:en an-
blinzelt, itit keine Henne, das ist eine Drud! Flugs maclit sie, unterstützt
von Kwd handfesten Mägden eine Attadce gegen die Dmdenhenne, und naeh
hartnäckigem Widerstande befindet siel» schliesslich das lluhn auch in den
Händen der keuchenden Bäuerin, Um ein für alle Mal ein Ende mit dem
Verhexen zu machen, spricht diese das Tudesurtheil aus: sofortiger Idd
durch Verbrennen bei lebendigem Leib! Die Mägde heizen eigens den (^fen
ehi und schieben das Huhn in die GIntfa, wo es unter schmerxtiehem Ge>
gacker bald verendet. Jetzt ist die Geschichte beim Gericht anhängig, weil
der Naclibar Sehadeneraatz für die gemarterte -Drud"* beansprucht.
So gescliehen im Jahre des Heils 1903 oder 1902!
Und da spricht man noch von den grossartigen Fortaduitten der Cnltur
und ridit mit Verachten auf die aberglänbisehai Banmi Russlands u. s. w.!
Wer etwas mit der Volkspsychologie vertraut ist, weiss, dass es noch vielfach
finster ist, auch in nnserer Volksseele. Der Ilexenj-danben in specie ist noch
keineswegs ausgestorben, besonders auf dem Lande. Auffüllig ist es allerdings^
dass es in obigem Beispiele gerade in Fhmken geschah, was eine der erleudi-
tetsten Provinsen Bayerns darstellt. Nebenbei ist es uubegi'eiflich, dass die An-
zeige nicht wegen der scheusslichen Tliier(|uälerei gescliah. sondeni des Scha-
denei'satzes ballier, Vielleiclitwird liier aber doch der Staatsaiiw alt einjn"eifen.
Wie aber ist die Frau zu bestrafen V Eine gewöhnliche Henne liatte sie sicher-
lieh nicht verbrannt Ihr Aberglaube wird ilv also als mildernder Umstand an-
gerechnet werden, aber wie hodb? Würde sie auch die That gethan haben, wenn
es sich nm eine eigene H«ine gehandelt hätte?
7.
Wichtigkeit einer genauen psychiatrischen Expertise bei
gewissen N'erUrecliern. Wiederliolt habe ich schon früher den Satz auf-
gestellt, dass jeder Verhreciier psychiatrisch untei-sncht werden sollte, um
einem Justizmorde, d. h. hier einer unschuldigen Verurtlieilung iui Krankheits-
fälle, naeh HOgliehkeit zu hegten. Ldder ist dies m praxi aber undureh-
führbar und wir können nur fordern, da.s8 bei bestimmten Verbrechen, nament-
lidi Sittlichkeitsverbrechen, dann bei jedem Kapitah »>rbrechen,eine psychiatrische
Untersuchung stattfinde. Dies wenigstens ist durchführbar und ge^cliieht
jetzt glücklicher Weise immer häufiger, meist allerdings vom Vertheidiger dea-
268 Kleinere Ifittheilmigen.
Angeklagten beiinttagt. Oft liegen nun die Veriiiiltnisse so einfach, daaa
der Experte nach ein oder mehrereo Besnehea beim Gefangenen dieeen siefaer
für geisteskrank eiUlren kann. Leider jedoch fßAt es genug GrenzfiOIe.
wo selbst nach lüngerer Benhaohtunfr <lio Meinungen der Sachverständigen
auseinandorgclien, was sehr ungerechtfertigter Weise immer wieder den Medi-
ciuern vorgehalten wird, während uns tügUch wiederaufgehobene Crericbts-
urtheile zeigen, daas withm bei Jnristen noeh viel hftnfiger gesehieht, was
aber weniger Eindruck anf das Pablicum zu machen scheint. Zu fordern ist
nun, daas mindestens eine fi wöchentliche Beobachtung solcher Grenzfälle,
am besten in einer renommirten staatlichen Irrenanstalt Platz greife, da
Beobaditang im Gefibigntase selbst immer etwas Unnatflriiches an sich hat
Zu obigen Bemerkangen ▼«lanlaHen noeh besonden die PHtaideoteiim6rder
Ouiteau und Czolgosz. In beiden Fällen war der Volks wille so peremptorisdi
fnr eine baldige Venirtheilung, die allgemeine Suggestion, <lass es sich nm
Geistesgesunde handle, so stark, dass auch die psychiatrischen Experten
danmter litten nnd ihnen viel ni wenig Zeit m genauer Untersudiung ge-
wihrt ward« B«de Mördei' wurden bekannüieh hingeriditet, da sie als
geiBteageBond angesehen wurden. Hinterher stellte es sich bei Guiteau
heraus, dass er geisteskrank war und jetzt zweifelt kein Mensch mehr daran.
Er wai' also unschuldig verurtheilt worden und dies scheint nun auch beim
2. Mörder, Gzolgosz der Fall gewesen zu min. Maedonald sah ihn nnr
dnige Maie und erklärt ihn für gesund, 3 andere Sachverständige, die ihn
wiederholt naliezu fast 3 Woclien besuchten, scheinen der gleichen Ansicht
gewesen zu sein. Nun hat Channing'j sich der [grossen Mühe unterzogen,
auf das Genaueste der Anamnese des Mörders nachzugehen, indem er bei
allen Verwandten, FVenndrai nnd Bekannten naehfonchte. Da ersehdnt
dann die Sache ganz anders. Erblich belastet, ron Kindheit an still, scheu,
war er seit einigen Jahren kränklich und bot geradezu kindische »hebe-
phrenische" Züge dar, mit total verändertem Charakter u. s. w. Sehr wahr-
scheittUch trat in ihm alimälilich die Wahnidee auf, eine grostic That aus-
znftthren, den Priaidenten, der dem Volke ao aehade, zu tOdten. Er war
sicher kein Anarchist und war auch nie von den Anarehfeten als der Ihqge
anerkannt. Ki-st die genaue Erhebung seiner Anamnese — die den früheren
Gutachtern so gut wie unbekannt war — giebt den wahren Schlüssel zur
That nnd ieh muss nach der Leetüre der interessanten Arbeit von
Ghanning sagen, dass audi ieh den Gzolgosz für geisteskrank halte^.
Man sieht hieraus, wie colossal wichtig, besonders in Grenz-
fällen, eine genaue Erhebung der Anamnese ist, die freilich oft
genug grosse Schwierigkeiten bereitet. Der Kuriosität halber will ich noch
erwilmen, dass ein QehLngnisgeirtlnher, Drahms') den Mörder im Lom«
brosischen Suine fOr dnen eehten ,reo-nato^ hllt Seme Arbeit ist die
pure Phantasie!
1) Channing, The mental Status of Czolgosz the assassin of president
MeKInley. Amerlean Jomtial of ineanity. No. 3. 1902.
2) Auch Hughes. Mrdical asi)e( ts of the Czolgoss csse (AUenlst and Neu-
rologist. No. 1. 1902). hält den M<"ink>i- für geistig abnorm.
S) Drabms, Leon Czolgosz. Ibidem.
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Kleinere MittheUiingen.
269
8.
Ueber den Einflnss schlechten Schlafes auf die Zeugen-
au8sa{;;en. Nur selten liest man, daas hoi (ionolit3\prliandlungen der
liiclitcr. eher schon der Verteiilif^er, der Glaubwürdi'ckeit eines Zeu^jen öffent-
lich näher tritt, wenn er dieselbe auch bei seinem Urtheile wohl mit in An-
sehlag bringt. Wir wieeen, de» je oaeh nneerem KOrpenmetaade die Auf-
nahme der SinnesemdrQcke nnd ihre Verarbeitung nidit nnweeeiitlich sioll
ändern, ebenso später ihre Heproduction. liier will ich nur auf einen einzigen
Punkt aufmerksam raachen, auf den die Juristen schwerlich bisher ge-
achtet haben. Es ist dies der Schlaf. Nach schlechtem Schlafe, das weiss
ein Jeder, kt die AufmerkBunkelt am Tage eine geringere. IXunit hingt
es soBamnien, dass die Sinneseindrücke weniger sdiarf sind, feinere ganz
tlbei-sehen, andere geradezu falsch aufgenommen werden. Hat Jemand in
solchem Zustande etwas gesehen oder gehört, so mtLssen sich schon jetzt
Irrthttmer einschleichen. Aber noch nicht genug. SoU der Betreffende
später ata Zeuge aaftretoi, so ist hier ErinnerongiAisehung oder -ttaaehnng
viel eher möglich, als bei andern. Dann macht es aber ancli einen Unter-
schied aus, ob Einer nur einmal schlecht geschlafen hat, oder für gewöhn-
lich schlecht schläft In letzterem Falle ist die Sache oft noch prekärer.
> Der Kiehter wird atoo unter anderem fragen mflaeen, wie der Zeug« ge-
schlafen hat, bevor er die That n.s. w. mit ansah, aber aufdi wie am Tage vor
Auftreten als Zeuge. Consequenter Weise mUsste man das auch auf \ iele
Thäter ausdehnen, und in dem voi-angegangenen schlechten Seidafe mit der fol-
genden geringen Inhibition von .Impulsen u.s. w. einen Milderungsgrund sehen.
b) Von Siefert
9.
Ein Selbstmord. Ifi^iellieilt vom Errten Staatsanwalt Siefert in
Weimar. Der Fall ist vom Geriehtsarst Dr. Hoffmann ui Elberfeld un
sweiten Hefte des laufenden Jahrganges der Vierteljahrssdirift fUr gerichtliche
Medicin dargestellt. Mit IJecht wird gesagt, (hms er wegen der Art der Aus-
fflhrung Anspruch darauf mache, ein grösseres Interesse für sich zu erwecken.
Die StaatBanwaUsehaft hatte eine Section der Leidie veranlasst Das
irztliche GuUiehten lautete:
Ei-stickongstody die ErstidKung hOehstwahrscheinlich bedingt dnreb
Chloroform.
Es drehte sich um die Lciciie emes jungen Drogisten, welclie in dessen
Zimmer gefnndoi worden war. Die Obdneüon wnlrde nach dem Sebema
für Veigiftuiigcn ausgefOlirt. Die chemisclien Sachverständigen stellten durch
den Geruch fe.st, dass in den ihnen übergobenen I.(eichentlieilen — Gehirn,
Herz, Milz, Niereu, I^ber, Blut aus dem Gehirn und aus dem Herzen —
Chloroform enthalten war. Auf dem blossen Leibe dei* Leidie befand sich
ein fest anliegendes Korsett Es tat an yennnthen, dass der Drogist dnrob
üaa Anlegen dieses beengenden KleidungsstQdEes seinen Tod um so siclierer
herbeiführen zu können geglaubt hat. als wie er gewnsst haben wird, beim
Chloroformiren alle beengenden Kleidungsstücke entfernt werden müssen.
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270
Kleinere Mittbalanipeo.
Sonst wai' die Leicüe nur mit einem weitit>eu Uemd bekleidet, sie lag
auf dem Bette «nf dem Baudie. Der Kopf war mit einem Tnehe leidS
zugedeckt. Die Hände lagen auf dem Kfidcen. Sic waren in der Weiie
gefesselt, dass sie in einander gelegt und die Hjindprelonke von einem
Riemen umschlungen waren. Der Kiemen verlief straff nach ahwärts.
Kacli dem Umwenden der Leidic fand man den etwa 1,30 m laugen
Riemen glatt nnter dem KOiper liegen nnd diofat am Mnnde des Toten das
Ende des Riemens. Der Eindraek der vier oberen nnd nnteren Schneide*
zfthne war dentlicli dtran zu ersehen.
Das unter dem iiesichte der Ldche liegende Tucb war feucht und
roch nach Erbrochenem.
Direet nnter Mnnd nnd Nase fand sich ein kleines viereckiges Papp*
sehichteldien von 5 bis 6 qcm Grösse, wie man sie beim Einkaufen von
.TnwelierM'aaren erhält. Dasselbe war mit rntlifr Watte gefüllt, der Farbstoff
war ausgelaugt und hatte die untere Paitie d^ Gesichtes und das unter
dem Geeichte liegende Tudi I^eht gefärbt
Anf einem Tische im Zimmer wurde ebe Flasche m 76 g gefonden,
die an einem Drittel mit Chloroform gefüllt war.
Die Schalen des erwähnten Pappkilstehens waren von dem Selbstmörder
mit Chloroform gefüllt worden, worauf er das Lager aufgesucht hat Idit
dem llbergedecktien Tuche suchte er das Verdunsten des Chloroforms mOg^
liehst zu verhindern und uabewnsste Abwehrbewegungen machte er durch
die Fesselun«: der Arme unmöglich. Bei dem auf dem Gesichte liegenden
Mensehen trat zunächst die ('lilorufonubetäubung und dann in Folge
mangelnden Luftzutritts der Erstickungstod ein.
Die Motive mm Selbstmorde wurden in ,Famili6nveifaSltnis86&'' gefunden.
e) Von Hahn.
10.
Blutiger Aberglaube. Von F. Hahn, Untenuchungsrichter m
Grodno, Kii.ssland. Die russische Zeitung „Oestlicher Bote" theilt mity dasB
in der Nähe der Stadt Port Alexandrowsk zwei den Zwanj^'sarbeiten anf
der Insel Sachalin entlaufene Kirgisen verhaftet wurden, in deren Keise-
säcken man Stücke von Menschenfleisch fand. Die eingeleitete Unterauchnng
ergab, dass diese Kirgisen twei ebenfalls enäanfene StrSfIbge getOdtet
liatten, deren Leichen audi gefunden wurden. Die gerichtliche Obduetion der
Läoben der Ermnrdeten ergab, dass an ihnen Herz, lieber nnd Finger fehlen.
Das citirte Blatt knüpft an diese Mittheilung die Muthmaassung, dass
man es wohl in diesem Fiül mit Kannibalismus und zwar mit gewohnheitS'
missigem au thun habe^ da das Verbreohen in der NIhe eines Bergwerks
verübt worden ist und die (iegend dort absolut nicht so mensdicnleer sei»
dass die Kirgisen nicht hätten Nahrung erhalten können.
Man wird wohl niciit irren, wenn man voraussetzt, dass der Kanni-
balismus mit diesem Verbreehen nichts au Aun hat und dass der Doppel-
mord wohl zu abergläubischoi Zwedcen verübt worden ist, worauf das
Fehlen von Herz, lieber und Fingern an beiden Leichen hinweist, denn diese
Bestandtheile des nienschlidicn Körpers kann man doch nicht als die ge-
eignetsten zu Nahrungszweckeu ansehen.
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BeBpreehiiBgeiL
a) Bücherbesprechungen vun Nücke.
1.
Möbius, Ueber die Wirkungen der Caetration. Marhold, Halle 1903,
99 Seiten, 2 Mark.
Verf. giebt liier zwar keine eigenen Versuche oder Beobaclitungen über
Castration, aber dne sehr gute und klare Uebersicht Aber das bisher auf
dieeem Gebiete Geleistete. Seine Sprache, aadi in der Polemik, ist niaas8>
voll, seine Urteile raeist richtig, vorsichtig und kritisch. Die angehängte
Bibliographie ist dankenswerth. Geschichte und die Wirkungen der Caatra-
tration au Mensch und Thier werden genau geschildert und die vielen un-
gelösten Probleme angedeutet Bb zeigt sich, dass sie nur gans früh ans-
gefnhrt, die Ausbildung der secundären Geschlechtsmerkmale hemmt, später
ausgeführt dagegen kaum noch. Gerade sie spricht dafür, dass das specielle
Geschlecht nicht durch die Keimdrüsen bedingt wird, sondern schon im (be-
fruditetenj Ei foitgestellt ist (Öoma-Theorie), da — bis auf Zwitter — stets
die Zeichen eines Geschlechts prftyaliren. Die Keimdrilsen „fOidem* abM>
nur die secundären Geschlechtsmerkmale, machen sie aber nicht. Manches
spricht für eine bisexuelle Anlage. Die IveiindrOsen wirken fönlernd durch
die „innere Secretion". (Dafür spricht, meint Ref., sehr Vieles, oltgleich das
Wort jetzt ein Sclilag^urt geworden ist, und auf alle möglichen Drüsen
und Gewebe ansgedehni wird. Der strikte Beweis ist aber nur dann er-
bracht, wenn der „seoemirte'^ Stoff erst nachgewiesen ist.) Verf. fügt end-
lich noch einige sehr kurze forensische Bemerkungen bei, Ref. hätte nicht
viel auszusetzen. Er glaubt nach wie vor mit Rieger gegen Möbius,
dass man bei sehr fettem oder muskelstarkem Nacken die Connguration der
Hinterfaanptssdmppe nicht genan abtasten kann. Die Bedehnng toh Klon-
him, Hinterhaupt und Geschlechtstriel I ä la Gall hat sehr Vieles gegen sidi.
Wenn Möbius glaubt, dass zwischen Moralität und Keimdrüsen keine
engeren Beziehungen bestehen, so möchte lief, ihm nicht beistimmen, da
der normale Geschlechtstrieb viehnehr die Unterlage emer gesunden Moral
abnigeben sdiebt.
2.
Kluge, Männliches und weibliches Denken. Marhold, Halle 1902, 35 Seiten,
1 Mark.
In äusserst geisti-eicher Weise behandelt Verf. sein Thema, wobei er
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272
BespFechnngen.
freilich der Kritik nicht selten Blösaen darbietet. D;iä ganze geistige Leben
ttnft nach ihm in Bewegungsrontonongen ab (immor? Ref.). Diu ganze
Denken ist „auf einen Vorgang der Bewegung ztirflckzuführen". Ueberail sind
Muskehl mit thätig. ^leh denke tliatsilcldich mit meinem I^ibe'' und die
eigenthchen Sinne sind somit beim Denken in den Hintergiund ;,'edriingt
ausser dem GefQhlsinn, der vuui Bewegungssinn unzertrennlich ist Die Be-
wegangavonldlangen bd der FVan nnd dem Mann abd nnn rendiieden,
daher auch ihr Denken, und zwar schon in die Jugend. Das Weib denkt
mehr in ^iSituationsbildera'" . daher die rnbeHtän(b'frkeit : durch lebhaftere
Empfindung \ erlangt sie mehr nach Neuem, ist mehr subjectiv und partei-
licher. Der Mann geht mehr nach Ursadie tmd Wirkung, er denkt ruhiger,
objeetiver, emator, grnndUeher. Ihm «aehwebt eine Zielrotatellang vor,
daher ist das weibliche Dejiken ein entschieden minderwerthi-
geres" (V Ref.). Aber auch ganze Völker denken mehr weiblich, so z. B.
die alten Griechen (VRef.j, wenigstens später, aach die Börner; die semi-
tisefaen VSlker. HandebvOlker denken weMeh (? Ref.). In der Stadt
denkt man mehr weiblidi, anf dem Lande mehr männlich (? Ref.). IHe
FVau soll nur solcJie Benife ergi-eifen, wo sie weiblich denken kann. Man
sieht Möbius mit seinem ..physiulogischen Schwaclisinn beim Weibe'^ macht
Schule, freilich nur eine sehr einseitige und fragwürdige.
3.
V. D U h r cn , Das Gesclileebtsleben in England n. s. w. Bandori^ Charlotten-
burg 1902, 445 Seiten.
Merkwürdiger Weise ist in diesem Archive (Bd. X) der II. Band dieses
hodibedentBameii Boehea besproehen wwden, nieht aber der L, weshalb ich
letsterea hier kui anzeigen will. Es ist em Bucli, das jeder (Gebildete
gelesen haben mnss, da die Seiten, die zunUclist allerdings nur das eng-
ILsclie lieben beleuchten sollen, eben ganz allgemeine Verhältnisse betreffen.
In klarer, schöner Sprache, auf Grund umfassender literaturkenntnisse, wird
JOB ent der en^iscfae Nationaloharakter in seinen gnten und bMen Seiten
geschildert und auf die specißsch hHwBchen Seiten, namentlich die Bni-
talitilt, die 4 specifisch englischen sexuellen Phänomene zurOck^^efülirt, näm-
lich die Kaufehe, die Deflorationsmauie und Kinderschändung, die Fiagellu-
maaie und die Hänfij^eit und seandaKifle Verhandlung der Ehebrnohspro-
eesse. Alle diese Dinge^ 1^ auf die FUigellomanie, werden angehend dar^
gelegt und man ist erstaunt, wie viel Mittelalterliches noch jetzt in Eng-
land fortwuchert. Ein Gegengewiclit zu diesen traurigen rhänomen bietet
die Elle dar, der im letzten Capitel allerdings die I^ostitution gegenübei-
ateht, die hier, ab «n^iadie Ftortitntion, zuerst flberhaupt abgehandelt wird
und daher sehr vollkommen ist. Das Verhältniss zwischen ihr und dem
Verbrechen wird den Richter speciell inleressiren. Endlich finden noch die
Magdalenenstifte, die Abolitionistenvereine u. s. w. Berührung, und ihre
Nutzlosigkeit wird richtig geschildert. Der Kritiker freut sich, au diesem
Standard werk nur ganz Nebensächliches anfechten zu mflssen.
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Be^Nreohimgen.
378
4.
Liebmann und Edel, Die Sprache der Geisteskranken nach stenographi-
schen Auf/.eichn\in*ren, Marliold, Halle 1903. Is2 Seiten, 4 Mark.
Jeder rsychiater, der es mit seiner Wissenschaft ernst nimmt, hat es
gewiss oft bedauert, beim Anhören interessautcr Kranken iiidit ilire Reden
nadntenographiren sn kOnnen. Selbst der Mbneltat Schreibende ist oft hier
zu folgen unfähig. Zum tieferen Eingehen in dftl GefUge der
Kede, besonders nach psychologischer nnd sprachlich-for-
maler Seite hin, ist die Schnellschrift unbedingt nöthig. Es
war daher ein glacklicher Gedanke^ dass ein belcannter Berliner Sprachanst
und ein Inrenant sich snuuBmeDthjtten und die olnge LOeke ansfoilten. Es
werden nns alle möglichen Geisteskranken vorswtellt und nach knnter
Skizzirung der besonderen Krankheitsform ihre Krankengeschichte kurz
mitgetheilt und ein oder mehrere stenographirte Gespräche mit ihnen gegeben.
SefaoD diese lahlreiehen vaä meist gut gewihlteii Krankeegeschiditeii rind
interessant, noch mehr aber die verschiedenen sprachlichen und grammati-
kalischen Abweichungen, namentlich bei der Paralyse, Epilepsie und Imbecilli-
tät, die dabei einem erst klar werden. So bildet denn obiges Buch eine
sehr dankeuswerthe Ergänzung eines jeglichen Lelirbuches für Psychiatrie,
wekihes Letsterss gewOhnüoh gerade die sprachliehen and stimmlieheD Eigen«
heiten mehr vernachlässigt, auf alle Fille nie so sehr darauf eingeht, am
wenigsten an der Hand von Stenogrammen, die allein das Clieh«'
des Originals darstellen können. Die Eintheilung der l'sychosen ist
wohl noch absichtlicli die alte. Trotzdem sprechen die Verf. von Dementia
praeeoz, yerwendeo das Wort aber anden als Kraepelin.
5.
Politisch-anthropologisehe Bevne. 1* Jahrgang 1902/8.
Die hier schon frflber angezeigte neoe Zdtsdirift hat nun ihr 1. Lebens-
jahr beendet, und voll gehalten, was sie versprach. So ist es auch kein
Wunder, dass sie in der kurzen Zeit eine relativ enorme Zahl von Abon-
nenten aufzuweisen hat, wie wohl kaum eine andere Monatsschi'ift. Sie
▼erdient aber yollanf diesen Znsproeh. Aneh nnr dn oberflidilicfaer Bliek
auf das Inhaltsverzeichniss zeigt den Reiditiium an zum Theil sehr langen
Originalarbeiten, meist von bekannten Autoren. Wie sdion früher bemerkt
ward, sind endlich die vielen kurzen, angehängten Berichte Uber aile mög-
liciien Zweige des Wissens sehr daukenswerth.
So Tenichieden nun aneh die Arbeite selbst sbd, so geht doeh durch
die meisten hindurch wie ein rother Faden die EIntwicklungslehre , speciell
in ibr Darwin sclifti Ausgestaltung. Diese wird dann in den Dienst der
Hitt- Anthropologie und Politik gestellt, und zeigt so recht, wie ungeheuer
fruchtbar diese Hypothese geworden ist. Dass damit die religiösen Dogmen
nnTereinbar shid, Tersteht neh von selbst, daher ist Religion von der Be-
traehtong gajiz ausgeschlossen. So wird diese Zeitschrift in Hieologen-
kreisen freilich kaum Anerkennung finden, wohl aber in naturwissenschaft-
lichen und audei'en Berufszweigen. Dabei ist selbstverständlich nicht ge-
274
Besprechungen.
sagt, dass man sich zu jedem Satze bekennen mnas. Es giebt eben andi
hier Heianporae, die mit .IdentitHta-Beweiaen'^ in Folge ihrer Affectiage
sclmell bei der Iland sind. Alles in Allem g^ommoi ist obige Zcitsehrift,
Jedem warm zu empfehlen, nicht am wenigsten aber dem Juristen.
6.
M. Hirsehfeldy Der nmiache Menseh. M. Spohr, Leip^ 1903.
196 Seiten.
Hirachfekl, der Herausgeber des verdienstvollen Jahrbuchs für sexneOo
Zwisclienstufen, ist jedenfalls derjenige, der die meisten Homosexuellen —
über 1500 bereits! — kennt und zwar z. Th. seit Jahren. Damm ist er
sidier fan höchsten Chnde eompetent hi Sadien der gleichgeschleehtUchen
Liebe. Daher ist seine obige Monograplüe, die jetzt sdion als Tbeilstüflk
des diesjlUiri^ren. noch nicht ])ul»lirirten, Jahrbuchs ei-scheint, als eine der
wichtigsten Ai beiten zu bezeichnen und ganz hesondera dem Juristen
und GerichtBAizte zu emptehien. Jede Zeile athmet gesättigte Erfahrung, grosse
Bdeeenheit, scharfe Kritik und Wohlwollen. Mit den betreffenden
Bncliern von v. Krafft-Ebing und Moll bildet das von Hirsoh-
feld eine grundlefrende Trias ftir alle Zeiten, zumal darin auch
die vielen Aufgaben einer künfti;ren Forechung genau dargelegt sind.
H. räumt mit Yorurtlieilen gründlich auf. £r zeigt, dass die Juden nicht
weniger Homosexuelle H.) haben, als die Ghiteton, die Germanen da-
gegen wahrscheinlich mdur als die Romanen. Die Homosexualität ist stets
angeboren, nie erworben, Rp(^<'iell durch Uebersättigung, Onanie oder schlechte
Leetüre ist sie nie zu erlangen. Alles spricht für bisexuelle Anlage auch
des Geschlechtstriebs. Verfasser b< die Aussagen der Uomosexuelleu nicht
für eriogen. Klassiscfa, wie wohl noch nie anvor, wird das nmiscfae Kind
geschildert, das gleich von vornherein anders geartet ii^ anderoD liebhabcrden
zeigt U.S.W, und damit eben beweist, dass es ab ovo anders annrele^'^t war.
Die colossale Wichtigkeit der Träume für die Diagnose der Homosexuellen
nnd xwar berots in der Jngend, wird speciell hervorgehen. Auch die Dar-
stellang der Psyche des erwachsenen Urnings ist Torxttglieh gelangen.
Verbrecher finden sich sehr selten unter ihnen. Es giebt keusche und lieder-
liclie Homosexuelle, platonisch Liebende (? Ref.) und sehr sexuelle. Der
l'rieb an sich ist unausrottbar und es giebt dagegen kein Mittel. Nur ca.
25Proc. HomosexneOe waren wbBeh belastet Unter 200Homo8raeUen ftoden
sich nur bei 1 6 Proc. Degenerationszeichen nnd zwar waren diese fast alle erb-
lieh bela.stet. Die Homosexualität hat mit Degeneration also nichts zu thun.
Verf. widerlegt die vielen Vorurtheile, Punkt für Punkt, namentlich nimmt
er Bloch scharf ins Gebet. Die Homosexualität bedeutet keinen Atavismus,
da die Zwnchenstnfen k^en Rfiekschritt zum ein-, sondern Tiel eher eben
Fortschritt zum mehr-t,<rhli't'litlichen bedeutet (? Ref.) Ref. hat nur ganz
wenig Punkte gefunden, die discutabol wären, luf. bat natürlich auch
nicht gewollt, das ganze Gebiet darzustellen, sondern nur die Uauptkapitel,
daher ist manches nur angedeutet.
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Bdqncchiiiigra«
276
7.
Schnitze: Die Stellun':n>al>nie des Keiclisp:pnclita zur Entmfindigrun}? wefjen
Geisteskrankheit oder (JeistoK^icliw ;iclie (§ ß, Abs. I, R. (1. 15.) und
zur Pflegscliaft 1910, B.G.B.) nebst kritischen Bemerkungen.
Juristiscb-psychiatrische Grenzfragen, 1 Bd., H. 1. IM. Halle, Mar-
hold. 36 S.
Schnitze, der Jurist unter den Medidnem, besprieht hier klar und an-
spreehend die Entmündigung^ und rfloL-^f^liaft in F.lllen von Seolenleiden
ond zwar mit Rflcksieht auf Koiohsgerielitsentscheidungen. Seine daran an-
geknüpften Kritiken und N'orseliläge zeigen den klaren Kopf und den er-
fflfhrenea Praktiker. „Oeieteskranläeit* und „Oetatesechwidie* shid im Ge-
aetse keine psychiatrischen Begriffe, sondern nur rein juristische; sie liab«i
nur civilreohtlielie Bedeutung; jener Ausdnick bedeutet die schwerere,
letzterer die leichtere Art der Geistesstörung. Auch ohne speciell darnach
gefragt zu werden, soll der Sacliverständlge eich darüber aussprechen. Die
Form der Fbyehoee spielt bei diesen Ansdrftcken keine RoUe. Znr Ver-
meidung von IrrthOmem wende der Ontaditer nur neutrale Ausdrücke statt
Geisteskrankheit an, wie SeelenstHninjr z. B. Bez. der Pfletrseliaft meint
Verf., dass dieselbe sich nur auf einzelne ausdrücklich benannte Angelegen-
heiten erstrecken darf. ^Die Fttrsorge der Entmündigung kann sich praktisch
nach nur aal beliebige einsehie Angelegenheit«! belieben, brandit es aber
nicht, da der Vormund der gesetzliche Vertreter seines Mündels in allen
Angelegenheiten ist." !>ie rflegseliaft sollte recht viel angewendet
werden; aucli bei jeder ätiirke geistiger Störung ist das zulässig. WUnschens-
werth es ferner, wenn die Anstalt ▼<» dem Brfolg der Entmündigung
vnd Pflegsehaft in Kenntniss gesetst wird, vielleidit am besten sdtens des
Staatsanwalts.
b) Büeherbespreehnngen von Hans Gross.
8.
Znrechnnng und strafrechtliche Verantwortlichkeit in posi-
tiver Beleuchtung. Zwei Vorlesungen gehalten in russischen
Hociischulen für Socialwissensehaften in Paris von A. Golden-
weiser. Hechtsanwalt in Kiew. L. Prager, Berlin 1903.
Die .sehr lobenswertlie Siiirift zeichnet sich vor ähnlichen vortlieilhaft
dadurch aus, dass sie die zum Gegenstande der Besprecliung gewählten
nemen nicht hi mehr oder wralger metaphysischer, sondern natnrwissen-
Bchaftlich exacter Wei.^e l^ehandelt. Das Ergebniss der hoohinterSSSanten
Arbeit geht .allerdinfrs dahin, das.«* sich Verf. für ein FOi"sorgeprincip, ziem-
im Sinne Vargha's {„zur Abschaffung der Sti'afknechtscliaft") entscheiden
wiQ. Er hilt es ffir dorehfOhrbar.
%
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276
9.
Fritz Hartwig, Die Hechte des Anfrekla^en. Ein unentl)elniicher Katli-
geber und Wegweiser im Strafprocess. Kich. Lipinski, Leipzig PJÜl.
Die PopulariBirung der Wisöensciiaft hat dort ihre Grenzen, wo sie
»m SelbetpfudMO AdIsh geben kiiin. Die voriiegeode Sehrift ist eine
Art kriminalistisches Naturheilverfalinn, in welchem der Laie Yerhaltunge»
maassregeln fflr den Fall erliält. als er mit dem Strafgesetz in Conflikt ge-
räth. Solche Dinge sind stets bedenldich — der Jurist bedarf ihrer nicht,
and der Laie veratdit sie doeh nieiit und setzt sieh durch diese Missver-
«ttndniBse nur wesentlidien Gefahren aas. Zudem entfallt die fiklirifli die
sdion in siebenter Auflage erschienen ist, recht elgenthOmliche Verdächti-
gungen des Richterstandes: , viele Richter bilden sich ihr Urtheil über den
Angeklagten vorzeitig'^ (S. 7); , manchmal leitet der Vorsitzende dem
Belastnogszeugen ein tnfmerirases Otir, wilvend er den Angeklagten . . .
rauh anfiUirt and ihn wohl gar der Lflge saht" (8. 8); der Angddngte
wird vom Richter nnterbrodien, zur Kürze ermahnt, vielleicht gar hart an-
gefaliren'^ (S. S); ^die Richter halten überhaupt auf die her-
gebrachte Verhandlungsform ^ (S. 27); „hat nicht ein Angeklagter, der aus
der Landesidrehe ausgeechieden nt, and sieh als Dissident beaeiehnet, an
befürchten, dass das Wort Dissident auf den Richter wirkt, wie auf gewisse
Thiere und Menschen die rotlie Farbe V*" (S. 39); .politiscli anrüchijre
Personen dürften keine Aussicht auf Erfolg bei einem Gnadengesuche
haben (S. 49) u. s. w. Solche, in ihrer Allgemeinheit ausgesprochene
Angriffe enohattem in geflttuiieher Weise das Yertraaen des Volkes sa
seinen Riditem and Idlnnen nur sehid^end whdcen.
10.
Der Vorsitz im Schwurgericht. Für den praktische Gebraodl anf
Grund des Gesetzes und der Reichsgericlitsentscheidungen zusammen-
gestellt von Kalau v. Hofe, Landgerichtsdü-ector. Franz Vablen,
Berlm 1901.
Wur haben hier eme änsserat bequem und übersichtUch angeordnete
Zosammenstellang alier Geselle, Entnheidangen and literatarbehelfe, die
ein Vorsitzender des Schwurgerichtes in seiner onabeehbar schwierigen
Stellung nöthig hat. Die Schrift kann auf um so grOesere Yerbreitang
reclmen, als sie für jeden Richter Interesse haben muss.
11.
Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der OesohleehtslE rankheiten. Herausgegeben von Dr.
Blanchko, Arzt in BerUn; Dr. E. Lesser, Prof. a. d. Univ.
Berlin: Dr. W. Ncisser, Geh.-Med.-Bath und Flrof. a. d. Univ.
Bresl.ui. .1. A. Barth. Ix'ipzig 1902.
Etwas UiH i^M iinUtzigeres und Segensreicheres als das Beatrehen der ge-
nannten Gesellschaft lässt sich nidit deuken. Abgesehen davon, daäs die
entsetafieh weite Verbrdtnng nnd die nnabsehbare Gefahr der Gesdileohta-
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Beeprechaagen.
277
krankheitea direct von kriminal -antliropologischer Bedeutimg iat, muss es
aodi «k Pfliebt aog«Mhen werden, allee ftnfniwenden, was nur Vntet-
ettttenng der Bestrcltun^'en der Gesellschaft denkbar ist. Ich bitte die
T^ser von diesen Mittheilun^en Konntniss zu nehmen; die Geschäftsstelle
der Gesellschaft ist Berlin W. 9, Potadameratrasse 20, wo jede gewtloschte
Auskunft gerne ertheilt wird.
12.
Ch. Cartellani, „Das Weib um Kongo'. Deutscli von Margarethe
Brune mit ^er ESideitong und Anmerkungen von Max Brune
J. G. G. Bmne, Minden i W. Obne Jahreszahl.
Sdtd^ die Kriminalpsychologie als unentbehrliche strafrechtliche
Hülfswissenschaft eine so grosse Rolle zw spielen bc{?innt, wird es uns auch
klar, das wir jene Gebiete, welclie unser eigenes Seelenleben nicht direct
betreffen, nur anf Umwegen gründlich studiren kOnnen. So iet s. B. das
peyebiaebe Weeen der Fran, die uns als Verbreeherin oder als Zengin
gegenübertritt, für uns nur dann wenigstens theilweise verstehbar, wenn
wir es in Parallelstiidicn zu erforschen trachten. Die Frau ist eben ein
total anderes Geschöpf wie wir^ ganz verstehen werden wir sie nie; in
etwas kfonen wir aber der FVage nSher treten, wenn wir das IVanenwesen
an einfachen Personen und in einfachen Situationen beobachten. IKe ge-
bildete Frau in complioirfer Lajre wird uns nie völlig klar werden , wir
können aber lernen und werden dann vielleicht weniger Un^'^erechtigkeiten
begeben, wenn wir bei dem Leichteren beginnen. Wir greifen deshalb gerne
na^ einem Baehe, welebes nns diesfalls AnfisehhisB giebt; und ein solefaes
ist das hiennit angezeigte. Haben wir es zu Ende gelesen, so kOnnen wir
nicht genau sagen : man hätte gerade dies und jenes daraus irejernt —
aber die Schilderung der einfaelieii Weiber am Kongo, die so ;:;uiz andei"s
und doch wieder genau so sind, wie die Frauen unserer linder, bringt
die aligemdne Eikenntniss dodi um ein merkliehes Stttcklein vorwSrts.
IKe Lecttlre derselben ist dem Kriminalisten um so mehr zu empfehlen, als
sich eine Frau der Millic den l'ehersetzens unterzogen hat, so dass wir eine
correcte Auffassung der oft fjvst mehr als heiklen Situationen voraussetzen
dUiien. Vielleicht liegt gerade daliin ein wesentliches Moment der zu er-
wartenden Belebmng.
13.
Die Staatsanwaltsehaft bei den Land- und Amtsgeriehten
in Preussen. Form und Inhalt der Staatsanwaltschaft nacli Reichs-
und Jjjindesrecht, mit ilen einsohlä-^igen Bestimmungen im Wortlaut
und mit Veiiügungsentwürfen. \ ou Dr v. Marek, Staatsanwalt
a.D., Professor in Qreifswald und Dr. Kloss, Staatsanwaltschafts-
ratli in Halle a. 8. Zweite vOllig umgearbeitete, bis anf die Jetat*
zeit fortgeführte Auflage. Zwdter Halbband Oarl Ueymann,
Berlin li)<>3.
Das äussei-st Itrauchbare Buch verfolgt die Thätigkeit desselben vom
Anfange eines l'rocesses bis an dessen Ende unter Angabe aller Be-
Aithlr flr KiiiDlMattllito|iolPti«u XII. 19
278
Besprechungen.
Btiinmuuj^^cD dos Ueicli»- und Landeerechts mit sämmtlichaii unzähligen Nach-
tragsbestimmiuigen und giltigen Yerordnnngen. bfc das Badi auch in
etster Linie für preussisehc StaatsanwlUte bestimmt, so werden es doch auch
andere deutsche und selbst österreichische Staatsanwiilte mit <rrossem Nutzen
atadiron. Das ganze Bild eines Processes tritt hierbei klar und plastisch zu
Tage, so dass das Bucli auch zum Unterrichte mit Yoiüieil benutzt werden
kann« —
14.
Arthur Dix, Die Ju^^endliciien in der Social- und KriminalpoUtik.
Gustav Fischer, .leiia 11)02.
Diese äusseret wichtige Frage hat im \"erf. eine sehr übersichtliche
und werthvolie Beachtung gefunden; mit Recht spricht er von einem
gProblem der JugendUdien* und kommt in aoi^gaamerer BearbdtoBg der
hier maaaagebenden einzelnen Momente zu dem Schlüsse, es sd allea daran
zu setzen, dass die verwalirloste Ju^'end Zwangserziehung, die der Ver-
wahrlosung ausgesetzte eine geregelte I^'ürsorgeerziehung und die ganze
übrige Ifane gewerblicbe Fortbüdnng, veredehide Unterhaltung nnd Gfll^eo-
heit snr Aufwaduentwiekelung erhalte.
15.
Gerichtliche tfedicin. ZwOlf Vorträge gehalten von Priv.-Doe. Dr.
Gottschalk, Geh. Med.-Riitli Prof. Dr. Jolly, Prof. Dr. Israel.
Prof. Dr. Koeppcn, Geh. Med.-Ratli l'rof. Dr. Liebreich. Pruf.
Dr. Meiulcl, (ieli. Med.-Kath Prof. Dr. Mot li, Geb. Metl-Katli
Prof. Dr. Ols hausen, Oberai-zt Privatdoceut Dr. Puppe und
Gerichturat I¥of. Dr. Strasamann vom Gentralcomit^ fttr daa
irztliclie Fortbildungswesen in Preussen, in dessen Auftrage redigirt
von Prif. Dr. R. Kutner, Schriftführer des Centralcomit(?8. Mit
33 Abltil'luiii^eu im Text. Abdruck aus dem klinischen Jalu'buch.
Guat. Fischer, Jena 1903.
DiflM Vorträge wenden sich an Aerste, die mitten in der Arbeit dea
Lebena atehen, alao eineiaeita viel wa viel an thun haben, um sieh mit
Einzelstudien zumal über gerichtliche MediciB au befassen, die aber ander-
seits solche Kenntnisse halten müssen, weil sie zu dieafallifren Dienstleistungen
herangezogen werden können, in den Vorträgen fUi* sie sind daher an-
erkenn«i8werth wenig VorkenntniiBe verlangt, so daia aie jeder Kriminaliat,
der sich audi nur ungefähr um aeine VerplUehtnngen gekttmmert hat, ver>
stehen und mit namhaftem Nutzen studiren kann. Der erste Vortrag (Prf»f.
Israel) befasst sieh mit der Feststellung des Todes und der Todesureache
— gerade ein Gebiet, auf welchem die Juristen an die Aerzte oft die
thOriehtaten nnd nnbeantwortbare Fragen stellen, auf weldiem aber auch
aus Unkenntnin der Thatsadien oft wichtige und Uaratellbare Fragen an
atellen unterlassen werden.
Vortrefflich i^^t der zweite Aufsatz .Sachverstiindiireatiiätijrkeit und
Tedmik des Gerichtärnztes" und der dritte „Gesundheitszustand in civil-
reohtfieher nnd atrafireehHidier Besiehung*^, b^de von Ftof. Straaemann,
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Besprechmigen.
379
in welchen scheinbiu* selbstveratäudliclie aber doch wichtige imd schwierige
Fragen einfkoh und Uar sor BeBpreehinig kommen.
Im Vortrag: ^TVanmatiBclie TodeBarten* von Dr. Poppe wird der
Begriff der vitalen Reaction, welcher für den zuerst dazü Gekommenen
(Gendarm, Polizist, Strafrichter) oft so wichtig ist, erklärt, dann werden die, be-
sonders zu Beginn der Erhebungen verwirrend wirkenden postmoitalen Ver-
letiangen besproeheo (fibereehen eiiid die hänfigen Yerieteimgeii bei Waaser*
leieben, die dnreh Hinanfalleii md Anachleudern durch fliMsendes Waaaer
entstehen); dann werden die agonalen und lUe Verletzungren durch ver-
schiedene Werkzeuge beliandelt. Gewagt fimle ich den vom N'ortragenden
in einem bestimmten h\\i\e gemachten zwingenden bcliluss auf Ausschluss
, yon Zufall bd einer Verleteong lediglich ana den R^eln Ober die Spalt*
barkeit der Haut, zumal nur mehr die Narbe zur Beurtheilung vorlag.
Gnt ist der V(»rtrag über „Tod durch gewaltsame Ereticknug und
abnorme Temperatur" von Dr. }*upi)e, ausserordentlich insti-uctiv der
„üeber die Beurtlieilung von Vergiftungen" von Prof. Liebreich und der
von Pirof. Olahanaen fUhee Fortpflanzangaflbigkeity Sdiwangendiaft ond
Geburt.
Abort und Kindej^inord liespriclit Dr. Gottschalk in sehr vorsich-
tiger und klarer Weise, die psychischen Fragen behandeln Prof. Mendel,
Moeli, Jelly und Koeppen.
ADea in Allem miUB daa Baeh dem Junten namenflieh mit RttdcbKek
anf die sosusagen popolire Form der Dairtellnng varm empfohlen werden
16.
Dr. Leo Müf feimann, Das Probien der Willensfreiheit in der neneBlen
deutschen Philosophie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, l'.)02.
Das Um und Auf unserer nioderaen Sti-afrechtswissenschaft ruht auf
dem vom Verf. besprochenen IVoblem. Die Arbeit ist äusserst fleissig und
sorgfältig, sie gewihrt rollen Ueberbliek Uber die geaammte litterator und
alle diesfalla darin vertretenen iVnsiohten. Verf. mt Überzeugter Determiniat
und gelangt zu dem Schlüsse: Der Determilüsmna bildrt die LQanng dea
Problems der Willensfreiheit.
Mit seiner Nomiuirung der Indeterministen unter den deutschen Straf-
reehtiMirem bin ieh insofom nieht emveratanden, ab ich Binding doeh
ftlr einen Deterministen halte; gesagt hat er ea nie — aber em aorgaamea,
Stadtilm aller seiner Werke läoBt daran nidit sweifeln.
17.
Geachlecli t>;k rankheit en und Kecli tssc Ii u tz. Betrachtungen vom
ürztÜclien. juristischen uiul etliisclit u Standpunkt von Prof. Dr. Max
Flesch, Frauenarzt und Dr. jur. Ludw. Wertheim er in Frank-
furt a. M. Onatav FiaeheTy Jena 1903.
Dieie gute ZnaammeneteDnngy wekdM wieder einmal die Yerbrätang*
und entsetzliche Gefahr der Geschlechtskranklieiten recht energisch zum Aus-
dnick bringt — zu energisch kann dies niflit geschehen — befaaet sich
hauptsächlich mit der privati'editlichen Frage des liechtssdiutzes. Auf straf-
19*
280
Beaprechaqgen.
rechtlicher Seite wird mit vollem l'echte behauptet, dass die §§ 223, 224,
226, 229, 230, 231 KStG. genügenden Schutz gewähren würden^ wenn
gie nur hiafigcr und naohdrlleUiGher cor Anwendnnir kämen.
In den^ am SddOBBe angeknüpften -Ethisrhon Betrachtungen" kommen
die Verf. zu der zwar schOnen, aber platniiiscbon Feststellung, dass nur von
einer Umgestaltung der Sitten, Selbstzucht und gehobener Moral Besserung
der Zustände zu erwarten sei: Jeder muss im Geschlechtsact ein folgen-
■ehweraiy von ihm ni Terantwortendes Handeln erblieken.
18.
«Willensfreilieit und Strafrecht* von Dr. Robert Ton Hippel,
o. 0. Professor der Beehte a. d. Unhrenittt CHNtingeii. J. Gnttentag,
Berlin 1903.
In der ihm eigenen einfachen, klaren und alles eher als schwülstigen
Weise bespricht H. in einem Vortrage diis so viel umsöittene Them| und
bekennt sich als Determinist: Die strafrechtlichen Grundbegriffe Verantwort-
liebkeit, Sehnid, Znreehnnngeflhigkeit und VergeltnngBBlnife wurden vom
Determinismus anerkannt, ja gerade der Determinismus glaubt diese Be-
griffe allein befriedigend erklären zu können. Diese Begriffe sind nicht
bloss vom Standpunkte der Willensfreiheit haltbai-, sie sind von der An-
nahme der WUlensfreilieit unabhängig. Weder Determinismus noch die
Willenabeüieit ist an sich eine bestimmte WeUanadianang, anoh gllnbiges
Cbiistenthnm kann die Willensfreiheit leugnen (hdL Augustinus, Luther,
Kant). Sie sind aber auch keine Lebensregel, sondern ledijrlich verschiedene
Auffassungen Uber das Zustandekommen der einzelnen menschlichen Hand-
lungen.
H. bewdst dann, dass gewisse Erseheinnngen, wie FVeiheitigefflhl,
Stimme des Gewissens, Reue, Verantwortli( likeitsgefOhl u. 8. w. keine Be-
w^eise für die Willensfreiheit sind und dass der Determinismus den Schuld-
begriff des geltenden Hechtes nicht vei*v^'irft, sondern bestätigt und erklärt.
Zur Klai-stellung m der so sdiwierigen Frage ist kaum eine Schrift
empfehleoBwerlfaer, als die hier angeieigteu
19.
Bitnalmofd nnd Eid. ESn offener Brief an den Beiehstagsabgerndneten
Herrn Liebermann von Sonnenberg in Groas-Lichterfelde des
Rabbiner Dr. Willi. Münz in Oleiwitz. Vierte vermehrte Auflage*
16. — 20. Tausend. Neumann, (ileiwitz 1902.
Als originelles wissenschaftliches Beweismittel wendet Verf. den Eid
an und schwort f^eriichst, dass die Juden keinen Ritualmord kennen. Ich
bin davon ttbenengl^ dass Verf. mit bestem Gewissen seinen Eid abgelegt
hat, er ist abestf wie es Jeder in Exstase tliut, viel zu weit gejr.inirf'n und
hat beschworen, was er nicht bescliw ön ii konnte. In der Tbat knnnte dabei
Münz beeiden, dass er, aus einer liabbinerfaniiiie stammend und alle rituellen
Bücher der Juden kennend, nie etwas davon erfaliren oder gelesen habe,
dass die Juden einen Bttualmord kennen und tlb^. Aber zu besohwören,
«Israel sei unschuldig an allen BlutanMagen, die man gegen dasselbe
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Beeprechang«n.
281
erhoben habe*' — das geht zu weit. Ich wiederhole oft Gesagtes: An einen
Ritnmlinoid der Inden glaubt heute kein Gebildeter, aber der Blutglaube,
die aber^tabische Benatsimg von mflnadiHcheiii Bloto nnd Ton liehen-
tfaeüen ist panderaiadi, aUe Y^Hker sind und waren deniMlbeQ unterworfen
und die Juden anch.
20.
Recherches exp^rimen tales sur la pathog^oie de la mort par
brülnrepar Dr. £ug«'ne Stoekis, asalstent ä rüniyerBit^
de Liftge. Separatabdruck aus den .Arehivcs internationales de
Pharmarodynamio et de tlidrapie" Vol. XI, tuo, III U. IV, Bro-
xelles. II. l^aniertin, n. Doin. Paris r.H)8.
Auf Grund sorgfältigster Beniitziinu' der Literatur und ausgedehnter
Eigenbeobachtuug gelaugt Verf. zu dem Ergebnisse, duss bei der Ver-
brennung eines hSher organisirten thieriBchen Organisniiu nieht eine ein-
lieiflidie Ursache des Verhrennungstodes bestehen kann — man mttsste
linterscheiden zwischen den Ui-sachen eines plötzüclies Todes, den unmittel-
baren Ursaclien und den allgemeinen Symptomen, die sich l>ei einer secun-
däreu Periode entwickeiu. Der lud kann durcli überwältigendeü Shuk
(Setunera) veranlaaBt werden, es kann, falb der Tod nieht sofort eintritt,
eine Läliraung durcli functionelle Störungen entstehen, die zumeist vom ver-
längerten Mark ausgehen, und es kann sicli auch hol \ erlängertera Processe
eine verminderte Widei-standsfiihigkeit gegen andere Schädlichkeiten ent-
wickehi. Eine Ilypotliese durch Ptumainvergiftung dürfte auszuschliesseu
aein. —
Die fleissige Arbeit ist ftir uns von Wichtigkeit, da Öe für botryoide
FäUe die fVage der «ZwiBchenuxBaeben" beleuditet.
21.
Lehrbneli des gemeinen Dentaehen Straf reehtea. Besonderer
Theil von Dr. Carl Dinding, ordenüidieni Profeesor der Rechte
in L^pzig. Erster Band, zweite, stark vennehrte vnd umgearbeitete
Auflage. Willi. Engelmaun, Leipzig 1902.
So ferne sich die Leipziger Schule feider unserer Kiditung stellt, so
sehr wissen wir doeh, was wir ihr an verdanken haben, nnd wie wichtig
das von üir Gelehrte ist Richtig genommen ist der Unterschied kern allsn
grosser: wir glauben eben, daas für unsere Wissenschaft noch vieles Andere
aus Nachbargebieten \^iohtig ist, und wenn wir dann deren Einflüsse wahr-
nehmen, 80 müssen wir wohl mit ihnen rechnen; ungereclit wäre es aber,
an behaupten, dass wir die Lehren der Andwen nidit branehen, nidit dank-
bar hinn^moi nnd studuren.
Dass Bindung der Dogmatiker par excellence ist, der mit wunderbarer
Klarheit nnd Schäi-fe die schwierigsten Lehren behandelt, das wnssteu wir
eehon lange, aber das vorUegeude neue Buch hat es uns auf s Neue be-
wiesen. Namentlleh i&e Art, wie B. die Lehren des neuen BOB. in das
materielle Strafrecht emznflechten und zu verwertlien wusste, verdient Be-
wondening, ich glaube^ dass anch die Leute vom Frivatreoht in vielfaefaer
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282
Besprechungen.
Riditong dnroh die Beleoditiuig von der strafrechtlichoi Säte Erkenntmis
gewinnen müssen. Ebenso glücklich ist die Einreihung und Beliandlung
des Stoffes aller seither erfj^ngenen neuen strafrechtlichen Gesetze, und
manches, was liiuilun^ heute anders ansieht, als er es frülier gctban hat
Kurz, ancli Binding 's Lehrbiidi in idner Denen Gestalt ist dem modernen
EnminaliBten dnfach unentbehrlidi, dne grfindfiche, ehrliche Entnlieidnng
jeder wichtigen strafreefatlichen Fngb, ohne Bindung zu Bathe gesogen zu
heben, ist unmQg^di.
22.
Der Begriff der Gerecht ifi;keit im Straf recht. Antrittsvorlesung
gehalten am 2 S. April 19U3 an der Universität Bonn von Dr. Jos.
Heimberger, Professor der Rechte. A. Deicfaert's Nadif olger,
Lflipog 1903.
Joseph Heimbergcr hat, alter £Ktte entsprechend, an die Arbeiten
seines Vorgängers angeknüpft, er liat vor Allem das „^Äissenschaftliche
Testament^ des unvergessliclien Hermann Seuffert klargelegt, und hat
dann so scharf, wie es vielleicht noch nie geschehen ist, den Unterschied
iwisehen der elawiBdien nnd der nenen Krinunalistenechnle festgestellt; er
kommt m dem Gardinalpnnkte , dass Gerechtigkeit nnd VergeMnngvidee
nicht dasselbe ist, dass gerechte Vergeltung mit menschlichem Können
und Wissen nicht erreichbar ist, dass Vergeltung nicht Aufgabe des Staates
sein kann, dass als Zweck der staatlichen Straf reciitspf lege nur die Auf-
rediteifaaltang der BeehlBordnnng angesehen, nnd dass von diesem Stand»
punkte ans der Begriff der Gerechtigkeit im Strafirecht beetimnit weräea
muss. Di^e grundlegenden Sätze führt Heimbergerin glänzender Weise
durch, und kommt zu dem Scldusse, das Straf^'esetz sei Erzcugniss der
Nothwendigkeit , nicht etwa der abstracten Geiechtigkeit. , Warum" frägt
Verf. in flberzeugendem Tone, ^ warum hebt der Staat aebie Straf geselM
nicht anf? Gewiss nicht: damit die Gerechtigkeit nicht Schaden Idde^ aon*
dem weil dann der Staat zu Grunde ginge — -die eiserne Nothwendig-
keit, nicht eine vage Vergeltungsidee ist es, die dem IleiTscher das Richt-
schwert in die Hand drückt". So kommt Heimberger zur Ueberzeu-
gung: gerecht ist, waa znr Erhaltung der Ordnung geschehen mnss, ge-
redit ist also die nothwendige Strafe.
Die bedeutsame Bede Heimberger's ist geradezu das Programm
der neuen Schule.
23.
Vorträge und Besprechungen über „Die Krisis des Darwinis-
mus*, „Die so cialethische Bedeutung der Muse" —
„ZüT Erkenntnisstheorie der ilsthetischen Kritik**
CommiBrion von Job. Ambr. Barth, Leipäg 1902.
Mit RtldEndit auf die liente nothwendig gewordene natunraaenaehaft-
liche Behandlung im Studium des Strafrechts ist jede der grossen Fragen
der Natunvissenschaft für den Kriminalisten wenigstens insoweit von Be-
deutung, dass er den angebliclieu Stand derselben in den weitesten Um*
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B«Bprechtiiii^.
288
rissen kennen iiiiiss. Se lectinn udcr Aiipassuii;:" jrilt niclit bloss für Thier
und Hlauze, sondern für jede Ei-:>ciieinung im Leben und nicht zum Min-
dmten fQr die T«rbTecherlBehen Momeote, und so Bollen wir aneh hier
wenigstens ungefähr Klarheit besitzen. Die hier hesprochenen Vorträge von
Kassowitz. Wettstein, v. Ehrenfels u. 8. w. orientiren auch den
Laien vollständig und la.<sen ihn sehen, wie sidi heute angeblich Darwin
zurückziehen rouss, um einem Neu-Lamarckismus Kaum zu geben.
Ebenso lint der flberans interesMuite Vortrag des Philosophen FVfam.
V. Ehren f eis ttber die socialethische Bedeutung der Masse und die Ans*
hiicke auf die Fragen der Uebervölkemagy flbenuis viele ErwSgongen
kriminalpolitischen Inhalte zn.
24.
AV. Lexis, Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moi-ai-
Btatistik. Hit 10 Abbildiingen im Text Qnst. Fischer, Jena 1903.
Unsere moderne Statistik begeht den Fehler^ daas rie entweder zn früh
stehen bidbt, oder zu weit geht; ersteres thut sie, wenn sie uns bloss end-
lose, verwirrende und nicht zu verwerthende Zifferncolonnen vorstellt,
letzteres geseliielit, wenn weitgehende, allzu kühne Schlüsse gezogen wur-
den, und wirklich werthvoil aibeiten jene, welche den Mittelweg einsclUageu
nnd Torerst nntenneheui wie denn dgentlidi formell -teehnisdi die ZÜfem»
rohen verwerthet oder besser gesagt, erst einmal geordnet werden sollen,
M (i die Fehlen[uellen liegen und durch welche mathematischen Formeln die
Felller unscliädlieh gemacht werdtn können. D;iss für uns alles, was
Ki-iminaUtatistik heisst, von grüsstem Werth ist, dass wir überhaupt uns
den fflr nns heute allerwiditigst«! fVagen gar nicht nXhem kOnneo, ohne
mit den seltsamen nnd oft wunderbaren Ergebnissen dt i Statistik zu ar-
beiten— das bezweifelt Niemand, und so greifen wir dankltar nach einem
Budie, wie uns der geistvftlle Or»ttinger Xatioiialiikonom eines l)ietet.
Lex ig kommt zu dem tagebniss, dass die WalirsdieinUchkeits-
redmnng in ihrer Anwendung auf die Demogra])hie nnd die HoralstatiBtik
nur den Zweck habe, ein verständlichfts Schema für die Vertheilung der
Fidle und .andererseits einen Maassstab für die Staliilität der statistischen Ver-
hiütiiisszahlen zn bieten; festzustellen, dass bei der Constanz moriUstatistischer
Daten, das ihr zu Grunde liegende Ureachensystem gleich geblieben sei,
biete kebe Erkenntniss, wohl aber geschehe dies, wenn man diese Zahlen
auf Verhältnisse bringt, die die Form von genetisehen oder analytisehen
\N'ahi'scheiidielikeit8au8drücken haben, und wenn man nun untersucht, ob
sich <lie.se als empirische Ausdrücke einer constanten oder auch einer auf
bestimmte Art veränderUchen mathematisclien Wahrscheinlichkeit ansehen
lasBOi. Besonders wichtig ist auch für nns die Festl^:nng, dass wir so oft
von Entwicklungsgesetzen sprechen, wo es sich nur um die einfädle
historische Thatsache einer bestimmten Entwicklung handelt.
Das Buch Lexis' ist nicht leicht zu lesen, man uiuss ndt dem Blei-
stift in der Hand mülisam mitrechnen, aber der Kriminalist, der dies tiiut,
eihllt fQr sdne grOssten Firagen Anregung und Gewhm.
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384
BeBprechnngen.
25.
Richard Bröbneok, Die Arten des Masochisrnns. J. 0. NiBBan, Hun-
bnrg. Ohne Jahreszahl.
Die T.iteratiir über Perverses im Sexualleben steigt von Tag zu Tag,
sie bringt aber selten Neues und Belehrendes. Das vorliegende Buch
bringt lediglich Bekanntes oder leicht Variirtes, und am Schlüsse eine
AntobSofnmphie eines ▼enraekten llMoefaisten, der, eb TeriEommener Student,
doh fQr einen Dichter hält und in ,,poetisdier Prosa" seinen nSclimerzene-
weg" scliildert. Hierbei ilfft er in blasphemischer Weise die Bibelworte
nach, identificirt sicli mit Christus u. s. w. So widerlieh das Ganze ist,
80 ist es doch ffir uns intereBsant: wir können nie genug tlber die Narr-
heiten der Ifenachheit lernen.
26.
Die Schrift bei Geisteskrankheiten. Ehi Atlas mit 81 Handsehrift-
proben von Dr. Rudolf K Oster, kgL Oberan^ komdt zur psych.
Klinik der T'nivei-sität (iiessen. Mit einem V(Nrwort TOn FtoL Dr.
Ii. Sommer. .1. A. Barth. Ijcipzig, l'.Mi3.
Die unabsehbare Wichtigkeit der wissenschaftlich, niclit laienhaft be-
triebene Kriminalgraphologie wird beute doch Yon jedem emsthaft arbeitenden
Kriminalisten zngegi^ben, nnd so wie wur kaum noch ohne Hülfe ezacter
Graphologie bestehen können, so bedürfen auch alle uns verwandten Wissen*
Schäften unbedingt dieser ebenso wichtigen als liocliinteressanten Disdplin.
Am höchsten haben sich die Psychiater für ihr Gebiet die Graphologie aus-
gebildet— Erlenmeyer, Preyer, Kräpelin, Goldscheider, Diehl,
Mayer, Scholz, Piper, Raggi und Sommer haben sieh nm die
wissenschaftliolie Ausgestaltung der Lehre die allergrössten Verdienste er-
worben, und heute weiss man, dass eine correcte Untersuchung eines Geistes-
kranken, namenthcli wenn es sich um sichere Frühdiagnosen handelt, kaum
gedacht werden kann, wenn nicht die Schrift des Betreffenden emer exaeten
Prflfnng nntenogen wurde. FOr uns Juristen hat die IVage aber in anderer
Richtung grosse Bedeutung. Das wichtigste Momoit in unserer Arbeit ist
die Schuldfr:i<re und diese theilt sich in die Tliatfrage und die Zurechnungs-
frage, beide siud gleich wichtig. Zu entscheiden hat die letztere im Punkte
des Geisteszustandes allerdings der Arzt, aber zu veranlassen, dass die Saehe
in ihn gdangf^ dass die Frage Iliwriianpt zur Erörterung gelangt^ ist Sache
des Juristen und nirgends haben wir eine grössere, dnrdi Jahrhundorte an-
gehäufte Seliiild abzutragen, als trernde hier; zu veranlassen, dass ein Be-
schuldigter gerichtsärztlich untersucht, und sein Geisteszustand festgestellt
werde, ist Sache des Untersuchungsricliters, allenfalls noch desTondtienden;
beide Imudioi keine whtiiehen p^ehiatrischen Kenntnisse zu haben, aber
so vid mnss dn modemer Kriminalist Iiiervon sein eigen nennen, dass er
weiss, wann er den Psychiater zu fragen hat, er muss also so viel von
Psychiatrie verstehen, dass er weiss, wann ein Beschuldigter oder ein wichtiger
Zeuge verdächtig ist, nicht normal zu sein. Wer sich hierum niofat bemttht,
handelt ebenso nnverantwordich, wie die Richter yergaDgener 2Mt, In der
ungezählte Narren fOr die Gewissenlosigkeit ihrer nngebildeteo Richter bfissen
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Beipracbmigen.
885
musaten. AUenlinp^ ist es leicht {resagt: „Der Kriminalist muss erkennen,
wann er den Arzt zu fragen hat' — mehr braucht er nicht zu wissen,
«8 irt *b€r das sdion viel und so mun der Jnrirt dankend zngrdfen, wenn
ihm BO anagezeichnete und exacte Hfllfe geboten wird, wie in dem an-
gektindiprlen Buche. Köster hat in hOolist übersichtlicher Weise Sl sehr
sauber ausgeführte Faksimile von Schriften Irrer, lauter prägnante und deut-
liche Beispiele unter Voraussendung kurzer Kiaukeugeschichteu gesammdt
nnd flbenll ndt wenigen Worten, aber atete leieht TentSndBeh und beatimmt
moseinandergrenxt^ wenn das Signifieante des Anormalen liegt Beaondeia
wichtig sind die sogen. Früluliagnosen, bei welchen schon aus wenigen
Fehlern der Schrift gezeigt wird, dass eine Geisteskrankheit im Anzüge ist,
obwohl süusLige Merkmale noch fehlen. Die Schrift seiner Beschuldigten
ateht dem Riiiter immer znr Verfügung: hat er KMwi Boeh dnrehgeaehen,
so müssen ihm kennseiehnende Anomalien sofort aoffaMen nnd seinen
Verfladit rege machen. Hat er dann — aufmerksam gemacht — den
Oericht.^arzt befragt, so hat er seine Pflicht gethan, er hat nichts weiter zu
verantworten.
lob mSehte jedem Krinunaliaien daa Stodinm dieaea aorgfältig ana-
faatattoton Bnehea dringend empfehlen.
27.
Die allgemeinen Strafverschär fungsgründe des Dentaehen
Militärstraf geaetzbuch es. Von Max Ernst Mayer, Dr. phil.
et jur. R-ivatdocent der Keclite a. d. Universität in Strassborg.
C. L. Hii-schfeld. L<iii.zig r.tOll
In einer Zeit, in welcher keines der besteheudeu Gesetze mehr genügen
will, in der an ihnen allen gelndert nnd gebeaaoi wird, kann der Bfiek
nicht weit genug anagedehnt werden^ um Dinge walu^nndimen, die geprüft
nnd vielleicht aufgenommen werden solleri. Und wenn heute vom Kriminalisten
mit Nachdruck verlangt winl, dass er auf allen (irenzgelnoten seines Wissens
Umschau hält, um Dinge zu lernen, die er für seine .tUbeit brauchen kann,
es mnaa nm ao mehr von ihm gefordert werden, daaa er aich nm legialative
Schöpfungen kümmert, die sein Fach direet bertlbren, wenn sie ihn aneh
nicht unmittelbar angehen. Es kann uns zinn Vf»rwurf gemacht werden,
dass wir ein modernes, noch nicht 3 Jahre altes Tlesetz , die Deutsche
Militärstrafgericlitsordnung, bis jetzt ziemUch vernachlässigt haben, obwohl
ea wichtige Momente entiUUt, die nns nicht ^eiebgUltig Ueiben dUrfen nnd
aus denen wir viel lernen können, ^^'ir sind daher dem Strassborger
Kriminalisten zu lel)haftctn Danke vei-pflichtet, wenn er eine liochinteressante
Paiüe des genannten (iesetzes bearbeitet hat, zumal dies in mustergültiger
nnd höchst belehrender Weise geschehen ist Es handelt sich um die so-
genannten allgemeinen Btnfvenehlrfungsgründe, welche in eigenthttmlieiier
Weise das ganze Gesetzbuch dnrdidringen nnd mit allen Voraehiiften dea-
aelben in Beziehung stehen.
Mayer charakterisirt sie als schulderlirdicnde gesetzliche Tliatum.stände,
die den iüchter zwingen, in gewissen Fällen einen strengeren gesetzlichen
Strairahmen cor Anwendung au bringen; ihre Anwendung iat vom Geaelie
befohlen. Sie nntoaeheiden rieh alao s. B. von den „allgemeinen Enehweranga-
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886
BMIffMhllllUM.
umständen'* des österr. StG. dadurch, dass bei ihnen ein anderer Straf-
rahmen zur Anwendung kommt, während bei den ,^gemfliBflii BnNiiwiraiig»>
QiDstliiden*' noch immer der gewöhnfiefae Strafrahmen oieht UberaehritteB
werden darf.
Die vorli«3j^end besproclienen Strafverachärfunfjen jrehen vom selben
Gnindgedauken aas, dass alle Handlungen besonders strenge zu strafen
tiady durch weiche zugietch specifische müitäriaehe Pfliehteo veitolat werdeii.
Im Verianfe beapriefat Verf. den aoaierordiiitlieheii Strafrahmen (| 55)» di»
einzelnen Strafverschärfungsgrfinde und die Androhung der eriiOhten Strafe
im besonderen Theil des Gesetzbuches — alles in streng wissenschsiftlicher
und interessanter Weise. Ein Studium der werthvoUeu Sciuift ist dringend
zu empfelüen.
28.
Die Reform des Straf rechtes. Von Dr. L. v. Bar, Prof. an der
Univereität Göttingen. Julius Sprinj;er, Herlin l'.»03.
Der berühmte Göttinger Kiiminalist suctit in einem in Berlin ge-
haltenen Vortrage darsothnn, daaa die Gmndsltse der nenen Kriminalisten-
schule ftlr die Reform eines Strafgesetses nieht brauchbar seien nnd legt
seine Vorschläge kurz zusammen; hiernaeli w.lre das Strafensystorn eines
neuen St(j. ziemlich complicirt, die heuti;:en Bestimmun^jen ütjer Analogie»
internationale Anwendung des StG., wäre ganz beijuem zum Theile bei-
mbehalten, gleiehmissige Besfrafrmg aller Theflnehmer eines Delietes sei
faiseh, für manche F^e wäre kOrzere Verjähmngsfrist festzustellen, die
Bestimmungen über den Zweikampf seien. zn Indem, die Uber Majesttts^
beleidigung einzusduränken.
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XXL
Zur PhyBio -Psychologie der Todesstimde.
▼ob
Medicilialradi Dr. F. Näoke in iiubeitusburg.
Wer je am Todesbette eines Mitmenschen stand, wird den Ein-
diuck des Todeskampfes, wie er ja meist vorhanden ist, nie wieder ver-
gessen. Noeh nnaiulSsehUeher wird sieh diese aufregende Soene einprlr
gen, wenn es sieh nm einen Familienangehörigen handelt Um so wunder-
barer erscheint es, dass wir bezttgtich der letzten Vorgänge in der
Todesstunde eines Menschen so weni<^ Genaues wissen, und Syste-
matisches hierüber, namentlich Psychologisches, ist mir nicht bekannt
geworden. Nur Vereinzeltes und dazu oft sehr Allgemeines, Vages,
findet sich hie und da in der Literatur vor'). Das erklärt sich wohl
am einfachsten daraus, dass die Anfcehörigen in ihrem Schmerze
meist wenig zur ruhigen, psychologischen Betrachtung der Vordränge
geeignet erscheinen, vor Allem aber selten psychologi^cli irt-schult
sind. Den Tod sieht vielleicht am häufigsten der katholische (Jeist-
liche eintreten. Er ist meist aber kein l^sycholog. Nach ihm sieht
gewiss der Arzt die meisten sterben, natnrntlieli als Spitalsarzt. Aber
auch er ist nicht immer Psycholog, immerhin aber ein naturwissen-
schaftlicher Beobachter. Schade, dass er so selten seine Heobach-
tungen veröffentlicht! Der Jurist endlich wird selten in der aller-
1) Aua der neuesten Literatur dnd mir die leider nicht saginglidi
gewesenen folfrendcn Arlu'itcn bekannt frewescn: 1. Vascliide et Vnrpas,
Coiitribution ex peri mentale A la physiologie <le la niort. ('(»niptc-rendu de l'Aca-
demie des Scionce«. 2so. 15. 19u3. 2. Wilson, Tiic sense uf dauger and the fear
of death. The Monist April 19C8. Dagegen habe ieh eine hüiMche orientirende
und populäre Skizze von Dr. Giessler, Ueber das StwbMi (Dlnstrirte Zeitung,
14. Mai 1903) mit boifieksirlitii,'pn kr>nnen. Auch bei unseren p^rosnen Dichtern,
namentlich Shakejipeare wird man viele feine Hemerkungen über da-s Sterben und
Beschreibungen finden, nicht weniger in uiaucheu Koniancn, obgleich oft genug
eniditlieh ist, data die Schriftsteller nnr Wenige sterben sahen und kdne ge-
schulten Beobaobter und Pqrdudogen waren.
Infalv llr KilahMlutiinpoUigliu XII. 20
Digitizcü by Cjcjo^Ic
288
XXL Sacke
letzten Minute gerufen und ist ausserdem, bis jetzt wenigstens, niclit
rsycliolog geuug, um den Feinheiten der scheidenden Psyche zu
folgen.
Nur bei einer einzigen Clasae Ton Menschen sind wir fiber die letzten
Augenblicke y besonders in psycbologisdier Hinsiebly ziemlich gat
unterrichtet: das sind die Hingerichteten. Doch ist hier sowohl das
Individuum oft ein abnormes und monströses, als auch die Todes-
stunde «ne künstlich herbeigeftthrte^ also mit normalen YerhiUtnissen
schwer Tergleichbar.
Vorab müssen wir unser Thema genau begreneen. Was heisst
Todesstunde? Ich fasse das Wort hier wörtlich auf, will also nur
die Zeit betrachtet wissen, die eine Stunde vor erfolgtem
Tode liegt, nicht aber weiter hinaas. Wenn man im Allgemeinen
von ^Sterbenden'' spricht, so denkt man dabei gewöhnlich an einen
Zeitraum von Stunden, ja Tagen. Für diesen sind wir natürlich bezw.
der einzelnen Vorgän^re besser unterrichtet In die eigentliche letzte
Stunde fällt ganz oder theilweise der „Todeskampf, die „Agonie**, der
aber einerseits sich ziemlich lanj^ ausdehnen, andererseits auch einmal
ganz fehlen und in verschiedener iStiirke auftreten kann. Es verändern
sich die Gesichtszüge, es zeii^t sich die Facies hippocratica, Röcheln auf
der Brust, Bewusstlosigkeit u. s. w. Vorher erlahmen sclion mehr oder
weniger deutlich die Muskeln, sie sterben von unten nach üben ab, wie
auch die Blutcirculation. Es scliwinden nach und nach die Empfindung
und die Sinnesorgane, die Ilaut- und Scbleimhautsensibilität scheinbar
zuallerletzt. Nach dem alten, p:enialen Psychologen Burdach 'i soll
sich unter den Muskeln die willkürliche Bewegung der Hand am
längsten erhalten; „zuletzt erscheint noch ein leises Beben der Lippen".
Selbst wenn die äusseren Sinne bereits scheinbar geschwunden sind,
reagiren die Sterbenden noch auf EndpcD der Haut, Injectionen
u. 8.W. Die Empfindlichkeit der Cmgnnctiya und der Hcmhant ist
die letzte fieaction. Von den Sinnesoiganeii vergdien zuerst der Ge-
ruch und der Geschmack, wohl weil sie beim Menschen viel weniger
ausgebildet sind, als Gesicht und Gehör. Letzteres erhält sich am
längsten. Am besten studirt sind wahrscheinlich die Temperaturver-
änderungen, am wenigsten von den p^ehologischen Vorgängen die
VeEänderungen der Sprache und dar Stimme. Merkwürdig ist es»
l)Burdacli, Der Mtnsdi nach (Ion verschiedenen Seiten seiner Natnr.
^'eue Auflage. iStuttgait Ibbi. Nach liuscufeld's üutcreuchungon bleibt
finUieh die elektrische EmsfaAckdt uoh '/s— 8, naeh Andern bis n 6 fitoaden
beetehw, zuletzt im AugeBidiHewnuHkeL Nadi Ihm soll die elektilMhe Dhip
gnoae des Todes die sidierste sein.
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Zar niysio-PBydiologie d«r Todeastnnde.
889
dass hiöweileu das Herz noch kurze Zeit sclilä^i, wenn der Atliem
schon aufjjeliört hat. Festj^estcHt ist, dass auch naeh erfuli^lein Tode
die Flinimerzellen in den Luftwegen noch längere Zeit functioniren
und die Spermatozoen noch auf viele Stunden hin lehensfäliij? sind.
In den Bereich der Fabel, die leider auch Gi essler wiederholt, g;e-
hört es dagegen, dass nach dem Tode Hart und Ilaare wachsen
sollen. Dies geschieht nur scheinbar, indem die Muskeln der 1 laar-
bälge in der Todesstarre sich verkürzen und so das Haar aus der
Haarscheide treiben. Nebenbei bemerkt, giebt ee kein abeolut sicheres
Zeusben te weben erfolgten Todes. Kur anfgetretene dmHidie
TodMfleefcen, Todtenttanr» «ad BliilgeriiiDungen in den Adern tind
eindeotig. Bis dahin ist die Möglichkeit einea Scheintodee noch ge-
geben. QanK seltsam sind die meikwOfdigen SteUnngen, in denen
biswcalen todte AbgestBizte, BlitsetsohkigeDe oder Krieger anf dem
Schlaohtfelde gefonden wurden, wie aneh Qiessler erwfthni Die
ErUlmng ist eine sehwierige; wahrseheinlioh bandelt es sieb hierbei
stets um directe oder indirecte Verletzungen des verlängerten HaU*
marks. Ob das Gesicht dabei wirklich dem im Augenblick des Todes
bestehenden Geinüthszastande entspricht, erscheint mindestens sehr
fraglich. Viel h&ufiger sind abnorme Leichenstellungen bei Cholera
beobachtet, wo man geradezu von ^Fechterstellungen^ sprach. Sie
bilden sich meist nach dem Tode ans, wohl durch einen letzten
Kranijjf der noch nicht ganz abgestorbenen Muskeln, welche Stellungen
dann durch die Todtenstarre nur noch mehr fixirt werden.
In der Reihenfolge, Stärke und Mischung dieser allgemeinen Er-
scheinungen zoi^ren sich aber gewiss auch Unterschiede, je nach der
Person, dem Alter, Geschlecht und nach der Krankheit, Unterschiede,
die freilich noch sehr wenig bekannt sind. Erst ganz kürzlich haben
Vase Iii de und Vurpas'j bei 2 Fällen chronischer Chorea das
Verhalten der spontanen Muskelzuckungen in den letzten 4 Tagen
studirt. Wie sich da.s alles bei den vielen Nerven- und Muskelkrank-
heiten genauer verhält, wissen wir nicht; die Jahrbücher schweigen
darüber wohlweislich.
Za dem rein psychologisehen Theilo memes Tbsmas kann ich
zwei interessante, mir binterbraehte Hittheilnngen lieleni. Im enten
Falle ilUlt em schwer henkmnkes Mädchen Ton 22 Jahren im Betaein
der Hntter der Schwester in die Arme mit dem Ansmfe: „Mntteri mir läuft
1) Vaschidc et Viirpan, Cüntrif)utii>n a la ])sycho-i)liysiülügio des luou-
raut». Deux m de cüorec chronique. iiüvue Meurologique. 1U02. 15. mai. In
den ^en FiUe fand aidi hierfQr eine anatomlMhe BegrOsdiiiig vw. (Bevue de
IMyehlatrie etc. 190S, p. 222.)
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290
XXL SÄoat
es eiskalt über dem Ivückenl" und fast unmittelbar darauf war sie eine
Triebe, ohne weiteres g:e8procben zu haben. Ein Herzschlag (oder
Embolie?) hatte sie getroffen. Das letztbekannte geäusserte Sinnes-
gefühl war also eine plötzlich aufsteigende Kälteempfindaog gewesen,
und dann hatte sie momentane Bewuastlosigkeit und der Tod umfangen.
Aehnfiohe Aeoflseningen Uber aufsteigende Kilte hSrt
dem Tode, doch entspricht dies dann desi aUmShücheD Absterben
und Erkalten der Glieder doich Bttckflnss des Blutes >). Nieht selten
wird auch durch Schleim der Athem sehr enechwert nnd Patient
nift dann nach Loft Der zweite IUI betrifft eine Sterbende^ die
pUMzlich ausrief sie höre jetzt Kettengeraasd nnd 5 Minuten darauf
▼erschied de. Also scheint auch hier das Gehttr der lulelzt schwin-
dende Sinn gewesen zu sein. Das Merkwürdige liegt darin, dass es
sich hier sehr wahrscheinlich um eine irgendwie bedingte endogene
Reizung der Hdrephäre handelte, also um dne Gehörstäuschung. —
Man begegnet femer nicht selten don Worten: „ich muss Sterben*^,
kürzere oder längere Zeit vor dem Tode. Andt ro sagen es zwar
nicht, nehmen aber von den Ihrigen Abschied. Das wird dann wohl
auch als ^ Todesahnung'' bezeichnet. Hier aber ist es nur ein sehr
erklärliches CJefühl. Es ist der Ausdruck der Wahruehmung, dass
die Schwäche immer mehr zuninirat, die Sinne schwinden, die Be-
ängstigungen sich einstellen u. s. w. Ein schwer T^eidender sieht so
schon seinen Tod vor Augen. Dagegen stehe ich den eigentlichen
Todesahnungen, d. b. bei Gesunden, mehr als skeptisch gegenüber.
Unter 10 Malen trifft die ..Ahnung'' vielleiciit nur einmal ein und auch
hier Hesse sich sicher ein psychologischer Zusammenhang construiren,
wenn man genau die Person, ihre Gedanken und Gefühlswelt
in einem gegebenen Moniontc kennen würde, ohne also der Meta-
physik zu bedürfen. Ganz m das Bereich des Unmöglichen muss
ich aber folgenden Ausspruch Burda eh 's (I.e.; bannen: „Die Macht
der Seele ftber das Leben zeigt sich auch auf andere Weise darin»
dass die Phantasie den Tod beschleunigen oder verzögern kann,
wenn man sich fest einbildeti zu einer bestimmten Stunde sterben zu
müssen.*^ Nein, dazu ist selbst der stärkste Wille, die flppigste Phan>
tasie ausser Stendel
Dass das Gehör oft noch sehr lange erhalten bleibt, sieht man
in den fUllen, wo schon umflortes Bewusstsein besteht^ aber auf
starkes Anrufen bei bereits; halberloschenen Augen doch noch auf
Fragen sinngemässe Bewegungen mit dem Kopfe^ den Lippen, den
1) So lint Bich der steibeiide Fibtiif , aaeb der EnlUang der Vim. Hnitig»
Kissen anf seine B^e legen, weil ^ese kalt waren.
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Zar Phyrio-Pbydioloc^e der Todentonde.
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Häoden erfolgen oder gar vernünftige Worte. Das Licht dagegen
BChwindet meist früher, wohl weil die Hornhaut sich baUl trübt oder
die Circulation des Bluts nach der Netzhaut nachlässt blanche kla^n
deshalb über Xebel oder Dunkelheit vor den Äußren und das bekannte
Wort Goethes: „Mehr Licht!" wird wohl mit mehr Recht so inter-
pretirt, als wenn die Literarhistoriker dies Wort auf den Wunseli nach
geistigem Lichte beziehen. So ruft auch in Balzac's Meisterwerk:
„Eugenie Orandet**, der sterbende Vater seine Tochter herbei| die er
nicht mehr sieht, obgleich sie vor ihm kniet.
Uns interessirt aber vor Allem der Zustand der Psyche in der
Todesstunde. Nur zwei Fälle sind denkbar: Klarheit des Geistes bis
zum letzten Atln nizu^'e oder mehr minder t^tarke Trübun«; (h's Be-
wusstscins kürzere oder längere Zeit vor dem Tode. Ersteres soll
bisweilen stattfinden. Wie der Göttinf^er Kliniker Eich borst be-
richtet ')? ^vird bei Cholera das Bewusstsein gewölinlicli bis zum
letzten Augenblicke erhalten. Dies dürfte sonst nur ganz ausnahms-
weise geschehen^). Ich selbst sah es nie und auch Bern dt 3) zweifeh
sehr an dieser Möglichkeit Bisweilen dagegen tritt Klarheit des
Oeiflte« naeh ataiker TlUbniig momentaa wieder auf. Häufiger sind
spontane positive und negative Bewnsstsemsschwanknngen bei leich-
terer UmfloTnng zn finden. Die Trübung selbst tritt wohl nie plStz-
lieh auf, sondern mehr oder mindor langsam nnd in veischiedener
Tiefe.
Es lassen sich dann, wie ich gbuibe, 2 Typen der BewnsstseinB-
trfibnng unterscheiden. Entweder der Sterbende verfiUlt in eine Art
von Traumzustand. Das sind wohl die FSlle, die Burdach ohne
wdteres mit ,,SoUaf^ identifizirt Der Sterboide liegt ganz rahig
da und nur einzelne abgerissene Worte, SlUze oder Gesten — soweit
letztere nicht bloe unbewusste Schmenreactionen sind — weisen auf
einen Tnuminhalt hin. Leider wissen wir flber letzteren fast nichts.
Bisweilen nur in einem klaren Angenblicke, sagt der Moribunde, er
habe Süsses geträumt, vom Paradiese, ans seiner .Tugendzeit, von den
Eltern. Namentlich wäre es interessant zu erfahren, ob das geistige
1) Eichhorn, Artikel (^olen in Euienburg's Bealencyklopädie der ge-
sammteu Ueilkuude. IbbO.
2) Ein aohduM Be^el lünfllr bietet der berühmte französische In-euarzt
Baillarger dar. (Siehe: Mtgnftn, iloge de Baillaiger. Amulee m^dioo-
psychologiques etc., 1908.) Seine Tuchtcr las ihm vor: ^La lecture achev^e il
fit avec une lucidif«' pai-faite quelques reflexions sur ce qu'il vcnait d'eutendre,
il se retouma sui* rureillei* et s'eteiguit doucciucut, s^auä a^^uulc. .
3) Berndt, Krankheit oder Verbrechen? Wiest, Leipzig (1902?). 1. Bd.
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XXL Niens
Auge mehr rot- oder rückwärts schweift Streng yon diesem ersten
Typus miu8 man eine sehr ähnliche Form trennen, wo nur Pseudo-
Bewusstlosigkeit herrscht. Hier liegt Patient zwar auch mit ge-
schlossenen Augen da, ist aber dabei klar, kann nur vor Schwäche
nicht sprechen und sich rühren, giebt jedoch auf Anrufen jederzeit
zu erkennen, dass er alles hört und versteht.
Beim zweiten Tyi)us — wie mir scheinen will, der seltenere — •
deiirirt der Sterbende, träumt laut scheinbar Unzusaninienbängendi'S,
in unbewussteni oder halbbewusstem Zustande. To u 1 o u s c ' j l)eschreibt
diesen Typus ziemlich gut Er glaubt, dass die Ursache davon Cir-
culationsstörung und Selbstvergiftung der Asphyxie sei. Vielleicht,
meine ich, spielt auch die Inauition eine Kolle. Das Deliriuni ist
meist ein monotones und Hallucinationen und Illusionen treten iiier-
bd auf. Es entspricht also ziemlich gut den Iksohöpfungs- oder
FleberdeUrien^. Ob der Inhalt sieh mehr anf die Vergangenheit oder
Gegenwart bezieht, weiss ich nicht Es ist wohl möglich, ja wahr-
scheinliGh, dass, wie alle Empfindungen, Sinne nnd Orgaue vom
Complidrten immer mehr smnEin&ehen absterben, so auch hier die
jüngsten Gedlcbtnissofaichten, d. b. also die Gegenwart, schwindet nnd
die alten, TieDeiebt schon seit Jahrzehnten mhenden Jngenderinne-
rongen wieder anftanoben'). Dem eats^idit es, dass die Mntterspnobey
die in fremdem Lande vielleiebt DeoennieB hat schweigen mfisaen,
so dass man glaubte, sie mflsste ganz vergessen worden sein, wieder
1) TouloQse, Lm emsM de la folie ete. Paris 189S.
3) Ein nenlich gatm Bd^ptol hi«rfBr bittet das Irat« D^um de« «Hannele*.
Nur edidnt mir der ganze Honolog zu lang und zu logisch und zusammenhingend
zn sein, nm n!s wahr zn imponiron. Wie anders und classisoh erscheint dagegen
Shakespeare! Frau Hurtig erzählt in König Heinrich V. (Act 11, Sc. 4) den Tod
lUatalPa. Sie lagt da nntw andefcm: ,nnd ab Idi Ilm auf der Bettdecke her>
nmtJHrtfff sah and mit Bhimen apieieii und seine FfaigenpHaen aidlahiibi . . .
and er sciiwatzte von grünen Feldern ... da rief er Gott, Gott, Gott, drei oder
vier Mal ..." Man sieht wie der Geist abwesend ist, Gesichtshiülucinationen
auftreten, Patient heiountastet, kurz wie ein Ficbeitlelirant sich verhält. Ich führe
obige Woite nach der ausgezeidmeteD, anonymen Shakeapeaie-Üebeiaelzang:
«DentNfae Volkaaosgabo, nea diudigesehen o. a. ir. von Ifax Molti^e*, Beriin 189S,
Nenfdd. £tte ateht weit fiber der S<'h1(>jurcl-Tick'8chen Uebersetzang and ist un-
endlich viel genauer, meist ganz, wörtlich, wie ich mich wiederholt am Urtexte
fiberzeugen konnte. Ausseixlem enthält sie noch die äonnctte und die übrigen
Shakespeare zugeschriebenen Dramen nnd Dfehtongen. Wenn ieh den Dichter
dtife, so geadddit ea nadi obiger Ansgabe.
8) Der gewöhnliche Tranm beschäftigt sich schon gern mit der früheren
Lebenszeit, wie schon >faury »cfr. Kevue de psychiatrie etc. 1 '•<»:;, p. is:!i, be-
merkte. Ein Gleiche:^ kOnnte wohl auch in jenem delirantem Zustande eintreten,
ohnc^ dass mau zu jener oben geäusserten H^-pothese greifen mllaatek
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Zur Phyfio-Ptoyehologie der Todewtonde.
998
erwacht und damit die cnp: associirten Jugenderinnerungen. fJerade
solche Vorgänge legen die Frage nahe, ob denn wirklich ein Erleb-
lebniss, das in das Unterbewusstscin einging, ganz verloren gehen
kann? Ich glaube es nicht! Jahrelang kann es versteckt liegen, und
nicht, trotz aller Mühe, zurückgerufen werden — und siehe da, eines
Tages, z. B. auch in der Todesstunde, ersteht es in alter Kraft! Diesem
Problem haben die Psychologen leider bis jetzt zu wenig nachgeforscht.
Was al)er ausser den Jugenderinnerungen noch am tiefsten haftet,
das sind die Leidenschaften, gute und böse, besonders letztere. Die
Mutterliebe bleibt fast bis zuletzt erhalten, aber auch Geiz, Habsucht,
Haas, Neid n. & w. Der alte Geizhals Grandet in Balzac's gleich-
namigem Bomaa maebt eine fibermeDwdüiche Anstrengung, um das
ihm Tom Geisdieben zam Kflssen dargebotene emaillirte Enuifix in
seiner Goldgier m ergreifen, eine widrige^ aber wahre Seenel
Hier ist TielleiGht am besten der Ort, nm die f^rage su ventUnen,
ob der meist bewnsstloee Zustand tot dem Tode Bewnsstlosigkeit
oder eehter Sefalaf ist Es ist sehr schwer, hier physiologische oder
psyehologiscbe Unteraehiede antnf&hren, da es in betden Znstlnden
Tcnohiediiie Giadstnfen giebt, die sieh ansserordenflieh Ahnefai. Schlaf
ist freilich ein physiologischer, Bewusstlosigkeit ein pathologischer
Vorgang. Der nalürlicbe Schlaf entsteht durch ErmQdnngsprodncte
im Körper, wenigstens sehr wahrscheinlich. Diese sind nun von den
pathologischen Stoffwecbselproducten, wie sie bei verschiedenen Krank-
heiten und gewiss auch vor dem Tode entstehen, femer von ein-
geführten Drogen und Giften, nur quantitativ verschieden. Jene sind
auch Gifte, wenngleich normale und milde. Nehmen wir einen Schlafenden
oder bewusstlos mit geschlossenen Augen Daliegenden her, so lässt sich
physiologisch kein scharfer Unterschied nachweisen, da auch im Schlafe
einerseits Unregelmiissigkeiten der Atiimung, des Piilsrs u. s. w. ein-
treten können, wie in der Bewusstlosigkeit so oft, in letzterer anderer-
seits auch ruhige Athmung u. s. w. beul »achtet wird. Auch psycho-
logisch besteht kein Unterschied. Wahrscheinlicii besteht in der Bewusst-
losigkeit sogar auch Traum, doch wissen wir hierüber nichts. Wie es alle
Grade des Schlafes giebt, so aiidi solche der Bewusstlosigkeit. Auch der
Schlafende kann unter Umstünden — freilich pathologischer Art — mit
geschlossenen oder offenen Augen herumlaufen und anscheinend äusser-
fieb wie ein Wählender sich gebenlen : in der Somnambidie. IHes tbut
andererseits ancb der Halbbewnsste in den Yerschiedenen Dämmemngs-
znstftnden, die meist yOUige Amnesie zurftcklassen. Bei pldtzlicbem
Eintreten redet man allerdings gewöhnlich von BewQSsUosigkeit, z. Bw
nach Kopfstnrz oder nach Gehirnschlag, während der gewöhnliche
Digitizeo by Goü^lt;
294
XXI. ^ÄCKE
Schlaf sich mehr ^einschleicht". Kurz, man sieht, wie schwierig diese
Begriffe festzulegeu sind und insofern könnte man deQ Zustand vor
dem Tode, aaoh den delirirend^ Sdilaf nennen. SiMesalieh kommt
auf den Kamen wenig an! Gewöhnlich wird man allerdings den
deUrirenden Zustand nicht Schlaf nennen, obgleich manche Schlafende
ebenso laut nnd nnznaammenhängend sprechen. Eher könnte man
noch anführen, dass der bewnsstlose Znstand, wenn er nicht zn tief
ist, leicht unterbrochen wird, der Schlaf, wenn er nicht ganz ober-
fiSehlich sich zeigt, aber möht Es giobt also klinisch und psychologisch
keinen prinoipiellen Unteischied zwischen Beiden, wohl aber bezüglich
der Genese und der Prognose. Sicher ist aber, da» auch der Sterbende
vor Ermüdung einnicken kann. Unser erster Typus steht dem Schlafe
jedenfalls sehr nahe, ist damit sogar vielleicht identisch. Einen Tod im
wirklichen Schlafe sehe ich dagegen ganz unzweideutig in denjenigen
Fällen, wo mitten im Schlafe eine Gehirnblutung, Gefässverstopfoog
des Hirns, eine heftige Lungen- oder Magendarmblutung u. s. w. dem
Leben plötzlicli ein Ende macht, Fällt", die freilich sehr selten sind.
Bei leichtem Umflortsein des Geistes irelangt der Sterbende wohl
öfters auf sehr kurze Zeit zur vollen Klarheit und man hört dann
oft Reden, die die Anwesenden in Erstaunen setzen '} und die Ster-
benden l)isweilen geradezu in den Geruch der Proplietie gebracht
haben. Sogar eine Steigening der Erinnerungsfähigkeit und der
Geisteskraft wird ihnen angedichtet und Burdach spricht von einer
zuweilen zu beobachtenden „eigenen Erhebung des Geistes". Das
erklärt sich aber wiederum sehr einfach. Wenn der Kranke sich
klar geworden ist, dass er dahinscheiden soll, wenn er die kleinUchen
Sorgen des Lehm abgeschttttelt hat, wom die Schmerzen nach-
gelassen haben, gewmnt er leicht einen freieren Blick über die Lebena-
verhältnisse nnd kommt dann wohl auch einmal zu Schlüssen, die
den Andern wunderbar erseheinen, es aber im Grunde nicht sind,
weil eben viel hemmende Momente^ die gute Gedankencombinationen
erschweren, wegfallen. Dasselbe sieht man vielleicht noch besser in
Träumen, wo man bisweilen über seuie eigenen, hsi genialen Ideen
staunt ; auch hier smd alle hemmenden Vorstellungen entfernt ^und
zweckentsprechende und seltene Association möglich geworden. Bei
Ii Vau dassiMlit s Bti^iiicl liierfür i>t (Ur Tod Attinghausen'* im Williolin
Teil. Es ist aber physiologisch fast uniiir»«j;lich . dass ein Greis \ on *^."» Jahren
uniiiittcibar \ or seiuem Tode uoth eine relativ »o lauge liede hält uud psychulogisjcli
schwer gUinbhaft, das» er dnen so weiteD Sdiarfblick in zukünftige Eieignisse
hat SdiiUer überhaupt hat oft goong gegen psychologische Gesetze gefehlt,
Shakespeare dagegen kaum je!
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Zur Phyaio-PbyidioiQgie der Todeestunde. t9b
leichter Trübun«: des Uewusstseins vor dem Sterben ^vird dies viel-
leicht sogar noch elier eintreten, als bei voller Klarheit, ähnlich wie
im Traum, weil dann eben die p;anzen letzten Ereignisse mit der sie
beweo;enden Gedanken- und Sorgenwelt verwischt wurden und ein-
fachere, natürliche, hier nur halbbewusste Gedanken -Verknüpfungen
entstehen, die die Umwelt in Erstaunen setzen und zwar noch mehr
als bei bestehender völliger Klarheit. Auch könnte einmal nach starker
Uebermüdung ein kurzer Schlaf eintreten, aus dem Patient gestärkt
aufwacht und die Dinge dium klarer sieht.
Es wäre freilich nicht ganz undenkbar, dass durch abnonnen
Stoffwechsel vor dem Tode razende Stoffe im Blute kreisen, die längst
MUammemde Erinnemngeii an&nweokoi im Stande wSreiif vidleidit
aneh wirkfioh emmal den Mhwindenden Cteiatoekrlfteii eineii knnen
Ebui Tetldhen kSnneni). Näher liegt aber immer noch die £r-
kUrong, dsss die Anweienden in ihrem Affectzostande den Werth der
letzten Aensseningen eines Sterbenden zu hoeh einBchttzen. Es mnas
aber entsehieden betont werden, dass alle genannten flUle ausser-
ordenilioh selten sind. Meist wird Tom Sterbenden nur Un-
bedeutendes und Gleichgttltiges gesprochen, was die Be-
deutung der so fälschlich in den Himmel gehobenen „letzten Worte"
der Moribunden zu Schanden werden lässt. Auch hier sehen wir
wieder, dass starker Affect unser Gedächtnis fälscht. Eine einzige
Scene sogenannter Prophetie prägt sich tief ein, besonders beim Un-
gebildeten, und lässt aus dem Gedächtnisse die unendlich zahlreicheren
Fälle verschwinden, wo nichts Aehnliches geschah. Der eine Fall wird
dann zu leicht verallgemeinert. Dazu kommt, dass die meisten über-
haupt wenig Leute sterben sehen, also keinen rechten Vergleich haben.
Das anseheinend so ühenius seltene Rekapituliren der ganzen
Jugendzeit oder einzelner Af)schnitte daraus in der Todesstunde wird
auch öfters von Erhängten, Ertränkten und Abgestürzten berichtet, die
noch mit dem Leben wegkamen. Es ist hier wohl ähnlich zu erklären
wie dort, nur dass bei Erbängten und Ertränkten sicher schon Be-
wusstseinstrübung herrschte, beim Abgestürzten dageiren nicht, wie
allgemein berichtet wird. In letzterem Falle dürfte aber doch wohl
eine Art Schwindel den Menschen erfassen, wie beim Schaukeln,
schnellen Fahren u. s. f. , der einer leichten Geistcasumnebelung sehr
nahe kommt^ und Ton den meisten angenehm empfunden wird. Darauf
1) Nat'h Fr 10 (>ic'lie Git-jisler I.e.) soll (lies durch den Zustand der moto-
rischen Uebentizung, der kurz ^"o^ dem Tode in den Nerven und Muskehi ein-
tritt und dem psychische Erregung entspricht, zu erkläreu seiu. Sicher ist dies
aber nur die AnBnahme und nidit ^ Regd!
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296
XXI. Nacks
beruht wahrscheinlich auch das angenehme Gefühl des ^ Angeheitert-
seins**. Auch der halbhewusste Zustand im Anfange des Erhängens
soll sehr angenehm, namentlich mit erotisclien Vorstellungen verknüpft
sein, weshalb im Anfange des vorigen Jahrhunderts in London ein
„Club der Erhängten*' existirt haben soll, aus alten und jungen Kou^^'s
bestehend, die schliesslich noch auf diese Art sexuelle Kitzel im Hängen
^auf Zeif* suchten und angeblich auch fanden! Gierade mit Abge-
stürzten haben sich verschiedene Autoren näher boiebäftigt, so c B.
Heim, Sollier, Egger (siehe Qiessler). Prof. Heim bat auf
Grond von Umfingen bei Abgestüizten festgestellt, daas bei ihnen
1. das Gelahl der OlttekBeligkeit besteht, 2. der EmpfindiingBldfligkeit
des Taat- und Sebmerzsumea, 3. anaserordentliehe SehneUigkeit der
Gedanken und der Einbildang nnd 4. oft em Erseheinen ihres frahem
Lebens ak einer Art von Panorama. Nr. 1 glanbe idi erklärt an
haben, dnrob eintretendes leichtes Sohwindelgefähl. Dies sebeint nur
besser zn sein, aJa andere Erklämngen durch S ollier, Egger n.8.w.
Xr. 2 die Tast- und Schmerzunempfindlichkeit, die sich ja nur auf
das Auffallen auf Stein, Schnee und Eis oder in eine Spalte beziehen
kann, scheint mir mehr als problematisch zu s«n. Ich wüsste
sie nicht befriedigend zu erklären ! Auch Nr. 3, die annerordentliche
Schnelligkeit in Gedanken nnd Phantasie scheint mir sehr fraglich
und blos eine Selbsttäuschung zu sein. Nur bei den so seltenen
„Visuellen"^ wäre es allenfalls möglich. Xr. i wäre endlich nicht be-
sonders auffallend. Geschieht ja Rekapituliren einzelner Lebens-
ereignisse aus früherer Zeit oft genug bei Jedem in besonderen,
namentlich ernsten Zeiten ^ schlaflosen Stunden u. s. w. Auch beim
Kinde tritt dies sicher, wenn auch seltener und rudimentärer ein, wie
ich es beobachtete. Wahrscheinlich auch beim Wilden. Je älter man
wird, um so öfter und umfassender, eindringlicher tritt spontane Rttck-
erinnerung auf. Beim Abstürzen dürfte dies aber wohl nur selten
stattfinden, du das Abstürzen zu schnell vor sich gebt, ja so schnell,
daas gewiss oft nicht einmal Schreck oder Furcht, sondern eher ein
angenehmes Scbwindelgefühi entsteht Beim Krtrinken n. s. w. dauert
die Sadie länger. Ich erinnere mich, dass, ab ich vor Jahren beim
Schwimmen in der Seine dem Ertrinken nahe war nnd ein ander
Mal über dem Bhonegletscher in der Dunkelheit mich auf der Uoiftae
Terstiegen hatte, ich mir Uber die Todesgefahr sofort klar wnrde^
trotzdem aber merkwürdig ruhig, resignirt war, gesammelt Ob
dabei Erinnerungen an mein früheres Leben oder an meine Familie
auftraten, weiss ich nicht mehr. Dieses Gefühl der Buhe, Beeignatton
wird man aber nicht Glückseligkeit nennen.
Digitizcü by Got)
Zar niyaio-Pqrdiologte der Todesstunde.
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Tn einem Referat Uber eine Arbeit von F^r^i) heisst es wQit-
lich „il est presque de rögle dans la suhmersion que les noyös aient
avant de niourir unc sorte de vision retrospoctive des principaiix
^v^nements de leur vie anterieure''. Dieser iSatz ist widersinnig' «;e-
greben nnd kann natürlich nur so fredeiitet werden, dass die vom Er-
trinkunijstode ?]rretteten solches erzählten. Die Fällt', wo sie kurz
darauf starben, dürften sehr selten sein. Ferr bemerkt aber weiter,
dass eine Art von „aura psychique" vor dem epileptischen Anfalle
darin besteht, dass die Kranken, wie es im Referate heisijt: . un
eertain nombre depih'ptiques) . . ont une sorte de r<jminiscence de leur
Tie passee"'. Ich seihst habe solches nie gesehen, ebenso wenig ein
Kollege, der jahrelang mit vielen Epileptikern zu thun hatte. Auch
in der Literatur dürfte dieser interessante Vorgang, wenn überhaupt,
Bor sehr MHeii Tennerkt sein, so dase ich ihn fOr gans abnorm aeltai
baiton tmm. För6 glaubt, dan dies auch beim Henuinahen des
natiirfifilien Todes erfolge, was ich aber nnr als Ansnabme erachte.
Er sab ferner bei einer grösseren Zahl ron bewnssHosen Sterbenden
unter dem Eindmek von eingespritzten Aetfaer momentan das Bewnsst-
sein znriekkehren, so dass sehr genaue Anskonft tkber grOnere, weit
snrHeUi^gende Ereignisse ihres Lebens gegeben .woide, weshalb dies
Mittel in gewissen FUlen mit viel Nntsen nach dieser Bichtang hin
gebraneht werden könnte. „Tont donne lien de eroire/ heisst es in dem
betreffendem Referate, „qne Pinjection d'^ther ne fait ici qa'acoentaer
nne disposition natarelle.'^ Der Schlass scheint mir ein sehr gewagter,
wenn er vom Referenten richtig wiedergegeben wurde. Ich habe
öfters Sterbenden Aetherspritzen gegeben oder geben lassen, ohne
jemals ähnliches zu erleben.
Bemerken nniss ich endlich, dass 1. die meisten Berichte über
das blitzartige Auftauehen der Jugenderinnerungen bei den erwähnten
Kategorien von Menschen aus früherer Zeit stammten, wo man im
Ganzen leichtgläubiger war als jetzt und 2. gewiss ein grosser Theil
der vom Erhängungs- und Krtränkungstode Erretteten wenig glaub-
würdig erscheinen. Um so werthvoller sind dagetren die Berichte
Abgestürzter, weil sie meist der neuesten Zeu angehören und gewCdin-
lich Gebildete betreffen. Wer al)er viel mit subjectiven Angaben zu ar-
beiten gezwungen ist, wie der Arzt, speeiell der Psychiater, der V»j-
cholog, der Richter, weiss, wie vorsichtig alles erst auf Glaubwürdig-
keit hin zu untersuchen isL Auch ohne lügen zu wollen, können
1) Fere, De l'etat mental anx approches de la inort. S(»o. do Blolo<rio.
f6vr. 1S89. Nach Kef. im Bulletia de la SociCtö de MC-decine mentale de Bei-
gique. 1889. p. 101.
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298
XXL Naokx
sich Erinnerun;i-8täu8eliunt;en und -F'älsdiungen einsclileielien , i)eson-
ders wenn Iän;;ere Zeit seit dem Erlebniss vergangen ist; darum
grösste Vorsicht!
Es wird auch öfters bericlitet, dass das (Besicht Sterbender zu-
letzt sic'li förmlich verkläre, was gewuhnlicli auf Gottseligkeit l)ezo^ren
wird. Eine andere Erklärung liegt aber näher. Wenn nach scliwereni
Todeskamj)f mit etwa vorhergehenden physischen oder psychischen
Schmerzen, der dem Gesioht den Stempel höchster Angst anldrBekt,
ein sanfter, ja yerkUrter Avadniflk auf dm Gesiehtoxllgeii lagert, so
wild dies diinsh das Kaehlassen des Moskeltonus erklSitidi. Dies
wird bei solchen mit vorher durehgeistigtem Gesiehte noeh denflicher;
die kuz vorher noch vezzenten Muskehi kehren in ihre alte Lage
znriiok, um freilich m der Todteostane bald wieder sich sn verindeni.
Ob ein Mher wiridieh htatiches Gesicht dnrch den Tod schOn wer-
den kann, ist mir sehr nnwahrsoheinUch. Wohl kann, wie wir sahen,
Yor dem Tode der gdstige Gesidilaansdnick snrttckkehren und so
das Gesicht wieder verschönem. Vielleicht kann sogar, wie dies
Balzac in Eiig6nie Grandet bemerkt^ der Tod einmal gewisse Ecken
des Gesichts verstreichen lassen, mehr abrunden. Jeder hat natür-
lich über scliön und hässlich seine eigenen Ideen, und so wird
Mancher das Gesioht eines Sterbenden oder Toden schön, friedlich
finden, wenn es ein Anderer nicht sieht. Hier spielt die Affectiage
der Trauemden eine grosse Rolle. Ich habe selten ein Todtengesieht
gesehen, das einem ruhig und friedlich Schlafenden geglichen hätte,
höchstens nur unmittelbar nach dem Tode. Durch seine marmorne
Blässe, Glätte und Ausdruckblosigkeit wirkt es meist wenig ästhetisch,
besonders im späteren Alter. Daher machen denn auch Photographieen
von Todten fast immer einen abstossenden Eindruck. Und nicht mit
Unrecht sagt Shakespeare (Maass für Maass): „0, der Tod ist ein
Meister im Entstellen".
Bezüglich der Todesstunde Geisteskranker wissen wir gleichfalls
wenig Näheres. Vergessen wir zunächst nicht, dass die meisten unter
ihnen, ebenso wie die Geistesgesunden, an intercurrenten Krankheiten
sterben, nur wenige an AltersschwfifChe oder allmählicher Auflösung
in Folge von H^zsohwiche. Soweit idt nun beobaditet habe — and
anch hier besitze ich ziemliche ürCahrung — sind die physio-
nnd psychologischen Erscheinungen der Sterbestunde bei
Geisteskranken und Geistesgesunden sehr ähnliche. Ge*
rade ganz kfiizlich habe ich hierbezttgUcb einen recht interessanten Fall
beobachtet ESn Faranoiker hatte unter lebhaften Sinnestftnschnngen
einen erneuten Erregungsznstand bekommen und war wieder in unsere
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Znr Pbyaio-Pisrdiologie der Todesstunde.
299
Anstalt gebracht worden. Er collabirte bald und die Agone zog sich
ziemlich lange hinaus. Schon kurz vor dem Schwächezustande war
er mit Abklingen der Erregung klarer geworden und gab passende
Antworten. Noch 3 Stunden vor dem Tode verstand er die Um-
stehenden und auf die Frage, ob er sie kenne, nickte er. Ich sah
ihn ca. 1' 4 Stunde vor dem Ilxitus. Er röchelte, zeigte die typische
Facies hippocratica, schien absolut bewusstlos zu sein, sprach nicht
und reagirte auch nicht auf lautes Anrufen. Die Augen waren ge-
schlossen, aber die Uornhaut, wie auch die Körperoberfläche und das
Gesicht auf Berührung noch sehr empfindlich (er litt schon vorher
an Ueberempfindlicbkeit der Hautdecken). Beichlichefi AuftiSnfeln
Ton Oiinatmctar auf den Zungeurftdran blieb ohne jede Beaetion.
Abo war der Geeebmaek Yeracbwundeii. Oeffnen einer Flaeobe mit
SehwefeUttber nnd einer anderen mit Kampferspiritot unmittelbar Tor
einem oder dem anderen Kasenlocfae blieb gleiohfalls wiiknngsloe,
also war aneh der Gemeh abhanden. Hier beataad folgtieh bis sn-
letzt nur die SeanbiliiSt der Haut und Homhani
Brown-Söqnard (siehe die iUbeit von F6r^ berichtet, daas
Kranke mit ongamseher Verletenng des Gehinw im Sterben ihre
▼snige Empfindfichkei^ MotilitSt nnd ihren Intellect wieder gewinnen
können; er habe solche Fälle schon 1874 veröffentlicht Wahrschein*
lieb trite dies in Folge ziemlich wichtiger Veränderungen in der
Blntzusammensetzung und in der Emährong der Organe ein. Ja,
der alte Bnrdaeh (1. c) sagt sogar: . wie denn auch Geisteskranke,
selbst wenn organische Fehler des Gehirns die mehrjährige Krankheit
verursacht hatten, in den letzten Stunden ihres Lebens meist zum
vollen Gebrauche ihrer Verstandeskräfte kommen.'* Jedenfalls dürfte
dies bloss selten eintreten und wohl nur bei functionelleni nicht aber
grob organischen Veränderungen.
Hier ist dann aber noch weiter zu unterscheiden zwischen einer
rein zufälligen Aufhellung des Geistes und einer durch die bevor-
stehende Auflösung selbst bedingten, b'tzteres könnte man mit
einiger Sicherheit nur bei cli ronisch ganz Verworrenen oder anderer-
seits tief Blödsinnigen — in diesem Falle würde es sich aber nur
um Pseudo-Demenz handeln, nicht um wirklich organisch bedingte —
annehmen y da alle Psychosen sonst so viel grössere oder kleinere
seitliche Schwankungen im Bewussteeinsiiistande nnd in ihrem sonstigen
Verhalten aufweisen, dass eine etwa eintretende Aufhellung des Geistes,
knnes I^bleiben von Wahnideen, Sinnestäuschungen, Stimmnngs-
aaomalien u. s. w. knrz vor dem Tode eben nur eine solche Schwan-
kung bedenten k((nnten, also der reine Zufall wSien, mithin nichts
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800
XXI. Nacks
AnffiUliges dubietan. So gesohab dies atuh sioher in dem obea
berichteten Falle. Nur wenn ein aoleher Uebetgaog in scheinbare
Vernunft hier ganz plötzlieb erfolgte^ könnte man ihn ab meriLwttrdig
legistriren, obgleich dies auch sonst im Laufe einer Psychose bis-
weilen beobachtet wird. Ein College erzählte mir neulich einen
me^wUrdigeo Fall. Eine chronisch geisteskranke Frau fällt in Schlaf,
erwacht daraus gestärkt, klar, ruhig, sprach mit dem Arzte über ihr
TCfgangenes Leben, wie es ihr doch im Ganzen wohl gegangen sei,
wie nur das Schicksal ibrer minderjährigen Kinder sie etwas bedrücke,
doch würden sie gewiss gut aufgehoben sein. Sie werde wieder bald
in »Sclilaf verfallen und aus demselben nicht mehr aufwachen. Und
so geschah esl
Haben aber, so wird man vielleicht fragen, alle diese und ähn-
liche Untersuchungen an Tkistesgesunden und Geisteskranken auch
einen gewissen praktisclien Werth? Ich glaube es sicher, besonders
für Juristen. Civilrechtlich handelt es sich zunäclist um Aufsetzen
von Testamenten, was freilich meist mehrere Stunden vor Eintritt d^
Todes geschieht Aber auch bei Beactionslosigkeit, wie gewöhnlich
in der eigentfi^jbenTodiHtonde, mlMeii Ant und Biehtor inieniieiwB,
ob diow eine wirkliche oder nur scheinbare igt und ob eine tiefe
oder oberflächliche BewiiMtieiiietrflbnng Torliegt In lelifteren EUle
könnte man noch hoffen, daae momentan das Bewnsataein wieder-
kehrt nnd der Patient dnreh annentaprechende Geaten oder Woite
aeine Znatimmnng zu gewiaaen TeetamentBbeatimmiuigen geben kann >)•
Es wire wohl hierEU noch nach FM die Anwendung einer Aether^
apritie empfoblaosweKdi, obgleich, wie schon geaagt, ich dem nielit
aehr traue. Ea handelt aich andereraeila vielleicht auch um achnelle
Eheachliessungen , Anerkennung ron unehelichen Kindern n. s. w.,
wozu einige klare Momente genUgen können. Doch ist, wie Bernd t
richtig bemerkt, eine Suggeationawirknng gerade hier aehr nahe liegend,
1) Mir nicht recht klar ist eine hierher gehörige Entscheidung des O.L.G.
zu Stuttgart vom 25. März 1901, die ich der Schrift von Schultze (Wichtige
Entacfaeidnngen anf dem Gebiete der geriehtlichen Psychiatrie Oltriiold, Halle
1902, S. 3), entneiime: ^Zugelassen ist nnr eine Erklinrng dnich geeprodieDe
Worte, nldit darch Zeichen , so das» ein Testament , bei dem der Errichter sein
Einvcretändniss lediglich durch Kopfnicken zu erkennen gegeben liat , nichtig
iat.'' Psychologisch ist das Kupfuicken — wenn solches orfahruugagemäss recht«
ainnig erfolgte — dem Worte giddurasteUen. Aach bei Letzterem ist erst an
' nnteiBuehen , ob ea in richtiger Weise gebrandit wnrde. Der Sterbende ist aber
oft zum Worte ans Srhwiichc nicht mehr zu bringen und dann sollte man sich
durchaus mit bhissnii K<>nt"iiie-ken bcgnntrcn. lürWoit und Nicken plt ültriircii:*
das im Texte gleich zu ErwiUmcude bezüglich einer mOglichen iSuggesUuut>wirkuug.
Digitizcü by GcJC)
Znr Pbysio-FBjrdiologie der Todeattnnde.
SOI
besonders wenn nicht völlige Klarheit besteht; und so ist die Dispositions-
filhigkeit wohl nie g:anz klipp und klar. Aber auch strafrechtlich
wären ein paar klare Augenblicke unter Umständen sehr wichtig.
Bei einem Morde z. B. könnte kurz vor dem Tode bei erhaltenem
Bewusstsein — wie namentlich oft bei Verblutungen — oder bei
Wiederkehr desselben vielleicht der Name oder die Beschreibung des
MördeiB u. s. w. erfoncbt oder irgendwelche nützliche Anhaltspunkte
m weitwer Kaefafonehimg gegebeo werden. Einige klare Momente
würden endfidi andi fBr dieFamifie sellMt werthrell ton, nmlmnen
AnftinhItiM über den Verbleib gewieier Papiere, Scblflasel n. b. w. zn er-
langen. Endlieh Tennöohte anoh der katholiaehe Prieeler einen Augen-
bliÄ des VentSndnineB für die Beichte nnd die ledte Gelang er-
haaehen.
Anaser den Tielen schon Torher angeworfenen Fragen lieesen
sich aber noch manche andere anführen. Worin z. B. besteht die
Todesfurcht, die schon Viele bei dem blossen Gedanken an's Sterben
er&sst und die sicher auch die Schwere des Todeskampfes oft genng
mit bedingt? Sie scheint vorwiegend ein Product det Ooltur zu sein.
Der Wilde kennt sie wahrscheinlich nicht oder nnr wenig, trotidem
Beobachtungen über die Todesstunde yon Wilden kaum vorliegen.
Todesfurcht wird verschieden verursacht. Bald ist es Angst vor dem
Sterben') als solchem, der mächtige Ausdruck des Selbsterhaltungs-
triebes, bald sind es Zweifel über die \'orgänge im Jenseits, besonders
Furcht vor einer künftigen Wiedervergeltung der Sünden, bald ist es
Trauer, die Seinen und sein Hab und Gut verlassen zu müssen. Bald
sind diese Motive nun entweder einzeln vorhanden, oder zusammen,
in verschiedener Stärke und Mischung, von vielen Momenten ab-
hängig. Die Hauptmotive der Todesfurcht dürften aber obengenannte
sein. Man wird leicht begreifen, d-dsa ein Wilder davon nur wenig
berührt wird, am meisten vielleicht noch von der Trauer, die Seinen
nnd sein Gnt zu verlassen, weniger schon der Furcht halber vor dem
Tode selbst, kaum je wegen Zweifel an ein Jenseits, selbst wenn die
1) Sehr Bchun beisst es in Shakespc.-irc's ..Mnass für Maaw":
„Die schwerste Last von Leben.sinüh likuiedeu,
Die Alter, ElcuU, iSchmerz, Eiukcrkeruoj^,
Dem HeDtohflD «nferiegt, toi ein Pandies
Verglichen mit des Todee Schrecken.*
Und Edgar in König Lear saprt: „(denn so siis«
l&t's Leben, das» wir stündlich i odesqual
Eh'r dulden, als mit Einem Male sterben)."
Ebemo ssgt Ciasr (Julius Giasr): «Der Feige Bdibt nfaon vielmal, eh'
er 8tirt»t*'
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'602
Idee an em solchesi die meist nur sehr oobeetimmt ist, beetebt Es
wild TielfRch bericbtefc, dass der Neger oder cbineeiBobe Verbrecher
mbig seinea Kopf anl den Biebfbloek legt, und ohne Zodsen den
Todeestreich empföngt Er hat ja selten hier etwas sn yeilieienl
Hinzn komml^ dass nameofUeh N^er nnd Mongolen physisehen nnd
peyohischen Sohmemen gegenüber abgestampfter an sem seheinen,
als die Weissen. Aneh der Greis» der des Altörs, der SehwSehe halber
von den Wilden in das Gebfisch znm Verhnngem ansgestoesen wird,
nimmt diese Todesart mhig bin; er ist mit diesen Sitten ja schon
längst vertraut und bat es mit seinen Eltern auch nicht anders ge-
tban>). Der Indianer wieder geht ruhig dem Tode enl^fegen ans
Trotz, nnd weil es seine Würde verlangt, ihm winken ausserdem
die Jagdgründe, wie dem Moslem die Henris. Der altersschwache
oder todtkranke Hindu schleppt sich mühsam znm Ganges, um ruhig
in seine heiligen Fluten zu versinken, aus religiösem Gefühle. In
den letzten Beispielen spielen aber bereits andere Motive mit, wie
man sieht. Wie die Wilden, so kennen auch die Kinder kaum Todes-
furcht. Es ist mir endlich aufgefallen, wie gleichgültig oft Leute
niederer Schichten dem Tode <;ep'nül>er, z. H. in den Krankenhäusern,
sich verhalten, ebenso aber auch in den eigenen Familien, selbst
wenn der Glaube an ein Jenseits wenig vorhanden ist. Der Arme,
Gedrückte, empfindet das Verlassen dieser Erde oft als Erlösung und
vergesse man auch nicht, dass die Emjifindunj^en und Gefühle, nament-
lich höherer Art, bei dem niederen Volke weniger ausgeprägt zu sein
scheinen, als bei den oberen Schichten.
1) Woltaaaon (Poittfadw Aiithn>pologie. 1908. Thüringische Yeriagaamtilt
Eiaenaoh mid Leipidg) aagt: «D«r Kumibalinniis ist in Wirklichkeit nicht so
gnuttam, wie es onseiTn fcinfQhlcnden Bewusstecin dünkt In kannibalischen
Sriimincn wachsen die ^tensdipn trcwohnhcitsraässi}? von Kindheit an in dem Ge-
danken auf, dass sie dem l üde und dem Fest- und üpferschmaus verfallen, wenn
de in die HSnde der Fdnde gerathen. Dieselbe Empfindong bemefat bei anderen
Stibnmen sndi der Venklavnng gegenfiber. Nur so sind die Beiidite der Reisen-
den za verstehen, dass Gefangene willif? der Sklaverei sich fugen und sogar,
wenn sie zn einer Siegepschmanserei dienen sollen, sieh ruhig mästen lassen und
ergeben der Abschlaebtung entgegensehen.*" Und der Aegyptoiog Wiedemann
(die Todten nnd ihre Reidie im Gbnben der «1^ Aeg>'pter. Hinridu, Leipzig
1902. Der alte Orient II. 2) sagt: „. . . die Gedanken der Aegypter sidi viel
und gern mit dem Tode beschäftigten, der für sie ebensowenig wie für den
modenien Oncntalen einen grossen Schrecken besasa"*. Dasselbe wissen wir
aueh im Allgemeinen von Griechen, Körnern und Germanen, daher z. Th. auch
der Todesmutii im Kampfe. Gans dm Todesgedanken gegenftber abgestumpft
erscheinen aber die Gladiatorm, wie nodi heutigen Tages mehr minder die 8lier>
kimpfer.
Digitizcü by GcJC)
Zur Phydo-Psyehologie der Tod«Mtimde.
808
Mit der Cultur wächst zweifelsohne der Selb8terhaltiing:strieh und
die Liebe zum Leben, weil das Leben seil)st einen reicheren Inlialt
gewinnt und somit nielir Werth erhält i). Es ist ein schlechtes Zeichen
einer Zeitperiode, wenn dieser Trieb sich abschwächt und die
Selbstmorde sich häufen. Damit hat natürlich die stoische Ruhe des
Helden, des Philosoplien nichts zu thun, die ruhip: dem Todesen^i^el
in'B Angesicht schauen. Hier hat der Wille den Trieb zum Leben
ans edlen Motiven oder innerer Ueberzeugung der Nothwendigkeit
unterdrliekt. Und wenn Gläubige dasselbe thun, so winkt ihnen
drüben die Verbeissnng und ISast sie das hier Znrflekiidaasende
leichter Termiasen. Wer aber an mt Jenadts nicht glaubäi kann?
Dem freilich wird ein starker Trost abgehen, deshalb darf man aber
nicht den Trngschlnss begehen, ein Jenseits ans der
Todesfurcht ableiten zu wollen! Es giebt genug Atheisten
und Materialisten, die ruhig sterben. Fttr die mohamedanisehe BYau
gilt das Gleiche, obgleich ihr kein Jens^ winkt wie dem mSnnlichen
Moslem. Man sieht daraus jedenfalls so viel, dass der Glaube an
ein Jenseits nicht absolut sum ruhigen Sterben vonnOthen ist, eben-
sowenig wie zum richtigen Handeln hienieden. Wenn endlich der
Kirche jahrelang Entfremdete auf ihrem Todeslager sich bekehrten,
so ist das auch nicht ohne Weiteres für die Wahrheit eines Dogmas
zu verwerthen. ^Es kann", wie Bern dt (I.e.) sehr richtig bemerkt,
^wohl auch der Schluss gezogen werden, dass vor dem Gefühl des
herannnlM'nden Todes die Klarheit des interesselosen kühlen Erkennens
zurücktrat, dass die elementaren, in der Jugend eingeimpften reli-
gi(")sen Eni}»fin(]uniL,'f'n über die während des reiferen Alters mühsam
emin^'enen Denkresultate die Oberhand gewannen." Auch s{)richt
starke Todesfurcht noch nicht ohne Weiteres etwa für schwere Ge-
1) Damit süiouit Th. weiiigäten» uueh, daa& im Ailgemeinen die Germanen
mehr am Leben hängen, als die weniger gebildeten 8fidromanen oder gar die
SltTen. Doch a|rielt hier die Baaee waiiiadieiiiliah die grteaera Bolle. Merk>
würdig ist, dam die Semiten dem Tode meist mit Gleichmuth entgegcnj^olien.
der Jude aber nii'ht. Sollte bloss die Coufcssion daran -»chuld sein? Walir-
Bchcinlich ist hier der arische Einschlag von (Auioritor von Luächau) dai-an
Sdiiild. Bekannt ist, daw eben wegen Äugst vor dem Tode ^e Juden gern
«geadMoe Patienten dnd, da «le die Aente b^ Jedem unbedeutendem Anlaaae
rufen laaaeni prompt und gut bezahlen. Die Zumiadiung arabii^clicn Bluts hat
beim Spanier walirsclieinlich mit bcwirict, dass er scheinbar norli luelir dem Todi*
gegenüber abgestumpft ist, als z. B. der ItiUiener. Doch tliut aucli die Gcwohu-
halt an Stierkampf, Mord noch ebi Uebriges, so daaa in Spanien eb Henachen*
leben nicht viel werth erschmt Andwe hingen wieder ao zäh am Lel)en, daaa aie
auch sogar in extremis dieHoffnung nodi nicht ainken laaaen,z.B.der grosse Brahma.
AroUr m Kiiminabuithnipologi» XIL 21
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304
XXL NXcu
wissenshisae, bo dass die Worte Warwick's in Shakespeare 'g Hein-
rich VI. (II. Th.): „Solch' grauser Tod verriUh ein grauses Leben*
durchaus nicht immer zu Recht bestehen. Fkrebtaame werden cet
par. Bekwerar in den Tod geben, als Huthige, ja Forebt kann den
Tod besoUennigen, sogar einmal erzeugen. Biobar d IL (Sbakespeare)
sagt scbon: ^Die Furebt giebt Tod" nnd es sind wobl bie nnd da
SeblagfiUle nnd Tod in der änssenten Todesangst bekannt geworden.
Es will mir endlieb aneb sobeinen, obgleieb iob selbst Protestant bin,
dasB die Katholiken dadorofa, dass fast Jeder noch bei mehr oder
weuger Bewnsstsein die letzte Gelang erhält, dies weiss^ alltiglieb last
siebt nnd sich so mit dem Tode schon seit Langem gewissermassen
befreundet'), oft ruhiger in den Tod gehen, als die Protestanten, von
denen viele doroh das blosse Nahen des Geistlichen vor ihrem Tode
tief erregt werden, weshalb denn mit Beeht in allen Krankenhäusern
ärztlich darauf gesehen wird, dass ohne speciellen persdnlioben Wonseh
der Geistliche nicht fi^enifen werden darf.
Ist aber der Tod sclimerzliaft und ist er deshalb zu fürchten?
Wenn auch das leiden, das zum Tode führte, es war, so kann man
wohl mit absoluter Sicherheit sauren, dass bei einjretretener Bewusst-
losigkeit nichts mehr j^efiihlt wird, der eijren 1 1 ic h e Tod also
schmerzlos sein muss^j. Viele Analogien lassen sich dafür bei-
bringen, ebenso Aussagen von Sterbenden, die wieder einige klare
Augenblicke gewannen. Wir sahen schon, dass vor dem Tode, ja
oft meist schon vor Eintritt der lkwusstlosigkeit, die Functionen des
Körpers allmählich nachlassen, damit auch die Schmerzempfindang,
letztere allerdings oft nnr erst in der Bewosstlpsigkeit Ermüdung
ist hierbei im Spiele, noefa mehr aber die sieb anbinfende Menge
▼on Koblensftore, worauf die so hftaf ige Cyanose der Gesiebter deutet
Fkeilieb, aneb dann siebt man niebt selten noeb Sebmeizänssenuigen,
ein Qesiobtsznoken, StObnen, Sebrden, doch dürflen dies nur Aensse-
mngen rein refleetorischor Natur sein, die also die Hirnrinde, den
Sitz des eigentlicben Bewussiseins, nicbt mehr treffen. Trotz allen
Baisonnements bescbleicbt aber Viele die Todesfurcht und bei Ein-
zelnen kann sich im späteren Leben geradezu eine Art von Thanato-
phobie ausbilden, sobald sie nur an ihr Ende denken.
Wie steht es nun mit der Todesstunde bei Thieren? Wissen wir
sehon von deren Psychologie überhaupt noch sehr wenig, so haben
wir hier ein unbescbriebeneB Blatt vor uns. Prot D ex 1er (Prag)
1) In Sicilien kun der Sterbende eventuell logir aebi eigeoee Sterbe-
gUtckchcn iftuten hören!
2) Bchon Shakfspo.in' (Maas« für Iüumb) sagt sehr richtig: «Des Todee
Schmerz liegt iu der \ urstciluDg.**
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Znr Phyaio-PiTciiologle der Toctesttiuide.
805
sagte mir, dass bez. dieser Frage nur die Beobachtungen an frei leben-
den Thieren Werth hätten, nicht von demestizirten, deren Psychologie
eben eine anders geartete sei. Wir wissen nur, dass auch bei ihnen
ein Todeskampf eintreten kann. Nähere physiologisclie Daten fehlen
wohl ganz. Vielleicht bestellt liie und da eine Art Todesfurcht Wir
wissen nämlich, dass Thiere, die zur Sehlachtbank geführt werden,
sobald sie Blut riechen und die Kadaver sehen, am ganzen. Leibe
zittern und sioh dem Eintritt In das Sehkushfhant Mhr widenetzen;
offenbar wübl ans Todesforebi M erkwflidig ist die Thalsaohe^ dass
manehe Thiere, z. B. Vögel, sich, wenn sie leidend sind, absondern,
gerne m die Bfisehe n.8.w. begeben nnd dort rerboigen starben.
Daher kommt es X.B., dass Ton den Millionen nnserer Vögel so
selten emmal ein Kadayer gefunden wird. Sie sind eben venleekt!
Prof. Dexler erzählte mir ftbrigene^ dass aneb die Anstralneger sieb
snm Sleri)en in die Bllsehe begeben. Dies sei so bekannt, dass, als
er einen Weissen darob befrag, dieser ihm sagte: they all do like
tiie erows! Was die Tbiere zu dieser sonderbaren Absonderung, die
einem Tnatinkte fast gleichkommt, treibt, wissen wir nicht, ebenso
wenig, warum die meisten Thiere ihre kranken, noch mehr aber ihre
sterbenden Kameraden schnöde verlassen. Ist es ästhetischer Abschen
oder sind es etwa unangenehme Gerüche des Sterbenden? Wolt-
raann (1. c.) berichtet, dass nach G. Jäger kranke Thiere von ihres-
gleichen we^en ihrer üblen Ausdünstung in der Rc<;el instinctiv ge-
mieden, nicht selten sogar mit Gewalt fortgetrieben wurden, z. B. bei
Hühnern, Rehen. Die Affen sollen kein Mitleid mit kranken und
schwachen Thieren haben. Ob übler Geruch wirklich dabei eine
Rolle spielt, ist mir sehr fraglich. Prof. Dexler sah ein wildes Pferd
in Australien, djxs an Strahlenpilz des Kiefers litt. Die übrigen Pferde
der Heerde sehlugen es sehr bald tudt. War es das Aussehen oder
ein gewisser Geruch, das sie dazu veranlasste? Ja, der Abscheu kann
sogar soweit gehen, dass selbst die Vogelmatter ihr krankes Kleine
ans dem Neste wirft, dasselbe sogar nieht einmal wieder annehmen
will, sobald dies von einem Henseben berObrt wmde, oder, ans dem
Neste gefollen, von emer mifleidigen Hand znr&el^pebnMht ward.
Hier haben wur kein pi^ohologisehes Verständniss mehr! Manehe
Thiere besebnobem aneb ihre todten Kameraden, z. B^ Hnnde nnd
wenden sieh gewOhnlioh mit Absehen ab. Gans fthnlieh, wie viele
Thiere sich kranken nnd sterbenden Angehörigen gegenüber vec^
halten, handeln aneb manehe Wilde. Sehurtz^j z. B. ssgt: „..treiben
1) Beek, Die bldogisohen Wmnela der meneehUchen OemdiiBehalt PolU
Haeh-aathropologiaehe Bevae. 1903. IL Jahig. Nr. 2.
21»
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S06
XXL Nlcn
die Kaffem Kranke, an deren Aufkommen sie zweifeln, in's Dickicht,
damit sie dort elend zu Grunde geben. Alles was nicht normal und
deshalb i)edenklich erscheint, ist in Gefahr durch diese innere Reak-
tion ausgeschieden zu werden: Zwillinge, Albinos, Kinder, die un-
regelniässig zahnen . . Vielen Völkern gilt überdies der Todte als
unrein und muss daher möglichst schnell beerdigt werden, so z. B.
bei Arabern und Juden. Absehen vor dem entseelten Körper, Angst
Tor der Wiederkehr der entflohenen Seele, Fnreht vor der Verwesung
nnd andere MotiTe noch mögen hier dne BoDe spielen.
Es ist femer bekannti dass der Emtritt in das Leben, d. L die
.Gebnrtsstnnde, bei den meisten in den Nacfatstnnden erfolgt. Wanun?
Das wissen wir nicht nnd nvr nngentlgende Hypothesen wurden
hierüber aufgestellt Wie ateht es nun aber mit der Todesstunde?
Es sind hierüber Yersohiedene Statistiken rorhanden.. Die grOsste
(57 000 Fälle) bearbeitete Schneider in Berlin. Erfand denTod amhftn-
figsten früh zwischen 4—7 Uhr eintreten nnd damit stimmen auch die
meisten anderen überein. Auch bierfür ist es schwer einen triftigen Gnind
anzugeben. Sollte vielleicht die während der Nacht angesammelte
schlechte Luft im nngdüfteten Zimmer die Todesstunde beschleunigen?
Und so liessen sich noch eine ganze Beihe interessanter Fragen
aufwerfen.
Bisher betrachteten wir den Sterbenden selbst. Nicht ohne psy-
chologisches Interesse wäre jedoch auch das Studium dir Anwesenden.
Alle Nuancen von der Gleichgültigkeit bis zum stillen und lauten
Schmerze würden sich vorfinden, je nach der Stellung des Menschen
zum Sterbenden und je nach seiner Gemüthsbeschaffenheit. Oft wird
sich die wahre Grösse eines Menschen erst hier zeigen, und auch der
hinzugezogene Arzt wird erbaut oder entsetzt das Verhalten der
Familie beobachten. Hier will es mir gleichfalls scheinen, als ob in
den unteren Volksschichten mehr Gleichgültigkeit zur Schau getragen
würde und wahrscheinlidi auch besteht, als in den oberen.
Jedoch noch andere Folgen bei den Anwesenden sind öfters vor^
banden. Bekannt isl^ dass durch den physischoi Schmerz der Appetit
hei Vielen kürzere oder längere Zeit damiederliegt, doch kommt anch
das Entg^engesetzte vor: Termehrter, mindestens nnverminderter
Appetit^ wie ich es z. R an mir selbst wiederholt erfahren habe. Es
könnte aber weiter der heftige Affect bei Disponirten eine nervOse
Krankheit, Tielleieht allein oder im Vereine nut andern Momenten,
sogar eine Psychose erzeugen, ja selbst einmal Selbstmord nnd andere
Unthaten. So lese ich in den Dresdner Nachrichten Yom 13. Mai 1903
folgende Notiz, die wahrscheinlich hierher gehört:
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Zur Phjflio-Piyohologie der TodeBStonde.
807
„Magdeburg; (Priv.-Tel.j. Die Scliuhmachci-seliefiau Bartels erdrosselte
aus Verzweifluug über den bevorstekendeu Tud ihres Ehemaones ilir Töchter-
«hen and ertrinkta ihr Sdhnelieii in einem Eimer; darauf erhängte sie sieh
aeibat an einer Thflikfinke.''
Viele schfittetn sich noch vor Grausen, wenn sie an eine mit-
erlebte Todesstunde zurückdenken. Der heftige Eindruck kann bei
Vielen unruhige, schwere Träume erzeugen, aber scheinbar nur sehr
selten einen Traum auslösen, worin der Todte als solcher erblickt
wird. Das ist psychologisch hochinteressant ! Vor mehreren Jahten
machte U. Ellis*) wohl zuerst darauf aufmerksam^ dass wir von
todten Freunden und Verwandten überhaupt bloss sehr
selten träumen und dann fast nur als lebend, nicht als
todt. Ich kann dies aus eigener und fremder Beobachtung nur be-
stätigen, und zwar scheint ein solcher Traum unmittelbar nach dem
Tode eines Angehr>rigen noch seltener einzutreten als später. Wanim?
Schon von unseren lebenden Kam ilien gl iedern träumen
wir selten genug, was zu erklären bereits schwierig ist 2). Sind sie
aber todt, so erscheinen sie uns als lebend oder höchstens — und
das nur gegen die normale Zeit des Aufwachens hin — sind wir
erstaunt und fragen uns wohl im Traume, ob denn der Betreffende
wirklich lebe, nehmen aber schliesslich das Factum des Lebens ohne
weitere Kritik mhig hin. Einmal tziamte ioli Ton meiner Teratorbenen
Mutter als noch leibend und freute mich nnbSndig darttber, ohne aber
irgend eine kritische Frage anfauwerfen. Hier war jedoch die durch
die Tmuui'Handlung selbst als aolohe ganz nnmotivirie ttbermfiasige
iVeude achon ^e halbe^ unbewuaste Kritik gewesen. Da nun, wie
wir sagten, das Erscheinen von uns nahe stehenden Verstorbenen in
Tz&nmen überhaupt ein sehr seltenes Ereigniss ist, ao glaube ich, im
Gegensatze zu Spencer^ dass die Idee an ein anderes Leben, an
Geiater, Seelen, Gespenster, die aich aus solchen Träumen ableiten
lassen sollte, schwerlich eine starke Wurzel in dieser Erscheinung
gehabt hat
1) Haveloek Ellis, On dreaming of tfae dead. The Psychological Re-
view, isns. No. 5.
2) Sehr wahr erzählt daher G. Keller im „(Jrrinen Heinrielc* (IV. Hil. i:
nim Yeriaufo der Zeit hatte sie (sc. die Aiuttcr) . . . wiederholt, aber immer uur
' nach jahrelangen ünterbreohanKen vom Vtter getrlwnt, vieUeidit 2- oder 8 mal,
gleichsam zum Wahrzdohcn, wie selten solche geheimnissvolle LichtbHckc tiefsten
Glückes vergönnt siml." Ks wird dann beselirirben, wie sie ihn lebend als Ab-
schied winkenden Wanderer sielit, was sie sehr traaripr stimmte. Hier sehen wir
ein leises, aber deutliches Eriuueru au den Tod sich geltend machen.
S) CoUinB, ^itome der Speocer'sohen Philosophie, üebenetzt von
y. Ganae. Neomami, Ldpslg 1900.
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808 XXL Häckm, Zur PbyauhPtycfaologie der TodeMtonde.
Spencer spricht allerdings nur von Erscheinen der ^Verstor-
benen in Träumen'^, spricht sich also über deren Verwandtschafts-
beziehungen nicht aus, während Wundt ') nur von todten „Genossen"
spricht, also sicher auch Kameraden, Freunde darunter versteht und
chnin den üispmng des sogenannten „Animismiis* aieht Aber aneh
nur BVennde oder Bekannt^ die geetorbea sind, erBchemen meiner
EifaliruDg nach eeHen genug im Tiaome und swar fast mir lebend.
Also anch sie können keine sehr grosse Bolle spielen. Um so mebr
trgnmen wir von Lebenden. Nun ist allerdings sweierlei meht zn
yergessen. Bratens, dass wenn ein Wilder einmal von einem todten
Verwandten oder Genossen als lebend träumt» dies auf ihn einen ent-
schieden tieferen Emdmek maohen muss, als auf uns> wie wir dies
ja schon bei unseren ungebildeten Kreisen sehen. Zweitens wird viel-
leicht cet. par. der Wilde relativ häufiger Ton ihnen tiSnmen als wir,
da sein ganzer Vorstellungsinhalt dem unserigen gegenüber ja recht
annselig ist, die Wahrscheinlichkeit, dass das eine oder andere Ele-
ment daraus im Traume wiederkehrt, also eine grossere ist, als bei
uns. Spencer und Wundt haben offenbar die oben angezogenen
Sätze der Traumpsychologie nicht gekannt und so diese Wurzel des
Animismus gewiss überschätzt.
Der Leser wird sich hoffentlich davon Uberzeugt haben, dass
auch unser engeres Thema sehr reich an physiologischen und psycho-
logischen Thatsachen ist, noch mehr freilich an Problemen, von denen
nur einige hier gezeichnet werden konnten. Er wird femer gemerkt
haben, dass Verf. eine reiche, eigene Erfahrung mitsprechen Hess.
Dies sind allerdings aber alles nur rohe Bausteine! Wir müssen noch
viel mehr und besser auch hier beobachten lernen, alles aufzeichnen
um statistische Erhebungen zu gewinnen, die allein über die Häufig-
keit der dnzdnen Sympttmie Bedmnng ablege und so allein uns
ein wahres Bild liefern könn^. Wo es möglich ist, haben wir an
messen, zu wfigen, GurFen zu oonstruiren, Zahlen beizubringen. Dann
erst stehen wir auf festem Grund und Boden und sind nieht blosse
Empiriker, wie jetzt Fieilieh wnd es uns sieher nidit gelingen, mit
obigen Mitteln an alle p^ydiologischen IWigen heranzugehen, ge-
sohweige denn an metaphysisefae, aber Vieles werden wir doch so
verarbeiten können. Aus blossen „Anecdoten-Jägem'', ^Eindmoka-
Menschen*^ werden wir dann erat zu wirklieh vrissensehaltliehen For>
Schern werden.
1) Wundt, Gmadiln d«r Peychologie. 8. Aufl. Engelmami, LtipagiSW.
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xxn.
Die Yerfolgmig flüehtiger Verbreeher.
Yott
Lcndriebter BMunoMor in Zwidnn.
Bei den ziemlich oft TOikommenden Anzeigeii, in denen der Be>
gehvldigte als flüchtig bezeichnet wird, lassen die Strafveifolgungt*
bebOrden regelmässig es beimAiMacbreibendes Beschuldigten bewenden
ohne erst durch Erörterungen klarznateU^, ob die Besch uldiprung in
thatsächlicher Beziehung überhaupt ausreichend begründet ist
Da fast die Hälfte aller Untersuchungen erfahrungsgcmäss zur
Einstellung des Verfahrens füljrt, hat die ohne Nachprüfung der in
der Anzeige berichteten Thatsachen erfolgte Ausschreibung des Be-
schuldigten in einer nicht geringen Anzahl von Fällen zur Folge,
dass der auf Grund des Ausschreibens festgenoniniene und zur Haft
gebrachte Beschuldigte in ihr bleibt, bis durch die dann erst in An-
griff genommenen Erörterungen seine Unschuld dargethan worden
ist oder es sich ergeben hat, dass der Schuldbeweis wider ihn nicht
geführt werden kann.
Die VerbaftuDg nnd damit eine längere Dauer der Freiheil»-
enteiefanng kann ja nnn allerdings nur reifttgt werden dnroh den
nitindigeQ Richter. Da aber in eiaseben BondeeBlaalen auf Grand
landeegeeetalieher VorBebriften anch die noch im Vorbereitongadieoite
stehenden Jnisten mit der Wahinehmnng liehteitieher Geschifte be-
anftnigt werden können nnd von diesem Beehte von den Jnslisyer-
wa3tnng8beh9iden anch in weitem Um&nge Gebranch gemacht wird^
so ist thalsichlich die Entsehlieasang über den Erlass Ton Haft-
befehlen in sehr yielen FSllen in die Hfinde Fon Beamten gelegt, die
noch nicht dnrch Ablegnng der Bichterprttfnng den Nachweis ihrer
ausreichenden Befähigung zn diesem Amte erbracht haben. Denn
entweder haben jene Beamten wegen ihrer Jugend noch nicht die
dnroh lingeren Dienst erworbene Erfahrung oder sie gehören zu denen»
die zwar schon älter sind, aber trotzdem der Biehterprfifnng sieh
noch nicht mit Erfolg unterzogen haben.
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310
XXIL Hausbiixb
Die durch diese Verwendunjr von liefcrendaren ganz «nvcrmeid-
lichcn Missgriffe bei ricliteriiciien Eutscliliessungen werden nun zwar
manchmal dadurch vermieden, dass ein älterer richterlicher Beamter
sich den Fall vortragen lässt und sich die fintschliessnng wegen dee
Erlasses von Haftbefehl vorbehslt. Wer aber keiii richtiges Urtheil
hat, kann auch keinen richtigen Vortmg halten, denn er kann eben
nicht benrtheilen, was wesentlich, was unwesentlich ist. Es werden
deshalb auch trotz eines Vortrag« an einen älteren Richter bei solcher
Verwendung der noch im Vorberettnngsdienste stehenden Juristen aige
MisBgriffe mit unterlaufen müssen. .
Ich selbst erinnere mich eines Haftbefehls, der wegen des Ver-
dachts des Versuchs der widernatürlichen Unzucht von einem noch
im Vorbereitungsdienste stellenden richterlichen Beamten erlassen
worden war. Unkenntniss des Gesetzes kann aber dem Beschuldig-
ten, der von einem noch nicht genügend befähigten Richter yemommen
wird, auch dadurch gefährlich werden, dass der Richter aus Unkennt-
niss des Strafprozesses von der sofortigen Erhebung der die Unschuld
des Beschuldigten dartlnienden Beweise absieht.
Die grösste (iefalir lie^M jedoch darin, dass ein solcher unfähiger
Beamter die Wichtigkeit der vom Hesclmldi^itt n zu seiner Vertheidigung
vorgebrachten Thatsachen nicht ausreichend erkennt und d<'shalb nicht
in das über seine Vernehmung abzufassende Protokoll mit aufnimmt
Den Uebelstäuden, die durch Verwendung von noch im Vorbereitung»-
dieuste stehenden Juristen bei einer so wichtigen Untersuchungshand-
lung wie der Vernehmung und Entschliessung wegen Verhaftung des
Beschuldigten entstehen müssen, kann nur durch die Justizverwaltungs-
behSrden oder aber im Wege des Gesetzes abgeholfen werden. Beides
steht aber wegen der Kosten, die durch die damit notfawendig wer-
dende Vermehrung Ton Bichtem erwachsen mUssen, in absehbarer
Zeit nicht zu erwarten.
Um so dringender eigiebt sich aus dem bestehenden Zustande
fttr die StrafverfolgnngshehSrden die Pflicht, mSglichst vor dem Er-
lasse von Ausschreiben Erörterungen darQber anzustellen, ob der in
der Anzeige geäusserte Verdacht auch wirklich thatsSchlich begründet
ist. Selbst wenn durch die Erörterungen solches dariretlian worden
ist, ist gleichwohl in zahlreichen Fällen noch nicht der Fluchtverdacht
begründet und ist deshalb auch ein Ausschreiben des Beschuldigten
noch nicht jrerechtfertiirt, denn die Thatsache der Abwesenheit des
Beschuldigten braucht durchaus noch nicht als Flucht vor drohender
Strafverfolgung ausgelegt zu werden.
£s kommen zahlreiche Fälle vor, wo nicht die Flucht zum Zwecke
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Die VerfoigoQg flOdttiger Verbrecher.
811
der Vereitelung der Strafverfolgung, sondern ganz andere Umstände
einen Wechsel des Aufenthalts des Beschuldigten veranlasst haben.
Es erscheint deshalb durchaus geboten, dass die Straf verfolgungsbe-
hörden, ehe sie das Ausschreiben des Beschuldigten verfügen, zunächst
alles vmiohen, um den Aufenthalt des Beeebnldigten mit anderen
Mitteln m «rfonohen. Welche Mittel dazu geeignet siad, soll im
Folgenden dargelegt werden:
Wohl jede Anzeige enihftlt Angaben Aber die Person, den Ge-
burtsort und den Geburtstag des Beschuldigten. Fehlen sie in ihri
so sind sie regehnissig leicht durch Erkundigung bei der Polizei'
behörde des letzten Aufenthalfsoits in Erfahrung zu bringeo. Die
Kenntnias des vollen Namens» des Geburtstages und des Geburtsorts
des Beschuldigten giebt nun auch Klarheit darüber, ob der Beschul*
digte sieh im niilitärpflichtigeu Alter befindet. Ist das der Fall, steht
der Beschuldigte im Alter von 20 bis za 39 Jahren, und das ist die
Mehrzahl aller männlichen Beschuldigten, so muss über sein Militär-
verhältniss entschieden sein. Es empfiehlt sich deshalb in solchen
Fällen an die Polizeibehörde des letzten Aufenthalts die Anfrage zu
richten, was dort über die Militärverhältnis.se des Beschuldigten be-
kannt ist. Sehr oft kennen die Polizeibehörden die Militärverhältnisse
sehr genau, weil der Militärpass viel zur Lejritiniation hei der polizei-
liehen Anmeldung benutzt wird und s(»lchL>s in den polizeilichen Unter-
lagen über die erfolgte Anmeldung vermerkt worden ist. Kann die
Polizeibehörde aber die erbetene Auskunft nicht geben, so kann sie
doch wenigstens durch Er('>rteningen leieiit in Erfahrung bringen, ob
der Beschuldigte Soldat war oder nicht und als was er gedient hat.
Ist aber so über das Militärverhältniss des Beschuldigten Genügendes
in Eiftihrang gebracht worden, so braucht bloss das für den letzten
Aufenthaltsort zustän^ge Bezirkskommando unter Bezugnahme auf
die über die MilitirrerhSltnisse des Beschuldigten ermittelten That-
sachen um Auskunft fiber den Aufenthalt des Beschuldigten ersucht
werden und in neunzig you hundert Fällen bringt man ihn dadurch
in Erfohmng.
Es stellt der miÜtirisohea Endehung ein gllnzendes Zengniss aus,
dass mit yerschwindenden Ausnahmen die Vorschriften der militSrischen
Controlle, denen die Personen des Beurlaubtenstandes unterworfen
sind, insbesondere die Meldung des Aufenthaltsortes! von ihnen be-
folgt werden.
Kommt aber wider Erwarten vom Bezirkscomroando die Auskunft
zurück, dass der Aufenthalt des Beschuldigten dort unbekannt sei,
oder ergiebt die Antwort der Militärbehörde, dass sie über den wahren
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812
XML ÜAuaumt
Aufenthalt des Gesuchten falsch unterrichtet sein muss, so empfiehlt
es sich, in etwa einem Monate und dann in gewissen Zwischenräumen
wiederholt Nachfrage zu halten. Sind auch diese Nachfragen ergebniss-
los, 80 ist es lathsam, in der Zeit vor den im April oder November
alQSbifieh absahaltenden Oontrolversammlungen der Militärbehörde
anziueigen , dafls der Besohiüdigte gesucht weide. Da die MihOr-
behOrde diese Controlvenammlungen aneb tat ErmittelaDg der Per-
sonal benuMy die sich ihrer Cootrole entaiehen» indem sie an die zur
Gontrole Tcrsammelten Mannschaften die allgemeine Frage richtet^ ob
der Aufenthalt dieses oder jenes Besenristen oder Landwehimaanes
etwa bekannt sei| so wird nicht selten dnrch Mheie Arbeitsgenossen
oder Eamoaden des Gesachten dessen Aufenthalt bei der Gelegen-
heit gemeldet
Igt aber mit Hülfe der Militärbehörde der Aufenthalt des Beschul-
digten nicht in Erfahrung zu bringen oder steht er Oberhaupt in keinem
MililSrverhältnissey so ermöglicht doch die Kenntniss seines Namens,
seines Geburtstags und seines Geburtsorts die Herbeiziehung der
Strafliste. Ans ihr ersieht man, ob der Beschuldigte vorbestraft ist
oder nicht. In der Mehrzalil der Fälle liefi:en Vorstrafen vor. Dann
zieht man auf Gnmd der in der Strafliste angegebenen Actenzeichen
von den dort benannten Behörden die letzten oder nach Befinden
auch mehr gegen den Beschuldifrten ergangene Acten herbei. Sie
liefern regelmässig ein klares Bild der gesanimten persönlichen Ver-
hältnisse des Beschuldigten. Ergeben sie, dajss seine Eltern noch leben,
so richtet man an die Polizeibehörde des Geburtsorts, oder aber, da-
fem in den Acten sogar der Aufenthalt der Eltern bekannt ist, an
dessen Polizeibehörde daa Ersuchen, bei den Eltern des Beschuldigten
nach ihm forschen zu lassen. Sehr oft erfährt man dadurch, wo der
Beschuldigte weilt oder aber doch, ob sein Auftothalt den Ekern
nur TorftbergehtAd oder aber seit Uageier Zeit unbekannt ist FsUs
dor Beschuldigte nur seit kOraerer Zeit seinen Eltern Uber sei en Ver-
bleib kerne Auskunft hat ankommen lasseii| empfiehlt es sich in einigen
Wochen und besonders an den Zeiten nachfragen zu lassen, wo an-
nehmbar jeder sich des Eltemhausea erinnert Solche Zeitpunkte sind
▼or allem das Weihnachtsfes^ Ostern und Keigahr. Auf gleichem
Wege kann, dafem die Eltern des Beschnidigten bereits imtorben
sein sollten, durch Vermittelung der Polizeibehörde der Aufenthalt
der Geschwister des Beschuldigten und bei denen nach ihm selber
gefoiBcht werden. Ergeben die Voracten, dass der Beschuldigte einen
Vormund haben muss, so kann bei ihm oder beim Vormundschafts-
gerichte sehr oft der Aufenthalt des Beschuldigten in Erfahrung ge-
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IMe Verf olgnir flttdil^^ VeriwedMr.
818
bracht werden. Erhellt aus der Strafliste, dass der Beschuldigte mehr-
fach und längere Freiheitsstrafen verbüsst hat, so zieht man die Acten
der Strafanstalten herbei, die die Freiheitsstrafen vollstreckt haben.
Da wohl nur äusserst selten ein Gefangener Monate oder Jahre lang
ohne jede Beziehung zur Aussenwelt bleibt und die während der
Gefangenschaft an ihn gekommenen Briefe bei den Anstaltsacten ver-
wahrt werden, kann man aus ihnen entnehmen, zu wem der Beschul-
digte BezieboDgen unterhält Bei diesen Personen Ifiast man durch
die PofiiälidiSide dmIi laiiem AvfcntiMlte ftnsdien. Aus der Stnf-
ligle des Betehnldigtan eiriebt man wäter aber aneh, ob er Bettler
oder lasdBlnieher ist In wlehem FaUe ist Ton den bisher empfohlenen
Mitteln kein Erfolg zn erwarten. Dann mnss neben der Steekbriel^
naehiieht auch Anssehieiben eriiwen weiden. Entere ist in solchem
lUIe nm desswillen sehr scbiteenswerth, weO ein Bettler oder Laad-
Blieidier in der Bogel imd oft rttohlUlig wird nnd seine Strafiiste
wegen der wegen des Betteins m Fmge kommenden Ueberweisung
zumeist yon der diese Üebertretung verfolgenden Behörde herfoeige-
zogen wird, wobei dann auch die Steckbriefsnachridit Erfolg hat
Zeigt die Strafliste aber, dass der Beschuldigte auch wegen Gebrauchs
falscher Papiere verurtheilt worden ist, so ist wenig Aussicht vorhanden»
ihn mit den bisher mitgetheilten Mitteln zu erlangen. Immerhin müssen
sie in wichtigen Fällen versucht werden nnd darf besonders Folgendes
nicht verabsäumt werden:
Erlass der Steckbriefsnachricht.
Ausschreiben mit dem Hinweise, dass der Beschuldigte auch
falsche Papiere benutzt, und Durchsicht sämmtlicher gegen ihn er-
gangener Acten der Gerichts- und Polizeibehörden. I^'tztere findet
man theils aus der Strafliste, theils aus den Gerichts-, theils aus An-
staltsacten. Sie verrathen regelmässig, mit welcher Art gefälschter Pa-
piere der Beschuldigte sich auszurüsten pflegt und ob er bestimmte
falsche Namen zu wählen pflegt, was merkwürdiger Weise recht oft
der Fall ist Oft aber macht man in den Polizeiacten Entdeckungen,
^ ohne Wdteree znr Ermittelung des Besehuldigten führen. So
habe ich i. B. ans ihnen den Namen der Goneobine des Besdnik
digten nnd durch sie dessen Anfenthalt, oder durch den Besehuldigten
betreffende Anfragen oder Ersuchen answSrtiger Behörden seinen
Aufenthalt in Eifidirung gebracht Wenn der Beschuldigte s. B. auf
der Wanderschaft erkrankt und der öff entlicfaea Fürsorge zur Last
flült, entwiekdt sich rcgdmissig wegen des KoBtenpunktes ein von
den PoliieibehSrden des Aufenthaltsorts des Beschuldigten ausgehender,
die Ermittelung des Unterstaizungswohnsitzes bezweckender Schriften*
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814
XXli. ÜAussinDi
weeliBeL Gerichts-, Folisei- und Anstattaaeten geben aber aneh oft
AitBkaiift ftber aus der Toifiegenden Anzeige nieht m entaebniende
kOrperiiohe MSogel oder besondere Erkennnngsseiehen des Beschnl-
digten, die, wenn schliesslich sein Ansschreiben doch nicht umgangen
werden kann, doch wenigstens geeignet sind, seine Eigrafnng zn
erieichtem, indem man im Ansschreiben ihrer S^fihnnng thni öfters
findet man in den Yoracten aneh Bilder des Beeohnldigten, die man
dnem schliesslich zn erlassenden Steckbriefe beifügen kann. Bedarf
man eines Bildes, so kann man zunächst versuchen, es von den An-
gehörigen zu erlangen. Gelingt das nicht und ist oder war der
Beschuldigte verheirathet, so kann man nach £miittelnng der Eltern
der Frau und des Orts der Trauung durch sie in sehr vielen Fällen
am Orte der Trauung ein l^iUl des Gesuchten durch die PoHzei-
hehörde von dem Photo^'raplien herbeiziehen lassen, bei dem die
Neuvermählten seiner Zeit sich liaben aufnehmen hissen. Bilder solcher
Personen, die noch nicht lange vom Mihtär entlassen sind, erlangt
man mit Hülfe ihres früheren Feldwebels, der leicht zu ermitteln ist,
sobald man die Militärverhältnisse des Beschuldigten in Erfahrung
gebracht hat. Regelmässig lassen sich nämlich die aus dem activen
Militär Verhältnisse Ausscheidenden vorher gemeinsam pliotographiren
und aus solchem Gruppenbilde lässt sich leicht eine Figur vergrüssern.
Wer nach Ausweis über ihn ergangener Voracten Empfänger
regelmässiger Leistungen ist, kann bei ihrer Erhebung erlangt
werden. —
Bei Weibern, die gesucht werden, geben- nicht selten die Vorscten
Auskunft, dass sie gdboren haben und wo ihr Kind wdlt oder wo
Uber dessen Aufenfbalt etwas zu afohren isL Ist er bekannt, dann
ist damit sehr oft auch die Mutter ermittelt Diese lelzterwfihnten
Httlfsmittel werden sich allerdings nur dann empfehlen, wenn die
Wichtigkdt der Sache das erheischL
Anfrage bd der Militärbehörde^ Herbeiziehung der Stnfliste und
Prüfung etwaiger Voracten dürften aber in kdnem Falle, wo der
Aufenthalt eines Beschuldigten unbekannt ist, unterbleiben. Die da-
durch verursachte Mühe ist gering. Viel grösser wird die Mühe, die
erwächst durch Feststellung des objectiven Thatbestandes und die
weitere Strafverfolgung nach Ermittelung des Aufenthalts des Be-
schuldigten. Sie darf aber nicht gescheut werden, denn das an vielen
Stellen geül)te Verfahren der alsbaldigen Beilegung der Anzeige „wegen
Abwesenheit des Beschuldigten" nach Aussclireibung des Beschuldigten
erschwert zum Mindesten die Verfolgung strafbarer Handlungen, weil
nach Ermittelung des Beschuldigten also oft eist nach längerer Zeit
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Die yerfolgmig flllclitifer Veibncher.
315
angestellte Erörterangen natürlich keine so zutreilenden ErgebniBse
liefern können, wie alsbald vorgenommene.
Es hat aber auch dieses Verfahren den weiteren ganz ausser-
ordentlichen Nacbtheil, dass es die Fahndungsblätter mit Ausschreiben
überlastet und damit in den Fällen, wo das Ausschreiben als letztes
Tlülfsmittel gewählt werden muss, den Fahndungsbehörden ihre Auf-
gabe erschwert. Denn wenn ihre Aufmerksamkeit auf U)(\ oder 200
Personen gelenkt wird statt auf 50, müssen sie ihren Eifer und ihre
Zeit zersplittern, statt ihn besser und deshalb annehmbar auch mit
grösserem Erfolge den gesuchten 50 Pefsonen widmen zu können.
Endlieh aber, und das ist der allerwiehtigste Grand, der aOem selion
die BekSmpfung jenes Yei&bTens reebtfertigt, wird die Gefalir er-
bebfich verringert y daas grandios Besoliiildigle eine UnterBaohongs-
hafl erleiden, nor um deswiHen, weil die StnfverfolgungsbehSrde
das Aosschieiben des Besehaldigten verfOgt hat, ohne klaizastdlen;
ob die in der Anzeige behanpteten Thatsaehen aneh zatieffmid sind
nnd ob llberhanpt die Thataaehe der Abwesenhot des Bescholdigten
den Verdacht seiner Flucht rechtfertigt Würde zam Mindesten in
jedem Falle, wo der Beschnldigte in der Anzeige als abwesend ge-
meldet wird /wenigstens seine Strafliste herbeigezogen, so könnte es
auch nicht vorkommen, dass, was nicht allzu selten geschieht, der
Amtsanwalt irrthümlioh sich für zuständig hält and die endgültige
Beilegung der Anzeige wegen Verjähmng verfügt, obschou die Vor-
aussetzungen des Rückfalls gegeben sind und Verjährung deshalb
noch gar nicht in FiagQ kommt
Digitizeo by Goü^lt;
xxm.
Zur Statistik der SittUchkeltgTerbredien.
Ton
MedldBAlrath Dr. KatthMB in HabortoBbuig.
WfthieDd meiner Mheren Th&tigkeit ab Amt an der growen Straf-
aaatalt (Minnersnehtfasos) in WaMheim habe ich ee yersucht, die
wegen Sittlielikeiteverbredien Vemrtheilten einer eingehenden Unter-
sw^nng zu unterwerfen. Leider and mir. von den damals ge-
sammelten Notizen viele verloren gegangen, nnd wenn ich midi
dennoch entachloBsen habe, die noofa vorhandene Tabelle zn be-
arbeiten und zu veröffentlichen, 80 geschieht dies auf Bath von be-
rufener, befreundeter Seite, welche der Meinung ist, das8 auch ein
Torso im Stande ist, Bausteine zum Gebäude der Kriminalpsycho-
logie und -Antliropolofrie zu liefern, eine Ansicht, welcher ich mich
nicht verschliessen konnte. Es ist nicht versucht worden, irgendwelche
Schlüsse aus dem vorhandenen Material zu ziehen, da dasselbe keinen
Ansprach auf Vollständigkeit machen kann und die Fragen, welche
bei einer derartigen Untersuchung sich aufdrängen, nicht erschöpfend
behandelt werden konnten.
Die Tabelle umfasst 53 Verurtbeilte männlichen Geschlechtes, von
diesen waren
Am hänfigsten waren also nach meinen Zahlen die Verbreeher im
Alter vom 21, — 50. Leben^ahre, n&nlich mit je 26,4 Froo.
Dem CiTilstande nach waren ledig 25 » 47,1 Proz., verheiratfaefc
20 »- 37,7 Proc^ verwitfcwet 3 5,7 Proe^ geschieden 4 — 7,5 Proe^
unbekannt waren die FamilienverhältniBse bei 1 = 2,0 Proc.
Von den Verheiratheten, Verwittweten nnd Geschiedenen hatten
im Alter bis mit 20 Jahren
2
14
14
14
8
1
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Zar Statistik der 8ittlic]ikflitBverbi«ebe&.
817
16 Kinder, von den I-edigen einer 1 Kind, die Uebrigen waren
kinderlos. Ihrem Berufe nach stammten aus dem Lehrerstand 1,
Handarbeiter, Tagelöhner, Tagearbeiter, Dienstknecht waren 13,
Schreiber, Agent je I, Strumpfwirker 7, Seiler 1, Restaurateur, Kellner
je 1, Bäckermeister 2, Nachtwächter 1, Schuhmachers, Webermeister
2, Barbier 1, Kfiflereibesitzer 1, Marktbelfer 1, Eisenhobler 1, Holz-
puloffetmadier i, Dnhtadiflr, Hadenttunmier je 1, Schneider,
Tiflohleff| Poaamentirer je 1, Maurer 1, Mnnker, Marionetteiispieler
je 1, Glasmaler, Handebmaim je 1, WeiehensteUer 1, ArmeobäiiBler,
PriTatier je 1, Beruf anbekainit bei 1. Von diesen allen kennen wir
annehmen, dass ihre Bildung, mit Ausnahme der des Lehrers, kdne
höhere war and dass nnr der Privatier nnd vielleieht die beiden
B&okermeister sieh in besseren VerbSltnissen befanden. Leider ist
darüber nichts Näheres angegeben.
Vielleicht war es anch richtig, mit der Möglichkeit zu rechnen,
dass sich der oder jener von den Verheiratheten m dem Sittlichkeits-'
verbrechen binreissen Hess, weil der Gesundheitszustand seiner £hefran
ihm die normale Befriedigung des Geschlechtstriebes nicht gestattete^
so zwar, dass das Versagen der normalen sexuellen Tbätigkeit ge-
wissermaassen zu einer explosiven Entladung in den nnzüchtigen
Handhinjiren mit Anderen führte. In Erwägung dieses wurde, so weit
es geschehen konnte, nach dem Gesundheitszustande der Ehefrau ge-
forscht, aber es fand sich nur ein Mal in den 20 Fällen verheiratheter
Verurtheilter eine Erkrankung der Eiiefrau angegeben und zwar Vor-
fall der Gebärmutter. Der Betreffende war wegen Unzucht mit Mäd-
chen unter 1 \ Jahren im Zuchthause, auch bereits wegen unzüchtiger
Handlungen mit der eigenen Pflegetochter mit Gefängniss vorbestraft.
Von Wichtigkeit wäre es auch gewesen, zu erfahren, ob in einzelnen
Ffäka die Eh^u filter war .als der Mann, da man dann a priori
hStte annehmen kdnnen, dass ach der Bebe^nde im bejahenden
lUle leichter au dem Ezcesse resp. Verbredien yerleiten lieea. Be-
dauerlicher Weise finden sich darüber keine Angaben in der lM»eUe.
Die Art des Verbrechens war folgende:
veiBUchte Nothsueht allem 4 Mal
Tersachte Kothsncht und Unsucht mit Hfldcben unter 14 Jahren 1 Mal
Mord, Nothzucht und Unzucht 1 Mal
Blutschande 3 Mal
vollendete Nothzucht allein 4 Mal
vollendete Nothzucht und Unzacht mit Mädchen unter 14 Jahren 3 Mal
Unzucht mit Knaben 1 Mal
Unsncht mit Mädchen unter 14 Jahren 36 Mal.
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818
XXUL Matthaes
Was das Vorleben der Bestraften anbelangt, so war in der
Tabelle, wie folgt, notirt: nicht vorbestraft waren 15 = 2S,:i I'roc.
die übri^^en :iS «= 71,7 Proc, meiner Fälle, batten bereits Bekannt-
schaft mit dem Strafgesetz gemacht, und zwar waren bestraft wegen
Diebstahls 19, wegen Diebstahls und Unzucht .3, wegen Diebstablb und
ünzncbtsrennclis I , w egen Unzucht 5, wegen Unzucht und Uebertretung 1 ,
wegen Uebertretung und RnheitOrnng 1, wegen Betteins und Vagirens 2,
wegen Körpenrerietznng 1, wegen Goneabinat 1, wegen Unterschlagung
% wegen fieleidigiing 1, wegen nnbelngten BiBimtweüiBeluuikes 1.
Hervorgehoben ist, dass 11 »28,9 Proo. bereits wogen Sittüohkeils-
yerbreehen Torbestaift waren.
Ueber Art der Verbrechen nnd Alter der Verbiecber giebfr nach-
stehende Tabelle Anftchlnss:
Im Alter
unter
20J.
Versuchte Notlizuolit . . .
Venuchte Nothzucht a. Un-
zucht m. Mldeban nntU J.
Moni, T^nznchtdndNoÜlsncht
Blutschande
Vollendete Nothzncht . . .
Vollpjulete Notlizuclit u. Un
zucht m.Miidclun imt. 14 J.
Unzucht mit Knaben . . .
Unzucht mit Mfidchcn unter
14 Jahren
Sa.:
1
2
11
2
l
0
14
2
1
10
14
Jahren
51-60
61— TO
Summa
1
4
t
l
S
4
MM
1
1
1
3
1
5
86
1 8
l
^58
In der Stadt lebten 30 = 56,6 Froc., auf dem Lande 22 — » 41,5,
unbekannt war die Herkunft bei 1 V^erurtheiiten.
Uebermässifcer, gewohnheitsgemässer Schnapsgenuss wurde nur
in 3 IlUlen zugegeben, und zur Zeit der Tbat wollte nnr einer be-
tranken gewesen sein, mfiasigem Sohnapsgennss waren 5 «geben,
nnd man wird sicher nicht fehl gehen, wenn man auch bei den
Uebrigen gewohnheitamSssigen Alkoholgennss annimmt, jedenfiüls ist
von einer Abstinenz nichts bemerkt worden.
Die p^chische Beschaffenheit der Untersnchten war in den
meisten Fällen eine normale, als „schwachsinnig'', anf „niedrigem
geistigen Niveau stehend", „sehr beschränkt" finde ich im Ganzen
nnr 3 angegeben, ?on einem über 61 Jahre alten Verurtheilten wird
direct gesagt, dass er an senilem Blödsinn leide, einer wird als
Quaerulant bezeichnet, einer als äusserst sinnlicher Mensch. Viel an
Kopfschmerzen gelitten hatten 2. Psychologisch interessant ist auch
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Zur Statiidk der SittHdikeiteverbreolien.
819
die Bemerkung:, dass einer die eijrene Ehefrau zur Anzeigre veranlasste
mit der Begründongi er hätte sonst keine Hube mehr und müsse es
dann selbst thun.
Abweichun^an auf körperlichem Gebiete fanden sich folgende
vor: Asymmetrie der Gesiclitshälften in 5 Fällen, progrenäer Schädel
in 1 Fall, Kurzsiulitigkeit in 5 Fällen, Femsichtigkeit in 3 Fällen,
Schwerhörigkeit in 3 Fällen, Lungenemphysem in 2 Fällen, Herz-
erweiterung in 2 Fällen, Herzfehler (ohne nähere Angabe) in 1 Falle,
LeistenbrOche in 4 FSllen, Yaricooele In 1 Falle, Hambeschwerden in
1 lUle, Phimoos in t F^e nnd ünteraefaeokelgeBchwflie in 1 Fall
8 Mai waren also kiankhafle Yeiinderangen in der Nfthe der GenUal*
Sphäre resp. an dieser selbst rorlianden, welche TieUeieht reisend anf
die Geedileehtatheile in einzelnen IlQlen eingewiriLt haben kannten.
Soweit reidien meine AnEniohnnngen, sie sind Ifickenhaft, dienen
aber vielleioht dazn, zn weiteren nnd erschöpfenderen Untennohnngen
anzuregen.
InÜT fBr KrinlBabuittiopolaglt. ZU. 22
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I
XXIV.
Ein abschenlicber Fall.
Der Waaenineister Ignaz Bauer ' ) in Neudorf zeigrte im Ver-
kehre mit BeineD Mitbürgern ein sUssliclies Wesen, er stand aber im
Bufe, gegen seine g:utmüthige, etwas geistesbescbränkte Ehefrau Marie
die äusserstc Kohheit an den Tag zu legren. Im Sonnner des
Jahres 1902 verbreitete sich in Neudorf das Oerücht, dass lijnaz
Bauer jrejren seine Eliefrau Handlungen vorgenommen liahc, die von
einer kauTn auszudenkenden sittlichen Verwilderung zeugen; das Ge-
rücht fand (ilauhen und veranlasste die Einschreitung eines Straf-
verfahrens ^'egen Ignaz Hauer. In diesem Verfahren wurden folgende
Thatsachen für erwiesen erachtet :
„Ignaz Bauer le^^te an einem nicht mehr näher festzustellenden
Tage des Jahres 1901 in seiner Wohnstube seine Ehefrau zu Boden,
hob ihre Köcke und ihr Hemd hinauf und suchte den in der Stube
anwesenden, einem Nachbarn gehörigen Hühnerhund mllniiüelien
Gesebleohts so auf die Frau binzuriohten, dass der Hnnd die Frau
geachleobtlieh gebrauchen könne. Da es dem Hunde nicht gelang,
an die liegende Frau heranzukommen, führte Ignaz Bauer die Frau
in das an die Wohnstube anstossende Schlafzimmer, lehnte sie an
ein Bett, entblösste ihren Unterleib und legte wieder den Hund an
sie hin. Die Flau weinte und bat, ihr eine solche Schmach nicht
anzutbun, versuchte auch sich zu wehren, aber Ignaz Bauer drohte
ihr mit Schlägen und hielt sie fest, so dass sie sich fügte. Der Hund
merkte anfänglich nicht, was Ignaz Bauer mit ihm wolle. Dieser
ergriff daher das männliche Glied des Thieres und führte es in die
Scheide der Frau ein. Nun erfasste das Thier, worum es sich handle,
und begann an der Frau den Geschlechtstrieb zu befriedigen, es
machte sieh an der Frau mehrere Minuten lang zu schaffen. Ignaz
Bauer stand wälireud dieses Vorgangs dabei, hielt seme Ehefrau fest
1) Die Namen sind fingirt.
Digitizcü L-y CjOO^Ic
Ein ftbadieulicher Fall.
821
und sah der Sache zu. lu der Folgezeit Hess I*^naz Bauer noch etwa
fünf bis sechs Mal den Hund die j,'leichen Handlungen an seiner Ehe-
frau vornehmen. Diese suchte jedes Mal sich zu wehren, galt sicli aber
schliesslich auf die Drohungen ihres Mannes, er schlage sie, wenn
sie sieh nicht still verhalte, zu den Unzuchtsluuullungen her, weü sie
glaubte, dass ihr ein weiterer Widerstand doch nichts nütze
Der Hühnerhund nahm — nach Wahrnehmung von Leuten, die ihn
beobachteten, — um die Zeit, in die die Handlungen des Bauer gegen
seine Ehefrau fielen, — die Gewohnheit an, dass er sich mit anderen
Hunden nicht abgab, auch nicht mit den vier Hunden Bauers, unter
denen eine HflbidtB war.*^
Eb ist mit Sieberheit nicht festzustellen, ob Ignaz Bauer ans nn-
sSglicber Bohbeit und Bosbeit oder zum Zwecke der Befriedigung
seiner Sinneninst bandelte. Das abnrtbdlende Geriebt neigte zu der
Anscbannng, dass das letztere der Fall ist Die Frage kann nne^
Srtert bleiben, ob der Pangrapb des Strafgesetzbuchs, anf Grund
dessen das Gericht eine Strafe gegen Bauer aussprach, anf den für
erwiesen erachteten Saeh?erhalt richtig angewendet wurde. Diese
Frage ist eine juristisch -technische; sie entbehrt des allgemeineren
Interesses, weil wohl gehofft werden darf, dass ein ähnlicher Straf-
fall nicht so bald wieder ein Gericht beschäftigen wird. Der Einsender
glaubte aber den Lesern des Archivs den abgeurtheilten Fall deshalb
nicht vorenthalten zu sollen, weil er ein neuer Beweis dafür /u st in
scheint, dass sich auf dem Gebiete der menschlichen Verirningen
Dinge ereignen können, die man fast für undenkbar halten möchte').
— Der Umstand, dass das Geschlechtsleben des fraglichen Hundes
eine Ablenkung in der Zeit erfahren zu haben seheint, in der er
^heterosexuell'^ verkehrte, wurde von Leuten beobachtet, die vermöge
ihres ländlichen Herufcti schärfere Augen für das Geöchlechtsleben
der Hausthiere haben.
1» Die berichtete Strafsaclie scheint gegen die Richtigkeit de;» Satzes ^uil
uovi 8ub aolc" zu sprechen. Dass dieser Satz aber doch auch wieder seine
Bichtlfkoit bebilt, daffir sei g«8tatt«t, darauf htamweiaen, dass sich für den
Kriminalfall der Therese lluuibort und Genoiaen, den man aacli ffir ein noviun
8ub solc halten möchte, ein Vorg-finger findet, Fiber den in der Zeitschrift für die
gcsammte Idtrafrechtswissenschaft, Bd. 1 (1S81) S. 597, berichtet isL
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XXV.
Genie» Dandysm und YerbrecherÜiDm.
Einige {»qrchoIogiBche Anregaogeo.
Von
ICaz Bruns.
Als ioh DoatojewikyB ^Memoiren ans einem Todtenhgnae*
gelesen hatte, maebte idi mir darttber unter anderen die folgendoi
Notizen:
Dostojewsky ist ein socialer Charakter nnd also ein Optimist
( — ich glanbe, dies „nnd also'^ wird kaum unberechtigt sein — );
das füllt am stärksten aof, das ganze Buch hindurch. Er bemängelt
an anderen Adeligen, die mit ihm im selben „Ostrog'* waren: „Sie
sahen in den Ostrogstrfiflingen nur das Thierische und konnten
und wollten nicht einen einzigen guten Zug, nichts Menschliches
in ihnen entdecken/ — Er selbst sucht stark das „Menschliche'*
und „Gute", und sucht es mit der vorgefassten Ucberzeugung, dass
er es finden werde. Wo er es findet, schildert er es eingehend;
wo er es nicht findet, ist er ziemlich wortkarg. Er gieht also
schlies-slich, streng betrachtet, keine Psycholugie des eigentlichen
Verbrechers, unter dem ich im rigorosen Sinne den Nihilistenmenschen
verstehe, sondern viel mehr eine iSchilderung des Lebens unter
Gelegenheitverbrechern. Denn dies ist durchaus zu unterscheiden
(und es ist das richtige Gefühl, das Lombroso's unrichtige Bücher
entstehen Hess): Jeder Mensch kann wohl durch Gelegenheit zum
Verbrecher werden — besser gesagt: er kann bei Gelegenheit wider
das Gesete fehlen; aber nnr bestimmte Chaiaktere nnd a priori
„veiforeeherisch*'. — Auch solehe waren natflrlich mit Dosto-
jewsky im Ostrog; aber er sagt von ihnen nicht Tie!, kann es
übrigens anch gar nicht: denn sie sagen ilber sich selber nichts
ans, nehmen an nichts theil, schliessen sich Niemandem an. Dies
Eine aber — ihre stohse Zurfickgezogcnheit — hebt Dostojewsky
allerdings genngsam hervor — nnd diese Stellen waren mir fast
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Genie, Daadyam und Verbrecherthnm.
823
die interessantesten und anregendsten des ^janzen Buches: Sie offen-
baren den Dandy im Verbrecher! Baudelaire meint, jedem
genialen Menschen sei ein gewisser Hang zum Dandysm natürlich
— und nun sehe ich klar, dass er es auch jedem Verbrecher ist
Es wdat dies auf cton gemmnttmen Eotsteheusgrund des Daadysm:
Antisoeialilftt ans stolzer YeiacbtuDg der „Geringeren", die die
grosse Masse bilden; denn sie sind tbatsüchlich in jedem I^e ge-
ringer — einmal an Intelligenzi einmal an Thatkraft — nnd beide
Male binzntretend nnd im tiefiBten Omnde an IdealitSt, an Be-
geistenmgftbigkeit — : an eingeborenem Hang snm Grenzenloeen,
an Dnrsto naob Anheben im Unendlichen, im Uferlosen, im ySllig
Unbegrenzten nnd Unbeschrankten. Hierin stehen Genie und Ver-
brecher nebeneinander gegen die Masse, gegen die „Geeeilscbaft**.
— DoRtojewsky »begreift" diese Menschen nicht, wie er selbst
des Oefteren sa^t ; nur einer, der Raubmörder Orioff, lässt sieh mit
ihm ein — Dostojewsky ist der Neugierige, der jenem mit
scheuen Fragen kommt, Orloff der Stolze, „Erhabene", der sich
nicht ohne Verachtung zum Antworten herablässt — : da aber ge-
steht Dostojewsky nicht ohne innerlichstes Erschauern, das sei
ein ganz aussergewöhnlicher Mensch gewesen. Was Dosto-
jewsky aber stets begreift an diesen Dandys, diesen er/. verbreche-
rischen Charakteren, das ist ihre ihm unheimliche Antisocialitüt. . .
Ich halte nicht für ausgeschlossen, dass der Ton dieser Tage-
buchnotiz von Kriminabsten sonderbar gefunden werden könnte, und
wirklich liegen ja auch wohl „Werthungen" darin angedeutet, die
objectiv stark anfechtbar sein werden. Da;^ lasse man dem Tage-
buche hingeben; nicht die etwa angedeutete ^Werthung"*, nicht die
dem Thataächlichen gegenüber empfundene Sympathie oder Antipathie
wolle man hier beachten, sondern einzig das Thatsäcbliche selber.
Und da man meinen Wortgebrauch, ich meine den Sinn, in dem ich
gewisse Worte gebranoh^ nicht missrerstehen wird, so nehme man
anch ihn — nnd sei er ungewohnt — eben um dieses Sinnes willen
hin. Kriminalisten, denen die F^chologie des Autors der „Blumen
des Bdsen^ Charles Baudelaire's, nicht fremd ist, werden
auch meine Auffassung des .Dandysm'^ nicht befremdlich finden.
Wir wollen das Wort stehen lassen — denn dient es der ye^
stindignng, so genilgt es seinem Zwecke — und wollen etwa den
Sinn damit rerbinden : unantastbar starrer FormaliBmus des äusseren
Wesens gewisser seltener Charaktere^ die im tiefsten Grunde antispcial
sind und sich in jenen Formalismus aus stolzer Verachtung einkapseln.
— Diese Thatsache besteht; bezeichnen wir sie als „Dandysm*^,
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324
XXV. Bbcms
so fassen wir dieses Wort, wie ich schon andeutete, in Baude-
laire's Sinne (vielleicht noch etwas prägnanter, als er es that, was
seiner Verständlichkeit gewiss nicht Abbruch thut), und das ist viel-
leicht gerecht: Von allen neueren Literaten, die zugleich Psychologen
waren, bat kein Anderer sich so intim mit den Nachtseiten deB menach-
lieben Lebens (speciell des Oromeladtlebens), mit dem Laster nnd —
mit dem Dandysm bescblftigt, wie Baudelaire (1821^1867},
der fiber diesen letzteren ein eingebendes Weik sn sobreiben plante,
za dem noeb yiele Notizen sieb in seinem Naeblass fuiden — unter
andeien znm Beispiel diese:
«Der Dandy mnss obn' ünteilass dem erbabenen Wesen sieb
anznnftbem streben. Er muss leben und scblafen vor einem Spiegel.'^
Mdebte der Nachsatz den Gedanken an blosse weibisebe Eitelkeit
nabelegen, so steht dem eine andere Maxime starr entgegen — diese:
„Das Weib ist das Ge^^entheil vom Dandy." . . . «Das Weib
ist ,natürlicli' , das heisst abscheulich. Also ist es immer Tolgfir,
das heisst das Gegentheil yom Dandy/
Weiterhin heisst es:
..Ich habe keine Ueberzeugongen.'* . . . „Tn mir ist keinerlei
Basis für eine Ueberzeugung." . . . ^Allein die Briganten sind
ül)erzeii<;t , — wovon? Dass es ihnen gelingen muss. Und also
gelingt es ihnen.'*
Diesen Dandysni findet man übrigens in den Schriften Oscar
Wilde's noch weiter ausgebildet, systematisch durchgebildet muss
man wohl sagen, und zwar in ganz unverkennbarer Anlehnung an
Baudelaire. VoUkomnu n uhorein stimmen sie namentlich in dem
bezeichnenden Ausspruche aus Baudelaire's Tagebuche:
„Ein nützlicher Mensch ist mir immer als etwas recht Hftss-
liches und Garstiges erschienen;*'
für welebe Maxime man bei Wi 1 d e eine ünmenge von Pendants findet
Noeb dentlicber tritt der ansgesproeben antisooiale Obaiakter in
einer Stelle der Bandelaire*seben AnCseiobnnngen zu Tage, wo
er fiber Geister spricbt,
„die gemacbt sind ffir die Disciplin, das heisst ffir die Gleicb-
förmigkeit, geborene Domestikenseelen, die nur in Gesellsobaft
denken kSnnen."
ünd dem entspricbt noeb dies hier:
^Die Welt setzt sich aus Leuten zusammen , die nur in Ge-
meinheit, nnr in Horden denken können. So giebt es auch Lente^
die nnr im Trupp sieh amttsiren können. Der wahre Held eigOlzt
sich ganz allein."
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Genie, Dandyam und Vcrbrcdierthnm.
325
Wer Edgar Poe, den Meister Baudelaire's, gelesen bat, wird
Mi bei diesen letzfen Worten der AvBfÜbniDgen Poe's Über den
Schwindler erinnern, in denoi es heiast:
„Der echte Schwindler yollftthrt alles mit einem Grinsen« Dies
sieht jedoch Niemand als er selbst. Er grinst, wenn er sein Tage-
werk vollbracht — wenn er die geplanten Thaten ansgefübrt hat
— Abends, in seinem Schlafdmmer, zn Seiner eigenen Privatunter-
haltnng. — Er geht nach Hans. Et schliesst die Thfir hinter sieb.
Er entledigt sich seiner Kleider. Er KSscht die Kerze. Er begiebt
sich zu Bett Er senkt seinen Kopf auf das Kissen. Er grinst
— Das ist keine Hypothese. Es liegt in der Natur der Sache.
Ich schliesse a priori, nnd ein Schwindel ohne Grinsen wfire kein
Schwindel."
Hier überall also das bewusste Anderssein als die Menge — das
üeberlegenheitgefühl über die Menge — die Verachtung der Menge,
die Antisoeialität, bcwusst und gepflej^t - und dann also das einsame
Vergnügen : einmal das künstlerische Schaffen, bei dem der Antisociale
die Menge vergisst — einmal das Verbrechen, bei dem der Antisocialc
an der Menge „sich rächt". Die Unterschiede liegen in Bildung und
Intellect — und in der Fähigkeit und Stärke der Phantasie und dem
Schaffensvermögen; das Gemeinsame in der Gesinnung — ich wieder-
hole es — : in der antisocialen Charakteranlage, erwachsen aus dem
Durst nach Schrankenlosigkeit. Ich wenigstens stimme Baude-
laire — um ihn nun nochmal zu citireu — durin bei, wenn er sagt:
„Ja wahrhaftig! Die Laster dea Menschen, so grauenvoll man
«6 aneh finden mag, enthalten die Gewähr — und sei es nur in
ihrer grenzenlosen Expansion! — für seinen Hang zum Unend-
lichen, znm Unbegrenzten; es ist das freilich ein Hang, der oft-
mab auf Irrwege geräth.*^
Ich wfisste nichts warum man dieser ^metaphysischen*^ Idee sich
▼eischliessen sollte, obwohl ich hinfig den Eindrnck gewann, dass
Kriminalisten der Metaphysik gern entrsthen. Man lasse sich nicht
dnroh S^Iagworte mit Blindheit schlagen: Ich glaube, käne noch
so materialistische Theorie ist eng genug, dass diese Baudelaire 'sehe
These darin unmöglich wäre.
Noch einen Beitrag zu der in Rede stehenden AntisocialitSt möchte
ich hier geben, eine Stelle aus Przybysze wski, der über die
Psychologie des Genies mancherorts geschrieben hat; er gebraucht
freilich lieber die Bezeichnung „das Individuum^, fasst sie aber,
wie er ausdrücklich angiebt, „im socialen Sinne, etwa gleichbedeutend
mit dem vagen und abgegriffenen Worte Genie*". Er spricht Ton
4
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326
XXV. Bbcns
der Haaaalodgkdt im Empfindongleben des Individibmis: „Maaadoe
im Schmerz und maassloB in der Fkende" — nnd fShrt dann fort:
„Diese intense Empfindangweise ist es^ welche das Individnun
darauf anweist, allein nnd einsam zn sein. Nicht das Indiyidnnm
sondert dch ab, sondern es ist schon von Tomherein abgesondert
Es empfindet anders als alle Mensehen, es empfindet dor^ wo andere
Menschen nichts empfinden, und weil die Gehirne seiner Mitmenschen
selbst nicht einmal dort in Mitseliwin^n^en geratheni wo das In-
dividuum sich in heftigster Vibration befindet, so ist es eben onsam
nnd allein.
Das Tieftragische im Individuum ist das Missverhältniss, in
welchem es zu seinen Mitmenschen steht. Aus diesem Missverhält-
niss erklärt sich dann sein Menschenekcl und Menschenhass, sein
Missbehagen und seine Sehnsucht, seine Selbstflucht und seine Krank-
heit, und an diesem Missverhältniss gebt das Individuum zu Grunde*^
Dieses Przyby szewski^sebe „Individuum'* ist tbatsächlich ein
Mittelcbarakter zwischen (lenie und Verbrecher, oder wenigstens, es
zeigt das beiden gemeinsame Charakteristikum: die Antisocialität.
Diese Antisocialität macht nun also das Genie zum Dandy: es
unterstreicht bedeutsam sein Anderssein, es vernachlässigt nichts, was
die Kluft zwischen Gesellschaft und Einzelpersonbchkeit noch ver-
stärken könnte, es pflegt — wiederam ein Baudelaire'scher Aus-
druck — „das aristokratische Vergnügen, zu missfaHen**; denn nichts
wäre ihm grSsslicher, als der BdCsll der Menge, der doch stets die
,,nfltz]ichen'' Minner ehrt nnd nach dem einzig das Talent geizt:
denn dieses gehört selber der Menge an, es besitzt die EigenschafleQ
der Menge in mehr oder minder starker Potensimng, es denkt nnd
wirkt also innerhalb der Menge nnd ihrer Gesetze — nnd kann, ja
mnss ihr daher „nfitzen^ was, wie wir sahen, das Genie für gemein,
ordinSr, bSsslich h81t
Ich habe das Bedürfniss, hier nochmals die Bitte auszusprechen,
man wolle meinen Worten in dem Sinne folgen, in dem sie — ^vie
ich lioffc verstlbidlich — gebraucht sind. Man fasst das Genie ja
oftmals anders auf (wie auch den Dandysm), man könnte — ich gebe
das hier zu, obscbon ich es für unbewiesen nnd zweifelhaft halte —
man könnte sogar einwenden, dann gäbe es ja Genies erst in der
neueren Kunstgeschichte; es giebt solcher rorsönlichkeiten aller-
dings iu neuerer Zeit mehr, als es sie frülier gegeben zu haben
I i r>ei diesem Punkte wünle ich einsetzen, Avcnn ich über di€ BeÜcilllllgBn
■von Gemalität und Verbrechelthum zum Irrsinn reden sollte.
Digitizcü by GcJC)
Geniel Dandyam und Yerbrecherthnm.
Ü27
scheint. Und Eins hat mein Wortfrebrauch entschieden für sich —
Nücke sagte kiirzHch in einer Besprechung von Löwenfeld's
Werke „Ueber die geniale Geistesthätigkeit": „Mit Recht erklärt er
das Genie dem Talent gegenüber nicht als ein absolut Heues'' —
fiihrt dann allerdings fort: „yerlangt aber fttr Entores das Hervor-
bringen eines Neuen, Originellen, für die Menschheit KfUzUehen.**
Dieser Naehsalz erBeheint mir anfechtbar in folgender Art:
1. Wenn das Genie dem Talent gegenfiber an sich nichts ^Nenes^
ist, so wird es anch schwerlich ein „Nenes'^ herrorbringen können
dem Talent gegenfiber — es sei denn eben das hier mit „Geniel Be-
zdohnete ein sehr starkes Talent mit in hoher Potenz gesteigerten
TalentfiQiigkeiten.
2. Ist „originell^ ein fest nmrissener Begriff? Hat er selber
keine feste Definition, so kann er anch einen anderen Begriff nicht
definiren helfen.
3. I8t Micheiangelo's David, ist Chopin's Fis-moU-Polonaise
„ein für die Menschheit Nützliches^? — Man wird schwerlich mit
Ja antworten mögen.
Es scheint mir nicht rathsam, bei nur quantitativen Unter-
scheidungen ein neues Wort in Anwendung zu bringen, wenn man
sich dabei eines Ausdruckes für ({ualitative Unterscheidungen be-
raubt. Warum ein st lir starkes Talent plötzlich als Genie bezeichnen,
wenn dann für ausgesprochen antisociale, in ihrem Wirken scheinbar
unnütze Künstler — wie etwa Leopardi, Swift, Poe, Baude-
laire, Flaubert, d'Aurevilly, Huysmans, Przyby szewski.
Wilde — jegliche Bezeichnung fehlt? Dass die mit dem Worte
„Genie" bisher so häufig verbundene „Wertliung" nun eine starke Ver-
änderung erfahren müsste, ktinn für uns hier kein Grund gegen die
Annahme des von mir gemeinten Wortsinnes sein; denn wir wollen
hier nicht werfteni wir wollen objectiy eonslatiren. Für den Kttnsder
mag der Verbrecher eine Bewnnderong heischende, fOr den Socio-
logen eine yerabflcbeuenswerthe Erscheinung sein — fOr den Veya^
logen ist er ein&ch eine interessante Thatsaohe. Und so auch das
Genie. — Unterscheiden wir aber nm der Psychologie des antisodalen
Individuums willen Oenie und Talent, so mfissen wir natfirlich anch
um eben dieser Psychologie wiUen so rigoros wie irgend möglich
nntesBcheiden: es zeugt tou erfaizmlichstem Oharlatanismus, wenn
Lombroso ein Weck über das Genie schreibt und selber emgestehen
muss, dass er zur Stütze für seine bezfiglichen Thesen oftmals das
Talent herangezogen liabe; man konnte ebensogut ein Werk über
die Physiologie des Affen schreiben und dabei in sein Beweismaterial
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328
XXV. Bbums
Daten aus der Anatomie der Schildkröte aufnehmen: Das wäre
schliesslich genau dasselbe. Ist das Qenie ein Mal als Degeneration-
amhebnng genommen, so hat man eben damit swd Lager ge-
schaffen nnd sich selber gezwungen, auf die robusten Arbeiter am
Werke der CiTilisation Veizicht zu leisten, wenn es gilt, für das
Gegentheil vom robost arbeitenden Manne, eben für den Degenerirteo,
Bebpiele zu bringen. •
Ich fflhite an, daas das Genie stets einen gewissen Hang nun
Dandysm in sieh tragen soUe^ und dafflr wire manches Beweisende
mitzntheilen, doch genttgt mii^s hier, den Gmnd für diesen Hang ein
wenig beleuchtet, ihn also glaubhaft constatirt zu haben. Ueber den
Dandysm des Verbrechers — des Nihilistenmmchra, wie ich oben
sagte — möclite ich aber eingehender sprechen, oder vielmehr ich
möchte den darüber sprechen lassen, der diesen Dandysm, ohne
ihn freilich zu „begreifen", so offensichtlich aufgedeckt bat. Wenn
auch das Werk Dostojewsky's in jedes Kriminalisten Händen ist,
so wird es vielleicht doch nicht für uninteressant p^chalten werdeu,
unter diesem l)esonderen Gesichtswinkel noch ein Mal jene Stellen —
oder auch nur eine beschränkte Auswahl der markantesten — Revue
passiren zu lassen, die den Dandy im Verbrci iier charakterisiren, das
will also sagen: die uns ein im tiefsten Grunde antisociales Wesen
zeigen, das eine aufmerksiime lieobachtunir und peinliche Pflege ge-
wisser Formen des Benehmens erkennen Uisst, mittelst deren es eine
— als imponirend beiibsichtigte — Isolation, ein merkliches Abstechen
von der grossen Menge, von der „Gesellschaft'', zu erreichen trachtet
Folgen wir der Reclam'schen deutseben Ausgabe. Schon im ein-
leitenden Capitel (1. Das Todtenhaus) finden wir (S. 18) eine höchst
ebarakterifltiflehe Stelle:
„Die FShigkeif^ sich fiber Nichts zu wundem, galt hier ab die
höchste Tugend. Alle waren nur darauf veisessen, wie sie sich be-
nehmen wollten; indessen finderte sich auch die anfgeblaaenste
Aussenseite nicht selten mit der Schnelligkeit des Blitzes zur
allerkleinmflthigsten.^
Dieser Nachsatz tteaiebt sieb offenbar auf die „nicht seltsnen''
Gdegenheitsflnder. Der folgende Satz aber unterscheidet von diesQi
die von mir gemeinten wahren Verbrechematuren mit ihrer Yt^
einigung von nihilistiselier Antisocialität und Dandysm:
„£s gab in der That einige in Wahrheit starke Naturen bei
nn^i, diese aber waren einfach und beugten sich nicht. Seltsam war
jedoch das Eine, dass selbst von diesen standhaften, starken
Menschen einige bis zum äussersten Grade, fast bis zur Krank-
Digitizcü by GcJC)
Genie, Dandysm nnd Verbrediertbimi.
329
haftigkcit der (irosssprecherei huldigten; die Prahlerei und das
Aeussere galten ihnen vor Allem*
Nehmen wir, wie aus allem Folf^enden, die ohjectiven Con-
statiniDfi-en heraus, und lassen wir die sich ein(lriini;en(leu suhjeetiven
Werthun^en Dostoje w sky 's bei Seite — zumal sie objcdiv als um
80 Werth loser erscheinen müssen, da der Autor selber gesteht, er
habe jene Charaktere „nicht begreifen" können. — Bald darauf spricht
er Ton dem „besonderen, eigenthUmlicbea Selbstgefühl** fast aller
StrSflinge: „Der Stritfling stellte gewuBennaasseii eineii geBenaebaft-
Kehen K^iug dar und beaaae Geltang.* Dies aber besieht sieh offenbar
80 ziemlich auf Alle, die zur Classe der „Gavner" gehören, mögen
sie es durch „Gelegenheit^', mögen sie es ans „Beruf* sein. Der wah^
haft Antisociale stiebt aneh noch im Ostrog abl
Von anem Menseben, der nach einem aosseh weifenden Leben
ans Habgier seinen Yater ermordet batte^ beisst es (S^ 24):
„Die anderen Sträflinge veraebteten ihn, nidit wegen seines
Verbrechens, von dem keine Bede war, sondern weil er sieb nicht
m benehmen verstand."
Dem entspricht jene spätere Stelle, wo der gemeinsame Auszag
zur Arbeit geschildert wird:
„Ein Einzelner war über irgend etwas ausserordentlich froh
nnd aufgeräumt; er sang und hätte beinahe auf dem Wege getanzt,
bei jedem seiner Sprünge mit den Ketten klirrend . . . Seine un-
gewöhnlich heitere Stimmung erweckte natürlich sogleich bei
einigen Anderen im Trupp Unwillen; ja man fühlte sich sogar
fast beleidigt davon. ,Genug gebrüllt!' meinte einer der Arrestanten
den die Sache übrigens durchaus nichts anging"' u. s. w.
Hier ist deutlich zu bemerken, wie dit se ,^einigen Anderen'' auch
unter dem Trupp der (iauner sich nicht wohl fühlen und sie ver-
achten als eine niedere Gesellschaft. „Der wahre lield vergnügt
sich ganz allein."
„Ich begriff entschieden nicht" — S. 1 2 1 — „warum man sich
über Skutaroff ereiferte, und überhaupt nicht, warum alle Lustigen
sich gleichsam in einer gewissen Veiaditung befanden.*' . . . „Ihr
Zorn rfihrte daher, dass Skutaroff kernen strengen, hocbmüthigen
Ausdruck eigener Würde zur Schau trug, von welcher der ganze
Ostrog bis zur Pedanterie angesteckt war.^
Dies „angesteckt^ schemt mir sehr bezeichnend. Halten wir uns
die Unterscheidung zwischen den zahbrdchen blossen Maulhelden und
den wenigen fjoi Wahrheit starken Naturen'* gegenwärtig, so werden
wir zu dem Schlüsse geführt, dass bei diesen letzteren der Dandysm
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330
XXV. Bbuks
ihrer Katuranlage entspringt, indess die grosse Horde der Gauner
dieses ihnen imponirende Geremoniell nur naohäffi ~' nn es gerade
in kritischoi Angenblieken fahren an lassen. Aach ist diese ngrosse
Horde" nicht so starr in dem uns interessiienden FormalismnB. So
meldet Dostojewsky yon einem StrifUnge (S. 308) :
„Er war stets lustig und guter Dinge, ab er gleichwohl achtete
,man' ihn in Folge einer gewissen praktischen Kenntnissroutine."
Dies „man" ist wohl kaum identisch mit ,,aa8nahmelos Alle" —
und dann bliebe auch noch die Frage: Achtete „man" ihn in Folge
seiner Routine — oder achtete man an ihm die Routine?
Sehr charakteristiscli ist die Stelle, wo von der bevorstehenden
Ostrogrevision erzählt wird, also einer Angelegenheit, die in dem trostlos
einförmigen Strüflingleben — wie vermuthet werden sollte — all-
gemeines Interesse erregen musste und denn auch ziemlich all-
gemeines Interesse erregte. Aber dann heisst es doch:
„Die Nachricht von dem Revisor verbreitete sich in einem
Augenblicke durch den Ostrog. Auf dem Hofe liefen die Leute
umher und Iheilten sich gegenseitig die Xachrieht mit. Andere
schwiegen absichtlich, ihre Gleichgültigkeit bewahrend, im Versuch,
sich damit offenbar eine höhere Würde zu geben — oder ver«
harrten der Sache gegenüber völlig indifferent."
Diese Situation scheidet also mit einem Schlage die socialen
Chanktere von den antisocialen. Jene „denken im Trupp*' — diese
?erharren inditferent, in stolser Wfirde: NU admlraril AUci Meosdi-
liohe ist ihnen fremd. Sie denken und träumen einsam.
Sie denken und trftnmen einsam — wie die Genies. Eben die
Alt ihres Denkens und Tittnmens ist es , die sie rereinsamt — und
diese „Emsamkeit^, die ihnen als identisch gilt mit Erhabenheit, halten
sie starr fest
„Hier waren eben alle Denker^ — S. 336 — „und dies sprang
in'sAuge. Man empfand es schmerzhaft" — dies „man** bedeutet
also eigentlich wohl: ich — „hauptsächlich deshalb, weil dieses
Denken der Mehrzahl der Leute im Ostrog einen mürrischen und
düsteren Ausdruck verlieh, ein ungesundes Aussehen. Die un<
geheure Mehrzahl war schweigsam, bösartig bis sum Haas^ —
man wird sich erinnern, dass die Sträflinge gegen Dostojewsky
speciell diese Eigenschaften hervorkehrten, weil er .,ein Adliger*' war;
diese Aeusserung hier muss also als stark subjectiT gefi&rbt auf-
gfiioimiit.'n werden —
.,und liebte es niclit, ilire Hoffnung zur Schau zu tragen. JEanfacb-
beit und Aufrichtigkeit waren verächtlich.**
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Genie^ Dandyam nnd yeibrecheftinim.
881
Einfachheit"^ heisst hier natürlich: Naivetät, Treuherzigkeit, Un-
coniplicirtheit. „Einfach" nannte der Autor auch jene „wenigen in
Wahrheit starken Naturen"; da aber soll das Wort wohl bezeichnen,
dass bei ihnen das Versessensein auf „Iknehmen'' nicht als Aefferei,
sondern mehr als natürlich wirkt, lieber einen Sträflii^ äussert
Dostojewsky die bezeichnende Vermuthun^^ (S. H48):
„Ich glaube, er würde selbst zu seiner Hinrichtung mit einem
gewissen Chic, einer Art von Cocetterie p:ej?angen sein."
Wir hätten hier die Steigerung des Dandysni zur Paradoxie,
zur Verbindung von Cynismus und eleganter Form. Man
findet sie, wie ich nebenher bemerken möchte, in starker Ausprägung
bei Oscar Wilde, mehr noch als in seinen Werken in seiner Per-
sönlichkeit: in seinem Auftreten vor Gericht znm Beispiel (vgl. „Der
Fall Wilde", Leipzig, Spohr). Ob die Yermathung Dostojewsky's
sieh bestätigt hitte^ ist ja fraglich, aber dass er sie anstellt, dass sie
ihm kam, ist doch nicht nnbedentsam. Mir ist allerdings wenig wahr-
scheinlich, dass der yerstockte Antisociale an der Pflege dieser Form
des Dandysm yiel Interesse haben sollte. Vielleicht steckt zoTiel
blosse Eitelkeit in ihr — nnd Eitelkeit nimmt ron der Gesellschaft
mehr Notiz, als der Antisociale es tbnt: Dem Eitlen ist am Befall
der Menge gelegen. Ich glanbe, diese — Wilde'scbe — Form des
Dandysm, die Paradoxie, wie ich sie oben charakterisirto (als ^Ver-
bindung von Qynismus und eleganter Form") wird mehr in anderen,
gewissermaassen halbsociaien Kreisen gepflegt, etwa unter „Künst-
Uxu*^ nnd namentlich unter Oircnsleuten. Der Antisociale nimmt sich zu
ernst, ist auch wohl riel zu emsthaft für diese Paradoxien. Ihm liegt
mchis an Eleganz — nur an Würde, an einer Würde vor sich selber.
Aus einer späteren Stelle sei schliesslich noch Folgendes bierher-
gesetzt (S. 386 ff.):
„. . . Gelächter ertönte ; einige stellten sich , als wollten sie
nichts von dem ganzen Gespräche hören Das Uichen wurde
stärker. Die Emstgestinimten schauten mit noch grösserem Unwillen
drein Man begann zu lachen; zuerst lachten nur Wenige,
schliesslich fast Alle, mit Ausnahme einiger Ernster und Cha-
rakterfester, die unabhängig dachteu und ihre Meinung nicht
durch Spott beeinflussen Hessen. Diese blickten mit Verachtung
auf die leichtsinnigen Massen nnd schwiegen sttU.*^
Interessant ist, was Dostojewsky Uber seinen Abschied ans
dem Ostrog schreibt, wo man ihn znn&chst mit so starkem Miss-
tränen, ja mit GehSssigkeit aufgenommen nnd wo er im Laufe der
Jahre so manche mehr oder minder starke Sympathie sich errungen
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382
ZX7. Bbühs
hatte — seitens derer, die „nicht allein denken k^mnen"* und also social
Bind, niü^'^en sie auch ^egen die Gesetze der Societät gefeldt liahen.
^Viele von ihnen waren mir ergeben und liebten mich auf-
richtig;. . . Doch es {xab auch mürrische und unfreundliche Personen
bis zum letzten Aug;enblick, denen es wohl offenbax schwer wurde,
mir ein freundliches Wort zu sagen — Gott weiss, weshalb.'^
Schon dieser naive Stossseufeer zeigt, wie nnbegraiflioii duse
Menschen dem Autor waren — und zeigt anch sogleich, dass sie auf
keine andere Wose begriffen werden kOnnen als dnrch die Annahme
einer angeborenen Antisocialitit
Und nnn der Absebied selber: „Am anderen Morgen Mb
dnrehsebritt ich alle Kasernen, um von allen StrSflingen Absobied
an nehmen. Viele schwielige, starke Hände streckten sich mir
freundlich entgegen; manche drückten mich freundschaft-
lich, doch waren ihrer nicht Viele. Andere wussten recht wohl,
dass ich im Begriff stand, wieder ein ganz anderer Mensch zu
werden als sie; sie wussten, dass ich von hier sogleich zu den
„Herren^ ging und neben diesen als ein Gleichberechtigter Plats
nehmen würde. Sie wussten es und verabschiedeten sich von mir
wohl höflich, selbst freundlich, aber bei Weitem nicht als Kame-
raden, sondern wie von einem Herrn. Manche wandten sich
mürrisch ab von mir und antworteten nichts auf meinen
Gruss; mehrere blickten mich sogar mit einem gewissen
Hasse an.*'
Mir ist es zweifellos, dass alle jene im Grunde so oft gutmüthigen
Gauner, bei denen gelegentlich so viele „menschliche" Züge hervor-
brechen, sehr gut in der Gesellschaft möglich sind, vielleicht in einer
etwas anders gearteten Gesellschaft, Auch Dostojewsky hat sich
dieses Gedankens ja nie erwehren können, so lange er unter den
Sträflingen lebte. Es sind schliesslich „Menschen wie wir'', und ich
wüsste nicht, wie man es anstellen möchte, ihre besondere „Ps^'cho-
logie*^ zu schreiben, die von der Psychologie der breüen Masse oder
Ton der „Psychologie** bestimmter Berufe, Erwerbsarten und Lebens-
führungen wesentlich verschieden sein sollte^). Es würde so
1) Darum wohl ist es auch Gross gar nicht eingefallen, in seiner „Krimiual-
ps^'choIu^Mc" z.B. eine Psyehoiogio des Vcrbrochors zu schreiben; er giebt, wie
auch im .üaadbaoh'' , höchstens BoitrSge zur Psychologie dos Zigcanere, des
PferdedieiMBt, des bemfsmSssigcu Bfnbraehere, dee Landstreichera , des „patho«
fonnen" Lü^niers, im Wcscntlii luii reine Psychologie der Kriminalität
der meuschiichcu Seele; uud eiiizig darum, acbmtmir, sind koiue Werke so
wertfavoll und — so umfassend dabei. Der „ verbredier*, vom Gfaaner nnd vom
GelcgenheitsOnder psycholo^riscli gf'j>onderf, bietet nur ein enj^cs Feld. Weil
Lombroso umfassoud sich geben wollte, darum gab er — Oberflächliches und
WertUoflee.
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Öeaie, Dandysm und VeitirediorthitiD.
888
schwer halten, w'w otwa oine ^Psycholojrie des Talents'* zu schreihen.
Auch hier könnte man der Ijreiten Masse «rejjreniiljer nur prraduelle
Unterschiede verzeicboen, die in dieser ihrer Gradualität ewig
fliessend sind.
Anders — und das ist natürlich — liege's mit den Antisocialen:
dem Xihilistenmenschen (als welcher er den Socialen erscheinen
muss) und dem (lenie. Wollen wir in Jenem, und nur in Jenem,
den ^greborenen \'erl)recher"' sehen, so Hesse seine Psycholog^ie sich
sehr wohl schreiben — wie, streng in diesem Sinne gefasst, auch
die Psychologie des Genies zu schreiben wlie. Man liesse dann aber
wohl die Fn^en^ hier nach den Benebnngen zam ^Irmaaf^f dort
nach jenen zur Proetitntion, znnäebBt am besten ans dem Spiele. Statt
derer ergeben sich ron selber Beziehungen zwischen ^Genialitftt'^ and
„Verbrecherthnm'*. Man hat oft die künsderisohe Zengnng in Be-
ziehnng gebracht zur physischen, man hat gefragt, wie wot m
Kunstwerk wohl einem unterdrflckten Geschlecfatsact seine Entstehnng
verdanken konnte; pqrcfaologisch interessanter und bedeutsamer er-
schdnt mir die Flage, ob nicht oft die künstlerische Zeugung — die
physische Zerstörung:, das Verbrechen also, paralysirt Und hier-
für müsste die Psychologie des Genies Material eri)ringen — und sie
erbrächte es. Ich glaube nicht, dass Johannes Brahms ein sonder-
lich feiner Psychologe war; und doch vermochte er den chaiakteristi-
schen Ausspruch über Beethoven, zu thun: „Beethoven wäre
besser ein grosser Verhrcclicr geworden I*" — zu welchen Worten ein
Musikhistoriker (.Max Grafj bemerkt: „und gewiss stand Brahms
dem Kerne der Beethoven'schen Kunst näher als irgendeiner. .
— Man müsste Poe und Baudelaire, man müsste Przy byszewski
und Iluysmans, müsste Beethoven und Michelangelo, müsste
Jonathan Swift und Scheerbart, müsste Flaubert und D'Aure-
villy Studiren, um jene Beziehungen aufzudecken und überall zu
verfolgen. Und in Thomas driffith 's Wainewright würde man
dann die feynthese von (ienialität und V'erbrecliertlium finden, in
jenem eleganten Dandy, der zugleich der feinfühligste Kunstliebhaber
und Sammler, der sensibelste Stilist in der Kunst und der empfindung-
loseste Giftmischer innerhalb seiner Familie war. (Osear Wilde
hat in seinen „Fing^eigen** ihm euien Essay gewidmet, betitelt:
Stift-, Gift- und Schriftthum). Und auf dem Grunde all dieser Cha-
raktere wfirde man den vereinsamenden unbezwinglicben Hang zur
Grenzenlosigkeit gewahren — und die Moralisten würden ihn viel-
leicht brandmarken als gemeinen E^ismus.
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XXVI.
Zor Frage Yom psyehopathiselien Aberglanbeiu
▼oo
Hans Qroso.
. Mein yerehiler College^ der Paydiiator Gabriel Anton in Graz,
maeht mich auf dnen Fall der ilteren Liteialnr anfmerksam, welcber
m den von mir in der Abhandlang ^Peychopathischer Abeiglanbe^
(Band IX pag. 253ff. dieses Archivs) besprochenen FiSllen zu passen
scheint, obwohl bei demselben das Mitwirken von Aberglanben ans-
drücklich nicht erwähnt ist —
Die Anamnese wurde von Gauster im Handbuch der gericht-
lichen Medicin von Masch ka ^Die gerichtliche Psychopathologie'^
bearbeitet von Schlager, Emminghaus, Kühn, Gauster und
K raff t- Ebing, Tübingen 1882 fpa- 489) sehr gut dargestellt; die
Krankengeschichte (von der Zeit an, al.s der Betreffende im Prairer
Trrenhause untergebracht war), hat mir gütigst Professor A n t o n ver-
schafft. Ich entnehme diesen beiden Quellen den Thatbestand. —
Anton Tirsch wurde etwa ISlu geboren, im Armenhause aufge-
zogen, besuchte etwas die Schule, ward Ilirtenjunge und 1S31 assen-
tirt. Wegen Diebstahl und Disciplinarvergehen wurde er wiederholt
bestraft, darunter 4 Mal (iassenlaufen durch 300 Mann (= 1200 HiebenX
einmal 60, einmal SO Stockstreiche. 1839 sali er ein lOjähriges Mädchen,
beschloss sie zu nöthzüchtigen und der Kleider zu berauben. £r warf
sie zn Boden, stiess den Finger in die Scheide, nothzttchtigte sie aber
mcbf^ dann stemmte er das Knie auf den Hals des Kindes und
schnitt ihr mit dem Messer den Zopf ab, nm sich
daraus eine Bürste zn machen. Er wurde erwisch^ zum
Tode Temrtheilt und zn 20 Jahren Schsnzarbeit begnadigt —
Während semer Stratzdt war er sehr heftig und roh, jShsomig
bis zum Wahnsinn und wurde wegen Insultimng seiner Vorgesetzten
und lebensgefährlicher Bedrohung des Profossen bestraft.
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Zur Frage vom |wycfa<q>athi8chca Aberglauben.
335
Im Militärdienste hatte er einen starken Hufscl)lafc j^^egen den
Kopf bekomnjen und überstand eine „mit Fieber verbundene Kopf-
kiankheit*. Von da blieben ihm Schwerhörigkeit , Ohrenfluss und
grenzenloBe WnthanfiUle^ namentlieb, wenn Jemand in maex Gegen-
wart pfiffi Ans Wnth zerstörte er dnmal ein Gürtehen, einmal rannte
er mit dem Kopfe gegen die Wand, einmal nss er alle Kleider
vom Leibe.
Nacli abgebttsater Strafe kam er in ein Sieohenbans nnd ye^
ricblete Handlangerarbeiten, benahm sieh roh, finster nnd schamlos,
war aber ein fldssiger, guter Arbeiter. War er im Zorn, so prügelte
er Weiber, Terfluchte die Matter Gottes, spie ein Kruzifix an. Spfiter
wollte er heiiathen nnd da er abgewiesen wurde, gerieth er in solchen
Zorn, dass er verspraeh, „schlechte Wege zu betreten und das Kind
im Mutterleibe nicht zu scboncn.**
Am 8. September 1864 verHess er seine Wohnung, mit der Ab-
sicht ^irgend Jemanden, der ihm in den Wej^ kommt, zu tödten.'* Er
begegnete einem 16jährigen Mädchen, that ihr abor nichts, da, wie
er später sagte „damals noch nicht der Blitz in ihn gefahren war".
Dann begegnete ihm eine altere Frau. Er verlangte von ihr Oostat-
tung des Heischlafes, da sie dies aber ablehnte, zo^'' er sie in den
Wald, warf sie zu Boden und da sie sich wehrte, gerieth er in Wuth
und drückte ihr mit beiden Händen die Kehle zu, bis sie todt war.
Dann schnitt er ihr die Brüste und Geschlechtstheile ab, packte dies
und die Kleider zusammen und brachte alles nach Hause. Die Kleider
verbarg er in seiner Truhe, Brüste und Geschlechtstheile briet er und
ass davon mit saurer Brähe 3 Tage lang, angeblich ohne Ekel zu
Terspflren. Das Geld, das er bei der FVau gefunden hatte^ verbrandite
er, die nSehsten Tage trieb er sich in der Stadt hemm, arbeitete, be>
suchte die Kirche und sprach gleicbgfiltig ?on dem mittlerweile be-
kannt gewordenen Mord.
HitderweUe wurde er verdächtig, man verhaftete ibu und er ge-
stand sofort die That mit allen Einzdheiten. Er habe die alle Fnea
ans Zorn und Bache gegen die Menschen getSdtet, er „habe einen
Pick gegen die Frauenzimmer*^ — warum er Kdrpertheile der Frau
abgeschnitten und gegessen habe, wisse er nicht, „es war eine inner-
liche Gier/ Er verlange sonst nichts als den Tod, er sei immer ein
Verstossener gewesen, ihn freue nichts, er wolle sterben.
Die Gerichtsäizte erklärten den Mann für geistesgesund und zu-
rechnungsfähig, wegen Wichtigkeit des Falles wurde aber ein P'akul-
tatsgutachten eingeholt, welches Masch ka erstattet hat. In demselben
wird festgestellt, dass Antou Tirsch ein in der Erziehung vemach-
Archiv iüi KriminaJanUiropologio. XII. 23
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336
XXVL Gm
IfiSMgtes, leideuscliaftliches, rohes, mehrfach bestraftes Individuum sei,
das sich für von der Gesellschaft Verstössen ansehe, mürrisch und
lebensüberdrüssig sei. Seine Verstimmung erreiche oft den (irad \ on
Watb, die nch dum in heftigen AuBbrücben Luft verschaffe; es sei
zweifellos periodische Tobsucht TOThandea, die anl der Basis
eiaes melaacholischea Zastaades eatwiokle aad aas demselbeB her-
TOigiage; die letzte That war gewissermaaseea auf eiaer Stafealeiter
anderer Thaten begangea worden, Tirsch sei bei der That anzniech-
nnagsfithtg gewesen, aber ia hohem Giade gemeiiigeffthrlich.
Gauster sehliesst sich diesem Gutachten nicht TÖllig an, und
findet, daas man es anofa mit einer Schwacbsbnsform and Art mo-
laliscfaen Irrsinns zu thnn habe; es liege grosse Bdzbarkeit, starker
Egoismus, instinktive Handlung unmittelbar neben schwachsinnigem
Gebahren, moralische Verkehrtheit, Hyperästhesie gegen gewisse Sinnes-
eindrflcke (Pfeifen n. s. w.) vor — hiermit sei allerdings nicht die
Diagnose angeborenen oder erworbenen Schwachsinns in Form mora-
lischen Irrsinns ganz unanfechtbar gesichert, jedenfalls lägen aber
viele Symptome vor, die auf das Vorbandensein einer Entartung deuten,
einer Entartung, die durch die Periodizität u. s. w. angedeutet wird.
Die Krankengeschichte der Irrenanstalt in Prag beginnt mit dem
auch in der Darstellnnir des Falles durcli Gau st er genannten Datum
des 12. März 18()5 und endet mit der Notiz iibf^r den nach 11 Jahren
(28. December IS7 1) erfolgten Tod an (loiiix lseitijrer Lungenentzündung,
nerzhypertrojdiie und chronischer Meningitis. Der letztgenannte Be-
fund dürfte wohl Masch ka"s Diagnose als richtig hinstellen. —
Nach dieser Krankengeschichte klagte Tirsch über Schmerzen
und .Sausen im Kopf, ist schwach und iiinfällig; er erklärt besonders
an periodischen Kopfschmerzen zu leiden, dann sei er schwerhörig
und das Pfeifen anderer Leute bringe ihn in Wutb, weil er es nicht
vertragen kSnne. Es wird erzählt, dass er sich meistens ruhig ver-
halte und offen die von ihm begangenen Greudthaten erzähle, ohne
sie zu beschönigen: „Er habe sich nicht anders helfen können.*^
Durch Pfeifen eines anderen Menschen werde bei dem Patienten ein
Wuthansbmch veranlasst, der so arg sei, „dass hierseits* (also in
dem grossen Prager Irrenhause) „ein grösserer Wutansbruch kanm
bei irgend einem Kranken verzeichnet vorkomme^. Er mnss „in
Jadse gelegt und gegurtet werden''. Er verwünscht die Richter, weil
sie ihn nicht gehenkt haben und verlangt den Tod. Wiedwholt wird
verzeichnet, dass er Kranke misshandelt habe und dass er gegurtet
werden musste, da das Pfeifen eines Kranken u. s. w. einen Wuth-
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Zar Fntge vom ptyvhopathischen Abeiglaaben.
887
anfall ausg:elüst habe. Sonst wird vermerkt, dass er häusliche Arbeiten,
besonders im Karten fleissif? verrichtet, geilen Aerzte ist er bereitwillig
und höflich, vergreift sich aber gegen Wärter und Kranke, die seine
Werkzeuge berühren oder eine Blume pflücken; dem Director droht
er mit einer Gewaltthat, „weil er ihn anblicke, wie einen Hnnd'^. —
Im Uebrigen werden nur Symptome seines Langen- und Herz-
leidflBi und Bein niohes Vei&tteD Botirt
Sehen wir nns nun die TeilirecbenielMB Tfaaten des Anton Tirsob,
soweit sie uns interesBiren, näher an, so kOnnen wir wahraehmeo,
dass et in beiden FSUeii etwas von seinem Opfer railgenomnien hat
Im ersten IWle (mit dem lOjähiigen MSdobeB) hat er das Kind
nicht getOdtet, es ist aber kaum annmehmen, da» er dies nicht
thun wollte. Wenn ein Soldat, also ein krftftiger Mann, ein Kind zu
Boden wirft und sein rechtes Knie so lange auf den Hals des-
selben stemmt, bis er ihm alle Kleider vom Leibe gezogen und
mit einem, offenbar erst zu suchenden und zu öffnenden Messer den
Zopf abgeschnitten bat, so ist es befremdlich, dass das Kind mittler-
weile nicht erstickt ist — T. musste also auch annehmen, dass sdne
Handlungsweise den Tod des Kindes bewirken werde. Es scheint
auch, dass das Kind nur deshalb mit dem Leben davon kam, weil
Leute herannahten, sodass Tirsch fliehen musste.
Stellen wir diese einzelnen Thatliandlungen bei dem ersten
Factum zusammen, so können wir sagen, dass doch nur ein Theil
dessellien mit „Wuth" zu erklären ist, Dass er das Kind zu Boden
warf, mit dem Finger in die Scheide fuhr, auf dessen Hals kniete
und die Kleider lierabriss — das Alles kann mit einem Wutlianfall
erklärt werden. Dass er aber den Zopf des Kindes abschnitt, um
sich daraus eine Bürste zu machen, dass ist mit einem Wuth-
anfall doch nicht zu erklären. Man hat den Eindruck, als ob Tiersch
zugeben musste, dass er sich des Zopfes des IQndea bemichtigen
wollte, dass er es aber nicht gestehen wollte, wozu er denselben be-
nOthigte, und so gab er, da man ihn offenbar zur Angabe eines
Grundes gedrängt hat, als Motiy seines Handelns an, er wollte sich
dne Bfiiste machen. Das klingt fast Ificherlich, sicher unglaubwürdig.
Wir kommen also bei dem ersten Falle zu dem Schlüsse: Tirsch
wollte sich eines Theiles seines Opfers bemächtigen und
diesen mit sich nehmen, wir haben aber von ihm ein
glaubhaftes Motiv fär diese Handlung nicht mitgetheilt er-
halten.
Kommen wir zum zweiten Fall, so sehen wir, dass Tirsch der
2S»
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338
XXV I. ÜBUSS
ennordeten Frm alle Kleider weggenommen nnd heimgetragen hat^
obwohl er diese weder yerwertben noeh yerkanfen konnte (allerdings
hat er «noh das gefondena Geld genommen nnd Teibnuioht)| nnd
ansserdem bat er ihr Brüste und Geseblechtstbeile abgesebnitlen nnd
mitgenommen. Wenn Tirscb sagte, er habe die Tbat ans Zorn,
Baebe nnd „inneriieber Giei^ begangen, so mag dies angenommen
werden fOr das Faetam des Mordes seltMt nnd des Abschneidens der
betreffenden Theile. Aber wenn Tirseh sngiebl^ dass er diese Fleisoh-
tbdle beimgebraebt, nmstSndfiob zubereitet und im Lanfe yon drei
Tagen yerzebrt babe^ dann Ungte das angegebene Motiy nieh^ ein Wutb-
anfall und sei er aucli noch bo lange, dauert nicht 3 Tage; ausserdem
wdss man, dass Tiersch in dieser Z&t in der Stadt herumgegangen ist,
mit Leuten verkehrt hat u. s. w. — alles das schliesst Wuthanfall aus.
Wir können also auch für den zweiten Fall sagen: Tirschhat
sich eines Theiles seines Opfers und seiner Kleider be-
mächtigt und mit sieb genommen, wir haben aber ein
glaubhaftes Motiv für diese Handlung nicht erfahren.
Dass ein Wiithanfall und die von ihm behauptete „innerliche Gier"
drei Tage andauern und damit enden sollte, dass er die Körpertheile
sorgfältig zubereitet und im Verlaufe von drei Tagen verzehrt, dass
wird niemand, wie schon erwähnt, glauben wollen. — Legen wir nun
beide Thaten dos Tiersch zusanuiit'n, so finden wir das Gemeinsame,
dass er Frauens])ersoncn überfällt, sie tödtet oder zu tödten versucht,
sich ihrer Kleider bemächtigt und Theile ihres Körpers mit sich
nimmt. Wenn wir nun lediglich sagen wollten : „Für diese seltsamen
Vergehen haben wir kein glaubhaftes Motiv zu hören bekommen,
folglieh ist es aus Aberglauben geschehen" — so wäre dies yiel zu
weit gegangen, denn es können andi andere, uns unbekannte Hotiye
vorgelegen sein. Aber es giebt doeb gewisse Vorgänge bei menscb.
lieben Handlungen, welche schon nach ihrem Susseren Ansehen zwar
nicht unbedingt in eine grosse Eat^rie yon Eansiemngen gebSren
roflssen, bei welchen aber per exdusionem die Annahme erlaubt ist,
dass sie nur yon einem ganz bestimmten Beweggrunde aus yeranlaast
worden sein müssen. Seine Geisteskrankheit an sieb erklärt die Vor-
gänge nicht. — Sehen wir uns die Vorgänge in unserem Falle an:
Aneignung des Zopfes, um sich eine Bürste zu machen und
Aneignung yon Fleischtheilen, weil eine innere Gier dazu an>
trieb, so müssen wir sagen: „Die angegebenen Gründe sind offen-
sichtlich nicht richtig, der Vorgang ist sonst so zwecklos und so auf-
fallend ähnlich mit bekannten Vorgängen des sog. Blutglaubens, dass
wenigstens vermuthet werden dai'f, es sei hier Aberghiuben im Spiele.
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Zur Fnge ▼om ]wychoi>athlBeh«ii Aberglanbco. 339
Ich wiederhole, zum Theile schon- in der Eingangs genannten
Abhandlung Gesagtes:
Aberglauben ist überaus und mehr verbreitet, als in der Regel
angenonimen wird; es lice:t in der Xatur der Sache, dass zum Aus-
führen abergläubischer Manipulationen Din^e verwondet werden müssen,
welche nicht allzu leicht zu haben sind, weil sonst die Unrichtigkeit
der abergläubischen Vorsclirift zu rasch erwiesen wird. Deshalb
werden so häufig Körpertheile seltsamer und nicht leicht zu erlan-
gender Tbiere verlangt: vollkomnun schwarzer Plund, vollkommen
schwarzer Hahn, Fledermaus, Maulwurf, Schlangen u. s. w. oder
Theile von Menschen.
Wenn nun ein Mensch sich durch eine abergläubische Handlung
einen Vortheil zuwenden will, so wird es sich stets darum handeln,
ob in ihm die ethiaehen HemmungSTorsteliungen stark genug sind,
um ihn von dem betreffenden Thim abBuhalten. Befindet sich der
Betreffende in gewöhnlichem Znslande nnd ist er normal veranlagt,
so wird der BeiZ| sich den fraglichen Vortheil znznwenden, dann die
Oberhand gewinnen, wenn die ethischen Hemmungen kernen grossen
Widerstand zu flberwinden hatten. Wenn also Einer glaubt, dass er
im Spiele gewinnt, wenn er das Herz einer Fledermans anter der
Achsel tiSgt, so wird auch ein genügend einftltiger, aber geistig
normaler Mensch sich das Herz einer Fledermans yersohaffen, weil
seine ethischen Hemmungen diesfalls nicht viel zu Überwinden haben.
Wenn er aber glaubt, dass er fliegen kann, oder unsichtbar wird,
wenn er das Herz eines unschuldigen Kindes gegessen hat, so wird
er sich ein solches im Wege eines Mordes nur dann verschaffen,
wenn entweder äussere, sehr gewaltige Momentei etwa alleräusserste
Xoth, oder innere Momente, psychopathische Zustande die ethischen
Hemmungsvorstellungen überwinden. Ich meine: auch der normale
abergläubische Mensch glaubt, dass er fliegen kann, wenn er ein
Kinderherz isst, er glaubt daran nicht besser und nicht schlechter
als ein geistig abnormaler, er würde es auch gerne tliun, um einen
solchen Vortheil zu erlangen, aber seine gesunde Psyche verbietet
ihm ein scheussliches Verbrechen wegen eines irdischen Vortheiles
zu begehen; der psychopatisch Veranlagte unterliegt aber dem Drange
und begeht das Verbrechen.
Wenn wir also zu dem Schlüsse kommen: Der absolut zweifellos
geisteskranke und unzurechnungsfähige Anton Tirsch hat vielleicht
seine beiden Verbrechen lediglich begangen um zu abergläubischen
ZweckeaTheilenienachlidierKdrperzuerlangen— so haben wir praktisch
allerdings nicht yid erreicht, aber erkenntoisstheoretisch kQnnte dies
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840 XXYL GBoas, Zur Fngp vom iMycbopathiBcbCB Abcfglanben.
nicht ganz gleichgültig sein. Vor allem: wo ist die (irenze zwischen
geistig noniiai und geistig abnormal — dann: wo ist die Grenze
dessen, was die ethischen Heniniungen des normalen Menschen noch
hindern? Wenn wir hei dem Vorkonniien derartig grausiger Ver-
brechen einfach sagen dürften: „Das hat ein Narr gethan, den Narren
straft man nicht, sondern giebt ihn m ein Irrenhaus" — wenn es
damit sein Genügen hätte und haben dürfte, dann hätten wir nicht
weiter zu forschen. Aber es giebt gerade der unausgesprochenen
Fülle am meisten, Fälle, die von Halbnarren begangen wurden, von
Tennindeit ZnfoehnmigiflUiigen, von zweifielliall ZnreehBnngflfähigeD
und in diesen ilSen mim tot Allem die Triebfete in entdeeken
geeaeht weiden. Wir werden die Leute nicht strenger und nicht
milder strafen, wenn wir wissen, das» Aberglaaben sie getrieben und
ein schwaches oder ganz fehlendes Ethos nicht abgehalten hat, aber
wissen woUen wir, ob es wiifclicfa Aberglanben war, von den aoa-
gegangen wurde.
Schliesslich ist aber aneh das {»aktische Moment nicht gans
gteichgUtig, weil schon ans dem objectiven Thatbestand zwar kein
Schluss gezogen, aber eine Annahme gemacht werden darf. Liegt
nimlich ein Hergang vor, bei welchem anlfiaslieh eines Mordes Theüe
vom Körper des Getödteten oder dessen mehr oder ^voniger weith-
losen Kleider beseiligt oder hemm gelegt wurden, so darf vermuthet
werden, daas es sich um eine Tbat aus Aberglauben handelt — leider
haben wir nicht dnmal einen Anhaltspunkt dafür, welcher Art dieser
Aberglauben ist').
Als zweites zu berücksichtigendes Motiv ist der Umstand anzusehen,
ob zur That eine aussergewöhniiche Ueherwindung dagegen stehender
ethischer Ilemmungsvorstellungen nothwendig war (über grosse Grau-
samkeit , Ekelhaftigkeit u. s. w.) — ist das der Fall, so darf entweder
besonders grosser äusserer Dnick fgrösste Noth, Verzweiflung) oder
innerer psychischer Druck, also Geistesstörung vorausgesetzt werden.
Ueberblicken wir nun die seiner Zeit (Band IX, S. 253) und
die heute besprochenen, zusammengehörigen Fälle, so fällt es viel-
leicht auf, dass es sich in diesen acht Fällen (und wenn man die
weiteren Tbaten des Johann Holer (Band IX, 8. 260) dazu nimmt,
sogar 10 raien), um ein einziges mlnnhciies Opfer handelt: es
liegt die Vecmuthung nahe^ dass in diesem einzigen Falle neben Aber-
glauben und Geisteskrankheit auf Seite des Thfiters auch sexndl
perrerse Triebe mitgewirkt haben könnten.
1) Vgl. A. Kemanitscb, «Ein Kannibale" in diesem Archiv. T.Bd. S.SOOff.
Digitizcü by GcJC)
XXVII.
Naebtrag zu Bd. III 8. 175ff.
Zn meiner Abbandlnng: „Die Technik des StempelflUBohen*^
n. 8. w. in Band 12 S. 175ff. dieses AichiTS möchte ich Folgendes
nachtrSgfich bemerken:
Auf Ersuchen nm Blickgabe der Acten und nm knisen Bescheid
am 8. Jnni ist mir nach Schlnss des Dmckes (2& Jnni d. J.) ein
eingehender Bericht ron der yorgeseteten Behörde des S. 187ft.
a. a. O. bezielten Arbatshanses ttbermittolt
Danach hat auf meinen Vortrag vom 28. Dezember 1902 vom
3. — 5. Februar 1 903 eine genaue Prüfung der fraglichen Anstalt durch
einen Strafanstaltsdirector stattgefunden. Dieser hat den Fälschungs-
betrieb bestätigt, ist jedoch — allerdings in Widerspnich mit der
Auskunft des Polizeiamts zu Plön und den Angaben der Kunden —
zu der Ansicht gelangt, dass er sich auf die Zeit von 1899—1901
beschränke. Die ühnji^en Angaben haben sieb theihveise bestätigt»
theils nicht mehr nachprüfen lassen, nianclies ist als zu weitgeliend
oder unrichtig widerlegt. Dauernde Beseitigung des Schadens ist^
wie der Reriebt selbst hervorhebt, auch jetzt nicht gesichert, das dort
vorgeschlagene Aufgeben des Bedruckens von Briefbogen allein kann
nicht helfen, wie die Tbatsacben bewiesen haben, nur gänzlicbe Auf-
hebung der Druckereien und womöglich Umwandlung der Anstalten
nach Bodelschwing-sVorsclilägen kann wirklichen Nutzen schaffen.
Wenn die Aufsicht in der Anstalt bisher im Gegensatz zu den mir
gemachten Schilderungen thatsfichlich zum mindesten nicht schlecht
gewesen ist, so spricht das um so knter nnd beweisender gegen die
Duldung derDrookereien, da deren HiBsbraneh nachgewiesenermaassen
ein gana erheblicher gewesen ist Endlich d&rften diese VorfiUle als
neuer Beweis fOr dieSch&dlichkeit der Gemeinschaftshaft gelten können»
Nebenbei ist bei dieser Gelegenheit auch wieder heryorgetreten, wie
berechtigt die Warnung Krohne's — Lehrbuch der GefSAgnisskunde»
Stuttgart 1889 S. 528 f. — ist, keine Hänslinge oder StrKflinge als
Schreiber oder, wie hier geschehen, gar als Eassenschreiber m
beschäftigen.
Bestock, 28. Juni 1903. Dr. Schütse.
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Kleinere Mittlieilungen.
a) Von Medicinalratli Dr. P. Näcke.
1.
Adnexe für irre Verhrochcr an Strafanstalten oder an
Irrenhäusern? In dem „Generalanzeifrer für Lcipzip: und l'iTifirobunf^*
vom 27. Juni 1903, liest man unter Berlin, Ueu 2(>. Juni 1903, daäö in
der Inreoamtelt Henberge bei Berfio, io dem Hans 8, wo 81 gefsteBknoke
Verbrecher nntergebraebt sind, eine scliwere Revolte ansbni^ wobei 61
Kranke jrofr»^n IS AVflrtcr sich wandten und 0 dor letzteren mit Schläf^en
tüchtig traktiit winden. Einer davon wurde sogar ernstlieh verhauen.
Solclie Auflehnungen hat llerzberge in seinem Adnexe schon öftei' erlebt
mid Xoeli in 9Smm Bnehe Aber irre Verbreeher bringt noeh maneheriei
Material hierilber bei. Es bandelt sich hierbei meist um Gewolmhdte-
verbrecher, ,^chwere Jungen", die im l^aufe ihrer langen (Jefängnisscarri^re
vollends verdorben wurden und dies geschieht in der ürossstadt schneller
und gründlichei' als wo anders zumal sehr viele dieser ( iesellen Grossstadt-
frttdito ibid. In Herzberge hat num sich gezwungen gesehen, immer
acb&rfere Massregeln und Sicherheitsvoiriditungen zu treffen, freilidi, wie
das neueste Erei^^iiss zeijrt. nicht immer mit Erfol-r. riewnlmlicli gehen
solelie Jievölten iniuier nur von einzahlen. Itcsondcis 1 >urrlitiiol)riien und
Bösartigen aus und die Anderen „maclicu mit" oder werden einfach dazu
verfshrt Es fingt eicb nim unter aolefaen Umsttnden, ob oieht Ad-
nexe an Strafanstalten fttr irre Verbrecher besser sind als
an Irrenanstalten. Ich glaube es sicherl Man behalte dort alle
unbotmiLssigen , bösartigen Elemente zurück, bis sie harmlos geworden sind
und gebe sie dann erst, wie auch alle die übrigen — und es ist die Mehr-
zahl! — , die es am Anfang mdir oder weniger waren, an die IrrenhSnser
ab, wo sie, in nicht zu grosser Zahl nnd riditig vertheil^ Iceinen oder nnr
unbedeatenden 8cliaden anrichten werden.
2.
Aenderung des Charakters. Neulich eret habe ich diesen Gegen-
stand in einer kleinen Mittheilung in dieser Zeitschrift gestreift und eine
Erldämng für gewisse FtUle gegeben. Heute ronss ich ein gleiches für
andere Fälle thun. Kürzlich Maren alle englischen Zeitungen von dem
Ereignlss erfüllt, daas der tapfere Generalmajor Sir Uector Mao Donald,
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Kleinere Mittheilangeii.
848
der sich nie etwas hatte za Schulden kommen lassen, wegen unzUclitij^er
Handlungen angeklagt, ridi entleibt hatte. Wie war dies mOglieh b« diesem
Abgotte seiner Soldaten» dem tadelloeen Menschen? Manche Zeitung^en
wiesen aber offenbar auf den riditi-ifen We^ bin. 30 Jahre lang hatte er
sieb in den Tropen berunigesclilagen und das dürfte an sich schon genüj^en,
manchen Gesunden geistig und köiperlich niederzuwerfen. Wer weiss, ob
der General niobt andi Malaria nnd Ruhr durdigemaeht hatte. Die mebten
Engländer leben ausserdem in den Tropen nichts woni<ror als abstinent
— ob das von Mac Donald ^It, weiss ich nicht — und (bis nniRs die
Nerven noch mehr herunterbringen. Was am ehesten und mcisteu leidet,
sind die letzten Erwerbungen auf geistigem Gebiete d. h. die etJuschen
Seiten. IMe Moral rinkt mid die stete Berlihning mit nnterworfenoi nnd
halbwilden Völkern muss sie noch mehr zum Sinken bringen. Auch der
Kitzel des Ilen-schens kommt dazu. IMn erete Etappe auf dem abschüssijren
We{j;e bietet der sogenannte ., Tropenkoller*', von dem ja auch unsere jun^^en
deutschen Kolouieen heimgesucht wurden und werden. Es wandelt eben
niemand ungestraft nnter Falmen! Dass Personeni die sehen erblieh be-
lastet, sclmeller zusaromenbreeheu werden, ja sogar in G«steskrankheit
verfaUen, ist natflrlicb.
3.
Die Kosten einer Grossstadt für ihre Verbrecher. Folgende
Interessante Notixen entnehme idi dem Jonntal of Mooital Faihology,
voL IV., N. 1—3, 1903, |>ag. 82. New-York mit 3>/2 Millionen Eünwohnem
unterhält ein Heer von fast 35 000 Verbrecliem. Auf den Kopf der Ein-
wohner kommt durehsobnittlich 10 Dollure = 40 Mark Unterhaltun}j:s-
kosten für die Verbredier, während fUr Erziehung, Reinigung der Strassen,
Feuerwehr, ffiblMbdE, Parkanlagen, SanltllsTORiditHngen susammen vid
weniger verausgabt wird. Allein die Polizei kostrt der Stadt mAt denn
11 Millionen Dollars jährlich. Hier sind 7000 Personen angestellt, jährlich
geschehen fjist 100000 An'estatinnen und f:ist loOOO Verbrecher werden
in Gefängnissen unterhalten (^stimmt nicht mit obigen 350U0. Näcke.).
Jlhilidi werd«! ansaerdem 5 MDBonen Dolkun an Geld odor Oeldeswerdi
gestohlen nnd 2 Millionen an Eägenthum nnd durch Brandstiftung zerstOrt
Ausser dem Polizeipereonale giebt es noch 2000 „watchmen" und Hunderte
von l'nvatdotectivs. 1 Million Dollai-s werden für Verltrerlion iM^kiinipfende
(fesellöchalteu ausgegeben; 4 Millionen für Geldschränke (^safesj; 3 Mil-
lionen für AdTokateokorten, 1 Milfion fttr S<dilOiser und mehrere lOlGonen
auflsei'dem für andere Schutzmittel. Und trotzdem wird die Stadt in ew^er
Furcht vor Verbrechen gehalten. Das sind mächtig sprechende Zahlen,
die die ganzt^ sociale (lofabr dos Verbrechortliiinis in das hellste Licht setzen.
Gegenüber diesen ungeheuren Kosten und dem relativ so geringen Erfolge
wlfd man immer mdir an die Nothwoid^eit der Reformen im Straf- und
Oefingnisssystem ennnert und energisch mnss man ddi gegen die Gefflhls-
duselei wenden, die immer mehr das Heim der Vcrl)recher verschönen und
ihr Dasein daselbst so angenelini als niöirlicb gestalten will, mit niöglichst
guter Kost u. s. w., wählend Tausende \ on ehrhchen Leuten drausseu am
Ilnngertnche nagoi.
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Kleinero Mittfadlniigen.
4.
Immer frecheres Gebahren auf dein sexiu'llen Verkehrs-
Markte. Kürzlich schickte mir ein Freund aus Holland fol^'cnilo. jedenfalls
der letzten Zeit angeliörij^e Briefkasten-Ausschnitte aus dem ,^ladderadatäeli%
die icli hier selbst zum Abdrucke bringen lasse.
1. Spandau. Z.: Im ,,Berliner Local- Anzeiger*' (Nr. 29) liest mau:
„GaTalier^ 23, Mittelfigiir, theatralisebes Ansseheii urie Goethe,
wünscht BfduuDDtidiaft behiib Hdnlh mit nur sehr TenaOgender
Dame."
2. Z.: Im „Berliner Ta^'eblatt" (Nr. 21) wird anpezeifrt: „Junge Dame,
hier fremd, wünscht IVeundin. ^Lesbos' Morgenpost, Uackesclier
Ifarkt'* Q. 8. w.
3. In der «YoeeiBehen Zeitung'' (Nr. 5) wird angezeigt: ,,Jiinge Wittwe,
die später nach Berlin kommt, mit heiterem Temperament, guter
Wirthschaft, einem Knaben von 8 Jahren, tadellosem Ruf und einigen
Tausend Marie, wünfl4sht die Bekanntschaft gut situierteu, auch ältei-en
Herni mit disoretom Fehler. Nur entt^emeinte Briefe nnter £.E.
1000. Altona. Postamt I, Poststrasse."
4. Berlin. L.: Im „General-Anzeiger für die Berliner Abonnenten des
Berliner Tageblatt (sie!) und der Berliner Morgen-Zeitung" iNr. 112)
liest man: „Manicure, nur bessere Herrschaften. Fräulein Maso-
ehiean Kremson, Unter den Linden 27, m.**
Wenn man mebe früher yerOffentiiditen Sammlungen von homo-
sexuellen Annoncen mit den hier gegebenen vergleicht, so sind letzt«-c
Aea anderen allerdings „weit Über" und lassen an Deutlichkeit kaum etwjis
za wünschen ttbrig. Während als Chiffren fUr Homosexuelle schüchtern
hie nnd da „NardssuB, Sappho xl s. w." auftreten, sehen whr hier fai Kr. 2
direct den Namen „Lcsbos'' und in 4 wohl das erste Mal den Namen
Sacher Masochisraus unter dem nur wenig veränderten Namen „Masochisan**
auftreten. Natürlich handelt es sich dabei um eine Manicure, und der
Kladderadatsch fügt obiger Annonce sehr richtig bei, dass Sacher Masocli
ach zum Schutzpatron d«r Manienren nnd MasBeneen vortreffKefa eigne.
Schon frilher innes ich darauf hin, wie sehr gerade dies Gewerbe der
Kuppelei aller Art, besonders für sexuell Perverse verdächtig sei, und die
lYauen sind hier verdächtiger vielleicht noch als die Männer. Aehnlieh,
aber wohl niciit so schlimm, treiben es manche Barbiere der Grossstädte.
Bedaneriich ist es nnr, daas auch solide BUUter, wie die „Yossisciie Zdtnng'y
solche zweifelhafte Annoncen nihig aufnehmen. Was unsere Nr. 1 mit dem
„theatrnlischen Aussehen'* wie Goethe bezweckt, ist nicht reclit klar. Wenn
nicht ausdrücklich eine reiche Heirath gesucht würde, hätte man an einen
Homosexuellen denken können, wie solche gera<lc unter den Schauspielern
nidit so selten ridi vorfinden. Wie tief mnss aber moraliseh der Betreffende
Stdien, wenn er sich nicht entblödet, von Goethe als Lockvogel nur das
äussere Bild in einem gewissen I^ebensalter hinzustellen, losgelöst von allem
geistiLTcn Inhalte, der eine ganze Welt bedeutete! In Nr. 3 intriguirt un-
willkürlich der „discretc Fehler". Was ist wohl damit gemeint V Icl» denke
an Impotenz, doch kann es anch anders sein« Jedenfalls wird dieser Fehler
durch Geld anfgewogen. Non olet!
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Kleinen HitdieOaiigcn.
346
b) Von Hans Gross.
5.
Verdächtige Anaonceu. Mein verehrter Freund und Mitarbeiter
Medidnalraih Dr. Nieke bemüht sidi schon seit längerer Zeit, auf die
ZeHongssanoneen homosexuellen Inhaltes In verdienstlichster Weise anf-
merksam zu machen. loh folf^e sciiiein Beispiele und will auf die jetzt
überaus verbreiteten AnkUndigimgeii verweisen, welche andere Zwecke ver-
folgen.
Im Inseratentheile einer sehr grossen Zeitnng (ich wül dem Staats-
anwalt nidit Arbeit verursachen and nenne sie nicht) erscheinen Tag fttr
Ta^ Annoncen, in welchen Hebammen ihre Dienste anemjjfehlen. An
einem einzigen Tage fanden sich knapp hintereinander drei Annoncen von
fast wörtlich gleichem Inhalt, so ähnlich, dass man sie als von derselben Person
ausgehend ansehen wftrde, wenn nicht andere Adranen angegeben wftren:
sie shid unterschrieben: ^Frau L. M. X-Strasse 15, 2. Stock, Thür Xr. 15'' —
^Frau H. 0. Y-Strasso 20, Mezzanin, Thür 1^ — .Frau X. L. Z-Strasse 4,
2. Stock, Thür 5'' — . Der Inhalt lautet mit kleinen Verschiedenheiten.
g Damen von Distinction, die des Beistandes oder der freundlichen
Information in allen discreten Angelegenheiten bedürfen, woHen
sich nnr ganz TertranensToII an eine, an der Universität geprüfte
Hebamme von strengster Discretion und grüsster Praxis wenden.*
Folgt eine der obengenannten Untei-schnften.
Der „Beistand'' kann ja ganz programmmässig sein, aber die „freund-
liehe Information in aHen disoreten Angelegenheiten/' die den »ganz Ter-
trauensvoll" sich :üi die Frau »von strengster Discretion" Wendenden zn
Tlieil werden snil — die kann sich doch einzig und allein nur auf Ab-
ti'eibung beziehen. Offenbar hahen wir da wieder etwas aus Amerika be-
zogen; es ist bekannt, dass man jenseits des grossen Uäringsteiclies un-
geschent nnd noch viel nnreiblfimter „frenndUdie Informationen** sabietet;
die meisten Zeitungen bringen dorartige Annoncen, Niemand schent steh,
ganz deutlich zu sagen, was man meint, es bedarf keiner Auslegungen.
Aber bei uns ist das bislang nicht Sitte gewesen, und wenn man auch
hier schon seit Langem in verschämter Form Derartiges iui kündigte, so
war es doch nicht so dentHch, wie in Amerika nnd anch nieht so, wie
j^it bei uns. Man mählte, dass in einer snderen grossen Stadt vor
eini£:en Jahrzehnten ein Chirurg sich in den Blättern zur „Abtreibung von
BuniUs ürniem'' empfahl. Aber er dachte au keinen Bandwurm und —
wurde auch veretanden.
leb meine, dsss die Zeit lüdit ferne bt, in äar man die Abtreibung
der Leibesfirudit nicht mehr bestrafen wird, und wenn man wflsste, wo die
Grenze zu stecken sei, d. h. bis zu welcher Zeit von der Enipfängniss an
gerechnet, die Straflosigkeit bewilligt sein sollte, so wäre diese Auffassung
noch viel näher. Aber heute existirt das Gesetz noch und solange dies
der Fall ist, sollten Venpottangen des Oesetzes, wie es solche Annoncen
sind, nidit gediddet werden.
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I
BeBprechuDgen.
a) BUcherbesprecbungen von Näcke.
1.
WoItmaiiD: Politische Antluopulogie. Eine Untenuchung Uber den Ein-
flois der Descendenzlehre auf die Lehre von der politischen Entw ick-
lung der Völker. 1903. Thiü-ingische Vei'lagsaoatalt Eiseoacli und
Leipzig, 6 Mark, 326 Seiten.
Woltmanot Der verdienstvolle Herausgeber der i^PolitiBdien anthro-
polo<^ischen Revue*^ bat soeben oben genanntes Werk, dessen Onindzag
schon in seinem oi-storon Titel gegeben ist, herausgegeben. Es ist dies
ein sehr wichtiges Buch für jeden Gebildeten, da es die g^mmte
Entwicklung der Menschheit in Kunst, Wissenschaft und Gesdiiehte in einem
neaen, modernen lidite erBchdoen iBsst. In 19 Ki4»itetai werdeo die Fak-
toren der organischen Batwicklung, die physiologiidien Grundlagen der
Variation und Vererbung, die natürliche Variation und Vererbung beim
Menschen, die VervoUkonimung und Entartung der Ii^lssen, die biologischen
Grundgesetze der Kulturentwicklung, die Entwicklung der Famüienreclite,
die sociale Gesehicble der Stlade nnd Berufe, die politische Entwicklang
der Völker, die anthropologischen Orundlagen der politischen Entwicklung
und endlich die p(»litisclien l'arteien nnd 'riicorieen abgehandelt. Alles ge-
schieht in grosser Klarheit, möglichster ()bjecti\ität und auf Grund einer
grossen Belesenheit und mancher eigenen Beobachtungen. Es ist dies Werk
aber nicht bloss eine ebfache Compilation, sondern ein reillieh Uber- vod
dnrchdacht^ Opus.
Als rother Faden ziehen sich duich ih\s ganze Bucli zwei Theorien:
I. Die Anwendung der D(«ceudenzlehre auch auf alle sozialen politischen
und rechtlichen Gebilde und 2. der Fundamentalsatz der Ungleichartigkeit
der Rassen. Als die doidg dvifiBatorisdie wird die indogermanische — vnd
hier wiederum die gennuiseiie Banse hingestellt — die im Norden Europas
entstand. AufbltÜien und Vergehen der Völker und ihre Kultur han^'^t
vorwiegend mit Zu- und Abnahme der germanischen Elemente zusammen.
Der reinen oder modifizii'ten Darwin 'sehen Hieorie in ihrer Anwendung
anch auf sociale Gebilde n. s. w. kann man gewl», meint Referent, ab
der bestmöglichen nur znstimmeii. Auch ihre Anwendung auf das Recht
ist nur eine Frage der Zeit. Viel weniger gut fundirt da^'-egen ist der
zweite Hauptsatz des Verfassers. Ziendich sicher ist wohi eine Ungleich-
artigkeit der Basseu, dem Werte nach, anzunehmen, aber bedenklicli ist
esy nnd gewiss noch lange nicht Uber allem Zweifel erhaben, dass die Ger-
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BeapFCcbongeii.
347
nianeo die auserwälilte liaase, das Fermeut der Kultur sind, noch mehr
aber, dtts alle Indogermanen ans dem Norden EmrofMS und den Germanen
entstammen. Freilich sind die dafür sprechenden Daten immerhin gewich-
tiger, als die entpej^enstehenden , doch von W ah rschein Ii oh k oit l) is
zur Sicherheit, wie es die Theorie-Fanatiker Wilser", Ammun, Penka,
L a p u u g e u. b. w. prukhuuiren, ist es noch ein weiterSchritt
ond jedenfalb ist diese Hypothese lange nidit so gnt beseugt, wie die
Darwinsche. Gefährlich, mindestens cweifelhaft ist es ferner, gewisse
T^angköpfe, hlaue Aufjen, helle Haut u. 8. w. ohne weiteres als \ oin ;rer-
manisclien Typus vcrerltt zu erachten, da, wie Verfasser einmal riclitijr l)e-
merict, da& eine oder andere reine Keimesvariation sein kann.
TTnd wie soll man diese von echter Verert»ang unterscheiden? Das ist ja
auch die Hauptschwierigkeit in der Vererbnngsftage» da jedes eben anch nur
Keimesvariation sein kann! Gar naeli Rflsten, Bildern, Mflnzen u. s. w. ent-
scheiden zu wollen, ob ganz oder theilweis in dein einen oder anderen
Helden, Künstler, Cielehiten germanisches Blut rollt, ist melir als gewagt.
Von Napoleon z. B. existiren ganz versdiiedene Bilder o. s. w., anch von
Goetiie und Shalcespesre. Welches ist das richtige V Man nehme x. B. die
Büste Napoleons von der grosslierzoglichen Bibliothek zu Weimar, welclies
als absolut authentisch gilt, und man wird Napoleon nicht mehr wiederer-
kennen! Wissenschaftlich können nur genaue Messungen
oder QypsabdrIIcIce verwerthet werden nnd auch diese
sind beziehentlich der Raas en an gehO r i gk e i t nicht
absolut eindeutig. Dass also z. B, Napnioon, Michelangelo, Lio-
nardo, Dante reine (lornianen sein oder germ.uiisclics Misclililut haben sollen,
wie W o 1 1 ui a n n meint, sclieint mir absolut noch unerwiesen; nur wenn
Ahnentaffeln vorhanden wirm, könnte es fflr mich dn Beweis sein. Das
Aeoflsere trOgt eben leicht!
Hei dem ungeheuren Mafcriale, das Verfasser \ erarbeitet, ist es natür-
lich klar, dass man ihm niclit in Allem K'eclit geben wird, was aber dem
ganzen sicherlich nur wenig schadet. Idi glaube, es wiixl nützlicli sein,
* wenn idi hier Einiges davon knrs bertthre. Ob der Kampf des Minnchens
um das Weibclien zur Zeit der Brunst so allgemein ist, wie Verfasser
sagt, ist mir sehr fraglich, ebenso ob durch das bunte Federkleid, Stimme
u. s. w. das Weibchen wirklich gewonnen werden soll. Vielmehr scheint
mir hier folgender Causalnexus näiier liegend. Durch die Brunst, durch
die Reifung nnd Anhiufnnif des Sunens wird der ganze Stoffwechsel
so ge&ndert, dass als AnsQiUB derselben anch die Vertndemngen an den
Federn, der (Jesang u. s.w. auftreten. Letzterer ist also nur rein secnndlr
und wahi-scheinlicli auch weniger wichtig, Jils die Energie bei der sexu-
ellen Annäherung, die durch die Brunst erzeugt wird und dem Weibchen
eventnell als soldie imponirt
Auch möchte ich mich dagegen ausspredicn, dass Drillinge ein Hück-
sdilagszeichen sind. Die von Vcrfa.'^ser angeführten ..obstetrischcn" Ent-
artungszeichen von Larger sind zum grossen Theil sicher falsch, wie ich
das frUhei* schon in einer Kritik besprach. Ob die (irUnde, warum die un-
gesdilechtliche m die geeehleehtliche Fortpflanzung überging, wiriilieh die von
Verfasser angeführten sind, möchte ich nodi in dubio stellen. Das letate:
warum ? ist uns sidier unbekannt Weismanns Theorie vom ewigen
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348
KeimplMma ist auch mir sehr sympathisch, dagegen ist seine Erkläinmg
doroh Determmanten, Idea 11.B.V äae Mhr gwehraabte and wird wohl Bur
Yon wenigen ohne weiteres angenommen. Aadi idi glaube nicht, dlM in
aDgemeinen Vorlotzungen vererblich sind. Aber aus Amerika sind so massen-
haft Fälle von .luden ohne Vorliaut bei «ler (teburt gemeldet, d:ws sidit r
kein blosser Zufall vorliegt. Man kann hier aber recht wulii auuelimen,
daas die früh vorgenonuneBO Operation aneli die io nahegelegeneB Keim«
Zellen beeinflussen konnte. Ob ans den Negern wifUioh sicher die Mittel-
länder und Nordcurop.^er 8tufenm.l8sig hervorgingen, wie Verfasser sagt,
ob die ^alpine Hiussv" Mon^'^oloide sind, ist wohl kaum bewiesen oder zu
beweisen. Bei allen solchen Fragen — und dies gilt noch viel mehr von
der Herknnft nnd der VerwandtBchaft der anegeBtorbeoen Menaoheiiraaieo
— iat immer nui* höclistena von einer gewissen Wahrseheinliehkeit zu
reden, nie von einer Siclierheit, was leider nur zu oft vergessen ^^ird.
Auch über die anfrobiicbe I'nveränderlichkeit der Indices .sind die Aeten noch
lauge nicht geschlossen und hier möchte ich auf eine wichtige Uutersuchungs-
meäode hinweisen, die mir gegenüber der Tentorbene, ansgeaeidmete An^
thropolog Mies henrorhob. Er meinte, um der obigen Frage nflher an
kommen, wäre es sehr widitig, die Sefaftdel in Er)>grüftcn zu untersuchen,
wo also mehrere, genau bekannte Generationen zusammenliegen und hier
die Ascendeuz und Desceudeuz auf die Indices hin zu prüfen, was bisher
leider noeh nie geschehen wtre. Besiehentlieh der Insncfct haben Peipers
und P6uot - Verfasser erwihnt sie leider nicht! — nachgewiesen, dass
die Inzucht bei Menschen, wenn beide Tlieile gesund sind, unschndlicb bt,
. da*« ferner viele 'I'abellen, welche die Gefährlichkeit daratellten, ganz ein-
seitig waren. Ob aber aucli unter obigen Umständen bei Menschen die
Gonstitntionskraft alhnihiieh nachliaBt, wie Woltmann es sagt, das ist
wohl noch nicht bewiesen! Anoh ist die Theorie der PromisknitSt noch
lange nicht abgethan, wie Verfasser mdnt; ja nacli P ^ n 0 1 und Andwn
sogar viel wahrscheinlicher, als die ursprüngliclie Monogamie. Schon
die in jedem normalen Manne mehr minder latent
steckenden polygamen Neigungen sp rechen sehr fllr eine
urspranglichePromisknitit Ob nicht wirklich einmal Gynäko*
kratie gehen-scht hat, ist wohl immer noch zu fragen, üeber den EEfeot
der Kassenkreuzung beim >fenseben wissen wir zw wenig Sicheres, da .sehr
viele Momente hier mit einspielen. Grösste Vorsicht ist also hier zur Zeit
noeh geboten. Leider erwihnt Verfasser wieder das Märchen vom scbid*
liehen Einflüsse des Zengnngsaetes im Rausehe. Weder er, noch irgend
ein Anderer wii-d mir ein absolut .sicheres Beispiel hierfür bringen, ob-
L'leich ich die Möglichkeit nicht iHstivitc. Aus der Literatur kenne ich
keinen beweisenden Falll \ erfasser findet es gerechtfeitigt, dass man
Keuschheit mehr von der FVan als vom Manne verlangt Ich bestreite
dies nnd möchte eher das Gegentheil behaupten, da die Fnn der schwiehere
und gewöhnlich der verführte Theil ist. Die Germanen zu des Tacitus
Zeiten waren wahrscheinlich, tnifz Woltmann, schon vermischt und den
Angaben von Tacitus ist bekanntlich nicht immer zu trauen. Woltmann
nimmt an, dass modernen Staaten in allen Kreisen erblich immer mehr
entarten. Nun, anch darQber lieese sieh wohl rechten, ebenso wie über
die Behauptung, dass die Leistungsfähigkeit der Beamten und MOittn ün
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Besprecfanngen.
S49
KüekfjT.uifr WefH'ifft'n ist. Erst recht ahcr, wenn die Juden ursjHiiii^lieh als
Ackerbauer, Gärtner, Krieger iiiugeätellt werden und ihre Instinkte erst
umIi der Vertreibang sieh verftndeit hitten. Die Juden treten uns im all*
geraeinen in der Hibel nicht als besondere Kriegshelden entgegen und hatten
ficlion damals den nändichen Charakter wie jetzt. Sie acliaehorten und über-
listeten sieli und noch mehr die Ciojims, und ihr (.Jott Jahwe zeigt deutlich
jüdischen Cliarakter. Wegen ihrer Art waren die Juden schon damals allen
Umwohnern verhant, aaeh bei ihren Raasererwandten. Das sollte man niefat
Torgessen !
Schon aus Obigem eraieht der I^er, was für hochinteressante Themen
in Wctitmann's Buche abgehandelt werden. Hoffentlich erfolgt liald
eine zweite Auflage, am liebsten mit Register, das jetzt fehlt und vielleicht
finden einige hier erwälmte Itritiiehe Bemericangen BerQeksiehtigimg.
2.
iiraunschweig, Das dritte Geschlecht (gleichgeschlechtliche Liebe).
Marhold, Halle 1903, 1 Mk. 2. vermehrte Auflage. 63 8.
Obiges Bttdilein habe ich schon im 10. Bd. dieses Arehivs 8. 802 be-
«prochen. Unterdess ist eine 2., etwas vermehrte Auflage erschienen. Leider
liat der Verfasser versäumt, die manchtflei IrrthBmer, die ihm die Kritilc
«ntgegenhielt, zu beseitigen.
3.
Schnitze, l. Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen
Psychiatrie. Marhold, Halle 1902, 46 8., 1 Mk. — 2. Entlaasang»-
zwang und Alilehnung oder Wiederaufhebnng der Entmündigung.
Marhold, Halle 1903, G3 S., 0,80 Mk.
Verfasser bespricht in der 1. Broschüre die für den l'svt liiater wich-
tigsten Entscheidungen aus der juristischen Fachliteratur des Jahres lUUl,
und zwar das Straf-, Bürgerliche Gesetzbuch, die Stiafprocessorduung, Givil-
liroeessordnung und das Uandelsgesetsbnch betreffend. Wenn der Jurist
daraus natürlich kaum Neues lernen wird, so thut es um' so mehr der
Psychiater, und eine Meihe v<>n Entsclieidmigen sind für ihn geradezu
frappant. Man sieht daraus wieder, wie uülliig es ist, dass Juristen und
Psyclüater gewisse Fragen gemeinsam erörtern und sich so gegenseitig
fordern und besser verstehen lernen.
In der 2. Arbeit Wird eine schwierige, auch von den Gerichten ver-
schieden beliaiidelte Frage an der Hand zaliheieher eigener oder fremder
Beispiele und auf Grund einer Enquete bestreichen. Verfasser zeigt, dass
nicht jeder Staatsanwalt glaubt, dass Ablelmung der Entmündigung das
Fehlen der AnstaltsbedOrftig^dt bedeutet , ebaiso, dass es juristisdi nodi
nicht sichergestellt ist, ob ein Pfleger die Enthissung seines noch kranken
rflegebefohlenen verlangen kann. Zwang der Anstaltsbehandinng ist nach
Verfasser dann ))crechtigt, wenn das Interesse des Erkrankten oder dritter
Personen zum mindesten überwiegen. Die beste Formulirung der Frage
lautet nach ihm: ^Ist die Gdstesstörung des dort untergebrachten X. vor-
■aussiehtlidi unheilbar? Wenn ja, hindert sie ihn, seine Angelegenheiten su
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350
BeeprechnngeiL
besorgen ?*' Mit Hecht verlangt er, doää nur ältere, erfalireuere Juriäteu die
Entmfindigung vornehmeo. Dem Vemn, worin Verfasser den Vortrag bidt^
empfahl er folgende Resolution zur Annalime: ,.Der Verein der Imnlnte
der Rlieinprovinz hält die Boatimmung, nach der Kranke nicht mehr gegen
ihren Willen in der Anstalt zurückbehalten werden dürfen, wenn ilire Ent-
mündigung abgelehnt oder wieder aufgehoben ist, für principiell und prak-
tisch hOehst bedenktieh.<<
4.
Möbius, (M^chleeht und Knjjf^MOsse, Heitrilge zur I>ehre von den Ge-
sHilcclits Unterechieden, Heft Marlu.kl Halle 1903, 47 S.. 1 Mk.
Verfasser stellt zunäclist den iiidit neuen Satz voraus, dass der Um-
fang des annäliernd normal geformten Kopfes im Allgemeinen mit den
geistigen Krftften wSdist Unangenehm bttührt in dieser reinen IMlettanten-
arbeit dabei der Ton, den er den berufenen Anthropologen gcgenüljer an-
schläfrt. Jedenfalls sind die (Jründe z. B. dafür, dass Waldeyer und
Krause den Schädel von Ix^Hmitz fxefunden zu haben glauben, sehr viel
besser gegründete, als die einfach absiuechende Kritik von M. Wenn der
grosse Ifensdi einen etwas grössoen Kopf hat als der kleine, so bat er
daftlr meist einen relativ kleineren. NatUrlidi luun Varfasser nicht unter-
lassen. auf seine plirenolopschen Ansichten zu sprechen zu kommen und
den kleineren Kopf der Frau \er\vertet er implicite für ihren „physiolofrischen
Scliwaclisinn." Dabei hat aber die Frau zur Körpergröase gewiss kaum
dn geringeres Gdiim als der Mann, nnd allein anf die Gehirn grOsse kommt
es nicht an, meine ich. Unerfindlich ist mir, wie der Wille mehr ein grosses
Gehirn verlangt als der Intellekt. Umjjekehrt fiiulen wir oft kleine Leute
mit sicher absolut kleinerem Gehirn als grösserere recht oft mit grosser
Energie begabt. Zur Kopfgrösse genügt der Kopf umfang mit liandmaass
oder dem Oonformatenr nicht Verf. giebt die Resultate der Maaase von 600
mehr oder minder bedeutenden MUnnem, die ihm ein bekannter llutmacher
geliefert hat. Die meisten waren Kurzköpfe. In Mitteldeutschland ist die
grosse Mehrzahl der Hüte 5(i — 57,5 gross. Als Durclischnitt bei den sog.
besseren Ständen fand Yei"fasser mit dem Bandmaass 57 — 58, bei 50 „Damen"
53,tö. Es ist also hier ein deutlicher Unterschied zwischen Mann und FVau.
Stets ist die KörpergrOsse von der Körperiänge ziemlidi nnabhftngig, noch
mehr von der Ma.sse. Also ancli diesen Mf^bius kann man nicld ganz ohne
Widt'ircde li'sen, und ohne Ilieln' reciits oder links geht es bei ihm niclit
al», was ihm schweriich mehr Freunde erwerben wird.
5.
Mendes-Martins, Justa def^sa acerca da ,,Sodologia criminal^. Lisbo«)
Tavares Cardoso \- IrmAn I9(>3. 79 S.
Referent hat kürzlieh über das hübsche Werkchen von Verfa.sser über
kriminelle Sociologie beridilet. V orliegende Schrift ist mehr eine Streitschrift,
die aber trotzdem auch den femer Stehoidra interesstft Pirof. Bombarda
vertheidigt schon lange den Satz, dass es eine specifische Gefängniss-
psydiose giebt und solche allg^ein ankommen wflrde. Im I. Teile dieser
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BnprecbuiigeD.
351
Sohrift fflhrt nun der erste I^ychiater Poitsgals: de Mattos, Boinbard&
ad absurdum, ilim zoigond, dass heute wolil von Niemandem mehr eine
specifische Gefänjniisspsycho.se belmiiptet wird. Mondes- Martins setzt
sich dann gleiclifalls mit liumbarda darüber auseinander, indem er zu-
gNdi das RfBiiHat der Umfingen, die die Kieht-Spedfidlit besUUlgen, nüt-
fteflt Sodann wehrt er sich wieder und oft sehr adiarf gegen Bom-
bard a.s Angriffe auf soin Buch tlber kriminelle Sncidogie. Man kann ihm
im Alliroinein«'!! überall nur Recht geben. Referent bedauert nur, dass
Verfasser auch jetzt noch alle ii'ren V'erbrecher einer Central-Anstalt ftir
loldie fibergeben mOehte, ferner die monU ioianity Boeh annfnimt, dagegen
die Terminderte ZnreehnnngBfiÜiigkeit ablehnt.
6.
Uoche, üeber die leichteren Formen des periodischen Irreseins. iJalle a. S.
1897, Marfaold, 39 S.
Wenn obiges, schon vor lingerer Zeit enchieoenes Sehriftehen dea
Verfassers jetzt nodi angezeigt wini. so Hegt das daran, daas ea gerade
für den llichter wichtig ist, zumal es überaus klar und überzeugend ge-
schrit'lHii ist, und auch jetzt noch durchaus dem Standpunkt der Wissen-
schaft entspricht. Gerado die Icichtereu Formen des periodischen Irreseius^
▼on denen die reinen melaneholisehen die seltensten, die direnlftren die
häufigsten sind, werden in praxi so oft übersehen, kommen meist nicht in
Anstalten und können trotzdem den Richter beschäftigen. Die erbliche
Belastung spielt tiberall eine sehr wichtige Itolle und schon die Kindlieit
kann die kommenden Dinge anzeigen, wenngleich hier periodische l'sy-
dKMen adlir selten sind. Sie beghmeii erst in äet Pobertit, bis snm
25. Jahre. Verf. bespricht dann kurz nnd prSgnant die einzelnen Ver-
laufsweisen und ihre Variationen, iliro Diagnose, Prognose und Therapie.
8ehr wielitig ist der neue \K r ilpeli n sehe) Standpunkt, d.iss die meisten
Fülle von erstmaliger Melancholie und Manie der Anfang von periodischer
GeiateMtfimog ^d. FDr den praictisehen Arst sind gerade die leichteren
FUle deshalb wichtig, weil er bei richtiger Erkenntniss viel für Patienten
machen und sein ganzes I^ben entsprechend regeln kann. Bei kurzem oder
fehlendem Intervalle der circulären Form ist dauernde Entmündigung am
Platze. Bei freien Intervallen aber nicht, eventuell maclit sich ein wieder-
holtes Verfahren nOthig. Naeh längerem Beatehen der Krankheit kann
inteOeetaeOe Absehwftchnng eintreten.
7.
Baec k e , Die transitorischen Bewusstseinastörungen der Epileptiker. UaUea.&
1903, Marhold, 17S S., ;i Mk.
£s ist sehr verdienstlich vom Verfasser, dass er 150 Fälle von epilep-
HidMB tranaitoriBchett BewnaatoeinaatGningen bei Epileptikem der Tübinger
und Kieler Klinik einer adir genauen Prtlfung unterzieht Das ist audi
der beste Weg, um solchen ufer- und bodenlosen Heliauptuntren bezriirlich
der Epilepsie, wie sie besonders Lombroso vertritt, entgegenzuarbeiten.
Von solchen acuten Störungen betrachtet Verf. den classischen, den rudi-
Mlr Hb lilafiMdaafhiopoloKi«. XU. 24
Digitizeo by Goü^lt;
352
Befpreohnngvo,
menttna und den atypischen Anfall, die Verwirrtheit in ihreo Fmmen,
die paranoiden Zustände, die T>äminer2ii»tände mit Z w an psim pulsen und
die traurige, rcsp. heitere \ eratiiumung. Jedes dieser KranicheitAbilder wird
genau beschrieben. Allen acuten epileptischen Pftychosen gemeinsam ist
ein yerlodarter BemmlwiBiMmtamd , ▼on der venehiedenattti Inteuitit
Bei der epileptischen Verwirrtlieit zeigt ridi besondera die Merkffthigkeit
vermindert und der Gedankengang springt immer ab, wird incohärent.
Der Affect ist weniger betlieiligt, als die Ass^iciationstliätigkeit. Doch
zeigen sich bisweilen Angst oder Wath. den paranoiden Formen tritt
die AflM>oialioaHtOrong geordneter m Fenn tob Waluiideen anf. Bei
tranmbaften Dümmerzuständen sind Hallndnation und Walinideeo eelleo;
Zwangsimpulse dagegen vorhanden. Die Erinnerung ist nach einer epilep-
tischen Störung meist abgebrochen, docli giebt es hier viele Varietäten, die
forensifldi widitig sind. Die Dauer der epileptischen Psychoee Icann von
Minuten bis in Tagen und Woehen aieli eretreeiran, leiten llnger. Bii-
weilen entsteht «ne postepileptische chronische Pannoia. HezQglich der
Diagnose gilt noch heute das Wort Si emerling's: Ohne epilep-
tische resp. epileptoide Antecedentien giebt es keine epilep-
tische Psychose.'' Als sicherstes Symptom bat ein Krampf-
anfaU sn dienen. Diese wichtige Sduift des Verfsssen sollte jeder
Siebter und Genchtsarzt lesen und beherzigen. Auch wQrde Lombroso
daraus viel lernen Icdnnen, wenn er sich nicht aber solche YeUeitJlten er«
haben fühlte!
8.
Anatole, Unter der Herrschaft der Küthe. Hamburg 1902, Nissen. (Auf
dem äusseren Umschlage steht: 1903, 2. Aufl.), 117 S.
Es ist ein Zeichen der Zeit^ daas jetzt allerhand sexuelle picante B&cher
tttr das grosse PnMienra verOffentiidit werden, die meisten ncherlieh über-
flüssiger Weise. Von obigem Büchlein möchte ich dies aber nicht ganz
behaupten. Verfaaser (Pseudonym?) versichert in der Von-ede, dass es in
Deutschlaad ^Hunderttausende*^ von Masochisten und Sadisten giebt, was
Referent ftt^ich doch sehr bezweifehi möchte. Zuerst wurd ein ziemlich
emgehendes Tagebuch emes an^equoehenen IfasoehiBten fak seinem fBr
uns so fremden GeschlechtsempHnden veröffentlicht. Ein junger Mann tritt
in ein Cit^acliäft ein, woselbst er sich von der Inhaberin bei jedem kleinsten
Versehen und zwar mit eigener Billigung, peitschen lässt, was ihm grosse
Befriedigung gewährt, obwohl er mdit sagt, dass es ihm sexuelle Be-
friedigung verschafft habe. Hier «npfindet Aet wohl anch ffie BeitBeherin
selbst sol( h< . AngefOgt sind endlich zwei kleine, kflnstlerisch und litera-
risch unbedeutende Novellen Sacher-Masoch's: 1. Amor mit dem
Corpuralstuck und 2. Verkauft. Beide sind Repräsentanten des Sadismus,
die swäte wohl aber nur schwadi. CulturgeschichtUch sind sie nicht ohne
Interesse. Es ist fraglich, ob man den Zag des Oransamen, der so oft
namentlich im Weibe ruht, direct als Sadismus bezeichnen soll oder nidit
Man müfwte dann auch oft die . Wji.schlappifrkeit" mancher Mfinner, die
durchaus zum geordneten Leben einer energi^jchen Frau bedürfen, schon
Masoclüsmus nennen, was wohl zu weit gegangen erscheint. Bemericen
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BeepreohoogeiL
858
will ieli endlich, dass sieiier ein Theil Maaochisten und Sadisten so ab ovo
geartet sind, wie audi die echte Uomoeexualität , dass aber bei den
Meisten wohl MaaoebiBmiiB und Sidfamnt nor Aniartongen einer abgelebten
Seele sind, wenn man hier nieht etwa tardiFB Formen annehmen will, wie
bei den Homoaeinellen.
b) Btteherbespreohnngen von Oberarst Dr. Kellner.
9.
Burgl, Die £xLibitiouiäteu vor dem Strafricliter. Ailgem. Zeitsciir. f.
F^yeb. nnd p8ych.-geri«htL Mediein. 1903. Bd. 60. 8. 119.
Eine Yerartfieilmig Tdn EzhÜHtioniBten erfolgt leichter ab die anderer
Beklagter, weil die sittliche Entrüstung meiet grösser, eine gewisse Zweck-
niäiiöigkeit der Handlung nicht zu verkeniUHi, ainnlnse Betrunkenheit, welche
für manche heterogene Vergehen als Entschuldigung' gilt, nicht nachzuweisen
ist. Mehr erfahrene lÜchter, weiche neben praktischer Erfahrung audi
psycfaiatrisehe Kenntnine beeitsen, eehen in den Beldagten dagegen anor>
male Menschen und ordnen eme Expertise an. Verf. bat sicli bei den fQr
eine solche in Betracht kommenden (ieaichtspunkten, die er in erschöpfender
Weise behandelt, die Frage vorgelegt, ob die Exhiltition als schwachsinnige,
als impulsive oder Triebhandlimg, als Zwangshandlung, als zufälhge und
fahrilMige oder als „freigewollte eines geistig gesimdh» Memdien'' an»i-
aehen ist.
Als Folge des Schwachsinns kommt Exhibition vor bei den verschie-
denen (j laden der Imbeoillität sitwie bei der senilen, paralytisclien und
alkoholischen Demenz und zwar in Folge von Abschwächuug der hemmenden
aittfiehen Gegenvoritellangen bei aezoellea Erregungen, beaonden da yiel*
fach in solchen Fällen die normale sexuelle Befriedigung fehlt. Leicht ist
die Begutiichtung bei höheren Schwachsinnsformen, scliwienger in den Fiilleu
von Debilität, wenn die intellectnellen Defecte gegenüber jenen auf ethi-
schem und ästhetischem Gebiet zurücktreten, wie z.B. bei den erblich
degenerativen Psychopathien und dem alkoholistiMhen Sehwaehainn.
Unter impulsiven Handlungen versteht man solche, bei denen pHNlfieh
auftretende Hamllungen sich mit abnormer Energie in Handlungen um-
setzen ohne Uberhaupt (iegen Vorstellungen aufkommen zu lassen. Zuweilen
ist die Exhibition mit ausgesprocheuer mit der Ausführung weichender
Angst, xiweilen aneh mit dirMter Befriedigung verbunden. Diese impul-
aiven Handlungen kommen vor bei krankhaften Bewusstseinsstömngen bei
den verschiedenartigen fepilrptisclieu. alkoholischen, traninatisclK'n) Dämmer-
zuständen, bei abnormer Stimmungslage, bei gleichzeitiger intellectueller
Schwädie, bei Psychosen und bei Entarteten. Sind die Chai-aktere der
Dimmersuatlnde — brOakea KInaetaen, OrieothrongastOrnngen, Hallneina*
^nen, eventuell Angst, Amnesie — vorhanden, so gewährt die Begut-
achtung keine Schwierigkeiten, eher dagegen, wenn einzelne, scheinbar be-
absichtigte, zweckmässige Handlungen beobachtet wurden (Anruf»:n der
weibUchen Fersou, Flucht vor dem Schutzmann), oder wenn gar die
Amneaie m fehlen aehefait Es mnas aber daran erinnert werden, dam die
«beaonnenen'^ Haadlnngm im Dimmenuatand oft nur die Folge emer
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■
854 BMprednittgea.
einseitig concentrirten Gedankenriclitunf; sind (ühorwortliij^e Ideen), und
daes in solelieiu zuweilen weit conipiicirteie Handlungen unternonmion
werden. Ob mau den Richter vom Zutreffen des $ 51 überzeugen kauu^
wird foiter UoMtliiden nmi Theil davon abhängen, ob die Handhmg des
Beklagten besonders heterogen von seinem Obrigen Leben ist and ob er
glauliwürdig erscheint, besonders b« nur partieller Amnesie, Wiclitijr aber
ist, dass das Einfreständniss des Beklagten noch niclit» beweist, dasa eine
summarische Ehnneiiing vorhanden, euie anfänghehe, gleich nach der Thal
YOibandene apiter schwinden Innn, oder dass ebe Amnerie anch dnreh
retrospeelive Associationen erginzt zu werden yermag. Deshalb ist es
durchaus noth wendig, die Aussagen des Beklagten ebenso wie die an ihn
gerichteten Fragen möglichst wörtlich im Protokoll wiederzugeben und man
hüte sich, etwas in den Beklagten hineinzuexaminiren.
Wichtig sind die Dimmenntinde bei Personen, welche dnreh Kopf-
▼eiletzungen eine traumatiscb-pBycfaopathisehe Constitution, eine Intoleranz
gegen Hitze, Affecte und besondere Alkohol erworben haben, und weldie
schon durch kleine Mengen Alkohols in ranschartige Zustilnde geratlien mit
Hallucinationen, Angstzuätänden und schweren Affectstörungen mit der
Keigung ni tifobartigen Handlungen. AndereneUs vennag sdion eine ge-
ringe Attoholaufnahme bei chronischem AOcohoUemus sowohl tranmartig
veränderte Bewusstseinszustände ohne gröbere Störung der Gemttthslage
sowie habituell auftretende Dämmerzustände hervorzubringen, die weder
durch Symptome hochgradiger Trunkenheit noch durch auffallendes Be-
nehmen ebarakterUrt sind, sondern sidi nur dnreh eine genaue Anamnese
nadiweiMn lassen.
Unter Umständen kann ein Anfall periodischer Manie bei hochgradig
gesteigertem Sexualtrieb sich in exhibitionistischen Handlungen äussern.
Immerhin wird es hier wiclitig sein, die Entartung nachzuweisen.
Ab Zwangshandlung in Folge von ZwangSTorstellungen tritt die Es-
lubition auf, beBonders bei sexuell gesehwiditsn (Onanie) Neurastiiaukem.
Das exculph-ende Moment ist vorhanden, wenn zur Vorstellung Unlust- und
Angstgefühle hinzutreten, welclie zur Entladung zwingen. Die Zwangsan-
triebe sind stets Zeichen einer schweren Degeneration oder kommen vor
im Verlaufe Ton Bsyehosen.
Als zumUge oder fahrUasige Handfamg ist die Bzhibilion nur ge>
legentlicli Gegenstand ärztlicher Expertise.
Burgl untei-sclieidet zwischen Exhibition, der einmali«rr-n, bei Gesunden
und Kranken vorkommenden Handlung und dem gewohuheitsmässigen £nt-
blOsaen der Genitalien, dem Exhibitionismus, der vorwiegend bei anormalen
Personen voricommt Sowohl der Ort wie die Oleidiarllgkeit des Vorgangs
lassen gewisse Schlüsse auf den Geisteszustand des Thäters zu. Ein ge-
Wühnheitsmiissiger Exhihitionist aus krankhaften Ui'snchcn ist als gemein-
gefäbrUcher Menscli zu ei-aditen und — sofern die Handlung nicht zu selten
▼<»lEommty — sn intenuren.
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B«>praehmigion.
86S
10.
HeilbroBBer, Ueber Fuga» und FagaesniBtliide. Jahrb. f. Psych. Bd. 2S.
Heft 1 und 2. 1903.
Unter Fugues versteht man Zustüiule, ia wdchen Leute plötzlicli ihr
Domicil, ihre Thiltif^keit, ihre SteUnng verlassen, um sich län;>'oio oder
kürzere Zeit umherzatreibea. Dieselbeu sind auch als Fälle kraukhalteu
Wandortriebei besohrieben und, da btnfig fttr die betraffende Zeit Ep>
imieningMtSrangen bestehea, meiit den epü^tiBeheo Aequivalenten la-
gezählt worden. Heilbronner hat nun in einer grösseren, wegen ihrer
eingehenden psychologischen und (lifferentialdiagnostischen Beleuchtung be-
achtenswertben iirbeit 57 (51 Mäuuer, b Frauen) zum Theil aus der Lite-
ratur ansammeiigHteUtey zmn Thdl selbst beobaehtete ftlUe nntentaeiit
unter besonderer Wfirdigang dniger Symptome, welche aach foreiuiscii
von lebhaftem Interesse sind. Einen grossen Theil dieser Fälle hat man
bisher, wie gesagt, dem Syraptomeneomplex dfr Epilfpsie zutrezählt, auch
wenn weitere Zeiclieu epileptisclier Störung fehlten j eine solche Auffassung
hSlt Heilbronner aber nidit fttr begrOndet, aoeh wenn denffiehe Be-
wuntMinsstSningen und Amnesie vorhanden smd, während andere epüep-
tische Kennzeichen fehlen. Nach Ausschinas jener Fälle, in denen aus-
gesprochene psyrhisrhe Störungen von längerer Dauer die Fugueazuat.^nde
Terorsaditeu, konnte nur in V& ^^i* übrigen Fälle ein epileptisches
Gmndleiden mit dniger SidieriMit angenommen werden; aüerdingB boten
aneb diese nnr geringe Unterschiede gegenfliMr jenen nicht epileptischer
Natur. Grosser war dagegen die Zalü derer, welche hysterische SjTn-
ptome. eine gesteigerte Suggeatibilität u. A. darboten. Die grosse Mehrzald
luun bei Personen vor, welche eine krankhafte Heactionsweise auf
irgendwelebe gemfttiiliobe Yerstimmuugen anfwieaen, sei es
dass diese antocbthon entstanden oder, dass sie ihre Ursache m irgend-
weldien zuweilen nebenalchlichen äusseren Momenten (Verweigerung eines
Wunsches, Heimweh, Furcht vor Strafe, OeldsorLren u. dergl.i hatten, unter
Umständen auch spontan auftreten, veranlasst durch irgeudwelciie traum-
haften llissdentangen. Bei weitarar Untersnchnng ergab aich femer, dass
die meieten dieser Individnen aneh in den Zwisehenseiten
zwischen den Fngues nicht als ganz vollwerthige anzusehen
waren, djiss viele überhaupt die Symptome einer minderwerthigen An-
lage boten. Ferner konnte nicht selten nachgewiesen werden, dass dem
ESntritI der Fugues Zustände Ton Verstimmung, versehlossenem aber reiz-
barem Wesen voranfgingen, Symptome, welche in iweifellrnften Fillen von
diagnostischem Werthe sein kannten. Unter UmsUnden können diese Ver-
stimmungen einen epileptischen Charakter tragen, aus ihnen aber allein auf
ein epüeptiäches Grundleiden zu schhcsücn, ist falsch. Von anderer Seite
ist die Verwandtschaft dieser zeitweisen Verstimmungen mit dipsomanischen
Zaelladen sdion betont worden. — Nicht sdten entwidcelt siäi ans einem
emmaligen Fagnesaaatand die Tendenz snm Bstweiehen, welche dann habi-
taell wird.
Bei der Beurtheilung der Fälle ist es notli wendig, nicht von der Sym-
ptomatologie des einzelnen Anfalles aaszugehen, sondern die gesammte Per-
sönlichkeit nach ilirer atavistischen nnd individnellen Veranlagung nnd Entwick-
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866
Bc^nradioiiKMU
luiig in 8 Auge zu fassen; es wird sicli dabei zeigen, das» sich häufifr eine
eigenartige gemUtblicbe Keaction auch in anderer Weise findet, die auf
dne d^eoot^e Anlage hlnwebt I>ie Anknfipfnng der AnlUle an
äussere Momente ist von foreoabcber Wichtigkeit deshalb, weil das Vor-
handensein äusserer Ursachen, die scheinliaro ZwookniUssifrkeit finer Hand-
lung (Flucht vor Strafe, Desertion) so leicht gegen da» liestohen {^eistifrer
Störung eiuuimuit. Erinnemngsdefecte für die Zeit des Fugueszustandes
bestehen zwar hlofig, Bind i£er nieht nnbedingtee Erfordenfn fOr die
positive Begatachtang. Aneb ist es falsch, zu scfaliessen, dass wo Amnesie
herrscht, Bewnsstseinsstöninf? wJihrend des Anfalles bestanden habe. Anderer-
seits braucht eine behauptete retrograde Amnesie (hucliaus nicht auf
Simulation hinzuweisen. Untersclüede in der Erinnerungsstörung bei epilep-
tisdien mid hysteriaeliett Fugnesinstlnden Kessen sieb nldit nidiweiMn md
$bnd deslialb oicbt differential-diagneetiseh Terwertfabar.
11.
Bolte» Ueber einige Fälle von Simulation. Allgem. Zeitschr. f. FSycbialrie
und psyeh.-gericlitl. Medicin. Bd. 60. S. 47. 1003.
Fälle von Simulation geistiger Störung sind im Allgemeinen bei uns
nicht sehr häufig, besonders wenn die Simulation längere Zeit mit Erfolg
dnrehgefllbrt wurde oder gar rar angestrebten Eienlpimng wegen Geistee-
störung fttbrte. Von dm durch Bolte hier mitgetheilten 6 FäUen war es
drei Personen gelungen, mit Erfolg' schon früher CJeistesst^^ning zu simn-
liren, Bolte betont mit Recht, dass die klinischen Er8cheiniin<ren besonders
bei der scheinbar sich widerspreclienden und oftmals bizarren Sympto-
matologie det hebq|>hreniBelien Fonnen nieht selten anf die Dkgnoee der
Simulation hinweisen müssen, znmal wenn eine eingehende Anamnese fehlt,
deren Fehlen andererseits aber wiederum für die Beleuchtung wirklicher
Simulanten als P'sycliopathen werthvoil ist. Von den 6 Simulanten Bolte's
sind 4 sicher Gewohnheitsverbrecher, 2 von diesen sind ausgesprochene
Psychopatfaen, von denen der eine ohne genügenden Gmnd einen Selbstmord
versnobte; nnr bei 2 von ihnen fdlen dentUdie Zeichen (1> r Degeneration;
bei 1 unter 6 ist mitgetheilt, dass er einen epileptisclien Bruder besitze.
Kiclit ohne Interesse ist, dass dieser seine Taschendiebstähle mit dem un-
widerstehlichen Trieb, Damen au die GenitaUeu zu greifen, entschuldigte.
Wenn anch ausgesprodiene Fqrdiosen bei diesen 6 Fftllen nicht naeh-
zuweisen waren, so geht doeh ans dem kurz mitgethallen Lebenslauf hervor,
dass ein Theil von ihnen zwar raffinirte aber moralisch defecte Mensclien
waren. IHe auch hier beobaclitete Thatsache, dass unter den Simulanten
viele psychisch nidit intacte Personen sind, legt beim Verdacht der Simu-
latifm äe NOthigung auf, anf die ErgrQndung der Anamnese d h. der
antfaropologisehen wie individuellen Entwicklung besonderes Gewicht za
legen; es werden sich dann fälschliche Begutachtungen, sei es im positiven
oder negativen Sinne, eher vermeiden lassen. Es ist bedauerlich, dass wir
Uber das Verhalten des Körpergewichts, das nicht selten einen Fingerzeig
zu geben vermag, hier nidits erfidirett«
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BcqjHrechuQgen.
857
e) BUcherbespreehnngen von Dr. Mattbaes, Hnbert.uBbnrg.
12,
Diebstahl im DimmerEvstand. Von Dr. Ednard Knndt in Deggen*
dorf (FViedraicirs Blätter fflr geiichtlidie Median und SanitätepoUiei,
53. .Tahrgang, Heft 3, 4).
Eine 36 Jahre alte Söldnerseliefrau war nirlirfacl» wp«ren Dieltstalils
m Gefängnissstrafen verurtlieilt und als raffinirte Gewohnheitsverbreclierin
beiNclinet worden, bis ihr Vertbeidiger bei dem letzten Male die ärztliche
Untenadiiing voiseidng, da rie an Epileprie leide ond b« einem Anfalle
in teinem Bureau die Taschen der hemnihängenden Kleider untersuchte.
Es wurdo BpoliaohtiinfT in der Irrenanstalt angeordnet und hier constatirt^
dass die l>etreff('nde Frau an Epilepsie litt: in den Anfällen wurden com-
pUcirte Handlungen, wie das Forttragen von Gegenständen, ausgeführt,
unter anderem hatte ne am Veriumdlongstage zwei AnflUle ron Bemutt-
seinsstörung ohne deutliche KrampferBcheinungen , in deren einem tte dem
Arzte die Uhr aus der Tasche 7J>^ und sie unter starkem Zerren an der
Kette an sich zu nehmen suchte. Das (hitaehten hielt die Voraussetzunjrcn
des § 51 des Strafgesetzbuches für gegeben und es wurde die Augeklagte
freigesproehen. Das Intercmante an dem beediri^Mmen Falle, welcher
wiedenim sdilagend die grosse forenae Bedeutung der epfleptisclien Zustinde
beweist, ist das, dass eine an Epilepsie leidende Person wepren der in ihren
Dämmerzuständen bc^'an<reneii Entwendungen für eine raffiuirte Gewohn-
heitsdiebin gelialten wurde.
d) Bflcherbespreehnngen Ton Ernst Lohsing.
13.
1. Die Antiduellbewegung. Kiitisch beleuchtet mit einem Blick auf
MOrchingen, Insterborg, Jena nnd Springe. Von A. von Bogns-
lawski, GeneralUentenant z. D. Berlin, Verlagsbuchhandlang Alfred
Schall, König], preussischer und Herzogt, bayriseher Hofboefahindler
(1902, ohne Jahreszahl, 59 Seiten).
2. Für den Zweikampf. Eine Studie von Kurt Graeser. Berlin
SW. 19. Hermann Walther, Veriagsbuclihandlung, G. m. b. H. 1902
(72 Seiten).
3. Die Verbesserung des Ehrensehutzes. Bmcfate, erstattet der
constituirenden Generalversammlung der allgemeinen Anti-Duell-Liga
für Oesterreich von Dr. Franz Klein, Sectionschef im K. K. .lustiz-
njinisterium, und Dr. Heinrich Lammasch, <». <>. T'nivei-sitäts-
Professor, ilit einem Anhange : Bericht über die constiluireude Geueral-
vemunmlnng nnd Statut fOr den Ehrenrath. Wien 1903. Ifanz^sdie
K. n. K. Hof'Veilags- und Univenitätsbucfahandlung (110 Seiten),
4. Der Mino taut der „Ehre''. Studie zur Antiduellbew^^g ond
DuellUii^e. Von Heinrich Graf Coudenhove, Dr. jur. et phiL
Berlin, S. Calvarj' & Co. 1902 (89 Seiten).
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1
358 BesprechuDgeo.
Eine Schrift ans der Feder von BogiiBlavski's, die bot DaeUfrage
und Äntiduellbewegun^ Stellung nimmt, bleibt immeriiin, wie man auch
über das Duoll als skIpIips denken mag, ein interassanter Keitrag zur Zeit-
geschichte. GcueraUicutcnant von liogus 1 awsk i hat in dieser Frage be-
reits zu wiederiiolten Malen das Wort ergriffen. Trotzdem m bei ihm
yennOge eeinee Standes von vomheran läur ist, an weldier Anaidit er
sich bekennt, Ivann ihm doch das Zengniss nicht versagt werden, dass er
in militärisrhon Dingen ein sachlicher Beobachter ist, der nicht nur das
Pro, Sdiuleni aucli das Contra seines Standpunktes reiflich erwägt. Von
dnem seiner heftigsten Gegner ist er „ein sehr lienrorragender, vieUeieht
der herverragendite HilttinofariltoteUer unserer Tage" genannt worden (t^.
Bleibtreu, Kriegstheorie und PMude, S. 30 . Was die vorliegende Sdirift
betrifft, enthält sie lediglich eine Auseinandersetzung mit seinen Gegnern.
Abg^ehen von einer Kritik der vier im Titel genannten Ehrenangelegen-
h«ten bringt sie nicht viel neues Material ; sie ist vielmehr ein Supplemont
zu denelbeD VerfasBerB Sehrift „Die Ehre und das Duell'*, auf wekhe aueh
vidlaoh Besag genommen wird. Dennoch seien im Einielnen einige Be-
meriomgea gestattet. Auf Seite 4 wird bestritten, dass Männer gegen ihre
üeberzengnng zur Duell waffe greifen; deuigogenQber sei festgestellt, dass
diesfalls von Boguslawski sich in Irrthum befindet; es sei nur auf den
düeh eine Antiduellsehrift bekannten Wiener AdveiwteB Dr. Ritter Ton
Ofen heim verwiesen, der trotzdem auf einige Ehrenaffairen znrfldcblicken
kann. Referent könnte auf Wunsch noch andere Fälle mittheilen. Wenn
von Boguslawski den Zusammenhang zwisclieu gericlitlicliem Zweikampf
und beutigem Duell in der Weise darzuthuu sucht, dass er in der Beschul-
digung der widemditüdien Besitsnahme eines Gutes andi eine Beschimpfniig
des guten Rufes erblickt (S. 7), so scheint er daran ganz zu vergessen, dass
hier gerade ein Kampf mit einem nach heutigen Begriffen Satisfaktionsun-
fähigen vorliegt, welcher daher uiclit zur Begründung des augcbliclj ger-
manischen Ursprungs des Duells herangezogen werden kann. Schliesslich
▼ermissen wir jegüehe Consequens, wenn auf 8. 13 das Duell als geeignelies
Mittel in Ehebrudisangelegenheiten besdchnet, strenge Kritik an dem Fni-
spniche eines Ehemannes, der den in flagranti ertappten Xel)enbuhler er-
schiesst, geübt, auf S. 22 mit den in Frankreich erfolgenden FreisprQchen
von Duellanten sympathisirt und schliesslich auf S. 4 S ein das Duell perhor-
resourender und dag^en die Obrigkeit anrufender Fsstw auf das Strafgcsets
▼erwiesen wird, welches das Duell verbietet.
Einen im Wesentlichen gleichen Standpunkt wie von Boguslawski
nimmt Ciraeser ein; nur ist er mehr Idealist als Forscher. Seine Abhand-
lung ist mit flammender Begeisterung geschrieben und in jungen Herzen
dttrfte «e andi sllnden. Seine Ansiditen Aber den B^riff des ZwtSkuagim,
der Ehre, des Ehrenschutzes u. s. w. decken sich mit denen der anderoi
D u oll vei-f echter: nur dass bei ihm stets ein gutes Stück Idealismus mit im
Spiele ist. Am meisten äussert sich dieser darin, wenn Graeser das
Argument der Duellgegiier, der Zweikampf sei ein Privileg bevorzugter
dtftnde und passe sefaon ans diesem Qmnde nieht in die Struktur unserer
Zeit, damit zu widerlegen sucht, dass man dadurch, dass man sich bereit
«rklärt, .ledem, insofern nur seine Ehre unbefleckt ist, .,r>t'iiugthuung zu
^ebeu"^ „dem albernen Gescliwätz von einem »ZweikampfprivUeg der be*
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Bfiipraohttugen.
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von-echteten Klassen«'' jeden Boden entzieht Ciraeser vergisst eben,
d» die Dinge in WirkHoiikeit anders Hegen. Aneh seine Ptiramption,
jeden solange für einen Duellfreund zu halten « fOr ein Mitglied der «still-
schweigenden (!) (ienosaenschaft der Duellfreunde'* anzusehen, so lange
nicht eine gegen tli ei li-re Acusserung vorliegt , dürfte aus dem bereits oben
erwähnten Grunde uiuuueffend sein. Wenngleich auch diese Öchrift nichts
wesentUeli Neues bringt, so hat sie dooh yor anderen den Vorzug, dass
die in ihr zum Auadmelte gebrachte Ansidit in Qoas und Form dargebotsa
wu"d: leider muss hier eine Einschränkung gcinadit werden. Graeser
beruft sich auf -Fi cht e s bekanntes Wort: Niclitswtinlig ist die Nation,
die nicht ihr Alles einsetzt für iiue Ehre*'. Nun denn, wer so für den
Gedanken des DeatsehÜmms begeistert ist, wie Oraeser, sollte deeli wissen,
dass die Worte Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freadig
setzt an ihre Ehre" von Schiller (Jungfrau, I, 5) herrühren. Nicht un-
erwähnt soll das Verdienst der Verhigsbuchhandlung bleiben , die die
Graeser'sche Schrift mit einer prachtvollen Umscblagszeichnung er-
scheinen liess.
Eine ganz besondere Stellung unter allen bisher enehienenen Sebrifteni
welche sich mit der Duellfrage befassen, nimmt ^Die Verbeesemng des
Ehrenschutzes'' ein. Alles Historische ist so ziemlich bei Seite geblieben
und auf die künftige Gestaltung der Dinge haben Lammasch und Klein
hanptslehlieh ihr Angenmeric gelenkt £ der Ihat ist niemand mehr be-
rafen, in Oesterreich eui Wort de lege ferenda zu sprechen als Lam-
masch, der Mitarbeiter am künftigen Osterreicliisdien Strafgesetzbuch, und
Klein, der Leiter der legislativen Section des österreichischen Justiz-
ministeriums. Lammasch formolirt seine Forderungen zur Verbesserung
des Ehrensehntaes in 11 Thesen, wekhe er in nngemein saehlidier Weise
begründet. In Vielem wird ihm denn auch rückhaltlos zogeetimmt werden,
80 z. B. in der Forderung nach strengerer Strafdrohung insbesondere in den
Fällen voi-sätzliclier Ueleidigung, in der Forderung, die derzeit nur polizei-
lich stiafijaren nicht öffentlich oder nicht vor mehreren Leuten erfolgten
Besehimpfungen nnd Ifisshandlongen in den Züstindigkätsberdch der Oe*
richte zu ziehen, in der Forderung nacli Strafdrohnng des Vorwarf» der
Zweikampfsunterlassung, bez. Zweikampfsverweigerung und Official Verfolgung
dieses Delikts. Allein Lammuscii stellt auch Postulate auf, gegen welche
gewichtige Bedenken zu sprechen scheinen. Hierher gehört wohl zunächst
Sehl Vorschlagi Ehrenbeleidigungen im engem Sinne des Mmeiehisehen
StrafgesetxbndieB anf Wunsch (auch nur) einer Partei hOher qnalificnien
Einzehichtem — als solche hat er die Bezirksnchter am IStse des Gerichts-
hofs im Ange — zuzuweisen. Es ist sehr fraghch, ob die gesetzliche De-
elaiirung der Minderwerthigkeit der Strafrechts- gegenüber der Frivatrechts-
pflege am Platze war („Adjnneten kann das sänmrecht in CSvilsaohen
nicht übertragen werden'*, § 30 Ger.-Org.-Ges.); aber es wSre nnseres
Erachtens der ärgste Missgriff, wenn man die Bezirksricliter in Gerichts-
hofsorten höher stellen wollte als ihre Collegen ausserhalb solcher Orte,
indem man letzteren gewisse Beleidigungasachen entzieht Es könnte zu
einer grossen Ersehatterong der Beehtssfeherheit flihren, wenn das Volk
sagen sollte: Solch ein Richter ist dooh weniger als einer in der KfeiB>
geriefatsstadt Und dämm sehemt es nns nur winsehenswerÄ, dass jegliehe
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360
Bo^>rechuiigcn.
Differenzirung zwischeu iStudt uud l^d im Kichteiätaud vermieden werde.
Aber andi ein anderer Vondilag Ton Lammaseb hat sdne SdiattenBetten.
Er teblS^t nämlich ror, bei Ehrenbeleidi^ng i. e. S. die Anrufung des
eben erwähnten höher quaHficirton Einzehichters in das Beheben des An-
klägers oder des Angei<Iagten zu stellen, hei SohinRhunfren (§ 49H österr.
St-G.) die DevolviiuDg der fciache vom Einzcirichter au ein i^iuit Zuziehung
des Laienelementes m bildendet) Collegialgericfat ledigfish Tom AnUlger
abhftngig zu machen. Darin scheinen mehrere Gefahren zu liegen; ist an
sich die .Tudicatnr in Ueberfretunp^fällen bei weitem nicht so einlieitlicli
wie die in andern Strafsachen — dies aus dem Grunde, weil es an einer
eiiilieitiichen höchsten Instanz feidt — , so wäre es geradezu eine Reformatio
in pejoS) wenn die Wahl der ersten Inatans mehr minder in das ErraeaMn
der Parteien gestellt würde. Dadnreh würde einer Dec^ntralisining der
Strafrechtspflege Vorschub ^releistet. es würde dadurch aber auch dem Straf-
verfahren in gewissem Sinne der ("liarakter des .his cogens benommen,
was bei einem Jus publicum ausgesprocliener Natur nicht rathsam scheint.
Was gar das lediglich dem Ankläger rastehende Beefat der Derolntion
an ein Cnllegialgericiit anlangt, läge hier eine Yerletsnng der als eine der
höclisten Errungenschaft des refoi-mirten Strafprozesses gepriesenen l'arteien-
gleichstellung vor; ob sich ein denu'tiger Schritt empfiehlt, scheint uns
zweifelhaft zu sein. — Klein befasst sich in geistreidier Weise mit der
Idee der Eanengericfata Sehe Anaftthningen sind nnttreitig das Beste,
was über diesen Gegenstand bis jetzt in deutscher Sprache geschrieben
wurde, ganz abgesehen davon, dass sie sich nicht in allgemeinen Rede-
wendungen halten, sondern positive Voi-schliige in Gestalt eines legislativ
geradezu meisterhaft durchdachten Ehrenrathstatuts bringen, in welchem
sieh an mehr als einer Stelle der geniale Sehdpfer der neuen OsterreicfaischeD
Civilprocessreform TentÜi; letzterea gilt insbesondere von der Tendenz, stets
Vergleichsversuche zu unternehmen und so den Hichterspruch als die ultima
ratio erscheinen zu lassen. De lege lata wiirc nur zu bedenken, ob eine
von vornherein gegebene Verziciiterklärung, die Ehrenrathsmitgüeder aus
ihrem Spruche nicht strafrechtlldi zur Verantwortung zu ziehen, für die
Parteien verpflichtend und für den staathchen Richter maassgslMBd kt
Nach der St. P. 0. ist lediglich der (faktische oder durch die praesnmptio
juris actio jure des § 4(5 fingirte) Rücktritt von der lVivatankla;;e für den
Richter bindend; ein Rücktiitt von der Anklage hegt aucJi dann vor, wenn
es zu einem Vergieiobe kommt Nicht berechtigt zur Anklage ist der Be-
leidigte nach $ 530 St.-0. abgeselien von den Fällen der Präklusion und
der VorjUhnmg dann, „wenn er die ihm bekannt gewordene .strafbare
Handlung ausdrücklich verzeiht". Aber eine Erklärung, eine etwa erst
erfolgende Beleidigung stiafgerichtlich nicht zu verfolgen, mag wohl mora-
lisdi verplliditen, juristisch ist sie jedooli argumento e contrario des
§ 530 St-G. farelevant. — Ist auch in der Schrift von Klein und
Lammasch direct vom Wesen ilcs Zweik.impfes nicht die Rede, .so sind
doch hier mit der Duellfraao \ • rw andte Angelegenheiten behandelt und die
Mittel angegeben, mit denen das Duell bekämpft werden soll. Die miUtä-
risdien Vwhftltnisse sind leider nur wenig berScksiclitigt worden. Mag
auch hie und da noch darüber gestritten werden, ob inneriialb oder ausser*
halb der bewaffneten Macht mit der Aatiduellbewegung der Anfeng zu
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861
machen ist, s<t kann diese Frage doch nicht im Mindesten zweifelhaft sein
in Anbetracht der KrwäguDg, dsm für die Civilperson eine ablehnende
HaUong in Daeflangelegenhcitan von sociale Folgen begldtet sein kann, fOr
die Militärpereon jedoeli nicht nur von socialen, sondern von (wenn auch
in merito bestreitbaren, so docli in fomiali wirkhch vorhandenen) rechtlichen
Consequenzen l)jglcii('t ist; denn dass ein officiersehrenrälhb'cher Spruch
fonualisirtes lieclit auch dann schafft, wenn er in meritorischer Uinsiciit
vidleidit mit den Beetimmmigen des IfiKtlntrafgeeeteee nfciit in Eänlchmg
zn bringen ist, lässt sich bei der gegen wärtipen I^ge der Dinge schlecliter-
dings nicht in Abrede stellen. Aber ininierliin bedeutet die Gründung der
AntiduelUiga für 0(^teneieh einen moralischen Ei-folg: denn sie ist eine
Vereinigung von Männern, weichen man aucli für den Fall, daäs sie eine
Fordemng snm Zweikampfe nbleimen eoOteB, Ehre nicht abspreclMB kann.
In dieser Hinnelit itt sweifelsohne ein grosBea Btftck pmitiTer Arbeit ge*
leistet : verba movent, exempla trahunt.
^Vährend die Schrift von Klein und liaromasch die Duellfrage
mehr vom prophylaktischen Staudpuukte behandelt, geht Graf Couden-
hove mit icfaien Ansftthmngen anf das Wesen des Zweücampfes und
seine Bedehangen zum Ehrbegriffe ein. Zum Unterschiede von anderen
Duellgegnern steht bei ihm die psychologische Seite der Duellfrage
im Vordergrund der mitunter recht lebhaften , stets aber im (intsscn und
Gan2en treffenden Discussion; historische Momente haben in lediglicii
snbsidilrer Weise Beaehtnng gefunden. Was wir von voniherein nni
ganz aufrichtig zu sein — an dem Bnebe ansnsetzen hatten, war der
Titel, der sich scheinb.nr etwas pompös ausnimmt; aber nur sclieinbar.
Die Sachlage hätte (iraf Coudenhove nicht besser cbarakterisiren
können als mit der Bezeichnung „Der Minotaur der «^Ehre»*^. In Uester-
rdeh, beaonden in Böhmen, hat diese Sehrift aneh vermöge der
sönlichkeit ihres Verfassers lebhaftes Interesse gefunden. Dr. jnr. et plui.
Graf Cftudenhove ist ein Vetter des Sfatfli.dtere von Böhmen, Exc.
Karl Graf Coudenliove. der vermöge (!eburt und Hang zn den maass-
gebendsten Persönlichkeiten Üeälerreichs zählt und es trotz mitunter recht
schwierigen VerhIltnisBen dnroh sdne objective Gesfamnng verstanden hat,
das grOsste Verwaltungsgebiet Kui ipas im Sinne v«^altangstechnischen
Fortsehrittes mit den besten Erf(»li:rii zu leiten. Da eiregte es begreif-
licher Weise grosses Interesse, als mh- 3 .lahren sein Vetter, nachdem er
dem diplomatischen Dienste entsagt hatte, zum ersten Mal öffentlich an
die Kritik von Zeitfragen herantrat nnd eine Schrift Uber die Osterreicbiselie
Nationalit&tenfrage erscheinen Hess, der im nächsten Jahre ein Buch über die
.Tudenfrage folgte. So verschieden <iiese beiden Schriften beurtheilt wurden,
darin war die Kritik einmüthig, djtss Dr. Graf Coudenhove ein Mann
ist, der seine eigenen Wege wandelt, selbstständige Gedanken zu fassen,
zn fonantfren nnd m begründen versteht Auch mit vorliegender Schrift
lut er sieh einem vielfacli erörterten Thema zugewandt, aber er hat es
ganz unabhängig von seinen Vorläufern zu behandeln gewnsst und daher
eine alte Frage in ein ganz neues Licht gerückt. Ausgehend von einer
p^efaologisch fein durchgeführten Untersclieidung zwischen bürgerlicher und
sog. ritterlicher Ehre kommt der Verfosser zn dem Ergebnisse, dass erstere
veridient^ letztere ertrotzt sein will. In beredter Weise wird das Missver
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862
DMpvsdiiiogVD«
liältuias dargetiian, welches su oft zwiächeu Ueleidigimg uud Duellausgang
obwaltet, wird nadigewiesen ^ da« Math noeb nkiht den Ehrenmaiiii tm-
macht und der Kummer und der Jammer gMOhfidflrt, den das Duell hervor-
nift. Sodann wird aher auf die Vonirtheile unserer Zeit hingewiesen und
nicht mit I nieclit eine Dnellablelinung als «der gi'össte Beweis von
Heroismus, den es überhaupt geben kauu,"^ bezeichnet. Was specieU die
miOtlriieheo Vertiittiilne betrifft, wird der Widenprach des Dodia n
Gesetz und IMenatregleiDent juristiscli begrOndet Sodann geht Oraf
Coudenhove zu einer eingehenden Schilderung anderer Auswüchse dos
P^hrgefühls über, nämlich des Harakiri oder Sep])ukü in Japan und der
indischen Wittwen Verbrennung (Sattij, dei'en Aehnhcbkeiten mit dem Duell
amgefnhrt werden. Und da ist ee intereaaant, so sehen, wie fest du»
lOWUrzelt diese heute bereits der Vorgangenhdt angehörigen Inatitationea
vor noch nicht allzu langer Zeit im V<tlke waren. Insbesondere was das
Harakiri betrifft, werden Steilen aus einer parlamentarischen Debatte von
1869 citirt, aus denen liervijrgeht, welche Opposition noch vor ca. 30 Jaliren
gegen dessen Abschaffung bestand. Darans wird die Folgerung gezogen,
daas das Alter emer Institution der Erkenntniss ihrer Ven»-erfltchkeit nidit
hinderlich sein soll. So soll es auch mit dem Duell sem. Die ( Jrfln-
dung der <)steneichiscljen Antiduellliga begrösst der Autor mit Freuden.
Von ihrem Ehrenrathe spricht er nicht, tritt vielmelir für die Anrufung
der etaatlidien Gerichte ein. Nidit hi letzter Lniie bekämpft er das DneU
ans religiösen Gründen. Graf Coudenhove steht auf katholischer
Gnindlage. j(>doch nicht ausschliesslich auf ihr; sein Katholicismus ist voU-
konunen im Einklang mit den Aufgaben unserer Zeit und tolerant in der
Beurtheilung der Gefühle Andersgläubiger. Graf Coadeuho ve's Haupt-
waffen gegen das Dndl shid die Argomente des gesunden Menseben*
ventandea^ womit er sieh entschieden anf dem richtigen Wege befindet
Denn was der Mensel) erd.acht, erfond|
Als H(k*hstc8 wird er finden:
Gesund natürlichen Verstand
Und richtiges Empfinden. (CMÜparzw.)
Nie ward besser als durch die Graf Coudenhoye^sdie SiMft ge>
zdgty dass es ebe Ehre nicht nur ohne, sondern auch gegen den Dndl-
codex giebt
14.
Wie beurtheile ich meine UandschriftV Topuläree Lehrbuch der
Graphologie von Hans H. Basse. Verlag ron W. Yobach & Co.,
Berim und Ldpqg. Fnü 1 Marie (190ä; ohne JahiessshL) —
92 Seiten.
In dieser elegant ansgestatteten und mit zahlreichen Schriftprobe
versehenen Hrosrliüre resumirt Busse die bisherigen Ergebnisse der Gra-
phologie in historisclier, apologetisclier, — wenn das Wort erlaubt ist —
dogmatischer nnd pralctiBdier Hinndit In letsterer Beddmng kann das
dem Bache beigegebene Verzeichniss der in ihm behandelten nnd dnnh
Schriftproben belegten Eigenschaften mit wdt Aber 400 SeUagworten ab
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BcqpKolmngCB*
868
werthvoller Behelf bezeichnet worden. Im Uebrigen sei auf unsere frUlieren
Bespreeiinngen verwieeen. Die Graphologie kann Ergelmiase anderweitiger
üntenuchongshandliuigeii bekritfttgen und hat in ^eser ßgensdiaft ein
grosses Bethätignngsgebiet. ffie ab einziges oder auch nur hauptsScliliches
Beweismittel heranzuziehen, scheint uns Angesichts der traurigen Erfah-
rungen eine immerbin gewagte Sache. Das soll jedoch kein Vorwurf
gegen y<Hrfiegendee Buch sein, welchem wir — im Gegenthdl — die
wdteste Verbreitnng wünsehen.
ej Bücherbeaprechuugen von Uans Gross.
15.
üeber Wahnideen im VOlkerleben von IL Friedmann, Nerven-
arzt in Mannheim. (Aus Grenxfragen des Nerven- nnd Seelenlebens
VI/VII.) Wiesbaden, J.E.Bergmann, 1901.
Das vortrefflich geschriebene Buch bringt wirklich einmal neue Ideen,
die an zwai* bekimnte, aber mit ausgebreiteter Belesenheit und grosser
Mmox des Wissens zusammengetragene Thatsachen angeknOpft werden.
Das Bndi mnss gdesen werdeni da sein Wert in der BeweisfUhning Heg^
aber die niclit leicht referirt werden luum. lieber das lliun der grossen
Masse ist ja schon viel iroschrieben worden und die Arbeiten von Levis,
Ferri, Despine, Martin, Pugliese, llobb es. Bordier, du Camp,
Sergi, Tocqueville, Lacrateile, Sterne, Holtzendorff , Tarde,
Sighele n. s.w. haben sieh namentlidi mit der Seele des Sehopen-
h an er 'sehen Makroanthropos befasst; im vorliegenden Buche wurd aber
zumeist j;ozei{rt. wie durcli das Erregen starker Voretellungen das Denken
der Menschen behen'sclit und ihm ein bestimmter Inhalt aufgedrängt wird;
SO erscheme die Vorstellung (nicht der Begriff) als selbstständige geistige
Maebt von bedentendor Art, sie dringe, ohne dass ii^iend eine Brflezion
betheiligt zu sein braucht, nicht bloss zu tiberzengenden Associationen und
Ideen, sondern auch zu impulsiven Handhin j^en. Starke Ideen wirken un-
mittelbar und ohne Motivirung und liegt zufälhg grosse Suggestibilität vor,
80 wirken l>eide Factoren, zusammen allerdings in scheinbar nnerkl&rlicher
Maehtwirlnmg.
Ich glaube, dass sich die Fried mann^schen Ideen ancli im Kleinen
durchftihren Hessen: Verführung, Ueberredung, Beispiel. Anstiftung:. Ver-
leitung, — alles zu zweien oder in Banden bildung, Complottform; daa ist
Alles, weil liftnfiger, vielleicht wichtiger, wenigstens für den Kriminalisten,
als die dodi seltener ni^ mehr sodal imponireaden grossen Narrheiten.
Die grossen Sitie^ die Fried mann entwickelt hat, lassen sich auf unsere
alltäglichen und desshalb so wichtigen Erscheinungen lUArend und sichernd
anwenden.
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864
16.
Ueber Geistesstörungen in der Armee zur Friedenszeit, von
Stabsarzt d. K. Dr. Georg^ Elberg. Zum Oebraudi fUr Officiere,
Militärärzte, MüitärgeistUdie, Auditeure und Aerzte. Ualle a./S. 1903,
C. Marhold.
Zweek d«r Schrift iit, auf das blnfige und oft nnericainite Votkommai
von OoBtnikniikhdten beim Militär «ofmerionm zu machen und m vw*
hindern, dass geisteskranke Soldaten einerseits schädigend auf den ganzen
Zweck dp.s IToeres einwken, und andcrei-seits jrequält, misshandelt und un-
verdient gestraft werden. Aber die selu- lubenawertbe Abeidit dee Ver-
htmn kSniitB •noh «if msere Zwecke aoegedeliiit werden, da Terhiltni»-
miaaig nicht weniger nnaerer Beechiddigten nnverdient geilnft werden,
wie dies beim Militär der Fall ist.
Verfasser schreibt, wie der Titel sagt, auch für Officiere, Militärgeist-
liche und Auditeure, also für mediciniache Laien, er bediente sich daher
eines leicht fassKchcn und einfachen Stiles und behandelt namentlich die
für nns allerwicfatigsten Psychosen: Dementia präcox, Epilepsie und Ptealyse
m klar und deotlicfa, dass ich das kleine Werk anch Kriminalisten warm
empfehle.
17.
Das dritte Geschlecht Gleichgeschlechtliche Liebe. Beiträge
zum hofflosenieOen Ftoblem von H. Brannsehweig. Zweite Ter-
mehrte Aoflage. Veriag von Carl Mariiold, Halle &/8. 1903.
Ich beziehe mich auf die Besprechung dieser Schrift im Band 10,
S. 345. Daas die Arbeit schon in 2. Auflage erscheint, ist sicher bezeich-
nend genug.
18.
Homosexnelle Probleme. Im Lichte nenester Erwerbnng aUgemem-
verständlich dargesteUt Ton Dr. Ludwig E. West Berlm W.3&.
C. Wester i^c Co.
Wozu es notliwendif^ ist, ,die Kenntniss über geu-isse Tliatsachen,
die Eingeweihten schon lange bekannt waren, in die breite Masse des Volkes
zu tragen" — wie Verfasser zu Beginn der Einleitung sagt, das weiss ich
nidit Aber die nnzililigen Behandlungtti immer wieder des alten Stoffes
machen stark den Eindruck, ab ob d^e Päderasten (Verfasser versichert
zwar, er sei ein „Normaler") alles aufbieten wollten, um sich nicht bloss
p<»|)ulär, sondern auch, s:i;:f'ii wir, im Volke melir sympathiscli zu machen.
Das wird, die Herren mögen es glauben, nie gelmgen: vielleiciit wird ee
mOgiidi sem, den § 175 D. R-8t.-G. abznsduiffen, trotzdem die Pub-
iicationen immer widerlicher werden , aber das ist Allee, denn im Allge-
meinen ist der Sinn des Volkes doch so gesund, d.iss ihm da.«; Degenerirte,
Unnatürliche und Naturzweckwidrige der ganzen Homosexualität stets ekel-
haft bleiben wird.
Das Bach bringt nichts Neues, sondern bloss Znaammengetragenes,
Dass man uns sahhreiohe Antoblographieen Homosezoeller, die Briefe des
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BeBpiecbnngOD.
365
unglücklichen Bayernköuigs , die Mittlieiluugen des Dr. Ulrichs und die
ewigen Gesehichtehen von MiehelaDgelo, Platen, WinkelDuum, Shakespeare,
An&nen schon gedrückt gebracht hat, war ja gaai gut und wir haben
sie auch pflicht^etreu hinuntergewürgt — wozu man dieselben aber stets
von Neuem abdrookt, ist mir nicht begreitUcb.
19.
Die Prostitation bei allen Vdlkern vom Altertbum bis zur
Nenzeit Ton Dr. Ludwig E. West Beilin W. 85. Carl
Wesser & Co. Ohne Jalireszahl.
D.'is Buch bringt über das, uns allerdin^j:« wichtige Tliema, zwar nichts
Neues, aber bekannte Daten {Pierre. Dufour, Hickson, Dühren,
Archeuholtz, Parent, Duchateiet, Laurent, Nagour, Pall-Mall-
Gaiette 1885, Lombroio, Tarnowska, Bebel, Hirseh, Str Ohm-
berg n.s. w.) in ttbersiehtlidier ZnsammenstsBmig.
20.
Der moderne Mädchenhandel von Dr. Ludwig E. West
Carl Wesser Co. Berlin W. 35. 1903.
Dies Heft bringt zumeist Theile des vorgenannten, eine B^chreibung
eines Londoner Bordells und Mittheilungeu dai-Uber, me Mädchen für un-
sittGehen Lebenswandel geworben werden.
21.
Die Rechts- und Straf fähigkeit der Personen verbänd e, von
Dr. jur. Ernst Ilaftor, Privatdoeent an der Universität Zflrioh.
Berlin, Jul. Springer. 1903.
Diese, namentlicli durch Gierkes berühmte Arbeiten neuerdings
wieder activ gewordene, wichtige Frage hat durch Verfasser eine ausser-
erdentUeh gründliche, alle bestehende Llteratnr berOhrende Behandlung er-
fahren; hierdurch ist fflr eine legislatorische Verwerthung der Sache in
kriminalpolitischer Kichtunfr alles vorbereitet, was diesfalls in Betracht kommen
kann. \'erfa&5er sagt, seine Aufgabe gehe dahin, aus dem modenien Keclits-
bewusstsein und der Bewegung des modernen, socialen Lebens die Frage
SU entscheiden, ob neben dem Eänseündividunm auch Penonenverblnde
als DelielB- und strafffthige Subjecte betrachtet werden müssen und ob sie
als reale, selbstetändige Wesen oder als künstliche Fiktionen bestehen.
Das Ergebnis« der scliönen Arbeit geht auf Bejiilmng der Debets- und
Straffähigkeit und auf die Bejahung der Mögliclikeit, dass das Verbands-
dellet in moderne Strafgesetae eingefügt wenieo k5nne. Am meisten ent-
spreche hier daa System derNew-York Tenal-Code vom 1. Dec<>mber 1882.
Die vorti^nde Sdirift ist eine hochmoderne, echte Probiemarbdt
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BcflpnciMiiigw.
22.
Laurent Montanus, Die FhMtitution in Indien. fVeiberg i Br. und
lieipzig. Fr. P. Lorenz. Ohne Jalireezalü.
Allos, w:is Prostitution betrifft, ist kriminal.mtliropoloj.'-iscli wichtig, tmd
80 wird mau die kleine, flttchtige Skizze mit Interesse lesen können.
23.
Derselbe, Prostitution und Entartun^^ Ibidem. 1903.
Verfasser geht davon aus, dass man niclit in jeder Frau, die Gewerbs-
nnnicht treibt, eine geborene, prldeslinifte Proetttnirte erbliekeii dflrfe.
Manelio von ihnen, die in der Ascendenz Trunksucht, Epilepsie, Syphilis,
Geisteskrankheiten u. s. w. aufweise, zei;jren aber intelleetneile und ethisehe
Defecte. Dies wird durch eine Anzahl von Lebensgesehiehten vei-sehiedener
Prostituirten zu zeigen getrachtet. Mit einfachen Worten heisst also das zu
bewdsen Gesuchte: ,Ein Hidl der Prostitiiirten ist degenerirt, aber bei
all' n lääst sieh das lüdit beweisen." Wollte man aber statt des heiklen
Wortes ^Degenerirte" sagen: „Übel veranlasste, selileeht erzop:ene, faule
Weiber, die diesen Eigenschaften nicht zu widci-stelien verniögen, zumal
wenn sie geil oder in Noth sind" — so würde die Sache Einiges an
klingendem Ton verlieren, aber lie entspreche dann den Thatsachen. In
gewissen Kiclitungen, namentlidb der hier fraglichen des Frostitntionswesens,
hat das Wort „degenerirt" manches Unheil gestiftet — man warf ein
tönendes Wort unter die Leute, Wenige verstanden es, und Viele hielt es
von weiterem NaeJidenkeu ab, mau glaubte durch das „erlösende" Wort
bereits die Erkllrung gefunden zn haben. Nehmen wb die Wage einmal
einfocher vor.
Dass es bequemer ist, nicht zu arbeiten, statt sich zu ])lagen; an-
genehmer, schöne Kleider zu tragen und Vergnügungen zu besuchen, als
armselig angezogen zu Hause zu sitzen^ unterhaltender, seinen Trieben
nn gescheut nachzugeben, als sidi in immerwährender Tugend der Keusehh^t
zu üben — das Alles weiss und empfinde Jeder, Degenerirter <»der Nidit-
degenerirter. Eltenso weiss Jeder, dass es elircnli.ifter , für die Zukunft
sicherer und das (lewissen bendiigender ist, allen den genannten Lockungen
zu wideratchen , als ihnen nachzugehen, d. h.: wer in sich genug Gegen-
triebe besitzt, nm £e IMebe zum bequemen und angenehmoi Leben zu
unterdrücken, der wird tugendhaft, der Andere lasterhaft wertoi. Aber
Tugend und I^ter sind unmoderne Begriffe, zum Mindesten \erla8scn wir
uns auf sie niclit, wohl aber auf die Lebensklugheit der Menschen und
ich wiederhole eine von mir oft aufgestellte Definition: Klug sein heisst:
einen kleinen augenblieklichen Vortheil für einen grosseren
sp&ten aufgeben können.
Das kluge Mädciien verzichtet auf das momentane Miissigsein zu
Gunsten späteren sorgenfreien Alters, sie verzichtet auf das kleine momentane
Vergnügen, geputzt einherzugehen, zu Gunsten des giösseren späteren Vor-
thdles : geachtet und dadurch durah Hdratii versorgt zu werden u. s. w. —
Kurz wir kommen zu der sehr nflehtemen, aber sicheren Wahrheit: von
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Bcsprcchongcn.
867
zwei Mädchen, welclie (Jelefrenlioit hatten, sicl> der Piostitiitinn zu er*,'ebeil,
und von denen Kino widei-st.mden hat, während die Andere gefallen ist —
wai' eben die Ki-ate iehcnsklug, die Andere aber nicht.
Man wird sagen, mandie Proatitairte sei dodi sehr g:e«cheidt — ja,
gescheidt, jrebildet, fein, unterriehtet, alles kann sie sein, aber leliensklog
ist sie nielit. Wenn man dann findet, dass die Pn»stituirten viele Dcp-ne-
rationszoiclien haben, so wäre nur liewiesen, dass Letztere den l'nklntren
anliaften, ebenso wie ja die Cretins die allemieiäten l>cgeut'raiiüuszeichen
beritzeo*
Aber mit dem Bewdse dafür, dass die Prostituirten so \ iele Degene-
rationszeichen anfweisen, steht es noeh seldiniin. Das hieniiit anirezei;rte
Buch schliesst mit einer Tabelle, welche nach den l'ntersucliungen ver-
scliicdener Furschcr die Anomalien IVustituiiier darstellen sollen (nach
Lombroso „nene Fortsehritte*). Wie da beobaditet wnrde, weiss idi
nicht, aber das ^Heweisniaterial" sieht seltsam ans. üntersncht haben:
(irimaldi, deAlbertis, Andronico, Tarnowsky und Lombroao-
Ottolenjrhi. Es fanden dieselben bei I'rostituirtcn z. Ii.:
Schädelasyunuelrie: G. 23, T. '10,9 — die Anderen gai" keine;
Oxyce])hdIe: O. 26,9, alle Anderen gar keine;
Vonpringer Orbitalwinkel: (i. 6S,S, alle Anderen jrar keine;
Vorsj)rin;.'-<'!i(1e llmkiiikniK-lien : L.-(). JO.IT, alle Anderen keine.
Starke l'rotulteraiiz des lliiiterlKuiptes: L.-( >. 10.*)2, alle Anderen keine;
Proguatliismus und Asymmetrie: L,-U. 41,21, alle Anderen keine u. s. w.
Das stimmt misstraobch, denn solche Fluetnationen IcOnnen nidit
richtig sein, oder nichts beweisen: dizu kommt nodi, dai^s wiclitige Dcgene-
rationszeiehen sehr .selten gefunden wurden: verzeielmet Oe.siehtsasym-
metrie bloss A. t,7l (unter zu.sannn<n äl*.) untei>;u(lden Prostituirten ) ;
Submikrocephalie bloss L.-( 3,22 ; cretiuische und mongolische Physiognomie,
Anomalie von Nase und Lippen kommt gar nicht vor — knrZy mit dieser
l^belle ist ^ar nichts bewiesen, als dass die lieute (Oberhaupt) in den
verschiedenen italienischen Städten , in welchen die genannten Forsclier
unteraucht liaben — recht verscliieden sind.
24.
Medicinische Wissenschaft und Kurpfuscherei. Zur Aufklärung
dea Pnblienms gerodnverBOndlidi dargestellt yon Dr. C. Reissig,
Arzt in H imburg. 2. veränderte and vennehrte Auflage. Lapslg.
C. F. W. Vogel. 1901.
Wie das l^telblatt sa^rt, hat Verfasser nur den Zweck iin AuL'-e, ilas
Publicum aufzuklären In der That hat er alier auch eint iii vielitigen
zweiten, kriminalpolitischen Zweck gedient, indem er auf die unbedingte
Nothwendigkeit dnes Paragraphen gegen die Knrpfasdierd liingevvieaen
hat, den das StGB. fQr das Deatsdie Reich onbegreiflieher Weite noch
immer nicht besitzt.
Die Schrift •/icU{ zuei-st eine sehr lesenswertlie. p»nz kurze (leschichte
der Medicin und bespricht dann fast alle in letzter Zeit und noch heute
existirenden Knrpfnsdiermethodtti. Wer die gat nnd tlbenceugend sn-
licUv rar Kriaiuduitiuoiioldti«. XU. 25
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868
Betprediiiiigieii.
sammcngestclltcii oiitsotzliclien Erfolf^e, die den \ ersoliiedenen Kurpfnscliorn
zugeädirieben werden können, durchsieht, dciu mxm es unbe<i:rciflich er-
selieineii, daas Dontschland ntdit einen IhnUdieD KnipfuMherpara^rapheo
besitzt, wie ihn Oostorradi seit Langem besessen hat Kein I^nd der
AVeit hat ])ossore und {gewissenhaftere Aerzte als Deutschland — ihnen
kann die Behandlung der kranken Menschheit mit Beruhif^nni; überlassen
werden, mit AuaschJuss aller Wuuderärzte, Kurpfuscher und 2s'aturkUn8tler|
abor anch mit AoaaohlQaB aU des nnbeadireiblidieii Uinheih) das diwe feeniit*
nitt- und meist aueh geinaaenloaeii Laote angeriehtet haben.
25.
Dr. Max Thal, Mntterreeht. Frauenfrage und Weltanschauung. Brealan.
Schlesische Verlagsliandlung von II. Schottliansen. 1003.
Von den Arbeiten Wilntzky s und liaciiofens ausgehend, kommt
Verfasser zur Annalime, dass in den Ursachen, welche die unterscliiedUche
Stelinng ron Hann nnd FVan in der heatigen Welt bewiiken, die Ökono-
mischen Verhältnisse den ersten Rang einnehme. Diese sind für Mann
und Frau nicht die gleichen, sie lindern sicli langsam nnd banptsftdilieh
durch Einwirkung der sittUcben Zeitanscbaaung.
26.
Das Verbrechen uad seine Bekämpfung. Kriminalpsycholugie für
Medieiner, Juristen und Sodologen, zugldeh ein Bdtrag rar Reform
der Strafgesetzgebung von Dr. G. Aschaff cnburg, a. o. Professor
der Universitnt Halle a. S. gr. 8*'. geheftet 6 Mk., fein I^m wandband
7 Mk. (Carl Winter's Universität.sbuclihandlung in Heidelberg.)
Es ist charakteristisch für die ArlteitsmetlnKle der modernen Zeit, dass
eigentlich Jene zu vordeiist am Platz ahui, welche entweder gauz eng um-
sdhriebene Spedalgebieto beaibeiten, oder aber Jene, die sich Granagebieto
ausgesucht haben und dalier Kenntnisse in den beiden aneinanderstossenden
Disciplinen besitzen müssen. Das Letztere zeigt sich besonders in unserem
Fach, da dasseihe aussei an Historie, Philosophie und Mediein an so viele
andei'e Gebiete grenzt und in sie übergreift, dass auch in diesen Kennt-
nisse verfangt werd«u So kommt es» dass hente — ein nodi Tor Knnem
ganz undenkbares Vorkommniss — sich auch Aerzte mit mehr oder minder
juristischen Fragen befassen und uns in denselben Klärunir sehaffen, die
wir selber Mangels der betreffenden \'urkeuntnisäe niemals hätten fünden
können.
In dieser Riehtnng entinckelt U.A. der HalleoBer Psychiater Asohaf f en>
bürg eine wichtige nnd ntttzUche Thätigkdt, und das neue, hiermit an-
gezei^'te Hueli ist auf unserem Gebiete eine werthvolle und bedeutende
Krselieiiuui^';. A s eh a f f e n b n r hat hierbei die Straf^'csetzrcform im Auge
uud suclit darzuthun, diuis uiclit uui' die Grundlageu der classisclien Schule
hierfOr nnbranchbar wiren, sondern, dass anch ein Gompromiss derselben
mit den Uodemen nicht gedacht w«den kann, es sei überhanpt moderne
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Beqtreebnngeii.
869
Auffassung mit deu Grundlagen unserer bestehenden Gesetzgebung unver-
einbar. Seine Auffurang von der Frage hftnge vom Ergebniss seiner Arbeit
ab, and diese theilt er wieder in die socialeDy die kdividnellen Ursaehen
des Verbrechens und den Kampf gegen das Verbrechen. Das ITaupter-
gebniss der Arbnt ist das Eintreten ffir die Abacfaaffnng des Stiafaus-
maasses.
So sehr idi midi mit der natui wimnschaMichen Methode A schaff ea-
bnrg^s einverstanden erlciäre, so mOchte ich mich dodi bei der onabeeh-
baren Wichtigkeit der Sache und der hohen Bedeutung der Torilegenden
Arbeit in einzelnen Punkten mit dem Verfasser auseinandersetzen. Es sind
dies nur nebensächliche Momente, da aber Aschaffenburg selbst sagt,
dasi er nimeist von statiatisehen Daten ausgeht, so sind auch einzelne
Ansgaagspankte namentlicfa deshalb so wichtig, weil sowohl Materiale als
Ven;\'endung8art statistischer Zahlen noch so unsicher sind, dass ans den-
selben Daten widersp reeben de SehlOsse frezogen werden
können. Die Statistik als junge Wissenschuft niadit eben denselben Ent-
widdnngsgang durch, wie jede aofringende Disciplin. Zuerst begegnet sie
energischer Ablehnvng — dann kommt fibertriebene Werthschätanng —
dann Zweifel über das Gefundene — und endlich, nach wiederholtem Anf-
und Niederseliwanken , richtige Werthschätzung, Das erste Stadium, das
der Ablehnung, ist längst ttbent unden; das zweite Stadium, das der über-
triebenen WertiHMUtsong, drückt aieb ana im Herrsehen des Axioms:
^Zahlen bewdsen'^ — das dritte hi der Aosdebnmig dieaea Satiea auf:
«Zahlen beweisen, wie man sie stellt Dass wir bereits im letzten Sta-
dium, dem der richtigen Wertliscliützung, angelangt seien, hat Niemand,
auch kein Statistiker vom Fach behauptet, und so dürften wir recht thun,
wenn mr annehmen, wir stunden dermalen sswiscfaen dem zweiten und
dritten Stadium: es giebt noeh Viele^ die fix erklSren: «Zahlen beweisen*
und die dann der Entstehnngsart, Bedeutung, ZusammOMtellung und Ver-
werthung der Zahlen kein Gewiclit mehr beilegen. Die Mehrzahl steht
heute im dritten Stadium, sie sagt: „Zalden beweisen so, wie man sie
atellt'', und es ist daher Ab eigentliche Forschung dahin aus, festzustellen,
wie man die Zahlen stellen darf und wann ea sich nicht um Schembeweise,
sondern um wirkliche Wahrheit handelt. Dass wir das noch nicht wissen,
dass wir aus Zahlen allein sehr oft abstnise Dinge beweisen würden, wenn
wii* das Wie und Warum nidit untersuchen, wird kaum bezweifelt, und
hl 100 FUlen ndimen wir wahr, dass die Zahlen nur nebeneinander
stehen, dass rie ahw Toneonander gar nicht abhSngen und k«ne g^en-
aeitige Beziehung haben.
Bemerken möclite ich nun, der Seitenzahl folgend:
Auf Seite 2, ereter Absatz, ist vor allem ein Druckfehler zu beridi-
tigen (Mutter statt Schwester), da nach teterr. StG. Blutschande bloss
in auf- und absteigeDder Linie begangen werden kann (mit der leiblidwn
Schwester ist es bloss Uebertretung des § 501).
Auf S. 15 finden wir eine l)edenkliche Verliindung zwischen .lahros-
zeit und geachlecbtlichen Delikten daliin, dass vom N'erfasser aus den
ataHstiBdien Daten aber Sittlichkeitmlelikte (und uneheliche Geburten) anf
eme sexuelle Erregbarkeit an gewissen Jahreaieiten geschlossen wird. Dass
dn solcher Zusammenhang besteht, mag ja richtig sein, obwohl man dann
25*
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870
BesprocbuDgeD.
viel gewaltigero Zahlen und lebliaftere Verschiedenheiten roniwetieii mtlnte.
Aber jedenfalls wird der genaimte Znsammenhang durch die statistischen
Zahlen nicht erbracht. Wenn die Zahlen fflr Sittlichkeitadelikte (und un-
eheliclH' (iolmrton) für M:vi und Juni grosser sind, als für Xo\emher,
Deccnibcr, .so lii'^^t as wohl am nächsten hierfür, die von Verfaäöur später,
bei Kdrperverletzuug o. b. w. (S. 20) erwähnten vergrSsserten, soeUeii
Reibongsflftchen heruiziLElehen. Ich halte es fttr geftSulieh, wenn man
zur Erklärung von etwas auffälligen (Steigen KriminalitÜ in Sommer)
wiodor etwas noch nicht Iknviesenes (Steifjerunf; der sexuellen Errefrbarkeit)
hurbei/.iclit , denn dann rechnet man mit zwei Unbekannten und verliert
den festen Boden völlig unter den Fassen. Eb Ist daher sicher viel em-
facher und naheli^aider, wenn man znr ErUirong fOr die Steigemng der
sexuellen Delicte im Soniuur lediglich die durch die Jalireszeit {gegebenen
äusseren Verhältnisse in Rechnung zieht. Im Sommer sind die Leute viel
nielir im Freien, die Pereonen sind da viel mehr vereinzelt als zur Winters-
zeit in den Häusern; also viel weniger unter gegenseitiger Auisiclit; die
Feldarbdt, die Spazierginge, anderwatige Tliäti^eit in Feld nnd Flur er-
leichtert das Zusanmiensein zu Zweien, Ueberraschungen sind viel weniger
zu fürchtfii. Hilferufe (Xothzucht, Schändun<rl sind im Freien viel weni^rer
wirk.sam als im Hause, kurz, es ist so natürlich und ungezwungen, ledig-
lich die Aufentlialtsweise im Winter nnd Sommer zur Erklärung su yer*
wenden, daaa wir hiermit reiobüdi unser Auslangen findoi nnd nicht anf
Unbekanntes greifen müssen. Dies Stimmt auch vollkommen mit den vom
Verfaflser gebrachten Zahlen: Januar 64, Febniar ßO, März 78, April lo:^,
Mai 12S, Juni 144, Juli 140, August 130, September lüS, Uctober *J0,
November 68, December 69 — und endlich auch mit der Erfalirung:
jeder Praktiker vermag es zu bestätigen, dasa die nngldoh grOeste Zahl
von sexuellen Delicten im Freien und nicht im Hause gescliielit. — Hier-
mit entfällt auch, wa.s Verfasser S. über Kinde.stnurd sa^'t: Die meisten
Kindesmorde fallen auf Februar, März, April — Cuuceptionszeit : Mai, Juni,
Juli; Kindesmord entspricht aber verborgener Laebe und dieser kann wohl
bei der Idehtra Bewegung im Fmeaa um diese Zeit am leichtesten na<ii-
^ek(»mmen werden. Man muss die Verfaältnigse eben nehmen, wie sie sind:
i)«r f'nitus mn*r Aielleielit oft im Hanse vorgenonimf^n werden, aber die
vorausgegangene \'erführung erfolgt im Freien. Wir wissen, dass die meisten
unehelichen Geburten im Gebirge vorkommen, ebenso wissen wir, weldien
Emfloss hierbei das bekannte «Fensterin" hat — Im Deoember, Januar
gesehi^t das aber selten, häufig aber im Frtthjahr und im Sommer. Aber
nicht wegen der ..erliöliten Sexualität'^, sondern weil man in der Kälte
nicht gerne am offenen Fenster steht.
Auf S. 38 findet es Verfasser ^recht sdiwierig'^ die geographisdie
Yerthdlung dee Betruges an erkläroi; die zweifdloa auffallende Erschei-
nung findet ihraLOeung darin, dass man unter dem Begriff „Betrug" einer-
soits eine Meufre verscliiedenartigster l>eli<'te zusammenfasst, anderei-seits aber
wieilcr manche Delicte davon ausscheidet, die ihrem Weesen nacli nichts
anderes sind als Betrug. Ich habe einmal >) darzuthun versucht, dass eine
unabsehbare Menge von Sehwierigfceiten dadurch eraeugt wurden, dass man
1) «Raritäteubotmg.*' Berlin 1901. S. 157.
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Besprechungen.
371
aus dem ,Beü-ug^ im Strafgesetz einen Paragraphen, statt eines
Kapitels gebildet hat; anch hier wAre eine Untenncbung der Fmgp,
warum z. B. Mannheim und Oberbayom durdi Betrug so arg belastet ktf
eist irestattet, wenn die Betrugsfälle in ihre einzelnen, von einander so
wcseiitlicli verschiedenen Factoren zerlegt wären, und es ist einstweilen
nuch nicht zulässig, von einem besonderen „Charalcterzug" der betreffenden
BevOlkenug m reden (S. 40). Es sei aooh hier bemerkt ^ dass stati«
stisdie Daten Ober Verbrechen erst dann wissenschaftlichen ÄVerth hnl)en
werden, wenn die Delicte nach antlirnpoldtrischen und kriminalpsycliolo-
gisclien Zügen geschieden und zusammengelegt werden, nicht uacli sogenannten
juristisclieu.
BeaOglieb der S. 41 ff. vorgenommenen Untennehvngen fiber den
Einfluss der Religion nf die Eriniinalität ist es entschieden verfehlt, die
.hidfii als IJeliirionRjrcnossenscliaft aufzufassen; die .luden liilden eine
liafsc, oder wenn man lieber will, eine Nation, und sind nach diesem Ge-
sichtspunkte einzutlieilen, sonst begeht man Fehler auf Fehler, und aucli
in der IVage der Ck>nfeBsion werden nnr Verwimmgen angeriehtet
Uebrigcns sind die Erhebungen tlber «Confesäon nnd Kriminalitäf^
(namentlich S. IG ff.), wie wir sie heute vorzunehmen vermögen, iilifilianpt
nahezu werthlos, weil nicht die Art des Bekenntni.sses von Einfluss sein
kann, sondern die Tiefe, mit der sich aner demselben anschliesst. Es wird
doch Niemand behaupten, dass es bei einem total Unglftnbigen, der Mehr-
zahl der heutigen Menschen, einen Unterschied macht, ob er zum Unglauben
via Protestantismus oder Katliolicismus gelangt ist — Unglaul»e ist etwas
Negatives, und was früher an seiner Stelle an rositivem vorhanden war,
ist gleichgültig, und ebenso auch, ob der Ungläubige ein ungebildeter Ar-
beiter oder ein Weltweiser ist. Selbstverstlndlieh ist es für die Kriminaütftt
von gröflster Wichtigkeit, ob einer ein wirtiidi Rdi^^Sser, ein überzeugt
(U;uil)iger ist: aber der begeht überhaujit mir ausnahmsweise eine Missotliat,
und es ist beim Vorliegen wahrhafter Frömmigkeit völlig gleichgültig, ob
einer protestantisch fromm oder katholisch fromm ist. So kommen wii'
ledigUdi za dem nicht sehr merlcwttrdigen Schlosse: Der wahrhaft religiöse
Mensch begeht überhaupt kein Verbrechen, weil es ihm seine Keligi ii \ er-
bietet, — ob diese aber katholisch oder protestantisch oder jüdiscli ist. ist
gleichgültig und kriminalpuliti.sch indifferent. Beim schwach Keligiösen
oder ganz Ungläubigen ist die lleligion, unter der er geboren und verzeichnet
wird, aber desshalb glMdigttltig, wdl es mch dermalen bei ihm eben nm
keine Reli^on handelt, was er frflher für eine hatte, kann uns aber der^
malen nicht von Wiclitigkeit sein. Natürlich: hätten ^^^r statistische Auf-
zeichnungen über wahrhaft Ueligiö.se, I laibreligiöse und totale Freigeister
— dann könnte uns die KriminaUtät dei'selben interessü'en , solche Ver-
seiehniflse kann ee aber niemals geben, und die Anfseiefanongen Aber die
Oebnrtsreligion ist gnaa werthlos, wir nntersndien und verwertfa«! etwas,
von dem wir nicht wissen, ob nnd in wdchem Grade, in weldier Fonn
es noi'ii vorhanden ist.
Bezüglicli der Alkoholfrage, welclier Verfasser (.besondera S. 55 ff.) ein-
gehende nnd höchst interessante Erörtenngen widme^ seheint mir nnr, dass
noch eine Frage einer eingehenden Berücksichtigung werth gewesen wäre.
Man sagt: Jene Fälle, in welchen der Alkoholgennss direct dn Verbrechen
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372
Bespi-ccbuugeu.
▼enulaaBt hat, intereniren uns nieht; dass Betnrakene m Streit tmd Schlägerei
kommen, dass der Trunkene im Rausch sein Weib misdiandelt oder tödtef,
das8 er sich zu Spiel nn<l Oeltlveilust vorlciten IJLsst. das ist Alles von
unserem Staiulpunkte aus nicht wirlitifr und ist natürliche Folge. Aber
UDs inleiessirt der allmähliche \ erfüll deä I riukers, seine progressive Wider-
staDdranfUiigkdt g«geii «ittUdie Hemmungen, die zunehmende Leiehtiglceit,
mit der er Verbrechen begeht und endlich die entsetzliche Sicherheit» data
der Siiufer untaugliche, (lem Verbrechen leicht verfallende Kinder zeugt.
Das alles siud höchst wichtige Dinge und der Scldusa geht dahin: Alkohol
erzeugt Verbrechen und Verbrecher. Ob das wohl richtig ist? Ob eines
die Folge des anderen ist? Ob nieht beidea, Alkoholaacht nnd verbreche-
risches Wesen, das EIrgebniss eines, uns nodi nnbekannten, noch gar nicht
Bekannten istV Wenn wir dies beiden geineinschaftliclic Dritte etwa
.mangelhafte Widerstandsfähigkeit", -fehlende ethische Hemmungen'* oder
ähnlich nennen, so müssten wir fragen — mehr behaupte ich nicht — ,
ob nicht diese mangelhafte WiderBtandakraft einerseits yeraniasst, daas
sich der Betreffende der Anaehnngskraft des Alkohols nicht widersetsen
kann und dass er andererseits auch fällt, wenn die Anlockung zu einem
Verbreclien ihm in den Weg läuft. Wenn dann seine Kinder wieder Trinker
oder verbrecherische Naturen werden, so geschieht dies nicht, weil der
Vater Potator, sondeni ein Mann war, der seine mangelhafte Widerstands-
kraft als solche seinen Kindern vererben musste.
Ob diese Frage jemals wird beantwortet werden kOnnen, und ob wir
irgendeine Erleichterung finden, wenn wir Tninkenheit und Kriminalität
nicht untereinander steilen und von einander ableiten, sondern, wenn
wir ein Nebenebander nnd Abhängigkeit beider von einem Dritten
aanehmen — das ist allerdings heute noch nicht zu beaatwwieii*
ad S. 81 glaube ich, da^s Verfasser die Bedeutung von Spiel und
Aberglaul»e in gewissem Sinne zu gering \eransclilagt. Dass das Spiel in
Deutschland ^nur eine geringe kriminalistische Bedeutung'' hat, ist gewiss
nicht richtig. Weldie Summen der gemeine Mann hn „KUmmclbltttdien*^,
„Meine Tante, deine Tante", „Hiemenstechen" u. s. w., nnd die „goldene
Jugend" im Macao und Pliarao alljährlich verliert — das darf umsoweniger
unterschätzt werden, als hierbei manches im Wege des Betruges verloren,
und durch eme Unterschlagung u. s. w. wieder wett gemacht wird. Dass
die Krinunalitit dnrdi Spiel in Oesterreich durch das Bestehen des „klenien
Lotto" weaeDÜidi vermehrt werde, düi-fte vom kriminalpsycbologisclien
Standpunkte aus nicht sicher sein. Icli Mn der Letzte, der e,s vertheidigt,
wenn der österreichische Finanzminister aus den Kreuzern des armen Mannes
Eiuuuiimen macht — abei' die Sucht des Menschen, auf leichte Art Oeld
an bekommen, ist in semem Wesen so tief eingewurzelt, dass es in ii^endr
einer Weise zu Tage treten mnss. Und hat der gemeine Mann kein
„kleines Lotto'', so werden Kümmelblättchen und ähnliche, noch viel ge-
fährlichere Spiele seinem Bedürfnisse nach Nervenreiz und Geldhoffnung
abzuhelfen vei'suchen.
Elwnso unrichtig ist es, dass „der Aberglaube seme Rolle für das
Zustandekommen von Verbrechen überall da ausgespielt hat, wo das Bil-
dungsniveau des N'nlkrs eine grosse Höhe erreicht hat": ich gl.aube, da.ss
die in meinem „Handbuch für Untei'suchungsrichter" und wiederholt in
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Besprechungen.
S7S
diesem ^Archiv'' gebrachten Bele^ deatlich genug zeigen, welch' unglaub-
lich »n'o^c Holle der Aberg;laiibe auch heute nooh in reeht gebildeten
Kreisen auf dem Gebiete des Strafrechts spielt.
Auch der AbetammaDg (S. 101 ff.) wird insofeme tn Tie! Wichtig-
keit beigelegt, als der alte Jaristeneatx «pater eemper incertos' nngendB
mehr Geltung hat, als in den Kreisen echter Verbrecher; dort ist das
Ausfüllen der Kubrik „Nnme des Vatei"s" im Taufschein doch bloss Form-
sache, und für unsere Zwecke nichts Verwerthbares.
Sehr gnt sagt YerCuser (8. il8X es bestttaiden gewisse Beziehungen
zwischen Epilepsie, Brandstiftnng, Mjfvtielsmus und sexueller Erregung —
es fehlt nur das hierher gehörige Moment der Grausamkeit
Ebenso richtig sagt Verfasser (S. 13S): „Wir haben keinen Kanon
des Normalmenschen'' — ich gehe aber noch weiter uud wiederhole, schon
einmal Irgendwo Ansgeftthrtes: „Whr haben uns noeh nieht darüber ge-
einigt, was heisst normal?* Wir verstehen entschieden zwei vOllig Ter>
schiedene Beiniffe darunter, und bevor hierüber nicht Verständigung er-
füllet ist, können wir nicht weiter roden. Die Einen nennen das j,normah,
was vollkomuieu richtig ist (uorwaier Pulsschlag, normale Verdauung);
die Anderen, das die Regel bildet, also am hftn^gsten vorkommt; wenn
man von einem „normalen Mensdien'^ spricht, so m^te man kdnen, ab-
solut fehlerlosen Körper, denn das giebt es nicht, sondern einen Menschen
von gewöhnlicher gesunder Beschaffenheit. Das sind aber zwei ganz ver-
schiedene Bedeutungen, und wenn wir uns nicht auf Eine dei-selben einigen,
mflbHeo Confnsionen entstehen.
Bei der Besprechung der kSrperiidien Eigenschaften der V^brecfaer
und namentlich bei der Behandlung von Lombroso (S. 142 ff.) legt Verf.
m. E. zu wenig Werth darauf, wie Lombroso seine Zahlen bokoninien
hat Er stellt Verbrecher gegenüber I>«ichtverbrechern, in Waiuheit
aber die im Kerker Befindlidien den FVeihoumgeheiideii. Unter den
Enteren sind aber auch alle unschuldig Bestrafton nnd alle jene mit-
gerechnet, die durch unglücklichen Zufall, Irrthum, äussersten Zwang zu
einer strafbaren Handlung gelangt sind, ohne das zu sein, was wir Ver-
brecher nennen. Ebenso befinden sich unter den Freiherumgebenden alle,
die schon bestraft sbd, alle, die Im Innern sdhon Verbreoher sind, aber
durch Zufall noch nicht dazu gelangt sind, ein Verbredmi zn begeboa,
oder die durcli Lebensstellung u. s. w. überhaupt nicht dazu kommen
wenlen; kriminalanthropologiscli sind sie aber Verbrecher und wenn Lom-
broso und seine Leute ihre Zahlen, Messungen, Vergleiche und Schlüsse
bloss an momentan Eingesperrten nnd Niehtemgesperrten maehen nnd,
^^-ohl auch nur machen kOnneo, so hat das wissenschafdich nicht bloss
keinen Werth, sondern es können diese nicht bloss gewagten, sondern von
Haus aus falschen Schlüsse zu gefuhrlichen Irrtliümern fiiliren.
Befremdlich ist es, wenn \ erfaaser (S. 149j behauptet, „die Zeiten
shid vorüber, ui denen sidi das Stndinm der Abarten der Qamieispradie
lohnte". Wir fangen ja damit erst an, die Sadie wisaenschaftlidi zn be-
treiben, und erat auf Grund der neuesten Arbeiten von Kluge, Stumme,
Iv Osch er, Schütze, dann aller der vielen, die Argot, Slang und die
sla vischen Geheiruspraclien beliuudeln, wird es möglich sein, einmal die
hochwichtige „Psychologie der Gannersprache" zn schreiben. Die prak>
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874
BesprediungeD.
tisc-lie Dcdeutnnt!: dr-i-selbcQ ist voi-soli windend, die wissenflchaftliche aber
nicht leiclit zu iiocii zu veranschlagen. •
Was nun die Schlüsse anlangt, zu denen der Verfasser dieses bedeut-
samen Werkes gelugt, so erfordert es auch hier einer Anseinaadersetsang.
Verfasser gelaogt zur Notliwendigkeit der Abschaffung des Strafausmaasses
auf Gmnd eines nicht richtifjeii IJeispieles. „Wenn ein Chirurp eine Ope-
ration vomelimen soll, so würde er weit fehlen, wenn er die verlangte
Operation vornehme, ohne sieh von der Nothwendigkeit zu Überzeugen/*
Dasselbe muthe man dem StrafvoUzQgsbeamten eq. Der Vergldch stimmt
nicht, and wollte man bei ihm verltleiben . sd müsstc man sagen: Die
Operation war die Veruiliioihing. niclit die Durchführung der Strafe, riiul
von der Kothwendigkeit der Verurtlieilung hat sich der Richter im Laufe
des Vorverfahrens und Uauptverfakrens allerdings überzeugt Nach der
VerortheOong handelt ea sieh nvr etwa nm nihige Lagerung des operirten
KOipers und dafür hat der Krankenwärter zu soigen, dieser wäre
also in Verfassers Reispiol dorn 8frnfv<»llzugsl)eaniten zu vergleichen. Aber
der Vergleich stimmt überhaupt nicht, denn die moderne Auffassung von
der StrjJe geht la den wenigsten Fällen auf Heilung und Besserung —
daran gUmben wir nieht mehr.
Verfasser findet den heutigen Zustand redit bedenUicIi, er senge von
weitgehender IN^t^litsnnsioliorhoiL, gegen die energisch eingeschritten werden
müsse, uajueutlich im Wege einer socialen Hygiene, die gegen den Alkuhol
und für die Sorge für Arme, Kranke und Kinder einzutreten habe. Wenn
WUT diesfalls nnd bei den weiteren VorseUageD dem Verfasser vollkommen
recht geben, so dürfen wir doch sagen, dass wir eine Wendung znm
Besseren wahnichmen können, die allerdings von ganz anderer Seite an-
gebahnt wird. Wir haben durch Jalirtausende das Keciit ledigUch vom
rein juristischen, logischen, metaphysischen Standpunkte ans betrieben,
Paragraphen gemacht nnd ansgeleg^ das Objeet des Strafroehts, den Men-
sehen selbst hat Niemand stn^Bit hente nnd wir am Anfange einer
neuen Methode, und von dieser erwarten wir mit !!< cht nrues Heil, mit
Kecht, weil wir die, bisher vöUig veruachliissigte Uruudhige unserer Arbeit
anzugehen bestrebt sind — Kriminalanthropologie, Kriminalsociologie,
Krimma^yehologle, Krinünalistik, Kriminalstatistik — das smd die G6>
biete, von denen ans wir den Kampf gegen das Vcrbreclien aufnehmen
wollen — .ilicr liovor es zur eigentlichen Arlieit geht, müssen dieso Gebiete
&:&t bebaut werden und das wird viel Müiie und viel Kopfzerbrechen geben.
Draek «vd J. B. BlrieIif«U lo Laip^.
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ARCHIV
fOb
mimAL - MTHKOPOLOGIE
UND
MIT EINER ANZAHL VON FACUMÄNNEUN
HBUVSeiaiBBf
Fbov. Djl UANS gross
DBJBIZmm SAUD.
MIT 16 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 2 TAFELN.
LEIPZIG
VEKLAG VON F. C. W. VOGEL.
1903
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Inhalt deö dreizehnten Bandes.
Erstes und Zweites Heft
ausgegeben 25. September 1908.
Original -Arbeiten. S«it*
L Über Veriotzungen unil Tod cbircli nberfalnvnwerilon vom gcriehts-
ärzüiehen iSUuidpunkto. Von Prof. Dr. Paul Dittricb in Prag 1
IL Die gerichtliche VornnterBiidiiiiig. Von Referendar Dr. jur.R.Polsin 31
in. Eifnhningen Aber einige wichtige Gifte nnd deren Nachweis. Von
Prof. Dr. Julius Kratter 122
IV. Ein Beitrag: /iir Kasuistik der Schlaftrunkcnbeii. Von Dr. v. Haclco-
witz iu Innsbruck 161
V. Dfhr Nachweis der Oewerfo»> oder GewohnheitsmiSig^ceit als Tat-
beatantonerianal nnd lur Überfüluiuig inabeecmdere des gewerbs-
mSBigen Spiders. Von Landrichter Hanfiner in Zwidcan . . 172
Kleinere Mittcihin^'on:
1. Alkobol und '/cu^enausHjtgen. (Na«;ke) 177
2. Internationale Kongrosse. (Nücke) 177
3. Die Gepnogenheit als SehaldamsdilieBiingügrund. ( L o h s i n g ) l?^
4. Kriminelle Imitation. (Lohsing) 180
Btleherb espreohnngen:
a) Von Ernst Loh sing.
1. Das srraf^'(>set/)>ucfa f&T dss Deotscfae Reich nebst dem £in-
führungsgonetz ISl
2. Beiträge zur Psyebologie der AutMago Ib2
8. Rosenblatt, Res jn^cata nnd Jostizirrtnm 184
4. A. Heinong, Über Annabnicn 185
r>. Die Straf recbtsn fomi in Deutschland and der Schweiz ... 186
b) Von Hans Schneickert,
6. Dr. Hans Fischer, Homosexnalitit eine physiologiache Er^
scheinuiig ? 186
7. Derselbe, Beitrag snm Kapitel der Ekicennung verschiedener
BemCirton fai foro: Der Musiker 188
8. Albert Sehr, Äntliofa-operatfver Eingriff und Strafrocht . 188
Berichtigung 191
Digitizod by Google
f
TV luliiUtevorzeiclmi».
DtHIn Itofl
anOfOgebeu 5. Nuveuibcr 1903.
Original- Ar heilen. Mit
VL Zur Psycholofpi' der Zcugonaussagcn. Beiti-ag zur psychologisrlicn
Aiiiilyw (In Srinunung, inj^bcwndcre der Suggestion in ihrer
f orcuHi»chüu liciicutuug. Von ilunsiiichncickert, licchUprakti-
kant in Mflndien 193
VIL Inteniatioiiale tatetinalteaadieVcwiiii^ping. B«iklit Sber die 9.LMid«B-
versammluDg der Landesgrnppe Deatadies Bddi. VonStMiMawalt
Dr. VVulffen in Dresden . . 212
VIII. Zur Selbstmordfrage. Von Dr. Buschan in Stettin ...... 281
EL Des ('hurfür»t(>n zu Sachasen etc. Vnd hmAgnnm sn Heaaen etc.
Offen AuBBcüreibon,
Der Mordbrenner vnd Vorgiffter halben : Die vom Anti Christ, dem
Babet za Rom abgefertiget, Dendach Land mit Mordtbrandt vnd
TOrgifftnng zu beschedigen. Item HertzogJohana Wilhelmen
zu SachHRen cte. Sonderlieh aussehreihen . mit einuorieibter
urgicht vnd bekentnis, eins, der oberürten beftcluHliger, so zu
Weymar gefenglich einbracht, vnd erhalten wirdet 235
X. Zur Frage dea Berufsgebebnnidsea. Von HansGroß 241
XL WetÜbniMHu mid WiakelbtulunaelMT in DontieUand. Von Hans
T. Mnntenff el, KftnigL Kriminal-Kommiflaar in Berün .... 248
ZU läne bewunderoawAf^ge Leistung. Von Dr. GOrres, ReelitBanwalt
in Karlsnihe 264
XUL Da8 Gestiindnia des Verbrechera. Vom Landiicfatar Hnnfiner in
Zwickau 267
XIV. T»eliech(>sla\\ iwhes in der Gaunersprache. Von Ernst Lohäing
in Prag 279
XV. Unlautere Manipulationen im Geschäfts- und Verkehrslebeo. Von
Reditapraictilcant Hans Schnei eitert in Httnohen 286
Kleinere Mitteilungen von Hedisinairat Dr. P.Nlclee:
1. Bdiendgenswerte Worte einee VeiKeaaenen 291
2. Dar angebUcfae InfanliliBmua, daa geringere Qehimgewicfat und
die geringere somatische Variabilitilt dea Weibea 292
H Voruntersuchung' in Abyaainien 29S
4. äpiritiätischer Schwindel 294
5. Schreckliche Folgen einea fanatischen KurpfnacherB .... 296
6. Ein amerikaniadier Blanbart 29S
7. Vorsicht bei Hjrpotheaen 296
. .^üd by Google
Inhaltavcraeicbuiü.
V
ViertM Heft
ausgegeben 17. November 1903.
Original- ArWeiton. 8«ito
XVI. Das Leben der Waaderannen. Von Jüans Ostwald, Groß-Ucbter-
fcldc 807
XVII. Die KollekttvauWteUimg der Pulixeibehördcn auf der Stadteauä-
stellung in Draidai. Von k. k. GeriditBsekretir FHodr. Panl,
Olmfitz. (Hit 16 Abbildungen im Text and Tafel LH) .... 816
XVUL Zum Falle anf S. 820 im XII. Bd. Von H. Grofi .' .349
XIX. Forensiscb-psychologisch-itöychiatrische Randglossen zum Prozesse
Dippold. itistM-siindero nher SadismoB. Von Medisinairat Or.
P. Näckc in Hubertusburg 350
Bücherbcsprcchnrif^ von Hans (»roß.
1. l'ie (iron/.en der Ziirci Imungsfahigkeit und die Antbropologio 373
2. Strafrccbtliche Abbandluugen ... 370
Druckfehlerberichtigung 876
1.
/
über Verletzungen und Tod dürch Überfahrenwerdea vom
gericiitsärztlichen tStandponkte.
Von
Prof. Dr. Fmü Dittrlofa in Png.
Voigetxvgen in der Abteilung f&r gerichtliche Medlslii der 74. Venammliuig
deutscher NsturforBdier und Ärzte tu Karlel»d 1902.
Dil' Vcrirt/'.unp'n durcli l h^rfalin'nwt'nlt'n traijeii entsprechend
tler liescliaffenlieit der sie vernrsaclienden Ohjekte in der Rej;el mehr
oder woniiror deutlicli den Cliüiakter der iilti'rliau)>t dnrcli stnnipfe
oder stnnipf kantige Werkzeuf^e entstandenen \ erietzun^en an sichj
dies sind Dinge, die ja jedem Arzte hinlänglich l>ekannt sind.
Anders steht es mit der forensischen Seite die8eä Gegenstandes,
indem gerade bei der Beuitwortiing foreoBisdi wichtiger Fragen in
Fällen von Überfabrenwerden Einzelheiten des objektiven Befundes
in Betraebt kommen, deren wichtige nnd ausreichende Verwertung
für forensische Zwecke eine gewisse Übnng nnd Erfahrung in der-
artigen Untersuchungen und Begutacbtnngen erfordert
Zunftchst sei betont, daß nicht jeder, von dem es sogar in Polizei-
noten n. dergl. beißt, er sei Überfahren worden, tatsächlich auch über-
fahren worden ist.
Im gewöhnlichen Leben \\ erden häufig auch solche Fälle zum
Überfahrenwerden gereclinet, in denen ein Mensch von einem Gefährt
erfalU und zur Seite geschleudert, von vor einen Wagen gespannten
Pferden niedergestoßen und getreten wird und dergl. Diese Fälle
gehören aber nicht zum Überfahrenwerden im eigentlichen Sinne des
Wortes, sondern nur jene, in denen tat.sächlich die liiider eines Wagens,
eines Eisenbahnzuges oder eines anderen Oefährtes, oder z. B. sich
bewegende Walzen mit verseliieden beschaffener Oberfläche, wie solche
heutzutage in der Lmdwirtbchaft verwendet werden, über eioen Men-
schen llinWi'--;^,-elien.
Archiv lür Kriminalanthropuloine. Xlll. 1
2 !• DlTTRlCH
Der Effekt, den ein solches Vorkommiiis auf den menschlichen
Körper hat, wird innerhalb gewisser Grenzen insbesondere eineiseitB
von dem Gewicht des Geehrtes, dnrch welches das Überfahren er-
folgt^ andererseits von der individuellen Beschaffenheit des Überfahrenen
abhftngen.
Ist das Geföhrt ein leichter, unbelasteter oder wenigstens nicht
schwer beladener Wagen oder hat ein nicht allzu sdiwerer Wagen
Gummiräder, so ist es tatsachlich möglich, daß die Bäder äußerlich
am Körper des l'lierfohrenen keine oder nur äußerst geringfflgige
Druckspuren in Form von streifeofönuigen Hautabschürfungen oder
Quetschung:en liintcrlnsson, namentlich dann, wenn der direkt Uber-
fahrene Körperteil durch hinhin/rlioh <li('ke Lajren von Weichteilen
geschützt oder sehr leicht eindrUckbar ist, wodurch noch keineswegs
ausgeschlossen ist, dal') im Gegensätze zu den geringrfügipni Läsionen
an der Köq)eroherfläclH' sieh schwere, ja selbst leljensjrcfälirliche oder
tödliche Verletzungen im Innern des Körpers finden kr»nnen.
In letzter Zt it hat F. C. Th. Schmidt') einen Fall mitgeteilt, in
welchem eine Fraktur der llalswirhelsiiule mit liiieksicht auf die
völlige Unversehrtheit der Ilalshant als durch l'berfahrenw erden von
einem Automobil entstanden gedeutet wurde. Wenn die Verletzung,
wie es durch die Erhebungen und den Fokalnugenschcin in diesem
Falle wahrscheinlich gemaclit ist, tatsäeliiich (hirch i'herfahrenwerdea
bewirkt worden ist, so hat allerdings das l ' herfahren werden durch
die mit Gummi versehenen Bäder eines Automobils sehr viel Wabr-
soheinlicbkeit für sich, da eben einerseits die Einwirkung der Gnmmi-
rSder den Mangel äußerer Druckspuren, andererseits das Gewicht des
Automobils die Schwere der Verletzung der Halswirbelsäule zu er-
klären imstande ist
Beim Überfahrenwerden durch schwer beladene Lastwagen, durch
Waggons von Pferde- und elektrischen Bahnen, durch Eisenbahnloko-
motiven oder Eisenbahnwaggons kann es dagegen wegen des hoch-
gradigen Druckes, welchen die bedeckenden Weichteile erfahren,
nicht vorkommen, daß an der Körperoberfläche keine oder nur
geringfügige Dmckspuren im Bereiche der überfahrenen Körperteile
entstriun. Diese Druckspuren präsentieren sich in solchen Ullen
an der bedeckenden Haut entsprechend der Form der Angriffsfläche
desjenigen Teiles des Gefährtes, welcher direkt den Körper trifft, als
ziemlich ausgebreitete, teils mit geraden und scharfen, teils mit un-
li F. C. Th. Schmidt, Eiu ^K^ltener Fall von tSdIldier Yerietzimg der Hals*
Wirbelsäule. Zeitsehr. f. Medizinalb. 1902. Nr. 19.
VerletzaDgCD u. Tod durch rberfabrenwerden voni gcrichtsSntl. Standpunkte. 8
re^i inuir)i<: gezackten Kändem verseheoe, meistens streifenförmige £x-
koriationen.
Minder Geübten kann gelcgentlicii bei einer bestimmten Lokali-
aation der äußeren Dmckspuren deren Dentang Sehwierigkeiten be-
reiten.
Lehrreieb erscheint mir in dieser Beziehung ein Fall^ in welchem
4
L I>ITTJUCK
die durch Überfahrenwerdeii toh der Eieenbaliii entstandenen, mit
Unterbrechungen in (^aerer Bichtung in der Halshaat rerlanfendea
Hantabschttrfungen von einem Obdnzenten als eine Strangfnrche an-
gesehen wurden und seither an der Hand einer zu Unterrichtszwecken
angefertigten und aufbewahrten Skizze ohne Kenntnis des l&brigen
Sektionsbefnndes von einem und dem anderen in gleicher Weise ge-
deutet werden.
Bd genauer Betrachtung ist man in der Lage gewesen» schon
aus der Beschaffenheit der strangfnrchenartigen Druckspur (Fig. 1 u. 2)
allein zu erschließen, daß dieselbe nicht von einem Strangwerkzeuge
herrühren kann, da die Druck.s]nir auf der linken Halsseite an der
Grenze «regen die normale Haut hin in vertikaler Ebene scharf absetzte
(Fi<r. 2 a), ohne gegen diese Hautpartien hin an Intensität a 1 1 ni ä b 1 i c Ii
abzunehmen, Verhältnisse, wie sie bei einer Strangfurclie überhaupt
niilit vorkommen können. Daß an don direkt Überfall renen Stelh'n
des Halses die Haut in größsorer Ausdehnnn;:: unversehrt geblieben ist,
hat seinen (Irund offenbar in einer Verscliifbuni: und dadurch be-
dingter l''alt( iil)iMun^- in der Hulshaut, wobei (H«' im Kaltental p i i:i'n(>n
Haut))artien mit den Kadern der Eiseubahnwaggons in gar keiue direkte
Berührung kamen.
Eines allerdings wäre möglich, daß sieh nämlich gelegentlich
einmal unter einer derartigen durch rberfahren am Halse entstandenen
r)rueks|)ur eine wirkliche Strangfurche verbirgt, resp. letztere durch
die später einwirkende, weitaus bedeutendere mechanische Gewalt
ganz unkenntlich gemacht wird.
Möglich wäre die ^kennung einer Strangfurche innerhalb einer
stark ausgeprägten, durch eine wuchtige mechanische Gewalt ent-
standenen Dmckspur vielleicht höchstens dann, wenn diese letztere
Gewalt zu einer Zeit einwirkt, wo die Strangfurche einerseits schon
einen bedeutenden Grad von Vertrocknung erreicht hat, andererseits
eine besondere Zeichnung beispielsweise in Form sogenannter sekun-
därer Leisten, wie solche nach Strangulationen mit neuen Stricken
beobachtet werden, aufweist. Allerdings dürften wohl nur einem sehr
geübten Beobachter solche Einzelheiten nicht entgehen.
Von den eigentlichen durch Überfalirenwerden entstehenden \ er>
letzungen haben wir jene zu trennen, deren Entstehung dem l her-
fahrwiwerdcn unmittelbar vorangehen, dasselbe zeitlich begleiten oder
ihm unmittelbar folgen kann, und welche daher je nach den un-
niittell)aren Folgen, die das 1. herfahren für den lietreffenden nach
sich zieht, teils intravital teils pi»stmortal entstellen können. Derartige
Verletzungen können auf verschiedene Weise zustande kommen, z. B.
Verietrangen u. Tod darch ÜlwifahraDwerdeD vom gerichtsirztl. Standpunkte. 5
durch spitzt^ oder sdiarfkantifre. vorrao:ende Teile an Lokomotiven,
durch HahnräunuT, durch Stol^ oder Sturz, wenn nielit der bereit»
auf der Fahrlialin rt'sp. auf dem Opleisc Ii e<; endo Körper überfahren,
sondern muIut d< r stehende o(h'r in Heneiruni: befindhche KTtrjjer
von dem tJefährt erfalU und niederjjrcsehleudert wird oder dadurch,
dali die Leiche eines bereits von einer Lokomotive l'berfalirenen, von
den nachfol^'enden Wa^'^rons weiter^reschleift oder fort^^eschleudert wird
und (hibei an irj^endwelche feiste Objekte oder freii:en (hm Boden an-
prallt. Auch auf diese Weise können selir holie ilrade der durch
stumpfe und stumpfkantii;e Werkzeuge überhaupt entstehenden Ver-
letzungen zustande kommen.
Besondere dort, wo das ÜberfabreD dnioh sehr sekwere Objekte^
insbesondere dureh die Eisenbahn erfolgt, wird es meist nieht schwer
fallen, die durch das Überfahren entstandenen Verletzungen von allen
anderen zn trennen, während in jenen Fällen, in denen das Übe^
fahrenwerden dnrch leichtere Gefährte erfolgt, ttberhanpt die Diagnose
des Überfahrenwordenseins auf Grund des objektiyen Befundes ge-
legentlich unmöglich sein kann, weil auf diese Weise Verletzungen
entstehen können, welche sich Ton auf andere Weise mechanisch ent-
gtandenen Verletzungen, wie z. B. von Verletzungen durch Sturz, in
keiner Weist zu unterscheiden brauchen.
Für den Gerichtsarzt ist nun aber eben die Frage,
ob wir auf Grund des objektiven Befundes an einer
Leiche allein die Entstehung von V erl etzun^i^en durch
f berf alirenwerden feststellen können oder nicht, von
gröhter Beden tunir.
Im alipineinen möchte ich beliaupten, dal» dies um so leiehter
sein wird, je wueiitiirer und schwerer das (iefälirt ist, durch weh'lies das
I berfalirenwenU ii iierhei^refiihrt wurde, am leichtesten somit, wenn ein
Mensch von der Eisenbahn überfahren worden ist. Es ist das Bild hoch-
gnadi^aT Zermahiiun^r, welches die von der überfahrenden ( n'walt direkt
getroffenen Körperteile und Körperorgane in solchen Fällen aufweisen.
Die Verteilung der Verletzungen ist keine willkürliche, sondern
erfolgt bei vollständigem Überfahrenwerden des Körpere in ^er mehr
oder weniger ghitten Ebene, welche entweder parallel, schräg oder
senkrecht zur Längsachse des Körpers verlauft.
Die flbrigen vor dem Oberfahrenwerden oder während desselben
entstandenen Verletzungen können verschieden lokalisiert sein, werden
aber beim Überfahrenwerden von der Eisenbahn niemals jenen Grad
von Quetschung resp* Zennalmung aufweisen, welchen man an den
direkt ttberfahrenen Körperteilen beobachtet
6 1. i>ITTBlCB
Schon hieraus wird in vielen FKUen der Schluß gezogen werden
können, daß Verletzungen in konkreten Fällen nur durch Überfahren-
werden entstanden sein konnten.
£inige Beispiele sollen das Gesagte erläutern <)*
1. FalL
J. V., 2' ijülirips Mjiddicn, wurde von einem Wagen ttberfahren*
Tcm1 ;un iiiiclisteii Vnüe. Gerichtliche Sektion nin ^. Oktoher 1S03.
In iler Mitte Uer ötim und an det* linken U'auge geringe Jülutunterlau-
fungen.
Bluterguß unter die Hant des rechten Ober- und ünter-
sehenkcls. verbunden mit einer weit i:*'h(iiden Unte [ m I n je-
rnnfr dt-r Haut und Zerre i liu n ir der Muskulatur: ausv'edehnte
liKiwunde auj linken Tu t e r s c h e n ke 1 ui i t Ze rr e i lUi n der Mus-
kulatur. Gruiie, bis auf die 6oliie reiciiende Luppeuwuude
am linken Fnße. Die Mittelfnßknochen fast ganz bloßgelegt,
mehrere derselben gebrochen und von den Zehen abgerissen.
Anilmie der inneren OrL'ane.
Die Verletzungen wareu ihrer allgemeinen Natur nach tödlich.
2. Fall.
J. M., "in jähr. Kutsclit r. wurde am Dezeudier 1 SM3 infol-re ei^'ener
Unvorsiditigkeit von eiueui Wagen überfahren; er sali am Vorderwagen,
wollte die Wagenbremee anziehen, stflrzte dabei vom Wagen hmmter and
geriet unter die Räder. Tod am nächstm Tage. Sanitätspolizeil. Ob-
duktion am 2. Januar 1S*.)4.
Auf der Seheitelhrtlic eine I rm lanijre. nnt blutig infiltrierten Itiindern
versehene, bis auf das l'criost reidiende KilJwunde. In der rechten Pieura-
]ah)» 100 g Blut Die 7., 8. und 9. Rippe rechts entsprechend der
stärksten Krümmung frisch gebrochen; die Pleura parle talls ent-
drechend den Hruchstellen eingerissen und in deren ['nigebung von
mäliigen Blutanstrittm durchsetzt. Im Unterleib Uber zwei Liter Blut, Der
rechte Leberlappeu zerrissen.
Die Verietzungen waren ihrer allgemidnen Natur nach tSdIldi.
3. Fall.
A. N., 34 jähr. Schmied, wurde auf der Bahnstrecke tod aufgefunden.
Gerichtliche Sektion am 4. Februar 1*^94.
Vereinzelte grölierc und kleinere, vertrocknete Exkuriatiunen am
Kücken, an der rechten CJeiiilibacke und an der 1 linterfläche des rcdjten
Oberschenkels. Veremzelte QuetBch- und Rißquetsdiwunden am behaarten
Kopfe und an der N.isen Wurzel; eine Hautabechflifung entsprechend dem
rechten StimbcinlM»cker.
Am Hals und an beiden ächultern ausgebreitete, streifeu-
1) Das in den im Folgenden anzuführenden 17 Fällen gesperrt Gedruckte
bezieht sich auf jene Veiletziin^rcii, deren Knt»tehung durch direktes rberfahren»
werden mit Bestimmtheit oder gröl>ter Wahrsch^Hcbkeit anzunehmen ist
VerietEangra u. Tod dnrdi Überfabrenwerden vom gerichlBintl. Standpunkte. 7
fr>rini<re, rotbraun vertrocknete, quer verlaufende Exkoria*
tiontiii.
Die rechte Hand vollständig zertrümmert; die Weichteile
teile an derselben vielfach serriasen, die Knoehen vielfach
gebroch en.
Jläni^'o IMiitnnfrcn in den innoron Mfiilnp'n an der llirnliasis.
Blutungen im L' n terli au izeli- und Unteili.iutfctt^reu ehe
und in der Muskulatur des vorderen unteren llaUabBcliuittes.
Die Halsmusknlatur links z.T. vollstftndig quer durchrissen,
so insbesondere der linke Kopfnicker. An der rt-chten Hals-
seifo liiiiter (l<'ni K n pf n icker ei n e f.iU8t{;r<»l5t'. mit tl u ii keif 1 iis-
sigem lilut j^o füllte, bis hinter die Wirbelsäule sieb er-
streckende Höhle, in deren Bereiche die Muskulatur iu
großer Ausdehnung zerrissen ist Die Halswirbelsftule mehr>
fach url. rochen, z. T. vollständig: zerdrückt; die Weiehteile
v<»r (Irr Wirbelsäule und /. n beiden Seiten ihu-selben von
aus;;e breiteten Blutaustritten durchsetzt und in grolier Aus-
delinun^ zerrissen. Der Ualsteil des Rückenmarkes zer-
quetscht Am Kehlkopfe ein von oben nach unten verlau-
fender, vollständiger Bruch in der voi»deren Mittellinie des
Ringknorpels.
An der I.un;:en<il»erfl:u-lie und im parietajen Blatte des Brustfells zu beiden
Seiten der Wirbelsäule Blutungen. Keichliches Blut im Herzen und in den
großen Gefäßen. Leber, Milz und Nieren von mittlerem Blotgehalte.
Tdd durch Zertrüinniun^'; der Halswirbelsäule mit Zen|uetschung des
Ualsmarkes. Durch dieselbe direkte (ü w alt Zei-schniettenuifr der n ebten Hand.
Offenbar S e 1 bst ni o rtl . wofür der Sitz und die \'»itiibin;r der Ver-
letzungen am Halse und die isolierte Verletzung der reciiieii Hand spricht,
während sogenannte sdcundäre Verletzungen f^len.
Einstellung des Strafverfahrens naeb § !Hi St.P.O,. in welchem u. a.
die Rede von der Kinstellunu' ist für den Fall, als der iJtaatsanwalt keinen
Grund zur weiteren Verfolgung findet.
1. Fall.
Fr. K.. Jli jälir. Vagabund, kam am 20. Februar is'.M abends .") T'br
in trunkenem Zustande ins städtische Arrestlians, um sich dort reini^'eii
zu lassen. Da er sich nicht abschaffen liel>, wurde er von zwei daselbst
bediensteten Wachleuten hinausgeworfoi. Zu dieser Zeit fuhr ein mit Sand
beladener Wagen am Ai-resthaus vorbei. Fr. K taumelte in die Pferde
hinein, geriet unter dieselben, kam unter die Bäder und blieb auf der Stelle
tod liegen. LJericbtliche Sektion am 22. Februar IS^M,
An der linken Kopfseite eine grolie läppen förmige KiB-
qnetschwunde derllaut; die linksseitige Schläfenmuskulatur
von ausgebreiteten Blutaustritten durebsetzt. zerrissen.
Hinter den) reeliten Ohre eine kl einbandtellergrofJe, mit
gerissenen und ,i:<Mniet8chten Bändern versehene rtindliche
Hautwunde, durch welche man mit der Hand weit in die Tiefe bis vor
die Wirbebänle leicht vordringen kann.
8
I. DrrTBiCH
Die liaLsliant an ausgebreiteten Stellen abgeschttrft,
dnukeliiiaiin, lederartijr vertrooiviiet.
Unter dem Periost des Schädeldache» ziemlich ausgebreitete Bchwärz-
Jidie Blatanstritte. Die inneren Meningen nn der OberflScfae dee Kleinhirns
und vor demselben von aiisjrebreiteten Blutungen dordisetzt.
Das verlänfrerte Mark vollständig ([uor d n rcligerissen, die
Rückenmarksiil. stanz in der Nachbarschaft stark ^requetscht.
In der lIaUmu.skula.lur stellenweise ausgebreitete, schwärzliche
Bintanstritte.
Die Oebilde im Mnnde TOÜBtänd /.errisscn: die Zunge, die ans
dem Munde stark von-a;:^. ;nn O runde fast vollstiindi abj^erissen.
Der Unterkiefer zeigt in seiner Mitte einen vtillständigen, von
oben nach unten verlaufenden Bruch; der Uberkiefer mehr-
faeh gebroehen.
Der 1. Halewirbel vom Hinterhauptbein volUtlndig abge-
rissen.
Die Verletzunp^en waren ihrer aliicenieinen Natur nach tödlich : eine
zufällige Eutätehung derselben auf die durch die Erhebungen festgestellte Art
maßte ab möglich zu^e^^oben werden.
Anklage wegen Wrgehens gegen die Sicherheit des Lebens (§ 335
n. St.G.). Der r>i'M'lmMigtf' wurde nadi § 2r>*>. 'A der ö. St.P.O. freige-
sprochen, da der Geriditshof die Schuld nicht als ei'wiesen angenommen hat
5. Fall.
W. ('., 31 jähr. Taglöhner, ist von einem Wagen gefallen und von
denisellien iil>erfahren worden. Komplizierte Fraktur des rechten Unter-
schenkels. Die gesphttcrteu lirucheudeu wurden im Krankeuhause abgesägt
ond dnrdi HetiUldrahte vernnigt Oeriohtliche Sdction am 17. April 1895.
Starke Fäulnis der Leiche.
Komplizierte Fraktur des rechten Unterschenkels mit
au8ge<k'l m t er .1 au ch u n g.
Akuter ^lilztumor. Parenchymatöse Degeneration des Herzens. —
Tod an Sepos.
Die Verletzung des üntersdienkels nirlii ilm i- allgemeinen Natur nach
todlieh, jedenfalls aber eine an und für sich schwere körperliche Heschädi-
p;nng. die auch im günstigsten Falle mit einer mehr als liotägigen üesund-
heitsstörung uud Berufsunfäliigkeit verbunden gewesen wäre.
EhisteUang des Strafverfahrens nach $ 90 St.P.0.
6. Fall.
J. St., 1() jähr. Dieustkueclit, wurde beim Eggen von einer mit spil/eu
Stacheln versehenen Eisenwahse ftberfahren. Qeiriehtliehe Sektion am
12. Mai IS 1)4.
Zahlreiche K i (} u e tsc h w n n d e n und zwar entsprechend der
äulieren Hälfte des rechten 8 e i I «n wa n d Ii e i n s. in der rechten
S c h u 1 1 e r g c g e u d , unterhalb des 1 i u k e n S c h u 1 1 e r Ii I a 1 1 e s , in der
rechten Axillarlinie entsprechend der 6. Rippe, entsprechend
Verletzungen u. Tod durcl) I'berfahrenwenlen vom gericlitsärztl. Standpunkte. 9
der oberen Grenze der rechten Synchondrosis sacro-iliaca,
sowie an der äuljoren Seite des linken (»herarmes. In der
K r eu z bei nfre^rend eine {rroüe Lappenwunde. An der linken
Seitenfläche de« Brustkorbes zwei 10 cm lange, streifen-
föruii;re vertrocknete Ex koriatio n en. — In der Umgebung
aller Wunden bedeutende Blutunterlaufnngen.
Splitterfraktur in der Mitte des linken Oberarmknoehens.
Im rechten Seiten wand bein ein fast guldenstüekgrosses
rundliches, unregelmäßig begrenztes Loch. An dieser Stelle
die harte Hirnhaut und die weichen Hirnhäute zerrissen; zwi-
schen den weichen Hirnhäuten Uber der ganzen rechten Groß-
hirnhälfte ein bedeutendes Rlutextravas.it. Die Hirnsubstanz
Fig.
entsprechend den Hi.ssen in den Hirnhäuten weich, zerrissen, von
Blutaustritten durchsetzt.
In beiden Hrustfellsäcken etwas Blut.
Die Wunde in der rechten Axillarlinie dringt zwischen der
9. und 10. Hippe in die rechte Pleurahöhle ein und läßt sich
durch das Zwerciifell bis 2 cm tief in den rechten Leherlappen
verfolgen.
Die Verbindung des Kreuzl»eines mit dem linken Darm-
bein vollständig gelöst. Das linke Darmbein in seiner hin-
teren Hälfte gebrochen, ebenso der linke horizontale Scham-
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10
I. DlTTRICH
belnast: tlie Weichteile in der Umgebunjr von ausgebreiteten
Blutextravasaten du rclisetzt.
Die Verletzuiij,'en waren ihrer allgemeinen Natur nach tödlich.
Einstellung des Strafverfahrens nach § 90 St.T.O.
Die Verletzungen durch Stachelw.ilzen zeigen insofern
gewisse Eigentiinilichkeiten, als sich ihre Wirkung aus der stumpfen
Gewalt, welche von der W^alze als solcher, und aus der Wirkung,
Fig. 4. Fig. 5.
welche die einzelnen Stacheln durch Eindringen in die Gewebe aus-
üben, zusjimmensetzt. Die durch die Stacheln gesetzten Einzelnläsionen
bilden eigentlich Sticliverletzungen, deren Form im allgemeinen durch
die Form des Querschnittes der einzelnen Stacheln bestimmt wird, wie
dies bei allen Stichverletzungen der Fall ist. Aus den beigegebenen
Abbildungen (Fig. ^, 4, 5) ist zu entnehmen, daH es sich hier um drei-
kantige Stacheln gehandelt hat; dementsprechend findet man auch
deutlich dreistralilige Wunden, die in Fig. ä allerdings zum Teile nur
als oberflächliche Druckspuren in Form von E.xkoriationen auftreten.
Trotzdem kann aber die Form der durch solche Stacheln gesetzten
W^unden, die übrigens entsprechend der Entfernung der einzelnen
Stacheln voneinander gleichweit voneinander liegend die Körper-
nberfläche besetzen, einerseits durch die Dicke dep Weichteile über
den Knochen, andererseits durch die senkrechte oder schräge be-
ziehungsweise tangentiale Einwirkung der einzelnen Stacheln wesent-
Verletzungen u. Tod duith rbcrfalirenwerden vom gerichtHfiiytl. St:indpnnktc. 1 1
lieh modifiziert werden. Dies zeij^en die durch Fig. 6, 7 und 8
wiedergesehenen \'erletzungen, an denen die dreistriihlige Form nur
mehr wenig angedeutet ersclieint, ferner Fig. 9 und ID, wo die Form
der Verletzungen ganz uuregeimäliig ist, und Fig. 11, wo wir gar
Fig. s. Fig. 9.
keine groben Läsionen finden, sondern nur teils streifenförmige, teils
rundliche Kxkoriationen.
Analog verhalten sich hegreiflicherw-eise jene Uisionen, welche
durch Stachelwalzen entstehen, die Bestandteile von
Maschinen hilden. So salien wir ebenfalls gröl»-
tenteils deutlich dreistrahlige, gleichweit vonein-
ander entfernte Verletzungen an beiden oberen
Extremitäten bei einer Frauensperson, welche da-
mit besciiäftigt war, Ölkuchen in einen sogenann-
ten Olkuchenbrecher zu schieben, dessen wirk-
same Bestandteile zwei nahe aneinander befindliche, sich rasch rotie-
Fig. 11.
n nd gegeneinander bewegende Stachelwalzen waren. Die betreffende
Arbeiterin kam bei dieser Arbeit mit der einen Hand den beiden Walzen
zu nahe; die Hand wurde zwischen die Walzen hinabgezogen und
zennalmt; nun wollte sie mit der anderen Hand die bereits von der
Maschine erfaßte Extremität ergreifen und herausziehen; dabei wurde
aber auch die zweite Hand, da die Maschine nicht sofort zum Stehen
12
L DlXTBICB
<ribraelit werden konnte, zwischen die beiden Stachelwalzen hinab-
gezogen und ebenfalls zeriiuilrnt.
Beide oberen lOxtreniitiiten luiilUen i)arliell operativ entfernt werden,
die eine dureii Amputation des Oberarmes, die andere durch Exarti*
kulation im KIlliopMijreb'nke,
Entsprechend den» dreieckigen Querschnitte der einzelnen btacLeln
zeigten auch hier die einzelnen, durch Eindringen derselben in die
Gewebe entstandenen Wunden eine dreistrablige Gestalt; daneben fand
man aber ebenfalls Wanden, welche diese t} pische Form nicht zeigten,
trotzdem sämtiiehe Wunden durch Stacheln von gleicher Beschaffen-
heit gesetzt worden waren.
7. Fall.
A. F., 45 jähr. Kutsclier, wurde angeblicli infolge eigener Unvoi-sichtig-
keit von «nem mit Ziegeln bdadoien Wagra flberfahron, indem er in
trunkenem Zustande unter den Wagen fiel und das Hinderrad über ihn
hinwegging. Tod nacli kurzer Zeit. ( ierii-htlielie J^i-ktion am \). Aw^. is'.t."».
Über der rechten Brustwarze eine t» cm lange, I cm breite
vertrocknete Exkuriatiou. Ausgebreitete Blutun terlauf uugen
am rechten Oberarm.
In der rechten Pleurahöhle 300, m der linken 400 g Blut
Der r II t crl ;i p p e n der rechten Lunge tief und iinreL'el
mäßig ein <;erisäea; au der äulieren Fläche des liukcu Unterluppeus ein
seichter Einriß.
Rechts Fraktur der 2.-7.« links der 3. — tt. Rippe.
In der Pleura costalis mehrfadic Blutaustritte; dieselbe links eatq>re-
cfaend der Frnl<tm"stelle (U'r 1. und .'). I{ip|»e durchrissen.
Zwei kleine Ekehymo.sen nahe der Hcrz.spit/.e. 2 I lUiit im Al>domen.
An der unteren Fläche des rechten Leberlappeus eine
Kapselzerreißnng und ein 7 cm langer, tiefer Einriß im Ge-
webe. An der MilzoberflAche mehrere teils seichte, teils
tiefere Einrisse.
Nahe dem l'vlorns ein rundlicher. 2 -gu 1 denstOckgroRer
penetrierender liiß mit ziemlich scharfen Uändern, wobei die
Sohleimhaat am Rande des Defektes stellenweise fetzig zer-
rissen und allgehoben ist; die Umgebung blutig suffundiert. Die
Serosa des Dickdarms und das retroperitoneale Zellgewebe Stellen-
weise von Blutungen durciisetzt.
Speisereste in der Bauchhöhle.
Tod an innerer Verblutung infolge der inneren Verietznngen, daher
letztere ilirer all^^enieinen Natur nadi tödlich.
EmsteUung des Strafverfahrens nach § 90. St.P.O.
8. Fall.
W. B.f 64 jlUur. Kutscher, wollte sdnen im Fahren begriffenen Wagen
bestdigra, fiel infolge eigener Unvotsichtigkdt unter denselben, wurde aber>
Vcrietzungen n. Tod durch ÜberCahmiwerd«) vom geriditsiRtL Standpunkte. 18
fahren un<1 scliwer \ cHctzt ins Krankenhaus gehracht, wo er 4 Tage spftter
starb. 8anitätsj)i»li/,« ili»'h(" Sektion am 10. Auj?ust lbi>5.
Kdne Kontiuuitätstreunungen der bedeckenden Weichtoile. Die Haut
Ober der ganzen rechten Beckenhälfte sowie Aber der Symphyse,
7.. T. auch noch Uber der linken Beekenhilfte blinlich verfftrbt,
stark hlufiniterlauf en.
Im unteren Abschnitte des .lejunum ein etwa 4 ecni ;;:ii»l'ies,
mit unregelmältigenf gerissenen Käudern versehenes Loch in der
Darm wand, dnn'h welches chymOse Maasen hervordringen.
Am Hocken:
a) Zerreiriun{; lieider IIf'<»s;ikral\ t'rliindungen;
b) ZerreiiiunfT der Synipliysis (»ssium pubis;
c) Beiderseitige, symmetrisch {relagerte Fraktur des hori-
zontalen und absteigenden Sehambeinastes.
Das sub|)eritoneale Zellgewebe Überall blutig suffnndiert.
Die Verletzungen waren ihrer allgemehien Natur nach t&dücb.
9. Fall.
F. H., Kijähr. Schlnsser. Von einem mit Schotter bcladenen Wagen
Überfahren. Tod eme Stunde später. Geriehtlidie S^tion am 14. Okt 1895.
Kldne Exkoriationen ohne Bintunterlaufung- entsprechend dem linken
Jochbonfcn und an der linken Seite des Vnrtleihalses.
Mni'i^M" |{|iitun;_'<'n in der l^nistninskidatur vorno, ebenso der Hinler-
seite des unverletzten Brustbeines. licchts etwas Blutung in der Um-
gebung der großen Halsgefäße.
In der rechten Pleurahöhle ' 2 1 Blut. An der Oberfläche beider
Lnnpren /.ahlreicho, bis kreuzer;rro['e Blutaustritte und einzelne oberflädiliche
Einrisse in der Nähe d»s reclitt n Luiiirtidiilus.
Au der äußeren Fläche des l'erikards und au der llerzoberi'läche
zahlreiche kleine Blutaustritte.
Im Unterleib >/i 1 Blut.
l>er rechte Lflierl;i])|>en f.ist \ m 1 1> t ii 11 il i zertrfhnin ert; im
übri^'en mehrere subkapsuläre Blutuugcu an der Uberfläche der
Leber.
Blutanstritte in der rechten Nierenkapsel.
In der Darmserosa an mehreren Stellen bis krenzergroße
Blutanstritte.
Die rechte H), uml die linke 4. und 5. Kippe gebrochen,
mit deutliciien Blutaustritten unter der l'leur:i.
Tod an innerer Verblutung.
Die Vcrlet/.uii-rn ilncr all^j^em^en Natur luich tödlich.
Einstellung des Strafverfahrens nach § 90. StP.O.
10. Fall.
D. Th., 72 jidir. llausmeisteriu. \'on einem Jb'iaker überfahren. Tod
am folgenden läge. Cierichtliche Sektion am 3. November 1S95.
Bis auf den Knochen reichende Kißquetschwanden an der linken Stun-
sdte nnd am Nasenrttcken mit Fkuktnr der Nasenb^ne, Augenlider ond
14
I. ÜlTTKIti:
Bindeliäut(; Itliituiitcrlaufen. Exkoriationen an den Wangen und am Kinn mit
Blutiinteiiaufunfjr; Exkoriatidnen am linken Ellbogen und an der recliten Wade.
Fraktur der linken Hälfte des Stirnbeins, auf die Schädelbasis in die
linke voniere Scliädelgrube ül)ergreifend. Hirnkontusion.
In der recliten IMeuraliöhle etwas flüssige« Blut. Die rechte 7., S. und
*J. Puppe in der Mitte frakturiert; ent8|)recliend der Frakturstelle der 8. Rippe
die Pleura parietalis und die rechte Lunge
etwjis eingerissen.
Tod an (Jehirnerschütternng.
Die Verletzung ihrer allgemeiueo Natur
nach tödlicli.
Ein8t€llung des Strafverfahrens nach
$ 90. St.P.O.
1 1. Fall.
•F. M . Ifi jähr. Bäckerlehrling, legte sich
nach Zeugenaussagen auf die Eisenbahn-
schienen und wurde von einem Zuge über-
fahren. Sanitätspoüzeiliche ( Muluktion am
t S. Januar 1 S*Hi.
Der Hals sehr in die Länge gezogen,
in der Mitte vorn stark eingesunken und
verschmälert. Multiple Hautabschürfungen
mit Hlutunterlanfnngen im Mesichte.
Zirkuläre II autabsch ü rf u n gen
am Halse. Der rechte Oberarm
mehrfach gebrochen, zerrissen
und zertrümmert, S(» da!} die zertrüra-
inertenPartien nur noch durch eine ca. zwei-
fingerbreite Hautbrückc zusammenhängen.
In der rechten Achselhöhle eine
von vorn nach hinten verlaufende,
Dem lange, bis auf 2' 2cm klaffende
K i 1}<I uetsch wunde. Der linke Ober-
arm in seiner Mitte gebrochen;
die tieferen Weich teile dieser
(iegend zerrissen, ohne daß sich
in ihnen Blutaustrittc fänden. Das
rechte Schlüsselbein in .seiner Mitte gebrochen Der rechte
FuB zertrümmert.
In der rechten Stirn- und der linken Schläfegegend ausgebreitete Blut-
austi'itte unter den weichen Schädeldecken. In der rechten mittleren Scliädel-
grube zwischen der Dura mater und den inneren Meningen eine mäfSige
Menge Blut angesammelt. Im Bereiche des rechten Schläfe und Scheitel-
lappens die inneren Meningen Idutig infiltriert. .\m (irolUiirn multiple
oberflächliche Zertrümmerungen der Kindensnbstanz nn<l Kontusionsherde.
Die Schädelbasis mehrfach gebrochen.
Im Bereiche der oberen Partie des Brustkorbes ausgebreitete Blutex-
trava.satc im rnterhautzcllgewebe und in der Mu.skulatur.
FifT. 12.
y Google
Verletzungen u. T«mI duicli i'beifalirenwerden vom gericlitsärztl. Standpunkte. 15
Die Luftröhre etwa einen Querfinj^er unterhalb des King-
knorpels quer durchtrennt, ebenso in gleicher Höhe die Speise-
röhre, deren Wand von der Durchtronnungsstelle nach oben und unten
etwas retraliiert erscheint. Die Wundränder an der Luftnihre sehr scliarf,
Fig. 13. Fig. 14.
jene an der Speiseröhre etw;iä uuregehnäßig gezackt und gerissen (Fig. 1 2).
Auch fast alle Qitrigcn Weichteile des Halses mit Ausnahme
der bedeckenden Haut in querer liichtung durchgerissen.
Die Halswirbelsäule etwa in ihrer Mitte geknickt, abnorm
beweglieh. Der 4. Halswirbel in querer Hichtung gebrochen;
iif der Umgebung der Bruchstelle reichliche Blutaustritte.
Im rechten Brustfellsacke ' i Liter Blut. An der Oberfläche des Ober-
lappens der rechten Lunge mehrere größere Blutaustritte.
Im Kückenmarkskanal 2iemLich viel geronnenes Blut. Das Kücken
I. DnTBICH
mark eii taprecheiiil der Frakturstelle der liulswirbelsäule zer-
quetscht.
Die Verletzungen waren ihrer allgemeinen Natnr nadi tödlich. Der
Obduktionsbefand ^rach nicht g^;en Selbstmord.
12. Fall.
F. T., 28jihr. Verschieber, wurde am 18. Januar 1896 bei der Zn-
sammenstellung eines Zup s .im St.iatBbahnhof flberfaliren und get Uri. Man
venniitete. dali der Mann infolge eigener rnvorsiditigkeit vom l^iufbrett
lieraligestürzt ist. IMe IamcIu' war vuni (ieleise entfernt worden: fiber die
Lage, in welcher sie aufgefunden wurde, konnte nichts eruiert werden. Die
Zengraanssagon brachten kmne Klarhat darttber, wieso es gekommen ist,
daß T. überfahren wurde. — Geriehtliehe Sektion.
HautabschOrfungra im Gesichte; zwei Kiliquetachwunden am behaarten
Kopfe.
Der linke Ober- und Vorderarm zertrümmert und zer-
rissen. — Große Rißqnetsehwnnde in der rechten Leisten-
gegend.— Der rechte Oberschenkel und der rechte Fuß zer-
trümmert.
Die Haut der vorderen Brnstwand und des Al>d(imen{* ganz von <ler
ünteriage abgehoben. Die Muskulatur des oberen liauchab-
schnittes in der Richtung von rechts unten nach links oben
durchgerissen.
Mäliige Blutnuslritte unter den weielien Sehädeldeckcn und im linken
Schliifemiiskel. Am \ Orderhals luüiiige Blutaustritte im Unterhautzell-
gewebe und in der Muskulatur.
Das Zwerchfell ganz abgerissen; der untere Teil des
Brustkorbes Tollständig zertrümmert. Die Lu n gen mehrfach,
eingerissen: vom unteren Abschnitt der linken Lunge größere
Partien ganz abgerissen.
Die beiden ilaup t bron chien etwa einen i^uerfinger unter-
halb der Bifurkationsstelle der Trachea schräg unregelmäßig
durchrissen, ebenso in ziemlich glricher Höhe die Sj>eiseröhre,
welche auüerdeni bis gegen die Mitt»' der Lnftrr>hre \dn letzlerer abgerisx^en
ist und deren VVundränder unregelmiiliig fetzig ei"selM'inen. (Fig. \ Die
Innenfläche der Öpeiserölire zeigt im Bereiche ihres von der Luftrüine ab-
gerissenen Abschnittes eine deutliche Querrunzelung.
Die Aorta descendens ist in Z w ereh f ellshöhe quer durch-
gerissen; die Wundränder an der Aorta sehr scharf , weisen nur da und
dort ganz kleine Zacken auf. ( Fig. 11.)
Bedeutende Blutung ins Innere des Körpers. ( Jberflächliche Leberrissc^
unbedeutende länrisse der Milz. Blutungen in der Umgebung der Ge-
schlechtsteile.
Der Mastdarm zum gro(5en Teile aus dem Znsamtnenhango
mit der Umgebung abgerissen; seine Wand an der reeliten Seite
in grolJer Ausdehnung scharf durchgerissen und durch diesen
Riß ein Teil der untersten Dfinndarmschlingen in den Mastdarm
eingetreten.
Die meisten Kippen beiderseits mehrfach gebrochen. Die
d by Google
VerleCningeD n. Tod dardi Übeifahrmweiden vom geriehfeBÜizd. Stendpankte. ' 1 7
Wirbelsäule in der Höhe des fi. und S. Brustwirbels vollständig
quer frelnodien: das liiiekenmark an dies^en Stellen «ranz dureh-
gerissen. Auch iu der Höhe des 3. und 4. Brustwirbeis die
Wirbelsftnle an der vorderen Seite teilweise gebroehen.
Die Verletzun^ren waren ihrer allgemeinen Natur naeb tOdlleb.
Emstellting des Strafverfahrens nacb § 90 St.P.0.
13. Fall
R, H., 7 Jahre alt. AngebUch von einem Lastwagen flbeifahrak. Ge-
richtliche Obduktion am 14. März IS'.tu.
Blut in der rni;:rl)nnpr von Na.sf. Mund und < Hiren.
Einzebie unliedeutende Hautabsehürfun;;en ohne Hhitunterlaufunfr in
der Tiefe au der vorderen und äulleren Seite der rechten unteren Extremität.
Unter den weichen Scbüdeldecken in der Stirn- nnd Schläfegegcnd rechts
mehrere gnldengroße Blntanstritte. An der Schädelbans eine ausgedehnte
Fraktur.
In der Luftröhre, im Mund und Kathen ziendich reichliche Mengen
liiut. In den Bronchien linkerseits eine grüüere Menge Blut. In den
Lungen am Dnrdisctoitt stellenweise fle<^^ blutige Verfärbung. Der
unterste Teil der Luftröhre enthält eine gröl'i ir Menpe Blut.
Tod an Scliiubibasisfraktur m\t nachfoltrt'iulcr BInt.ispiration und Er-
stirkung. Die N'erletzung ihrer alliremeinen Xatur nach tödlii Ii. Der Schädel-
bruch durch eine heftige stumpfe (iewalt, fraglicli welcher Art, vielleicht
eher durch Sturz als durch direktes Überfahrenwerden entstanden.
Einstellung des Strafverfahrens nacb § 90 StP.O.
14. Fall.
A. W., öl jähr. Taglühner. Derselbe ging auf einem Eisenbahndamm;
da er schwerhörig war, hörte er den Zug nidit kommen, wurde von der
Lokomotive erfaüt, niedeigerissen und flberfahren. Gerichtliche Sektion am
17. Mai
Der Kopf in der Höhe zwischen dem 3. und 1. Halswirbel
total vom Rumpfe getrennt; am Rumpfe hing an einem Hautfetzen ein
2 cm langer Rest der Unterlippe sowie ein Teil der rechten Unterkiefer-
hälftf Das Scliädeldach war zwar in seiner Konfiguration noch erhalten,
jedix'li vielfach p'broclM'ii. Die rechte Ohrmuschel hängt nur an einem
1 "2 cm langen, 3 cni Ineiten Hautfetzen. Das liesieht v<»ni unteren
iiaude des rechten Ohres angefangen vollständig zerrissen, auch
die linke Gesichts hälfte teilweise sertrflmmert. An Stelle des Ge-
sichtes Ceweljafetsen, zertrümmerte Hirnen bstanz. Blutgerinnsel, dazwischen
größere und kleinere Knochen.splitter und Sanilkörner eintrestrent.
Der rechte < »berarm in seinem unteren Drittel gebrochen und winklig
abgeknickt; in der Tiefe keine Blutungen. Das linke Schulterblatt >ielfach
sertrflmmert; in der Hefe keine Blutungen. In der linken Scbultergegend
rückwärts eine Qberiiandflächengroße und in der nächsten Umgebung einige
kleinere dunkelltrann vertrocknete Hautabschürfunfren.
In der Mitte der Vordereeite des rechten l'ntei-schenkela wne etwa
5 '/} cm lange, bis auf 1 cm klaffende, mit dunkelbraun vertrockneten,
etwas gequetechten Rändeni venehen«!, bis auf den Knochen reichende Wunde.
AttMw Ar KthilMl— ttoomiottob Xm. 2
18
I. DlTTBICB
l'nlifdcuff'iid«' sroronnone IMntaustritte unter den weichen ScliiUleldecken.
Vull^täiid i^n' Zertrüin iiioruug des Schädels. Das Gehirn zum
großen Teile zertrümmert.
Die Aortft aseendens einen Querlinger Ober den Aortenklappoi ftist in
ihrer ganzen ZirkumtViLnz mit Ausnuluiu' einer etwa 4 mm breiten Brücke
der f'i('fä!'>\\ aiiil der iiinteren Partie (|uer durclitrennt: dabei die Wundrilnder
der Ani ta scharf, nur an einzelneu SteUen fein gezackt Hochgradige Anä-
mie einzelner innerer Organe.
Die Verletamigen ihrer allgerndnen Natar nach tOdlieh. Die Ent-
stehung derselben läßt sich durch den durch die Erfaebnngen festgestellten
Vorgang erklaren.
Einstellung des Strafverfahrens nach § St.P.Ü.
15. FalL
W. B., 3 juhr. Knabe. Angeblieh von einem beladenea Kohlen vageo
überfahren, (icriflitlioho (»Ixliiktion ani (i. >[ai r.MM.
Leichte Uhitim;.'^ aus Natje und Muiul. - • Bulinengrolk! E\koriati(tii auf
der Stirn mit ßlutuulerlaufuug und auiierdem einige kleinere. In der linken
Schilfe- nnd Wangengegend eme 8 em lange, 272 cm breite Haatabechür-
fung. In der llinterhauptgegend eine 5 cm lange, 1 cm 1)reite, vttn Haaren
entblö()te, oxkoriiertc Ilaut.stelle mit Hlutuntorlaufung. Kleine ExkoriationeQ
auf der IJrust eiiLspreehend dem unteren Kmlc des Brustbeins,
Uberhalb der Symphyse von reehtü oben nach linkä unten bis auf den
Hodensadc reidiend, eine tt em lange, 2 em breite Ezkoriation mit zw«
seichten Einrissen in der Haut. Exkoriatlon an der Wurzel des Penis mit
seiclitein Einrif» der Haut. In der rechten Leistengegend eine von
außen oben nach unten innen verlaufende VI'/.' cm lange, 2'/i cm
breite Kißquetächwunde. Exkoriationen am Kücken und an den Ober-
scheukeln.
Unter den wdchen Schädeldecken in der Hinterhaujitgegend mehrere
mäßige Blutaustritto. Zwisclien harter Hirnhaut und weichen Hirniiiiuten in
der Hinterhaupt^r^'cnd niälüge Hlutaustritte, ebenso auch in der linken mitt-
leren Schädelgrube. Die harte Hirnhaut im Bereiche beider hinterer Schadel-
gruben in großor Ansdehnang vom Knochen abgerissen. Mäßige Blntanstritte
zwischen den weichen Hirnhäuten (fiit.spreclicnd dem Stirnhirn und der
Spitze der Sclil;ifi'la])pcii). In der Mark-;nt(stanz der beiden Scheitellappen
vereinzelte, .sehr derbe, stellenwei.se knurpelhart anzufühlende Narben, in deren
Bereiche sich bräunliche Pigmentation erkennen läßt« Von der äußeren
HSlfte der rechten Kldnhimhilfte tan kleiner Tdl vollstindig abgerissen und
von zahlreichen kleinen Blutausti'itten durchsetzt. Knochenbmch an der
Schädelltaäis in den hinteren Scliildelgruben.
In dem Unterliautzellgewebe der rechten llaLsseite ein kronengroßer
Blutaustritt. In der Luftröhre stark blutig gefäibter Sclileim. Ziemlicli aus-
gebreitete Blatanstritte an der Langenoberfläehe beiderseits. Im Herzbeutel
eine milSfe Menge Blut An der hinteren Fläche des Herzens und
zwar an der Grenze zwisclien der rechten und linken Herz-
kammer ein der ganzen Länge des Herzens entsprechender Kiß,
welcher die rechte Herzkammer in großer Ausdehnung perforiert.
In der Bauchhöhle 2 Eßlöffel Blut Im linken Leberlappen ein
Verletziuig«a u. Tod durch Cberfabrenwerden vom gericbts&ratl. Standpunkte^ 1 9
frischer, grolier, vou ubcu nach unten ziehender, durch die
ganze Dicke des Lappens dringender Einriß.
Der rechte horizontale Schambeinast nahe der Symphyse
geln-ochcn , die Muskulatur liinter der Symphyse serrissen und
von vielfachen Blntaiistiitten durclisctzt.
Die Verletzungen ihrer allgciueineti is'atur nach tödlich, üb und in-
wlewdt etwa fremdes Verschulden vorlag, dafür lieferte der ObduktSons-
befund keine Anhaltspunkte.
Einstellung des Strafverfahrens nach § 90 StF.O
16. Fall.
F. S.y 66 jähr. Maurer. Ist laut Zeugenaussagen in dem Momente^
als der Zug herannahte^ auf das Geleise gesprungen. Geriehtlidie Obduktion
am IS. Juni 1901.
Äulk-rst spjirlichc Totenflecke.
Die obere Hälfte des Kopfes von der unteren vollständig ab-
gerissen. Gesieht bis zu den Augen er halten. Schädelbasis freiliegend,
stark zertrfimmert, die Wirbebinle aus dem infolge der Knochenzertrttm-
mening vcr^'51)erten Foramen occipitale herausragend. Sohftdeldach
vielfach /.ertiüniniert. (Ichirn zermalmt.
Eutäprechend der äuliereu Hälfte des rechten Ful>rllckens die
Haut abgerissen, ebenso die Sohlenhaut; die tieferen Weiehteile des
rechten Fußes vielfach zerrissen, die Zehen bis auf die große abgetrennt.
Links die letzten ?> Zehen ebenfalls zerrissen, die umgebende Haut
in Fetzen herabliiiiip-nd.
Gröljere und kleinere Hautabschürfungen an den oberen Kxtiemitäteu,
an der Buken Schulter.
In der Hals- und Bmstmuskulatur mehrere größere und Uelneie Blut-
austritte.
Im Zellgewebe um die Harnblase und den Maatdarm herum ziemlich
ausgebreitete Blutaustritte.
Halswurbebäule in der HShe des 7. Halswirbels quer gd>roehen. Linker-
seits alle Kippen ungefähr handbreit vor der Knorpelknochengrenze gebrochen,
die 5., f). und 7. Hippr mrierdem knapp an der AVirbelsäule; rechts die 4
oberen Kippen dreitin^i rlneit hinter d« r Knorpelknucliengrenze gebrochen.
Das lieckcn etwas links von der Symphyse, sowie entsprechend dei' Ver-
bindung awischen Kreuzbein und Darmban linkerseits gebrochen.
In der Umgebung alier dieser Frakturstellen ausgebreitete Hin taustritte.
Die Verletzungen ihrer allgemeinen Natur nach tödlich. Die Möglich-
keit de8 durch die Erhebungen festgestellten Herganges mußte zugegeben
werden.
Da der etwaige Diter nicht eruiert wurde, erfolgte die Einstellnng des
gericbtliohen Verfahrens nach $ 412 StP.O.
17. FalL
W. V., 5 ü jähr. Bahnarbeiter. Wurde ca. '-^li m weit von einem Bahn-
gelcise, auf dem Waggons verschoben wurden, tot aufgefunden. Geriefat*
Udie (»biluktinn am 23. September 1901.
linkes oberes Augenlid blutunterlaufen.
2*
20
I. DrrraicK
An der 8trcckt>iutu des linken Oberarmes, etwas oberhalb dessen Mitte,
eine SVs cm lange, bis 1 cna breite Exkoriation, darnnter ZertrOnunerang^
der Maakulatur mit Blutunteriaufaii^.
An der Streckseite des liiikoii lI:in<1irol<'nkos :< bis ^nildenstückgjoße
Blntuntcrlaufun^^en. Auch im riitrihaut7.»'ll;j-('\\ rhc und im Zwisehenmuskel-
gewebe an der Stieckdeite des linken Vorderarmes miii'iig ausgebreitete
Bhitemtritte.
Keohts vom in den Weichteilen des Ilalaes und des Brustkorbes mehr-
fjiche mä!)ij; ausjrebroitete Bhitaustrittc und zwar inshcsondfrs oberhalb der
Hul^eren Hälfte des rechten Scliliissi'lb»'ins und in der Muskulatur einzelner
Zwischemippenräume. Tiefgreiftnide Eröffnung des Gelenkes zwisdien
lecbtem SehllteMlbaii and Bmstbein. Die Maeknhitnr neben dem Bmst-
bMn im I. Zwisehenrippenraum in mäBiger Ausdehnung zerrissen.
Hinter di i Spei8eir)hre in der Höhe dos obersten LuftrOlirenabschnittes
ein mäüiu' ;;Ti>!i('r und m:il!i;r dirker Hintanstritt. An der Oberfläche l)eider
Lungen mälüge Blutaustritie. Im Herzbeutel eine geringe Menge Blutes.
An der OberflAdie dee Bensens nahe dem linken Hersohre in der
Muskulatur einzelne seichte Einrisse.
In der BauchlMihlo ' 2 1 Blut. Leber in ihrer (>b<>ren Hälfte völlig;
zertrümmert. Zellj;e\\ ehe in der Cni^^elrnng der rechten Niere teilweise zer-
rissen und von Blutauätritten durchsetzt
Sftmtliefae läppen reditB handbreit Ton der Wirbelsäule gebrodien, das
Bnutfell daselbst angerissen; einzelne dieser Kippen nuch vorn nahe der
Knorpelknochen'rrenze •^elirochen, Blutaustritte daselbst. Linlcs haodbrtit von
der Wirbelsäule die <». und 7. Kippe j^^ebrnehen.
Die \'erletzung der Leber war ihrer allgemeinen Xatur nach tödlich. Die
IkbrigenV^etznngen bildeten einzeln wie znsamroengenommen bloß leichte kör*
perlidie BeschAdlgongen, mit denen der 1'nd nicht in Zusammenhang steht.
Starz ans nicht sehr bedeutende Höhe läBt diese Verletzangen nicht
erklären.
Mit HUcksicht auf die Erhebungen, ferner mit Rücksicht auf das Fehlen
von Veränderungen (Druckspuren an der änHeren Haut and Zermalmnngen
irgendwddier Körperparden), welche für direktes Überfahrenwerden
sprachen, oi-scheint es walirseheinlich, dal' ^V. \'. vom Zu;re erfatU und
niederjreworfen wurde. Ob fremdes V< rsi lmltlen vorlag oder nicht, iieÖ
sich aus dem Obduktionsbefunde nicht eutscheideu.
Einstelhing des StrafverCahrena nach § St.P.0.
Überblicken wir diese Fälle» so zeigt es sich, daß sich in manchen
derselben Verletzungen fanden, deren Entstehung selbst ohne RQcksieht
auf die Erhebungen kaum anders als durch Überfahrenwerden gedeutet
werden könnte. Dies gilt insbesondere von den FHUen 3, 4, 1 1 und 12.
Von sonstigen wichtigen stumpfen mechanischen Gewalteinwir^
kungen wären noch Sturz aus der Höhe, Verschültung, Maschinen-
gewalt und eventuell Explosion in Betracht zu ziehen.
Im Falle 3 spricht insbesondere der hohe (irad von Verletzungen
am Halse im Zusammenhalt mit den streifenförmigen Dmokspuren
d by Google
Verietsnonieii n. Tod darafa Überfahranwerden Tom gerichtOiztl. Standpunkte. 21
daselbst und an beiden Schultern, sowie die jrleicbzeitige, ganz isolierte
Verletzung der rechten Tland für »lie Entsteliunjr durch Überfahren-
werden. Berlicksichti^ren wir, daP> die einwirkende (Gewalt von tranz
besonderer Wucht ^-^i^u rsr-n sein niuss, so kann wepen des Mangels
lioclir^radi^crer Vcrlitzunj^en an anderen Kr)r|)('rstellen Sturz, Ver-
geh üttun^^ und P]x|)losion als Entstehun;j:sur.sache entschieden ausije-
schlossen werden, t ht-nso al)er auch Maschineng^ewalt. da es nicht ein-
zusehen ist, in weicher Weise eine Maschine g'erade den Ilals und
eine Hand an;;reifen sollte, oline ^deiclizeitii; liisionen verschiedenen
(Irades an anderen, insbesondere gegenüber dem Halse mehr promi-
nierenden, ihm benachbarten Körperstellen zu setzen.
Das gleiche gilt vom Falle 12, in welchem wiederam der üm-
Btand, daß die direkt dnrcb Übcnfabrenwerdeo entstandenen Ve^
letznngen so ziemlich in einer nnd derselben schifig zor Längsachse
des Körpers verlanfenden geraden Ebene angeordnet sind, beziehungs-
weise sieh nur innerhalb ziemlich enger Grenzen zu beiden Seiten
derselben zeigen, ganz besonders fflr die Entstehung derselben durch
Überfahrenwerden nnd g^n jede andere Entstehnngsart spricht Die
FSlIe 4 und 11 decken sich bezfigHcb der Begriindung der diesbezOg-
lichen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Art der Entstehung der Ver-
letzungen mit dem Falle 3.
In allen ührij^en Fällen können die Verletzun2:en nicht als für die
Entstehun;:- (Innli (Jherfahrenwerden charakteristisch anp:esehen
werden; vielnii )ir iieCien sich dieselben ebenso gut teils als durch Sturz,
teils als durch Verschttttung, teils als durch Maschinengewalt ent-
standen deuten.
Wir schon nlso, daß es Fälle gibt, in denen tatsächlich
schon auf (Jrund des objektiven Befundes allein die
Entsteh uni: von Verletzungen durch 1' herfahren w erden
mit B es t i Hi ni t h ei t erschlossen werden kann, während in
anderen Fällen zwar nichts gegen di«' Mr»glielikeit dieser Entstehiings-
«art der Verletzungen zu sprechen braucht, ihre Beschaffenheit al)er
doch auch die Annabme einer anderen Mündlichkeit der Entstehung
zuläßt.
Die Schwierigkeit, sieh auf Grund des objektiven Befundes der
Verletzungen allein über die Art ihrer Entstehung durch l berfahren-
werden auszusprechen, wächst meiner Erfahrung nach mit der Ab-
nahme der Schwere und Wucht des Gefährtee, durch welches das
Überfabrenwerden bewerkstelligt worden ist^ wird also ceteris paribus
beim Überfabrenwerden durch die Eisenbahn am leichtesten sein.
Wie gesagt, halte ich unter den genannten Umständen
22
I. DnruoH
die P>ststel 1 un;r der Entstell un von Verletzungen durch
TJberfahrenwerden in vielen Fällen für einwandsfrei
inöglieii.
Ist durcli die Krhebunircn fe.st^^estellt, dal') ein Mensch üherfaliren
worden ist, odrr hat man Ursache dien auf Grund des ol>jektiven Be-
fundes anzunelinien, so ist es weisen hestininiter, später zu betonender,
forensisch wichtiger Momente anj^ezei^t, sich zu ver^e^'enwärtifren,
in welcher Lage oder Stellung gegenüber der Fahrbahn
8ich ein Mensch, während er überfahren wurde, befunden
hat, beziehungsweise in welcher Bichtung das Überfabren-
werden erfolgte.
Die Richtung wird einerseits ans dem Yerlanfe der Druck-
spnren oder bei Uber größere Körperpartien ausgebreiteten inneren
Verletzungen auch aus der räumlichen Anordnung der letzteren er-
schlossen werden können. Bei dieser Erwägung laßt sich ein Über-
iabrenwerden senkrecht zur Längsachse des Körpers in den Fillen 3,
4, 7, 8 und 11, ein Übei&hrenwerden in schräger Richtung und zwar
von rechts unten nach links oben oder umgekehrt im Falle 12 er-
schließen, während für die übrigen Fälle eine diesbezügliche sichere
Entscheidung nicht möglich ist
Was die Stellung oder Lage eines Menschea im Momente des
Überfahrenwerdens anbelangt, so kommt dieselbe namentlich dort in
Betracht, wo es sich um Verletzungen von Köq^erteilen handelt, die
durch mehr oder wenijjer ausiredehnte Gebiete volikomiiK^ oder ver-
hältnisniäliig unversehrter Körjiergewebe von einander ;^^ctrcnnt sind.
So können wir im Falle 3 auf Grund des objektiven Befundes un-
gezwungnen annelinu n, daH der l'bciiahrcne nur auf einer Eisenhahn-
schiene und zwar mit unter den Hals gcle^^ter rechter Hand ^xeleiren
i«t, wäinend wir im Falle 11 aus dem objektiven Hetiinde sehlieben
dürfen, daß der betreffende mit über den Kopf emporirestreckten Gher-
arnien, vielleicht mit unter dem Kopfe ^^efalteten Händen auf der
einen Eisenbahnschiene lag, der rechte Fuß sich auf der zweiten
Schiene befand.
Als Nebenbefunde können derartige Verletzungen an nicht lebens-
wichtigen Körperteilen, also insbesondere an den Extremitäten, des-
wegen Bedeutung haben, weil sie eben auf die Stellung dieser TeÜe
im Momente des Uberfabrenwerdens ein licht werfen.
Von Bedeutung kann femer der Umstand sein, ob der Körper
von der das Oberfahren bewirkenden Gewalt bloß tangential ge-
troffen worden ist oder ob irgend ein wichtiger Körperteil — Kopf,
Brust oder Unterleib — vollständig überfahren wurde. Bei
Verietzmiii^ n. Tod durch Überfahra&werdeii rom g^rlcbtsSntl. Standpunkte. 23
mehr tan^^entialer Einwirkunjr der (lewalt, wolclio ja auch mit voll-
ständif^om l'l)i'rfalin'inv('nlen jirowisser KöriuTtcilc konihiniort sein
kann, entstolion natiicntlicli Ahhebunfjen der Haut von ihrer rnter-
hi^e oder Uippen wunden, wie sich diea beispielsweise im l'alle 1
zeigte.
Die Todesursache kann beim Oberfahren werden in verschiedenen
Momenten gelegen sein. Wir haben hier jene Fälle, in denen der
Tod sofort eintritt, von denjenigen zn trennen, in denen derselbe erst
spfiter erfolgt
In den FftUen der ersten Omppe tritt der Tod meistens infolge
der Zertrümmerung und der damit ^nhergebenden momentanen
Aufhebung der Funktionsf&higkeit lebenswichtiger Organe
ein, oder aber es erfolgt der Tod bei peripheren Verletzungen oder
wenigstens bei solchen, welche nicht lebenswichtige Organe betreffen,
infol^j:c von Shok oder Fottembolie.
Weiterhin kann die Todesursache in akuter An&mie gelefi^en
Man, wenn entweder Zerreiljungen des Herzens und frrSfierar Gk'fälte
oder iigendwelcher innmr Organe erfolgen, ohne dal) e ^ z n r v o 1 1 -
ständigen Zermalniun^ mit primärer Mortifikation der Ge-
webe kommt. Werden aber diese Teile primär mortifiziert, so
braucht entweder gar keine Blutung einzutreten oder (liesell)e kann
bloß minimal sein. Das Ausbleiben einer intensiveren Blutunfj kann
insbesondere durch Zustände, weicht' eine Uerabsetzung des Blutdruckes
nach sich ziehen, mit veranlagt werden.
Sind die \ erhällnisse im konkreten Falle dem Auftreten einer
intensivert II Blutung günstig, so häni^t die Schnelligkeit, mit welcher
der Verhlutungstod erfolgt, nicht zum (Jeringstcn V(m den Blutdruck-
verhältnissen im Ik'reiche der verletzten Blutbahueü ab.
Von anderweitigen Folgezuständen der durch das Uberfabren-
werden gesetzten Verletzungen könn^ aach entz&ndliobe Prosesse
den tödlichen Ausgang bewirken, sei es, daß es sich um eine Ent-
zündung als natOrliche und begrekliche Folge gewisser Verletzungen,
wie z. B. als Folge von Buptnren innerer Organe, oder daß es sich
um acddentelle Wundinfektionskrankheiten handelt
Eine wesentliche forensische Bedeutung hat auch die Frage, ob
offenbar durch Überfahrenwerden entstandene Ver-
letzungen intravital oder postmortal gesetzt wurden, eine
Frage, welche namentlidi in jenen Fällen zu ventilieren ist, in denen
die Erhebungen kein Resultat in dieser Richtung ergeben.
Die Erfahrung lehrt, dal) gelegentlich die Leichen von Individuen,
welche zunächst auf andere Weise gewaltsam getötet worden sind,
24
I. DlTTBlCU
nachträglich dem Überfahrenwerden durch die Buenbahn — denn nur
am ein solches handelt es sieh in solchen Fällen — preisgegeben
werden, nm entweder einen Selbstmord oder einen Unglflcksfall vor-
zntitnschen.
Je nach der Art der gewaltsamen Tötung und je nach der Lo-
kalisation und Art der durch diese und durch das Überfahrenwerden
gesetzten Läsionen kann die Entschddung hinsichtlich des intrayitalen
oder postmortalen Überfahrenwordenaeins bald leichter, bald äußerst
schwierig sich gestalten.
Wurde die Tötung des Betreffenden durch Verletzungen yorge-
nomnien, die nach außen Inn offen sind und eine Blutung nach außen
veranlaßten, so ist es möglich, daß der Lokalaugenschein durch die
Verfolgung von Biutspuren in der Umgebung den Tatbestand auf-
klärt oder daß letzteres auf Grund anderer, durch den Lokalaugen-
achein festgestellter Momente geschieht.
Was jedoch die Vt-rletzungen an und für sich anbelangt, so ist
eine äußerst genaue Leichfiuintersnclmn«: notn cndiir.
Für Verletzungen drr bedt-ciu-ndm \\'i'iclit(Mlr und der Muskulatur
werden die aueh bei auf andere Weise eiitstaiuk'iU'U \ erletzungen in
Betracht kuinnienden Merkmale berücksiclitigt wcrdi n müssen, so ins-
besondere die Blutungen in die die Kontinuitätstrennungen umgebenden
Gewebe, wenn auch zugegeben werden muli, dalt solche Blutungen
nicht unbedingt als Zeichtn der intravitalen P^ntstehung von Ver-
letzungen anzusehen sind, da dieselben unter günstigen Bedingungen
im konkreten Falle auch an Leichen zustande kommen können.
Tritt der Tod momentan während des Übeifahrenwerdens ein,
wie dies ja meistens beim Überfahrenwerden durch die Eisenbahn
geschieht, falls lebenswichtige Organe direkt yerietzt, zermalmt werden,
so kann es selbst bei Eröfbiung großer Gefäße oder des Herzens ror-
kommoi, daß die Blutung in die Eörperhöhlen oder bei Vorhandensein
äußerer Wunden auch die Blutung nach außen verhältnismäßig gering
ist Namentlich vermißt man in solchen Fittlen nicht selten eine irgend-
wie bedeutendere Anämie der inneren Organe. Es darf daher ein
noch bedeutender Blutgebalt im Innern nicht als Beweis
fftr die postmortale Entstehung der Verletzungen ange-
sehen werden. Im Gegenteil hielte ich eine auffälligere Anämie
innerer Organe in Fällen, in denen aus der Art und Intensität der
Verletzungen, namentlich bei einer Zertrümmerung des Herzens oder
der die Ilerzaktion dirigierenden nervösen Organe auf sofortigen Tod
für den Fall des intravitalen Uberfahrenwerdens geschlossen werden
kann, für einen Zu&taud, der um so dringender die Nachforschung
Verietzimgieii n. Tod dnrdi Obeif ahraiwerden Tom gericbtsäntl. Standpunkte. 86
nach ctwaip'H anders als durch I bcrfalircnwcrdcn entstandenen Ver-
letzun^'CDj welclie den Tod herljeii^efiilirt huhen könnten, beziehungs-
weise nach einer anderen Todesiirt überhaupt fordert.
Verhähnisiiiärti^' K-icht ist ^eh'^^entlich die Feststellung der intrar
vitalen Entstehung von Verletzun^^en an röhrenförnii^am Or<ranen,
deren Wand reich an Muskulatur ist und in der Umgebung nicht
fixiert erscheint oder deren Fixation in der Umgebung gewaltsam
nDterbrochen enobeint Daß sich je nach der Verscbiedenlidt dieaer
FizaiioDsverbältnisse versebiedene Befunde ergeben, zeigt ein Vergleieb
der VerSnderungen am Oesopbagns im Falle 11 nnd 12. In dieflon
beiden FUlen war derselbe dnrcbgerisBen. Während nnn im Falle 1 1
der Oescpbagna in ZwerchfeUsböbe quer durcbgerissen war, ebne daß
sein Zusammenbang mit der Umgebung in der Nacbbareebaft der
Dnrcbtrennungsstelle eine Störung erfahren bätte, war der Oesopbagus
im Falle 12 nicht bloß dnrebgerissen, sondern auch auf eine gewisse
Strecke bin tob der Luftröhre abgerissen (Fig. 13). Es waren somit
im Falle 12 die Bedingungen für eine stärkere Retraktion der durch-
trennten Lingsmuskulatnr günstig und äußerte sich dieselbe in einer
queren Run/elun^ an der Innenseite der Oesophaguswand, wobei
dieser Befund nahe der Durchtrennungsstelle am stärksten ausgeprägt
war, um periplierwärts von derselben an Intensität stufenweise abzu-
nehmen. Diese Wirkung der Längsmnskuiatur war hier so bedeutend,
daß die durch dieselbe hervorgerufene quere Runzelung der Scbleini-
hautfhiche der Speiseröhre als ein Beweis für die intravitale Ent-
stehuii-- der N'erletzung angesprochen werden durfte. Anders lagen
die \'<rhältnissc im Falle II, da hier die Erhaltung des normalen
Zusaniiiitnhanges d« s ( h >nphagus mit der Umgebung eine stärkere
Ivetraktion der durehtrennlen Uingsmuskulatur hinderte.
Es wird somit dieser für die Feststellung der intravitalen Ent-
stehung gewisser Verletzungen immerhin wertvolle Befund nur dort
an inneren Organen zu erwarten sein, wo es sich um röhrenförmige
Organe mit muskelreicher Wand handelt, welche vollständig oder
nahezu in ihrer ganzen Zirkumferenz quer oder schräg durcbtrennt
sind, und wo die betreffenden Organe, wie s. B. der Darm, an ihrer
Außenseite nicht allseits fixiert sind oder aber eine normale Fixation
gewisser Organe durch ein Trauma streckenweise aufgehoben er-
scheint
Ist dem Überfabrenwerden eine gewaltsame Tötung
vorangegangen, so wird die Konstatierung der letzteren, falls sie
durch mechanische Gewalt orfolgt ist, im allgemeinen namentlicb dann
keinen wesentlioben Schwierigkeiten unteriiegen, wenn die durch den
26
L DrrraiCH
frewaltsameii Akt der Tötun^r f^esetztcn LiLsionen nicht im Bereiche der
durch das Uberfahrenwerden gesetzten \ erletzun<;en gelegen sind,
oder wenn, wie dies namentlich nach Stich- und Schußverletzungen
d«r Fall gfliii kann, sieh für solche spreeh^e Befunde, wie etwa im
Körper znrUckgebliebene T^e des verletzenden Instrumentes, nach-
weisen lassen.
Hat man jedoch für die Benrteilnng eines Falles nur die Ver-
letzungen an und ffir sich zur Yerffigung, so könnte es gelegentlieh
ganz unmöglich werden, auf Grund des objektiven Befundes an einer
Leiche eine dem Überfahrenwerden vorangegangene gewaltsame Tötung
sicherzustellen.
Nehmen wir an, es würde ein Mensch zunächst durch einen
Hieb mit ^er Axt, durch einen Schlag mit einem Stein oder Hammer
u. dgl. jreg:en den Kopf erschlagen, derselbe dann als Leiche mit dem
Kopfe auf die Schienen gelegt und von der Eisenbahn überfahren
werden, so dürfte es meistens kaum möglich werden, die Art der Tö-
tung ans dem objektiven Befunde an der Leiche zu erschließen, da
eben die ursprünglich noch zu I^bzeiten gesetzten Verletzungen durch
die weitaus wiiclitiicero. erst auf die Leiche einwirkende (lewalt un-
kenntlich gemacht werden können; in solchen Fällen gehen el)en die
ursprünglich gesetzten Verletzungen in den durch das Lberfaliren-
werden entstandenen vollkommen auf.
Verletzungen des Halses, wie solche z. B. bei gewaltsamer Tötung
durch Erdrosseln, Erwürgen, durch Halsdurelischncideii entstehen,
könnten durch nachträglielies 1 herfahren werden des Halses der Leiche
ebenfalls als solche unkeimtlieh geuiaeht werden; finden wir ja doch
hin und wieder ziemlich scharfe Durchtrennungen der Haut an von der
Eisenbahn l'berfahrenen. Druckspuren an der Halshaut können durch
jene infolge von Überfahrenwerden überboten werden« Verletzungen,
welche an den Halsgebilden dureh Strangulation oder durch Hals-
Bohnitt entstehen, können ebenfalls dadurch sich einer richtigen Deu-
tung entziehen, daß analoge Verletzungen dureh Überfabrenwerden
entstehen oder die Charaktereigenschaften der bei der gewaltsamen
Tötung entstandenen Verletzungen im Bereiche der durch das Über-
ftdirenwerden zermalmten Gewebe unkenntlich werden können.
In solchen Fällen würde meiner Ansicht nach auch nur dne
höhergrac^ Anämie der inneren Organe den Verdacht erregen können,
daß dem Uber&hr«iwerden die ZufÜgung anderer Verletzungen, aus
denen die tödliche Blutung erfolgte, vorangegangen ist, da eben er-
fahrungsgemäß auch beim intrnvitalen Überfahrenwerden des Halses
der Tod momentan eintritt und selbst bei offenen Wunden mit Er-
Verietsimgai n. Tod dnreh Überfahrenwerden vom gericbtsilntl. Standpunkte. 27
Öffnung pnUnTer ÜlutirrfMltr die Bedinfrungen für eine stärkere Blutung:,
welche « ine bodfutt'tulrn' Anämie der inneren Organe zur Folge hat^
nicht ^T^rltfii zu si'in l)r;iuchen.
Analo^^ Ih'^rcn die X'rrhiiitnissc in jenen Fälk'n. in denen ein Über-
fahrenwerden des lirusti^orhe.s oder <li'< I nterleibs erf(d«rt.
Ich j;laui)e l)t.-zü^di('li dieses Punktes mein Urteil daliin zusammen-
fassen zu können, dal) unter alleiniger Herüeksiclitigung
der Verletzungen es dann äußerst schwierig, ja seihst un-
möglicli werden kann, eine dem 1' berfa h ren werden einer
Leiche durch die Eisenbahn vorangegangene gewaltsame
Tötung des betreffenden Individuums nachzuweisen
wenn die auf den intraritalen Gewaltakt zurückzufüh-
renden Verletzungen an jenen Körperstellen gelegen sind,
welche auch von der das Oberfahren bewirkenden Gewalt
direkt getroffen worden sind, falls nicht etwa im Körper zurfick-
gebliebene fremdartige Objekte, wie Teile des yerletzenden Werkzeuges,
den Tatbestand anfklSren; ist dagegen die Lokalisation der
durch den intravitalen Gewaltakt gesetzten Verletzungen
▼erschieden von der Lokalisation der durch das Über-
fahrenwerden zustande gekommenen Verletzungen, so wird
die Konstatierung der dem Überfahrenwerden vorangegan-
genen gewaltsamen Tötung in der Regel kaum auf irgend-
welche Schwierigkeiten stoßen.
In allen Fällen, in denen es sich um intravitales T'horfahrcnwerden
eines Individuums handelt, ist schlielilich natürlich die Frage, ob ein
Mord, Selbstmord oder Unfall vorliegt, für die etwaige weitm
strafrechtliche Verfolgung des konkreten Falles äulierst wichtig.
In dieser Hinsicht äuricrt sich Georg Arndt ' dabin, dal» es sehr
schwierig odt-r ganz uniitöglich ist. in einem Vi\\h\ in dr-ni drr Tod
durch l herfahren werden U)der durch Sturz ) herbeiget uhrt worden ist,
zu entscheiden, ob ein Verbrechen, d. h. Mord oder ein Selbstmord,
oder ein unglücklicher Zufall vorliegt; und Richard l*ressrl -i sagt;
,.ln allen Fällen, w»» t s sich um die Frage l'nfall oder Selbstmord
durch riierfabrenwerden iiandelt. ist der Richter auf die begleitenden
Umstände angewiesen; der furicbtsarzi kann nie aus der Art der
Verletzungen versuchen wollen, diesen l'unkt klarzustellen."
Man darf wohl annehmen, daß dies auch F. Stralhnanns An
1) (t. Arndt. lOd durch Überfahreuworden uud durch Stuiz ausderüöhe.
2) U. Ticsbel, Über den Tod durch rberfahivnwerdcn. laaug.-Di&s.
Beriin 1S95.
28
1. DimucB
sieht ist. die Iteiden Dissertationon von Arndt und Frcs^scl unter
siiinr Lciiiin;^ entstanden sind: chcn desliall> ist es aber zu vit-
wuiul<rn, dal» Stralnnann, der doch ühcr eine rcii-hlichc Erfahrung
auf dnin (Jchiete der forensiselien Thanatohi^'ie verfüg'!, die Entschei-
dung; der in Kcde «tehcnden Fra^,'e in FiUlen von I berfah renwerden
auf Grund des Obduktionsbefundes für (i:änzlich aussiehtlos hält.
Ich bin anderer Meinung und glaube, daß man sich innerhalb
Datflrlicber Feblefgrensen denn doch bftufig ein Urteil in dieser Bich-
tung bilden kann. Ich sage, innerhalb natürlicher Fehlergrenzen, denn
mit solchen haben wir ja selbstverständlich in sehr vielen FSllen dea
dnrch mechanische Gewalt herbeig^hrten Todes zn rechnen. In
iHUen von Tod durch Schuß dfirfen wir in dem Umstände, daß wir
an der Schnßverletznng charakteristische Merkmale des Nachschosses
finden, nicht unbedingt auf Selbstmord schließen, ebensowenig wie
eine tödliche Haisschnittwunde kdneEigensohaften aufzuweisen braucht,
welche an bedingt für Mord oder Selbstmord sprächen, ebensowenig
wie Stich verletzun«?en an und für sich etwa regelmäßig Anhaita-
punkte für die Entscheidun«;: der Frage zu geben brauchen, ob die-
selben durch die eigene Hand des Verletzten oder durch fremde Hand
zugefügt worden sind.
Innerhalb dieser Grenzen halte ich es aber auf Grund meiner Er-
fahrung; nicht für unmöjrlich, sicli auch in manchen Fällen von I ber-
fahrenwerden chonso bestimmt wie bei anderen traumatischen Todes-
arten dahin zu äuliern, ob Mor<l. St-lttstniord oder Zufall vorliegt. Diese
Fra^icc mul) von ärztlicher Seite umsomt-hr ventiliert werden, als so-
wohl in medizinischen LaienkreiscMi als auch in Kielit' ikreisen vielfach
die Mcinunfr vorherrscht, daß in dieser Hichtung von einer Leichen-
obduktion bei rberfahrenen kein Kesultat zn erwarten sei.
AUenlm^'s liilit sich diese Fra^^e keinesweirs nach all^^emeinen
Re^'eln beurteilen; vielmehr ist in jedem einzelnen Falle eine genaue
Erwä^un«: des Obduktionsresultates notwendig.
Ich gehe deshalb auch hier wieder von meinen eigenen Beobacb-
tnngen aus.
Zunächst sei, worauf auch der Arzt in seinem Gutachten Bäck-
sieht zu nehmen hat, hervorgehoben, daß ein Selbstmord durch Uber-
fohrenwerden bei uns wohl nur auf durch feste Geleise vorgeschriebenen
Bahnen vorkommt, daher vielleicht ausnahmslos durch Überfahren-
werden mittelst der Eisenbahn. Presset) bemerkt, daß Selbstmord
unter den Bädern schwerer Lastwagen bei religiösen Fanatikern in
1) 1. e., S. 29.
Verletsnngen u. Tod durch Überfahfenwardea vom geriditaind. Standpunkte. 39
Indien und Ägypten nichts Seltenes ist und als besonders verdienst-
voll zu gelten scheint, in Eiin)|)a daircfren nicht vorkomnien dürfte.
Bei Selbstmord kommt es wohl am luiufi<j:^tcn vor, daß die Selbst-
mordkandidaten sich mit dem Halse auf die Schienen legen und sich
in dieser Position überfahren lassen. Wir hatten somit wohl volle
Berechtigung, im Falle 3 Selbstmord anzunehmen, da der objektive
Befund darauf hinwies, daß der ITals (|uer fiberfahren wurde und
außerdem nur noch die rechte Hand. Man konnte sich vorstellen,
daß sich der betreffende Mann mit unter den Hals gelegter rechter
Hand auf die Schienen gelegt hatte, um den Drack seitens der letzteren
za lind«»!. Untenttttst winde die Annahme eines Selbstmordes noch
dmoh den Umstand, daß sich kerne sogen. sekandSren Verietziingen
an der Leiche fanden, welche aaf einen Starz oder einen Stoß un-
mittelbar Tor dem Überfahrenwerden hingedeutet hätten.
Auch im Falle 11 sprachen wir uns für dnen Selbstmord aus,
wobei wir uns, wie bereits frflher erwähnt, Torstellen durften, daß
sich der Betreffende mit emporgestreckten Armen und vielleicht behufs
Sttktse des Kopfes mit unter letzterem gefalteten Händen auf die
Schienen gelegt hat
Seltener findet man, daß ein Mensch zum Zwecke des Selbst-
mordes, auf den Schienen liegend, andere Körpergegenden fiberfahren
läßt, wenn mir auch eine Lokalisation von Verletzungen namentlich
am Kopfe, dann aber auch am Brustkorb oder am Unterleib nicht
etwa unbedingt gegen Selbstmord zu sprechen scheint. Wir äußerten
uns denn auch im Falle 7, in welchem der Brustkorb und der obere
Teil des Unterleibs, und im Falle S, in welchem das Becken (|uer
überfahren worden war, bloß dahin, dal) dieser Befund am ehesten
für ein zufälliges Überfahren werden s|)richt.
hn Falle 4 war es nicht der objektive Befund an <ler Leiche,
welcher für einen Zufall sprach, sondern der Umstand, daß der Be-
treffende von einem Wagen überfahren worden ist. Wäre das T'ber-
fahrenwerden durch die Eisenbahn erfolirt, so wäre man mit liüek-
sicht darauf, daß der Hals und das (Jesicht in querer lüchtung über-
fahren worden ist, vielleicht eher geneigt gewesen, an einen Selbst-
mord zu denken.
Im Falle 12 spräche wohl abgesehen von den Erhebungen,
welche eben Zufoll wahrscheinlich machen, auch der Umstaind, daß
das Überfahren schräg in der Bichtung tou rechts unten nach links
oben erfolgte, eher für einen Zufall, wenn auch zugegeben werden
muß, daß ein Überfahrenwerden des Körpers in schräger Richtung
oder in der Längsachse des Körpers nicht etwa unbedingt auf einen
80
L Dirnucs
Zufall liiii(I(Mittt, sonderu gelcgtiitlicb auch m Fällen von Selbstmord
vorkomiiit'n kann.
In vieKu Füllt !i ist der Zweck einer Obduktion der, zu konsta-
tieren, ob der Obduktionsbefund mit dem Ergebnis der Erhebungen
in Einklang gebracht werden kann.
So kann im Falle 2 die Kopfwnnde sehr wohl anf einen Starz
bezogen werden, während sich die ttbrigen VerletznngeB dureh Über-
fahrenwerden erklären lassen.
Abgesehen davon, daß in den Fällen 1, 9 und 10 das Über-
fahrenwerden durch dnen Wagen erfolgte, spricht im Falle 10, falls
hier tatsächlich ein Überfahrenwerden stattgefunden hat, der Befand
schon an und für sich für einen Zufall, da die Art der Kopf rerlelnuig
anf euie tangentiale Einwirkung der Gewalt hindeutet und der
Thorax nur teilweise und zwar rechts direkt von der überfabrenden
Gewalt getroffen worden wäre, ebenso im Falle 1 und 5 der Umstand,
dal^ bier bloU Verletzungen der unteren Extremitäten erfolgten. Auch
im Falle 9 spricbt die I^kalisation der VerlefaEungen am Unterleib
und am unteren Teile des Brustkorbes schon an und für sich am
ehesten für einen Zufall.
Im Falle 14 lieü sieb die Fraire, ob es sicli um Selbstmord oder
Zufall handelt, aus dem objektiven Leichenbefunde nicht mit Sicher-
heit liranlworten; derselbe sprach jedoch eher für zufälliges Über-
fahreuwerden, indem sich auch bedeutende Verletzungen fanden, die
gewili nicht durch direkte (lewalt der Kader entstanden sind, sondern
sich am besten durch die Annahme erklären lassen, daU der Mann
mit grolier Kraft niedergeworfen wurde: dies gilt von der Fraktur
des rechten Oberarmes und der Durchreilhing der Aorta. Wären
nändicb diese Verletzungen auch durch direkte Gewalt der Räder
verursacbt worden, so hätten sich in der Xacbbarschaft dieser Ver-
letKungea aueli Zennalmnngen der Körpergewebe finden müssen, was
aber nicht der Fall war.
Ich glaube sonach, dal) für die lieantwortung der
Frage, ob es sieb in Fällen von IHierfahren werden um
einen Sri h >t m ord oder Zufall handelt, verschiedene Mo-
mente in lU'truclit zu ziehen sind und zwar:
1. die Lokalisation der durch direktes 1 berfahren-
werden und der gele gentlich desselben auf andere Weise
entstanden e n \' e r 1 e t z u n g e n ;
2. die liichtuüg in welcher das Überfahreuwerdeu er-
folgte;
Yerietsnngen u. Tod durch ÜbrnfiihTen werden Tom geriehtsSnU. Standpunkte. 81
3. der Umstand, ob die das Ü berfah ren werden be-
wirkende Gewalt den K örper nur tangential oder in irgend
einem Durchmesser vollkommen getroffen hat.
Dali ein Mord dnrcli Ü herfahrenlasse n des auf einem
Bahuji^eleise festirehal tonen Körpers an einem wehr-
fUhiiron Individuum hoir andren werden könnte, halte ich
f ür ^'än/.lieli au!5;j;es('lilossen, da eine solche Tat einerseits mit
grolter (iefalir für den Täter verbunden und die Erreicliun;; des
Zweckes bei infolge der (Je^'enwelir nicht ruliif^er La^e des K»>rper8
sehr /weifelliaft wäre. Auff^ekiärt könnte eine derartii^e Tat durch
den Leichenbefund irewib nicht werden. Denkbar ist die VerÜbung
eines Mordes nur in der Weise, dab ein Mensch vor eineni heran-
brausenden Zug auf das Bahngeleise gestoßen oder geworfen wird.
Laut Zeitungsnachrichten ist vor einiger Zeit in Wien ein Fall
vorgekommen, in weltfern ein Mann aein dgenes Kind dnreh Über-
fahrenlassen zn tdten versnehte, indem er es wiederholt vor dnen
heranfahrenden Waggon der elektrischen Bahn hinwarf.
Jedenfalls halte ich dafür: daß wir in nicht seltenen Fällen dem
Gerichte durch die Obduktion Überfahrener forensisch höchst wichtige
Au&cblflsse geben können, weshalb denn auch in allen Fällen, in
denen nicht schon dnreh die {Hebungen ein Selbstmord unzweifel-
haft festgestellt ist, die gerichtliche Leichenobduktion eingeleitet
werden soU. Kur möchte ich davor warnen, etwa aus einer
bloßen äußeren Leiohenbesichtigung weitgehende Sohllissv
zu ziehen.
II.
Die geriehtliclie Vornntersnchang.
Referendar Dr. jnr. B. Polain.
Inhalt :
§ i. Einleitung: Da» Wo««on tind die Alten der VorunterBocfaung.
T. Toil (§§ 2— «».
A. Geschichte der Vuruntcreuchuug bis zur Kcform des Strafprozesses um 184b.
i S. Da« rBiidadie Redit
§ 3. Daa dentaefae Recbt tot der Beseptlon.
§ 4. Voruntersuchung im kanonisch-ltalicnisohen Rechte (Inquisitio —
IhrcToiliiii^' in IiuiniHitio ;;cnornlis nntj Tn*|nisiti(> specialis; weitere
Ausbildung der Untenidiiede beider in Italien).
$ 5. Ai^iüdaDg der Begriffe Inqnidtio generalis and Inqmsitiospecialia.
— Strrft Aber ünterschied und Grenze beider in Dentadiland.
Doprmatisehe Darstellung? der Inquisitio generalis (VonmtMmchasg) im gemein-
rechtlichen Strafpro/.cP (§ «>,)
I. Begriff und >otwendiKkeit der Inquisitiu generalis im gcmeinrccht-
reelitlideD LMjolBitionsprozesse.
II. Yeranlaisnngq>rfinde der Inquisitio generalis.
m. Stellung des Üntcrsuchongsrlditers in der Inquisitio generalis. — Gang
der Inquidtio generalis.
II. Teil 7 15).
Die Voi Untersuchung von der ik'i'urm dos Strafprozesses (lb4Sj bis zur
Strafproaefordnung für daa Dentaefae Rmch.
A. Geecbichtlidie EntwielElnng der geriehtüdieo Yoruntersnehung.
§ 7. Qebredien dos bislierigen Verfahrens, — Rcfornn orschläge. —
Vornntprsuchini'; im französischen und onglischeii Itochtf.
§ 8. .Änderung dos Charakters der gcrichtlicheu Vuruntersuehuug.
Staatsaawaltlidies Ermittluagsverfaliren and geriditHcbe Vor-
antersuehnng.
§ 9. Streit über die Notwendigkeit einer gerichtlichen Vonnitcrsuchnngr.
B. Dogmatische Dan*tcllunf? der freriditliohoii Vonintorsiichung' in dem Strafver-
fahren der deutschen Staaten mit Kiicksichtuahme auf die Strafprozeß*
ordnongen der dnzelnra Staaten and etwaige RefonnvorscliISge.
§ 10. Stellung und Befugnisse des Staatsanwaltes in der gerichtlidieo
A'oruntersuchung.
§ 11. Stellung und Aufgabe des Uutersuohungsrichters in dw geridit-
lichco Voruutersuchung.
S 12. Stellung des Angeschuldigten in der geriditlidienVornntersncliung.
Die geriditUchfl Vornntennchiing.
88
§ 13. ächlui^ der gerichtlichen VuruDtersuchang und Beschlußfassung
ttlnr die Ei6ffiiiiii|p des HauptvaifdireiiB.
m. Teil.
Die geriditUdie Vorunterauclmng in der Straf Prozeßordnung für das DentMlie Beidi.
A. § 14. Inhalt und Gang dergeriehÜ.Vonmtei«iMtoig Idas geltende Bcdit).
B. Kritischer Teil.
$ 15. Stellung der gorichtlicUcu \ oruutersuchung gegenüber dem staata-
aawaltlidien EmittltingSTerfahren. — Pnktiadier Wert der geridl^
liehen Vornntersuchung.
§ 16. StelluiifT «Icr proriclitüchen Voruntersuchung zur Hauptverhandlung.
§ 17. Offcntlithkeit und Mrindüclikoit der froriclitlithcn Voruntersuchung.
§ IS. Anhang: Die gerichtliclic \'o ('Untersuchung nacli den wichtigsten
Stmfjpioief Ordnungen der Staaten Enropas.
f 1.
EiBleltnag: Daa Wcaeia der Tenatomehng.
In dem Strafverfahren aller in der Kultur fortgesohrittonen Völker
wird sich vor Eintritt in die geriohtliehe Entscheidnng ein besonderes
PiozeOstadiuin, Vorantersaehnng genannt, angbilden.
Der Zweck einer solchen Voruntersnohmig liegt anf der Hand;
er besteht im wesentlichen dann, die nötiiren Schritte zu nnternebmeni
auf Grund deren eine Entscheidung darüber möglich ist, ob ^e^en
eine Person weg-en eines bestimmten Verbrechens ein Strafverfahren
durchgeführt werden soll oder nicht.
Das Wesen, die Form und der Umfang einer solchen Vorunter-
suchung hestininien sich im übrigen nach den Prinzipien, auf denen
das Strafverfahren der einzelnen \Ülker beruht. Tlaujitsächlich haben
sich nun bei den Kulturvölkern im Strafverfahren stets zwei Pnn-
zipien gegenübergestanden -.
1. Das Anklage-(Akkusatiünsj-Prinzip und
2. das Untersuchungs-(Inquisitions)-Prinzip.
Bei dem ersteren wird dem Gerichte der Stoff der Anklage vor-
gelegt, der von dem Ankläger selbständig gesammelt ist Das Straf-
Terfahren hat dann die Form emes BeehtaatreiteSi bei dem der Richter
das beigebrachte Belastungsmaterial als Leiter der Verhandlung auf
seine Bichtigkeit zu prüfen nnd auf Grand dieser Prflfnng das Urteil
zu fällen hat Für die Vonmtersnchnng ergibt sich also ein nicht-
gefichtKcher Charakter. Dem Ankl%er, mag er als Privatmann m
Wahrnehmung eigener Interessen oder ans anderen Motiven die An-
klage erheben, oder als Öffentlicher AnkUtger verpflichtet sein oder
sich vo^chtet fflhleni gegen jemand vorzugehen , bleibt es ttber^
lassen, das Bela^tungsmateiial zu sammehi nnd dessen Bichtigkeit
Ifohb flir KilBiiuilantiiiovologto. XIU. 8
34
IL PoLzm
711 erweisen. His\v«'il('ii wird der Ankläger allerdinf^s richtcrlielie
Hilfe in Anspruch nt hint n müssen, wenn nändicli solche Handlungen
erforderlich werden, welche djis jreltende Recht dem Richter vor-
hehült. Im iihrifren aher handelt der Ankläirer selhständi«:, und diis
Gericht nimmt keinen Anteil an der Voruntersuchun*^, die also hier
grundsätzlich außerhalb des gerichtlichen Strafverfahrens liefet.
Beim Inquisitionsprinzipe hat die VoniDtersuchuDg dagegen die
Form einer riebterlichen UnterBncbnng. Das Oerieht bat die
Pfticbty im Öffentlicben Intere&ae alle begangenen Verbiecben za Ter-
folgen, damit kdne Übeitretimg der Becfatsordnung ungesttbnt bleibe.
Eb muß sieb selbst alles snr Abnrteilmig des SinfiEsJIes nötige Sfaterial
berbeiscbaffen. Hier wird sieb dne Vomnfteisacbnng ausbilden, die
ein Teil des riebterticben Strafrerfabrens ist nnd einra yoUstftndif
prosessualen Cbarakter tiSgt Diese VomnlerBaobang tritt jedesmal
dn, sobald ein Verbreeben begangen ist oder das Geriobt die Be-
gehung eines solcben verrnntet Die Voruntetsoebung liegt hier ganz
in Händen des Gerichtes und ist somit &m „geriebtliobe" Vor-
Untersuchung zu nennen.
Selbstverständlich sind anch Arten der Vomntersuchung möglich,
die sich nicht konsequent an das eine oder andere Prinzip halten,
sondern beide in verschiedener Weise zu vereinen suchen, wobei sie
sich bald mehr zum einen, bald mehr zum anderen neigen können.
Zweck unserer Untersuelninp- ist es, zunächst einen l'berblick
über die Art der Voruntersuchuufr in den für uns wichtigen Rechten
zu flehen, soweit eine solche vorhanden ist, um so das nötige Ver-
ständnis für den ^eseliiehtliehen Werde^^ang der {;eriehtlichen Vor-
untersuchung unserer btratprozeliorduung für das Deutsche Reich zu
gewinnen.
1. Teil:
A. Geschichte der Vonmtersuchung bis zur Reform des Strafjirozesses
um 1848.
§ 2.
Ihm rMsebe Beeht.*)
In der ältesten Zeit herrschte in Rom ein reines Ermittelungs-
verfahren, die ma^Mst ratische Coercition iCojj^n i tio), d<as den
Bürger vollkoiiniien der Gewalt der Ma^n^lrate }treisgibt. Diese Cognitio
war ein fornduses Strafverfahren. Der Magistrat war von Amts wegen
1) VgLMommeen, ROmische« Strafreoht. S.899f!. a 165—167.
Die gciichtUcho Vonrntennchusg.
86
zur V»Tfol<runjr der Verbrechen verpflielitct und konnte jederzeit den
Pruzt li iKi^innen, endig:en und wieder erneuern; das Sehieksal des Ant^e-
klagten ruhte ^^anz in den Händen des Magistrates, von dessen f>-
niessen auch der Unifanjr der Verteidi^am^^ abliin^. Bei einem solchen
formlosen Verfahren konnte von einer Trennung- in \'oruntersuehung
und Ilauptverfabreu keine Rede sein. Durch die Lex Valeria de pro-
Tocatione (509a): „ne quis magistratiis civem Bomanum ad versus
provooationein necaiet nere ▼erbemiet'* wurde die Macht der Ma-
gistrate dahin eingeschiink^ daß die Kapitalnrleüe denelben ▼OB dem
in den Zentariatkomitien TersammeUen Volk au bestätigen waren,
vm yolJstreckt werden an kennen. Um nun dem Volke eine solche
Entseheidnng zn ermöglichen, kam neben der formlosen magistra-
tischen Coereition ein öffentliches Verfahren mit festen For-
men auf, die sogenannte Anqnisitio. Dies Verfahren findet vor
versammelter Bürgerschaft statt nnd zwar mnß die Verhandlnng an
drei yersehiedeneni mindestens dnreh einen Zwischentag getrennten
Tagen erfolgen. Der Magistrat legt den Sachverhalt dar; darauf
erfolgt die Verteidigung des Beklagten, an der sich auch jeder Mann
ans dem Volke beteiligen darf vermöge der allen Bürgern zustehenden
Bedefreiheit. Hierauf erfolgte das Urteil des Magistrates, gegen
welches die Provokation an das Volk zulässig war.
Dieses Strafverfahren erhielt sich in Rom bis in das letzte Jahr-
hundert der Republik. Hei der andaucroden Ausdehnung des Wmii-
schen Stafites genügte es auf die Dauer aber nicht. Einerseits war
bei Einsdiränkung der Willkür der Magistrate nur der Bürger nnd
im allgemeinen auch nur der männhciie lUirger geschützt. Anderer-
seits aber beschränkten die Magistrate sich auf die Verfolgung poli-
tischer Verbrechen, während sie die Verfolgung der gemeinen Ver-
brechen auller acht ließen oder nur lässig betrieben. Um nun den
Einzelnen vor Gewalttaten seiner Mitmenschen zu schützen, wurde
der A kkusationsprozeß eingeführt, d. h. auf eine von einem Pri-
vaten erhobene förmliche Anklage hin erfolgt die Einleitung eines
Strafveiiahrena. Znr Anklage berechtigt war in erster Linie natOr-
lich der dnieh das Vefbrechen Verletzte, sodann aber Ton einigen
BeschrSnknngen abgesehen jedermann ans dem Volke. Sache
des AnkUgers war es, sich seine Bewdse selbst zu sammeln: An-
kUger nnd Angeklagter, die Parteien des Prozesses, führen dem
Richter den Stoff für das zu CUlende Urteil vor, und das Gericht,
bestehend aus dem PrStor und Geschworenen, deren Zahl nach den
Quellen zwischen 10 und 32 schwankt, entschied hiemaehf ohne sich
vorher mit diesem Stoffe irgendwie beschäftigt zn haben. Die Tätig-
3*
86
IL Povm
keit des (ierichts l)estand somit ledij^lich in der l'rozi'IHeitunf]^ und
der Urteilsfälluni?. Hei diesem Akkusationsprozcfi fand nun vor der
Verhandlung, in der das (lericht die l'arteien litirte und Keeiit sprach,
ein Verfahren statt, in dem die Anklaj^e fürudich aufgenommen und
geprüft wurde. Bestandteile dieses Verfahrens sind:
a) PoBtalatio rei d. b. die Erlaubnis, jemanden anklagen m.
dürfen.
bj Nomims (criminis) delatio: die Person des Angeklagten und
das fngliche Orimen wird in Gegenwart des Angeklagten nfther be-
seiebnet
c) Inscriptio nominis (eriminis): fOrmliebe Anfzeichnnng der An«
klage mit Namen des Anklägers nnd Angeklagten sn einer Art Qe-
ricbtsprotokoU. Diese Anklagesebrift (libellns accusationis) war die
Grundlage des Prozesses, die in der Hanptverhandlnng niebt ttber-
scbritten werden durfte.
d) Die Nominis reeeptio: förmliche Erklärung des Prfitors, daß
gegen eine bestimmte Person eine gewisse Anklage angenommen sei,
nnd Bestimmung des Tennins für die Hauptverbandlung.
Diese stufenweise eintretenden Handlungen, die der feierlichen
Accusatio in öffentlicher Sitzung vorausgingen, kann man als eine
Art Vorverfahren l)etrachten, das dmi Verfaliren „in jure" des Zivil-
pro7.esses entsprieiit. Hei diesem Verfahren handelt es sich lediglich
d.irum, festzustellen, oh die ProzelJvoraussetzungen erfüllt sind.
Keintswcirs alur werden in ihm Beweismittel üher die Seliuld oder
UnseliuUl (Us Beklagten gesanunelt, worin doch die Aufgahe einer
V()riiiitt'r>ueliung hestelit. Von einer Voruntersuchung findet
sich also auch in» Akkusationsprozesse keine Spur.
Der Akkusationsprozel) erhielt sich auch in der Kaiserzeit
Zur Verfolgung eines Verhrechens ist formell noch immer der Grund-
satz festgehalten, daß ein freiwilliger Ankläger die Klage erhebt
Daneben bildet sieh aber gerade in der Kaiserzeit das Einsobreiten
Ton Amts wegen, die magistratische Cognitio wieder mehr nnd
mehr ans. Ob nun in diesen Fällen der Verbrechensrerfolgnng von
Amts wegen ein Vor- und Hanpt^erf^ren zu trennen igt, ist fraglich.
Man kSnnte allerdings die vorläufige Verhaftung und Vernehmung
der Verdächtigen durch diese Magistrate als etwas der modernen
VorunterBuchung Analoges betrachten*}. Man beruft sich hier auf
1 6 Dig. XXXXVIII 3. Diese SteUe enthält aber lediglich eine An-
weisung an die Beamten, wie sie bei der Ermittelung von Verbrechen
1) So Zacharlae, Handbuch dee Strafprozeesee. J. S. 100.
Die geriditUdie VonmlenacfauDK.
87
zu verfahren haben. Für das Vorhandensein oiner Voruntersuchung
aber bietet diese Stelle durchaus keine Anbaltspunkte, und auch
Monniisi n erwähnt kein Material, aus dem sich bei dieser Vit-
folpin^' der Verbrechrn von Amts wegen eine Teilunj:: des Verfahrens
in eine Vorunteiäucbung uod eine HauptuotersucbuDg nachweifien
ließe.
13..
Dw iMitadie Beeht jor dar SeMfittoH
In der filteaten Zeit hemebte in DenttchUuid ein 5ffenttieh-mfind-
liebes PrivatenklageverCaliren, in welebem das Geriebt auf Grand des
Vorbringens der Parteien ledigliob die reebtlicbe Entscbesdung zu
treffen bat, welcbes daber für eine gericbtlicbe YornntersachuDg keinen
Banm bietet
Als aber zu Beginn der {rSnkiscben Monarcbie die Staatsgewalt
mebr znr Geltung kam, bildete sich aucb in Deutscbland allmfthlich
der Gedanke aus, daß der Staat als solcher berufen sei, die Hisse-
tüter zu bestrafen. Neben dem Anklageverfahren, das völlig den
Charakter eines Zivilprozesses zeigt, hat sich infolge dieses Einflusses
eine Verfolgung gewisser Verbrechen von Amts wegen durch die
Grafen und Zentenare ausgebildet 2), ausgehend von der Verfolgung
der handhaften Tat. Das Verfahren bei dieser Offizial Verfolgung von
Verbrechen war, nach den spärlichen Quellen zu urteilen, durchaus
formlos; es hatte durchaus nicht den Charakter eines Prozesses, son-
dern war eine einseitige polizeiliehe Mabregel ohne Mitwirkung des
Gerichts 3 j. Karl der Große erst legte den Grund zu einem wirk*
1 ) Vgl. Brnnner, Dentacfae Rechtageschichte. 1. Bd. B. ITSff. 2. Bd. 8. 48S ff.
2) Vgl. Capitnl., l.d.a.802, Kap. 25: Hier wird bestunrnt, daO die Gomitro
und Centenarii: «junioree tales in ministeriis haboaut, in qnlbiw aecuri oonfidant,
(|nia leg'em atque juatitiam fidcliter ohscrvcnt, panpcres ncqaaqnam opprinient,
fures latronesque et bomicidas, aUultcru», uiaieticus üiuDCäque 8acriU>;;()s nuila
adolatione vel praemto nolloqae sab tegmine celare todeant, aed magis prodere,
nt emendentor et caatigentur Becundum l^cem, ut Deo laigienl» omnla haec mala
a Cbristianü pnpulo aaferantiir- . ferner : Pactus pro tenore Childeberti et Cblotarii
a.o. 511 — 518 iMoii. (iemi., Ic«;. Hnretiii?, p. T, No. lOi „contonarii inter com-
mones provincias liccutiam habeaut latroucs perscquere vei vestigia adsiguata
minare.
8) Vgl. Rieh. Schmidt^ Herkunft des Inq.-Prox. S. 72. Anderer Meinung
ist Keller (StaatBanwalt«*chaft in I>putÄchland, S. 245), der in der Prüfung, ob
die Berichte der Boaniton (Jl.iubeii finden (Inquisitio ma^stratns». den Keim doR
üntersuchungsrichteranite» erblicken will. Meines Erachtens kann diese inquisitio
magistratus nur unserem heutigen staatsauwaltlichen Erroittlangsverfaliren ver-
l^eidibar eein, genau wie im rSmiadien Bedite daa Verfahren der Jrenardien usw.
38
IL POUEIK
lic'lu^n Straf|)n»/,t'H , lo'i (Inn wir es mit einer Verfolfrunjc: der Ver-
l)reclien \ on Amts wejLcen zu tun haben. Es sind dies die soirenannten
Kü^'e^'erichte. Die Spuren dieses Verfahren stanimtMi f)ereits aus der
nierovinpschen Zeit. Nach der Lex Salica 74 lud der Graf, wenn
ein Mensch von unbekannter Hund ^a^t(itet war, die Dorf^enossen,
in deren Gebiet der Leichnam gefunden war, vor Gericht; hier müssen
sie schwören, daf^ sie Mord nicht verübt haben, auch nicht wissen,
wer ihn begangen bat fqnod nec occtdisaenti nec sciant, qui occi*
dissent). Wurde nun jemand durch 5—7 tinbesoboltene MSimer eid-
lich als Tftter beaeichnel, so wnrde er ohne rechtsförmliches Vei&hren
getötet Bdm Rttgeveifahren aelbat liegt die Sache so, daß der Bichter
unbescholtene und glaubwürdige Mibmer aus seinem Besirke Toiiadet
und sie eidlich verpflichtet, daß sie bestimmte Verbrechen rügen; außer-
dem smd sie yerpflichtet, die Wahrheit auszusagen über alle Dinge,
nach denen sie der Richter befragt <). Wird nun jemand durch die
Bflgegeschworenen eines Yerbreohens berichtigt, so wird er, wie wenn
gegen ihn formell eine Anklage «hoben wäre, vor das (}mcbt ge-
stellt Die Rüge der Geschworenen war also ein Surrogat der An-
klage des V'erletzten. — Auch hei diesem Rügeverfahren, das auch
maßgebend wurde für die kircblichen Sendgerichte und sich mit der
Zeit auf fast alle deutschen Stämme verbreitete, ist also von einer
gerichtlichen Vorontersuchung noch kerne Spur zu finden.
« 4.
Die VoniiitersuchunfiT im kanonltieli-italieiiUieheii R^'lit4?^i.
Das kanonische Recht, weiches zunächst das römische Recht als
entscheidende Rechtsnorm betrachtete, bat ebenfalls als Hauptform
des Strafverfahrens* den Anklageprozeß. Daneben kommt aber
schon in den ältesten Zeiten eine Bestrafung durch die kirchlichen
Richter ohne Ankiai^e vor auf Grund der infamatio, diffamatio,
rl.iniosa insinuatio und des chiiiior j)uhli<'us. Billigcrweise mußte
nun in solchen Fällen, wenn man nicht unhaltbare Zustände schaffen
Aufiralx' ili s riitorstichunffsrichters alter ist Kfiliruii}? der gerichtlichen Vorunter-
suchung'. Als frcrii litlicliL- \"<>runiersucliuiig kann man diese Inqnisitio n)a)<istratus
nicht ansehen, tUi iiir je^liclu» pruzeä&ualc Eieuient fohit, das gerade ein licr\-or-
Btediondes QiarakteriBtikiim der gerichtlichen Vorantemidrang ist
1) VgLPipp, Kap. 782—7^0 c. 8. I. 192: judex unnsqidsqae per dvitatem
faciat jurare ad Hei judicia lioniines crf-dcntt'- iiirta (|iinntos praeviderit . . ..
ut rui ex ipsis co'riiirum fueiit, id est lioiuicidia, furta, adulteria et de iolicita»
eunjuuctione», ut nemo eas coucetet.
2) Vgl Biener, BdtiSge zur Geacliichte des InquiutloiiBproceeaee. S. 86 ft
und Richard Schmidt, Herkunft des InqaiaitioiiBproMSBes. Freibuii; i. Br. t902.
. d by Google
Die geriditUfdie Voronteieadrang.
89
wollte, ein solches Gerücht .auf seine (Uauliwürdii^keit untersucht
werden. Hierzu diente die Infiuisitio, welche durch Innocenz III.
eintrefiihrt wurde. Diese Inquisitio unterschied sich vom Ankla^j^e-
verfahren dadurch, dali keine Anklap' zur Verfolji;unj; eines Ver-
brechens erforderlich ist, sondern daii das Gericht von Anita wegen
Terpflichtet ist, begangeoen Verbrechen nachzuspüren und über sie die
Wahrheit zu erforschen i). Im Slteren deutschen Rechte bestand ja
auch eine Verfolgung gewiseer Yeibrechen von Amts wegen, eben^
blls Inqnisitio genannt Dies Verfahren zeigt aber doch einen be-
deutenden Unterschied gegenüber der Inqnisitio des kanonischen
Becbtea Dieser ünterscbied Uegt m dem Beweisyeifahren. Dem
deutschen Rechte ist das BewosrerEahren mit den formalen Beweis-
mitteln Reinignngseid nnd Gottesurteil eigent&mlicfa. Das kanonische
Recht dagegen fibemahm das Beweisreoht des römischen Verftihrens.
Hier kommt alles anf die innere Glaubwürdigkeit der Behauptungen
Yon Zeugen an, wfthrend im deutschen Recht ausschlaggebend war,
ob der Beschuldigte eine genügende Zahl Eidesbdfer hatte oder ob
ein Gottesurteil einen für ihn günstigen Ausgang nahm. Dies Ver-
fahren per inquisitionem , das Innocenz III. zunächst nur zur Ver-
folgung gewisser Verbrechen vorgeschrieben hatte, wurde auf dem
vierten lateranischen Konzil (1215) auf alle Verbrechen ausf^edehnt und
sanktioniert. Bei den weltlichen Gerichten Italiens findet
sich dies Verfaliren per incjuisitioneni ehcnfalls in Ubunj:. Wo der
Ursprung' dieses Verfalirens per inciuisitioneni liegt, war bisher sehr
unsicher. Fast allgemein nahm man an, daü die Inquisitio des kano-
nischen Rechtes eine Schöpfung und Erfindung Innocenz III. sei, die
allmählich sich auch bei den weltlichen (ierichten eingebürgert hat.
Neuerdings hat Rieh. Schmidt-) nachgewiesen, daC» das Inqui-
sitionsverfahren nur eine Fortbildung der liK^uisitio des fränkischen
Rechtes ist, die nach Italien herübergebracht ist, und in den Statuten
der italienischen Städte aufgezeichnet ist, bevor sie sich im kanonischen
Rechte zeigt Die Inquisitio des kanonischen Rechtes ist dem gegen-
über nur dne partikulSre Abzweigung. Der Unterschied gegenüber
der frünkischen Inquisitio zeigt sich hauptsächlich darin, daß in
Italien das Verfahren per inquisitionem schon das römische Beweis-
recht übernommen hat
Bei diesem Verfahren per inquisitionem, das in der
Ii FcriiPiv T'ntei-scliicdr . die sicli aus der Natur der 8aclie ergeben, sind
die tichriftliebkeit und lieiailichkcit dea Verfahrens in der luquisitio.
2) Bich. Schmidt, Herkunft des Inquisitaonspnneaaea. S. 99ff., 106,
S. 92 ff^ 96. Freibmis 1902.
40
II. Pouu»
Kirche wie in den Städten Italiens zu Beg:inn des 13. Jahr-
hunderts in rbung war, zei^^t sich zuerst eine Vorunter-
8ucllun^^ Ks erpbt sich eine Trennun-r des Verfahrens in eine
Vor- und liauptuntersuchung bereits aus den überlieferten Stellen der
italienischen Stadtrechte, bei denen da» Verfahren per inquigitioneni
in eine Inqnisitio generaliB (VoriintersQchang) und eine
Inquisitio speelalis zerlegt wurde, wenn aneh diese teohnieohen
Anfldrficke zunächst noch nicht in Übung waren.
Wichtig sind hier folgende Quellenstellen :
1) Liber statutorom Janucnsis cap. 72, leg. manidp. L p. 251 : „ A proxima
▼«ntmm del pmifloBtioDia sanctae Marie naqne ad ammm nnaiii, nl ego consol
invenero nllnm hominem per testes qai foerint recfptend! ad tarn
mapnum crimen probandum vol (|ui per f«uam c<»nfp8s«i()neni manifestavcrit
quod falsot monetam, lanueosem aut qui tarn falsatani habeat seu faisam fa^iat
^ve ad falsamdam cam coDsendat vel cujus conailio falsetur omnes res huminis
Uttns mobiles et immobiles ad ofnnmime Unaae laodabo et ree efae atiieaoqae
iuTcnero ita nt adquirere poedm ad comniune lantiae acTipiam et amplius non
reddani nec alinii alten persone pro illo et publice in parlanicnto laudabu
ut persona ejus peri)etuo exilietur et ü personam ejus iiabere potero maoum ejus
truncarc faciam. Et hoc totum do eodcm homine vidclicet falsatore monete in
breve scribere faciam, ad quod Tenturi conaoleB jnrabnnt.'* Ähnlidi ein Mailinder
Statut von 12ol (Madänder Mfinzstatut vom 18. Jan. 1204, vfjl. Hugo Sachsse
iFestgabc für Ihering^ Rostock l*«li2. S. (l^ff.), woselbst der I'in/cF auf eine An-
klage hin geicgelt ist. Am .*^chlul> findet »ich folgende Klausel: ,,Et rectoi-cs
couiuiuni» Mcdiolani qui pro tempore fuerint, teneautur buua fide et sine fiaudo
dare operam ad predictoe falsarioa capiendoa et ad inqnirendaa
predictaa falsitates per t' - n! virtutem Mediolani, ex quo .sibi delata
fncrit. — Ein i^tatut von C\»nHi (12<>"2. Uber statutonim ronsuluni Cnuinnonim
tit, 154 [Mon. p. Gl]) zeigt, wie Anklage und Verfolgung von Amts wegen inein-
ander übergehen : „Si qui fuerit cartaiu falsam — , solvat pro banno Uvras centum
noYomm ant mantim amittat — Et llle qui dizerit anb polestate vel eonaaUbiia
commimiB et iusticiae vel ti> ; Tiaromin , cartam sive instrumentum falsam vel
falsum ossc et probare volueni de ipsa falsitate vel ostendere, juret ad sancta Doi
evaii;::elia statim sc eredere et habere suspicioncni eertam de ipsa
carta sive instrumentum sit falsum et postea procedat. Et potestas etconsule«
comonis et iostidae et negotiatomm teneaotnr ex officio suo inqairere
ipaam falsitatem.* Ebenso in Padua (statuti del commonc di Padova, ed.
1973 datiert: -statutum vetus ante milletiintum «Iiiccntcsinnmj trigesimum sextuni**
no. 771. p. 2r)r>, libr. III. C 0»: -Quicumque f^ua aucttjritato fregerit, inciderit seu
devaätuverit aliquam viam publicum iu campanea padue vel padunuo dihtnetu;
JiTvaa vigtnti qoinque commiiB componat — etpoteetaa ano officio de pre-
dictia diligenter iinjuirero teneatur sacramento sui regimiais si fncrit
requi'^irns." \'or allem al)er koiiiiiit ein Statut von Hergamo in Betraelit
(Statuta l'ergami inon. bist. patr. ieires niunicipales II, p. 1932, III. de annis vetitis
coerceudis; datirt ante 122U]i: .Et si aliquis de se dubitans vel do suo amico
1) Vgl. Schmidt, Uerlcirnft des Inq.-Proz. S. 108—105
Die geriditliohe YonutennehuBg.
41
vcl de alio dixerit per Bacrameutum rcctoriä cungruo loco et tempore, quod
aliqui» portet ulitiaod timorani vecftonuB teneatur Reotor diligentar inqnirere
et cercare qaam eitins et meliat potaerit sine frande per se yelper
Bunm missum. — Et si hoc invcncrit, teneatur Rcctor in primo arcngo, quod port
ipsani invcntioncm fnorit. hoc <licerp et inanifest.-irc <'t ibi predictas penas
ei iiupuucre.'* Aus alteu üieiH;u (Quellen tritt klar uud deutlich das Vorbanden-
•ein des lnqni>iti<Ma>proiflMOi Iterrär. Aneb nigt ikh in ihnen, inebeeondeie in
der lefaterwttinten Stelle eine Zwdtdinnif des Verfidirena: nlmlidi eine Voranter-
suohung, in der die Schuldbo\voi»c fresamiuolt werden, und d:i\ on jretrvnnt ein
Verfahren, in dem, falls die Sebald dea Angeklagten zutage ffctreten ist, die Ver-
urteilung ausgesprochen wird.
Die ersten scbrifdiehen Aa^iehnungen Aber die Inqnisitio mnd
enthalten in den Kommentaien so den Frivateaminlongen päpsUieber
Dekietalen (sogenannte Compibitiones antiqaae). Im Gegenaalz sn
Innoeenz III., der noch niobt Von einer Trennung der Inquisitio ledet^
kennt Joannes Tentoniens (t218; Appamtos zur Oompilatio IV.)
in seiner Glosse ein vorbereitendes Verftihren über die Ezistenx der
Infamia, weiches auf eine Vonmtersuchung hindeutet* Innoeenz IV.
spricht in seinem ^Apparatns sn den Dekretalen Gregors IXJ^f der
etwa 1245 ersebienen ist, zuerst von einer Vomntersuchung, die er
Inquisitio generalis nennt. Die Ilauptätellen sind: c. 17. 21. 24. X
de accusat ... c. 23 X de eleet. Diese Irn|uisitio generalis findet
nacli ihm statt a» de omnibus criminibus d. h. bei allen Kirclienvisi-
tationen (Biener: Heitr. z. (Joseh. des Inq -Fror. S. S5\ b) super statu
alicujus ecciesia*', wenn MÜtbräiiclie l)ei einer Kirche ein^'orissen sind,
c) wenn ein Verbrechen bekannt, (b-r Täter al)er unbekannt ist. Werden
nun gep'u jemanden f^enü^anub' Verihichtsi;ründe gefunden, so tritt
gegen diesen die Inquisitio contra certam personam (Inquisitio speci-
alis) ein. Innoeenz \\\ ist also der erste Papst, der eine Tei-
lung der Inijuisitio in Voruntersuchung und Ilauptunter-
suchung kennt. Die Summa Decretalium des Ilenricus de Segusio
oder Ostiensis, zwischen riöl) und 1261 entstanden, erwähnt gleich-
falls die Unterscheidung von Inquisitio generalis und Inquisitio contra
singularem personam. Durantis in seinem Speonlnm jnris (1270)
(Bneb III) nnterseheidet zwiseben Inquisitio praeparatoria und solennis.
Die Praeparatoria besteht naeb ihm in der Erforschung des TSters
eines bekannten Verbreebens nnd der genaneren üntersnchnng der
Infamia, im Falle, daß der Inqnisit dieselbe leugnen sollte. Albertus
Gaudi n US (um 1300 f) unteischeidet in sflinem libellus de male-
fieüs : „Utrum judex inquirat contra aliquem singularem et specialem
et nominatam personam, an inquirat generaliter de malefido, quis
illud oommisent^ Diese Inquisitio generalis, die auob In>
42
IL Pounxr
quisitio praoparatoria ^^enannt ist, weil sie das Haupt-
verfahren V (I rberei f et, dürfte als Ursiirun^; der jrericlit-
lielien V orun te r su e Ii ii n^^ zu betrachten sein Sie ist ein Ver-
fahren, welches dazu dient, ein Verbrechen und den Täter desselben
zu erforschen. Der Unterschied der Inquisitio generalis und der heu-
tigen gerichtlioheD VoruDtersuchung liegt darin, dafi die Inquisitio
generaJia endet , sobald genügende Verdaehtsgründe gegen eine be-
stimmte Person vorliegen, und sich nicht gegen diesen Verdächtigen
selbst richtet, wie dies in der heutigen gerichtlichen Yoruntersnchnng
gerade der Fall ist.
Die Nachfolger des Albertos Gandinns haben die genaue
Unterscheidung von Incjuisitio generalis und Inquisitio specialis wieder
vefkllnstelt Nach Bartolus (1314—1357) (Hauptstelle bei 1 2 § 5 D
ad L. Jul. de adulteriis) dient die Inquisitio gen^is zum Aufonchen
eines Verbrechens; er teilt sie folgendenuaSen ein:
1. Generalis quoad personas et delicta.
2. Generalis quoad personas, specialis quoad delicta.
3. Generaiis qnoad delicta, specialis (|Uoad personam.
Das Verhält;ni8 der Inquisitio generalis zur Inquisitio specialis
drückt kurz folgender Satz aus: „Ubi enim in generali corapcrit ali*
quem deli<|uisse. jtotest ;h1 spocialeni descendere et condemnare . .
Das Verfaliren in der Inquisitio generalis schildert Bartolus bei
1. ult. I). de (|uaest. folgendemialJen : ^Quandoque de maleficio fit
inquisitio ^reneralis, non contra certam j)ersonani, quandu(|ue specialis
contra certam personam. Primo casu antequam ad inveslifj:ationem
aliquani procedat, debet eonstare de maleficio. Et ideo rectores niit-
tunt niilitem vel aliuni officialem ad videndum honiinein niortuuni et
ad videndum vulnera et hoc faeiunt seribi ut super linc postea possit
inquiri. Puto tarnen, quod sicut fama est sufficiens, ut possit specia-
liter inquiri contra aliquem, ut dixi in ! 2 D ad leg. Jul. de adult.,
ita fama de maleficio est sufficiens, ut possit de maleficio ütn in-
quisitio generalis. — Sic in furto magno judex potest mittere per
vicinos et si quidem a yicinis reperierit aliquem de quo sit suspicio,
eum ad se adducet diligenter et interrogabit de muHis drcumstantiis,
ubi stetit illa nocte — et tunc ex sermonibus et ez voce et ex trepi-
datione potent contra eum aliquam praeeumtionem habere.
Neu ist bei Bartolus die Teilung der Inquisitio generalis in
drei UnterabteiluDgen und außerdem, daß in der Inquisitio generalis
ein Verhör des Verdächtigen staltfindet, was ich bisher nirgends er-
wähnt gefunden habe.
Bald US (Practica, 1400 f) gibt folgende Schüderong von der
Die geriohdidie yonmteniiditmg.
43
liKHiisitio : ^Inquisitio fcfneralis est jus promk-adi ex mcro officio ad
intervenienduni, si (|ui sunt homines in illo territorio oriminosi pocna
dijrni. Inciuisitio ex (jua scquitur punitio (an anderen i*^tellen nennt
er sie „specialis*') est jus in(iuirendi et puniendi repertuni culpabilera
de crimine ex offieio in(iuirentis". In seiner IVactica Quaest. circa
inqu. c{u. 1 ; 5 schildert er die luquisitio ^eneraliä als vorbereitendes
Verfahren. Er bemerkt außerdem, daß das Verfahren in der Praxis
mit adner Sobflderung -ttbereiBBtimmek
Angelus Aretinus in semem Tradatns de malefiens (1437)
kennt bereits vier Arten der Inqnisitio generalis:
1. Generalis qnoad deliela et personas.
2. Generalis quond penonas, specialis quoad deliota.
3. Generalis quoad delicta, specialis quoad personam.
4. Generalis contra personas d. b. wenn gegen «ne Univenitas
untersucht wird. Über die Zulfissigkeit der Inqnisitio ist er der An-
sicht, dafi es dem Richter immer freisteht, generaliter zu inquirieren;
zur Inquisitio specialis hino:egen sind hinreichende Euna und Ve^
daohtBgrflnde erforderlich (Rubr. baec. est quaedam inqu. n. 12—28).
Eine gans neue Ansicht von der Inqnisitio hat Julius Clarus
(1560) in seinem „Volumen et Practica criminalis" aufgestellt Er
bezeichnet als Inquisitio nur den vorbereitenden Teil des Kriminal-
verfahrens, in qua infonnationes et indicia assuinuntur per testes etc.
Dieser Teil des Verfahrens schlieHt mit der Zusammenfassung des
g:efundenen Stoffes in die Charta inquisitionis oder Libellus criminalis
(§ Fin. (juaestio 3 vers. et advertei. Diese Inciuisitio ist teils irenera-
lissima: sie hat die Auffjabe, von allen begang-enen Verbrechen
Kenntnis zu nehmen; teils «reneralis: in ihr wird der unbekannte
Täter eines bekannten Verbrechens erforscht — in Fällen, wo der
Täter bekannt ist durch Denunziationen oder Klage <les Verletzten, kann
die Inquisitio ijeneralis fortfallen — ; teils specialis, wenn die Infor-
mationen auf einen bestimmten Verdächtigen gerichtet sind wegen eines
gewissen Verbrechens (siehe § Finalis Qu. 3 vers 1 ; (^u. 5; Qu. 49
yers: baec autero; Qu. 50 vers: item quia). Sobald also hinläng-
liche Veranlassung Torhanden ist und der Biehter sieh des Tatbestandes
Tersichert hat, kann er durch Befragen yon Zeugen und sonstige
Hittel specialiter inquirieren. Eine Vernehmung des Verdichtigen
(wie sie Bartolus erwähnt, siehe oben S. 42) findet in diesem Stadium
des Prozesses noch nicht statt (§ Finalis qu. 6 vers. suocessive). Am
Schlüsse der Inqnisitio specialis wird die Charta inquisitionis (libellus
criminalis) aufgestellt, wddie die Grundlage für das weitere Verfahr^
(Hauptrerfahren) ist Dieses heiBt nach Clarus „Processus^* und
44 ' IL PoLxm
nicht melir In(|uisitio; es bcj^innt mit Vorladung des Vcrdächtig:en,
dem der Iniiult des In(|uisitiunslibells mitgeteilt wird. Auf die darin
enthaltenen Punkte muß der Verdächtige antworten; leugnet er, so
wild Beweis nötig durch Wtedenreniehiiraiig te sehon frflher abge-
hörten Zeugen. Der Angeechuldigte wiid zur Defension gegen die
ZeagenansBagen zogelassen, nach Umatänden tritt die Toitor dn,
worauf Bchließlieh das Urteil folgt
Bei dieser Anffassang des Clarns 7on- der Inqnisitio ist anf-
IsUaid, daß die Inqnisitio nur das vorbereitende Verfahren (Vomnter-
soehung) ist und das Hauptverfahren gar nicht Inqnisitio heißt Hietin
stimmt ClaruB mit Damhonder ftberein (Damhonder: Praxis
rerum crim. (1554) cap. VI II). Diese Anffassnng paßt weder znm
rOmischen noch zum kanonischen Recht. Prosper Farinaoins
(1554 — 1613) vertritt ebenfalls diese Meinung desÜlarus (Farina-
cius: Variae quaestiones et commnnes opiniones criminales lib. I
titln. 3). Diese Auffassung des Clarus und Farinacins ist auch
in eine neuere Gesetzgebung für Österreich übergegangen (Straf-
prozeßordnung von 185:f), die auch die Vornntersucliun«: in eine
General- und 8pezialuntersucliun<r teilt und hierauf ein Schiuliverfahren
folf!:«'n lälU. Diese Einrichtung, die damals lebhaften Tadel erfuhr
(siehe (ilaj-ier: Oes. kl. Schriften Bd. I, S. 373ff.), hat sich nicht
bewährt und ist auch bald beseiti<rt worden. Ein ähnliches Verfahren
besteht heute noch in einigen Kantonen der Scbweizj siehe unten
§ 18 VIII.
Im liislieriiren war die Fortbildun«,^ des in die weltlichen Gerichte
Italiens ühernoiiiinrnen Inquisitionsprozesses und seine Scheidung in
Inquisitio {generalis und Inquisitio specialis zu zeigen. Die Nachfolger
des Clarus und Farinacius noch zn erwähnen, dürfte deshalb nicht
von großem Werte s^n, well sie bei der Aufnahme des Inqnisititms-
Prozesses m Deutschland nnberficksichtigt geblieben sind, vielmehr
Carpzov und Brunnemann, die den Gmnd zu dem deutschen
Inqnisitionsprozesse gelegt haben, nur die obenerwfthnten Werke be-
nutzt haben.
In diesem Inquisitionsprozesse, der sowohl in den kirchlichen
wie weltlichen Gerichten in Übung war, findet sich zuerst eine scharfe
Trennung des Prozesses in Voruntersuchung (Inqnisitio generalis) und
Hauptnutersuchung (Inquisitio specialis). Die Inquisitio gene-
ralis ist das erste uns bekannte Vorverfahren ge-
richtlicher Natur, das allerdings im Lanfe der Zeiten bis zur
heuti^^en .,gerichtiichen Voruntersuchung'' der deutschen Reichsstraf-
prozeIk>rdnung mancherlei Wandlungen durchmachen soUta
. d by Google
Die Koriohtiiohe Vonutemidtung.
46
I 5.
AmUlduff der Befriffe Inqulsitio generalis und Inqulsitio specialis und Streit
Aber UnteneUed und Orense Mder In Dentseiüand.
Die beiden deutschen Krinnnal{2;esetzgel)unp:en aus dem Anfang
des 16. Jahrhunderts, die B a m b e r g e u s i s und die Carolina,
die den Anklageprozeß noch als ordentliche Form des Strafverfahrens
aufführten, erwähnen den Iniiuisitionsprozeli daneben als außerordent-
liche Prozeßform (Bamberg,, Art, 10—16; Carolina, Art 6 — 10).
Nach und nach aber Teraehwand der Anklageprozeß, und der ans
dem kanooiaeheii Beehte übemommene Iiiqiikitioiiqaoaeß wurde die
flbfiche Form des Verfiahreoe.* Die yon den italienisohen Beehtage-
lehrten tibertieferte ünterBcheidnng yon Inquisitio genenüis and In-
qnisitio specialis findet sich nicht vor in der Carolina, wenn maik
nicht mit Zachariae (Omndlinien des KriminalproKesses, GOtt 1837)
diese Unterscheidang ans dem Art 6 der CSärolina interpretieren
will . . . Der Art 6 verordnet nämlich, daß der Bicbter niemanden
mit peinlicber Frage angreifen soll, es sei denn 1. zayor redliche
nnd genügsame Anzeigung von wegen der Missetat vorhanden nnd
2. genügsame Erkundigung vorgenommen, ob die Missetat, darum
jemand berüchtigt oder verdächtigt werde, auch geschehen sei oder
nicht*' Bieten die Gesetze auch für die Unterscheidang
einer Inquisitio generalis und einer Inqnisitio specialis
keine sichere Handhabe, so haben doch in Deutschland
Wissenschaft und Praxis diese Fntersclieidung von den
italienischen Kechtslehrern übernommen undweiter aus-
gebildet.
I. Die deutschen Juristen nucli der Carolina bis auf Car])zov
waren außerordentlich iintiicbtige Köpfe. Sie verniocbton we<ler den
Pfad zu verfolgen, den ibncn die italienischen Juristen gezeigt hatten,
noch den Prozeß der Carolina selbständig weiter zu bilden. Zu er-
wähnen sind: Procel), Practica und Gerichtsordnung von C hilianus
König (I^ipzig 1541) j Practica und Proceß peinlicher Halsgerichts-
ordnung durch H. Heinrich Bauch dorn (Budissin 1564); Practica
and Proceß peinlicher Gerichtshandlung dorob Job. Arnoldam
▼on Dorneck, lic. jor. (Frankfurt a. M. 1576). Alle drei erwibnen
schon die Inqnisitio generalis, yersteben unter ihr aber nor eine all*
gemeine Unteisachang gegen euien Verein mehrerer Personen. Hier-
von getrennt findet sich der Grandsatz, daß der Siebter auf jede be-
liebige Weise dem anbekannten TSter eines bekannten Verbrechens
nachspttren konnte.
46
U. PouEn
Nach ihnen i.st .Ittdocus Dtini h ouder zu erwähnen. Was die
Inijuisitio greneralis hetrifft, so vertritt er dieselbe Meinung; wie Cla-
rus und Farinacius isiche oben § 3 \'MfX Auch nach ihm ist
die In(iuisitio nur vorbereitendes Verfahren, in dem die Beweise über
das Verbrechen und dessen Urheber gesammelt werden; diese ist
generalis oder spedalis^ je nachdem die Sammlung der Beweise eine
allgememe ÜA^ oder eine bestimoite Penon betrifft
II. Cftrpzov: (Piaetiea ramm erimmaliiun Qu. CVII n. 6 — 14) kk
der erste dentsefae Beehtsgelefartef der zuerst wieder kkr die Begriffe
Ton Inqnisitio generaMs und Inquisitio specialis nntersdiddend be-
stimmt Er fflbrk die MeinuiigeD seiner Vorgioger an, prOlt sie und
gibt dann seine Ansiebt hmd mit den* Worten:
^Sed missis eis, reiqne veritate inspeeta» dnplioem soinmmodo in-
qnisitionem esse pnto, goiendem et specialem. Geneialem appello
eam, quae incerto adbne ddieto Tel delinquente per jndieem fifc ad
generaliter inquirendum, an re Tera deHctuni perpetratom sit et qvia-
nam illud oommiseht, desnper generales informationes assnmendo —
Specialis vero est inquisitio, quae fit per judicem contra particularem
personam, de cujus delicto jam Curia notiliam habet, vel qua in de-
licti modum et auctorem, personam certam, in inquisitioni prenerali
suspicionibus gnivatani, in specie judex in(|uirit." Demnach ist der
Zweck (h'r Inquisitio generalis, sich der Existenz des Verbrechens
zu vergewissern und Verdachtsgründe gegen den Täter iierlieizuschaffen.
Die Zeugen werden in ihr nur summariscli und unbeeidigt vernommen
(Qu. CVIJl). Ein summarisches Verhör des \ erdiichtigen in der In-
quisitio generalis verwirft Carpzov in Qu. CXI II. 22. Carpzov
hat also die Grenzlinie zwischen Inquisitio generalis und Intjuisitio
specialis scharf gezogen. Endzweck und Kesultat der In(}uisitio gene-
ralis ist die Versetzung in den Inquisitionszustand, welche nach
Carpzov durob Urteil erfolgt Gegen dies Urteil steht dem Ange-
sebnldigten die Defensio pro ayertenda inquisitione speoiali firei. IMe
Inquisitio specialis ist der eigenHiebe Kriminalproseß;
ni. Die Naob folger CarpzoYS sind derselben Ansicht in
Bezug anf die Inqnisitio generalis, z. B.' Jobann' Brnnnemann
(Tractatns de inqnisitionis processn Frankfurt a. II. 1647/48). Anch
er kennt nocb kein YerbSr des Angescbnidigten in der Inqnisitio
generalis. In der dentscben Oberaetzung dieses Werkes yon Stryk
(cap. III % 6) wird der Bat gegeben, den Angeschuldigten in der
In(|ui8itio generalis als Zeugen vorzuladen und zu vemebmen, um
dadurch eventuell neue Indizien zu bekommen. Als etwas Neues
empfiehlt Brnnnemann in Cap. VllI membr. 1 no. 66, 69 ein sum-
. d by Googl
Die gerichdiehe Vomiitttnaefaiiiig.
47
marisches ^'e^hö^ des Anf^fschuldiprten in dor Tnquisitio specialis vor
dem artikuUertrn Verhöre. In no. 96 j;ibt lirunnomann ein Muster
für ein solches Verli(ir: Nacli wenigen Artikehi über allirenieine Dinare
sa^t er hier: „ur;>'endus est reu«, iit factum ipsum cum (»mnibus cir-
cunistiintiis sumniarie enarnt, et postquam totaui rei Seriem sine
interruptione reeensuit , dcbet judex interr(»^'are reum, an haec sit
i|)8issinia veritas. Iiis })eractis ad specialia interrofjratoria procedere
potest vel uno actu vel interj)usita aliqua niora, ut supra (hximus."
Dieses summarische Verhör gehört also nach Brunnemann zu der
Inquisitio specialis. Derselben Ansicht ist auch George Kayser
(Praxis criminalis: Kapitel von der Spezialinquisition § 7) und
Jacob. Friedr. Lndoviei (Einleitung zum peinlichen Prozeß:
Halle 1707). An die Brnnnemann sehen Anaiehten, die im Obigen
nfiher ansgefllhrt sind, haben sich anch zwei bedeutende Geeetz-
gebnngen ans dem Anfuig des tS. Jahrhunderts angeschloflsen :
1. die Josephina für BOhmen, Schlesien und Mähren im Jahre 1707.
Sie kennt schon die summarische Vernehmung des Inquisiten vor der
artikulierten und zwar als Teil der Spezialinquisition (siehe Joee-
phina rV8; V1 1). 2. Die kSnigliche preußische Kriminal-
Ordnung von 1717 (durch (SesetiE vom 20. August 1724 wird in
Preußen der akkusatorische Prozeß förndich abgeschafft) III 15 be-
stimmt, daß in der Generalin(|uisition der Verdächtige als Zeuge ver-
nommen werden kann, und nach IV 1 gebt in der Spezialinquisition
den Artikeln eine summarische Vernehmung des Inquisiten über da»
Faktum voraus. Da& verbesserte preußische Landrecht Ton
1721 enthält ähnliche Bestimmungen.
Von dieser Zeit an entstand nun ein Streit darüber, ob die
summarische V e r n e h m u n g des Angeschuldigten zur
Generalin(|uisition oder Spezialin(iu isition zu rechnen
sei, oder ob sie einen besonderen dritten Teil des Verfahrens bilden
sollte, auf Grund dessen dann womöglich unter Fortfall der Inquisitio
specialis ein Urteil gefällt werden konnte. Chr. .1. Heil (Iudex et
Defensor 1717 Kap. 1 §§ 11,15; III §9) ist schon im Zweifel, ob er
die sunnuarische Vernehmung zur (Jeneral- oder Speziulin(|uisition
rechnen soll. Kaj». I § 14 und Kap. Iii § 21 geben uns daiüber
Aufschiuli. Er vertritt die Ansicht von Stryk, daß in der General-
inqnisition der Angeschuldigte als Zeuge vernommen werde; sobald
nun genügende Veidaehtsgründe Vorhanden sind, um die Speiiat
inquisition zu beginnen, so wird der Ang^buldigte noch sofort sum-
marisch Aber die Tat yemommen. Darauf folgt das Urteil auf Spezial-
inquisition und in dieser wird der Angeschuldigte zunächst zum
48
IL P0L2Ui
zwdten Male summarisch und dann über Artikel vernommen. Heil ist
demnadi scheinbar die Sache nicht recht klar gewesen. Br hat alleidiiigs
aebon eine anrnroariflche VemehmuDg des Angeachnldigten in der Gene-
ralinqaisition, behält aber anch eine solche noch für die Spenalin.
qnisition beL Einen Schritt weiter gehen die Nachfolger Heils, ffie
geben dieBrnnnemann sehe Ansicht^ das sammarische Verhör gehöre
znr Spesialinqnisition, anf, rechnen das sammarische Verhör vielmehr
zor Generalinqnisition; die Vemehmong des Angesobnldigten ala
Zengen in der Generalinquisition kann dann fortfiallen. Hierhin gehören :
Kemmerich: Synopsis jur. crim. Lib. III. Tit III § 5 (Jena 1731);
Saimiel Fr. Böhmer: Elem. jurispr. crim. (1733), sect I H 1^4» 105;
Ohr. Fr. G. Meister: Princip. jur. crim. |ft 569, 572;
Koch: Instit. jur. crim. §§ 776— 7S0;
Quistorp: Grunds, des peinl. Rechts ü09 , 666;
Claproth: Summarische Prozesse § 499;
Püttmann: Eleni. jur. crim. §§ 762, 808;
Kloin : Grunds, des peinl. Rechts § 55S.
Dali eine solche Verneliniunj; des An<:escliuldi^ten besser schon
in der Generalinquisition erfoI;:t. er^'ibt sich auch aus dem Zweck
derselben. Denn ohne Vernebmun^' des An^jeschuldi^^ten wird der
Jxicbter sich nie ein richtig'es Urteil darüber bilden können, ob die
Versetzung in den Anklairezustaod mit den ihr ei<rentümlichen drücken-
den Folgen ge^en jemand i'latz zu ;;reifen bat oder nicht. Eine solche
Vernelimung kann z.H. ergeben, ilaH die Tut nicht strafbar ist; oder
der Verdächtigte kann prozeßhindcrude Einreden vorbringen, sein
Alibi beweisen naw. nsw. Sehr oft wird der Richter anch dnreh
eine solche Vernehmung AnfklXrnng Uber die Sachlage bekommen;
jedenfalla kann die Vernehmung des Angeschuldigten in der General-
inliluisition dem Bichter hftnfig Handhaben bieten, die ihm eine größere
Sicherheit in der Vollendung des Untersuchungsplanes gewährleisten.
Mit dieser Vernehmung des Verdächtigen in der Generalnntersnchnng
ist der Grundsatz, den schon Daran tis u. a. aufstellten und den andi
Oarpzow noch vertritt, nämlich daß die Inquisitio generalis noch
nicht gegen den Täter selbst gerichtet sei, gebrochen, und die in-
quisitio generalis in ihrer nunmehrigen Gestalt mit Ver-
nehmung des Verdächtigen zeigt schon immer mehr
Ähnlichkeit mit unserer gerichtlichen Vorunteranchung.
— Mit dieser Änderung wurde der Grund zu der immer größer werden-
den Verwischung des Unterscliiedes zwischen Inquisitio generalis and
inquisitio specialis gelegt. Die fortsclireitende Entwicklung des Inquisi-
tionsprozesses zeigte das Bestreben, alle hindernden Fesseln su beseitigen.
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Di« geriditliohe Yomnteniidiiiiig.
48
Bald kam man zu der Annahme, in grerinpreren Strafsachen könne
auf die Generalinqnisition hin, in der ja nun diT An^reschuldi^rte schon
vernommen wurde, v'm Strafurteil res|). eine Freisprechung; erfol^^en.
Man wollte hierdurch hei den jrerin^eren Strafsachen die Spezialinqui-
sition mit ihren verhaßten Folf;en umdrehen. Diese Ansicht vertreten:
Sam. Fr. Böhmer: Elem. 8(i, 181 ; idem ad Carpz. CVII obs. 1;
Leyser: Meditat. Spec. DLX Nr. 14—17;
Koch: Inst §§ 712, 777;
Quistorp: Gmndsätze §005;
Nettelbladt: De sent. condemn. sine inqu. (Halle 1774);
ClaproÜi: Summar. Prozesse §§ 451, 452;
Klein: Gnmdaälie §§ 549, 55S;
a. a. das preußische Oesetz Tom 17. Oktober 1796 (abgedniokt in
Kleins Annalen Bd. XV S. 327). Naeh ihm soll bei Verbieehen, wo
die gesetzliebe Strafe 3 Jabr Gefingnis, Zudiibans oder Festongsbaft
nicht llbeisteigt, keine Spezialinquisition stattfinden. Bei Verbrechen,
die mit dner höheren Stefe bedroht nnd (doch nicht mehr als zehn
Jahre Znchtbans nsw.), soll ebenfalls kerne Spezialinquisition nötig
sein; am Ende der Generafinquisition soll dem Angeschnldigten aber
eine Speeles facti vorgelegt werden, über die er zu verhören ist
Nunmehr glaubte man auch auf die doppelte Vemehmunn; der
Zeugen verzichten zu könn^ und hielt deren summarische Vern^-
mung für genügend. Daraus ergibt sich für die Generalinquisition,
daß die Zeugen in ihr nunmehr eidlich vernommen werden, was früher
nicht der Fall war. Da sie ferner nur einmal vernommen werden,
muß diese Vernehmung auch mit gröberer Sorgfalt erfolgen.
(^»uistorp: (Irunds. § 61)7 Note a;
Ciaproth: Summ. Proz. 4^570;
Püttmann, elem. § bO.') und Klein, Grundsäf/.«' sj r)8:i halten nur
noch summarische Vernehninnir in der Generalin(|uisition für nötig,
während Koch Inst. § S'VS noeh unbedingt artikulierte Zeugenverneh-
mung in der Si)ezialin(|uisiti(>n verlangt. Böhmer, ad C. C. Art. 70
§ 1 fordert ebenfalls noch Artikel aulier in geringeren Sachen, wo
auf die Generalinquisition hin da^s Urteil gefällt werden könne.
So kam es, daß das artikulierte Verhör, welches den Beginn der
Inquisilio specialis ausmachte, immer mehr zmn Schlüsse des Ver-
fahrens gedfftngt wurde, so dafi die Spezialinquisition schließlich nur
noch die Bedeutung eines feierlichen Abschlusses des Frozemes hatte,
der bei geringeren Sachen überhaupt fortfallen konnte. Die General-
inquisition dagegen verlor durch diese Neuerungen immer mehr ihren
▼orbereiteoden Charakter, wurde vielmehr der Mittelpunkt des ganzen
AisUt rar KiinlBdantkniotaili» XIU. 4
60
IL PoLUH
Verfahrens. Die Wissenschaft, welche die Unterscheidung des Ver-
fahrens in Genend- und ►Spezialiniiuisition beibehalten wollte, sieh
andererseits aber auch wieder teilweise nach der Praxis zu richten
suchte, brachte noch mehr Verwirrung in den Prozeß hinein.
Einige KriminaliBten haben die Gaieralinqniaition in swei Tdie
zeriegt, nlmlieh in die Inqnisito generalis und in die neoentaiandene
Inqniflitio sammaria (Bummarisobes Verhör). Kaeh ihnen ist die in-
qnisitio generalis das vorbereitende Verfahren, aal welches hin der
Anklageanstand beschlossen wird. Die Inqnisitio sammaria ist dann
der eigentliche Prozeß, dem gegenttber die Inqnisitio specialis an
einer bloßen feierlichen Form in wichtigen Fällen heraheinkt Nach
der alten Einteilung ist nämlich diese Inqnisitio sammaria wieder
eine Spezialinquisition insofern, als sie gegen einen bestimmten Ver
dächtigen auf Ermittlung seiner Sebald oder Unschuld geht Zu dieser
Einteilong der Generalinquisition in zwei Teile bekennen sich:
Klein: Über den wesentlichen Unterschied zwischen General- und
Spezialinquisition im Archiv des Kriminaürechtes. 1 1. (1799)
S. 84, 85.
Feuerbach: Lehrbuch des peinl. Rechtes 18i>l ; ü24, 033.
Chr. Gottl. Hiencr: In notis ad Püttmanni elem. jur. crim. (lip-
siae 1S02) § 762.
er unterscheidet direkt eine liKjuisitio praeparatoriu (vorbereitendes
Verfahren t Inquisitio summaria eij^entliclie l'ntersuchunjLr' und inqni-
sitio specialis (feierlicher ►Seiilul')! des Prozesses. Dem selilalU sieh
auch A. Biener in seinen Beiträgen zur Geschichte des Inquisitions-
prozesses (S. 1 88 ff.) an. Er bezeichnet die drei Teile als Information,
Untersuchung und SchloßverCfthiea.
Ähnlich nntefscheidet anch Ahegg in seinem Lefarbnohe des
gemeinrechtlichen Kriminalpiosesses (S. 265). Diese Anf faasung eber
Dreiteilung teilt auch noch die Qsterreichiscbe Gesetzgebung von
1803 (s. Biener, Beitiige; S. 189 ff.). Den ersten Teil bildet £rfo^
Bchong des Verbrechens und der Anzeigen (§ 226 — ^280); sind ge-
nügende Verdachtsgrfinde vorhanden, so kommt es zur Verhaftong
nnd dem sammanschen Verhdr (§§ 281—306); das artikalierte Verhör
als Schloßverhandlung findet nur in wichtig^ Fällen statt
Diese Dreiteilung des Prozesses verwirft und widerlegt besonders:
A. Bauer in seinen Abhandlangen zum Straf recht, Bd. II, S. 243 ff.;
206 ff. ferner: Mittermaier, Handbuch des peinlichen Prozesses;
Eschenbach, Ausführliche Abhandlung von der Generalinquisition
(Schwerin 1795; Plitts Kepertorium II, Nr. 5) u. a. Die Zerlegung
der Inquisition in drei Teile, die sich zunächst auf gar keinen Grund
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Die geriehtiiolie VomiiteiaiiGhiuig
51
stützen kann, beruht auf der Annaliiiie, daß das suniniarisclie \'erliür
des Anj?escbuldi;^'teu niclit in die Inquisitio f^eneralis ^i;eh((re. Insofern
ist also ein ^Tober Rückschritt zu bemerken gegenüber der erfreu-
lichen Fortbil(iun^ der Lehre von der Inquisitio generalis durch
Böhmer, Claproth usw. (s. o. S. 4S). Rechnet man die summarische
Vernehniunj; nicht zur Generalinquisition, so würde ja der Ver-
dächtige, ohne vorher etwas ttber den gegen ihn berischenden Ver-
dacht zn hören und ohne sich irgendwie dagegen verteidigen zu
können, in den Ansehuldigungszustand mit seinen druckenden Folgen
▼ersetzt werden. Dies alles steht aber in direktem Widersprach mift
der Defensio pro aveitenda inqnisitione speciaii, die Carpzoy schon
anerkennt, da ja die Znlflssigkeit dieser Verteidigong beweist, daß
über den Verdfichtigen nicht ohne Vemehmung die SpesialinqnisitioB
▼erhSngt werde; denn ohne Kenntnis des entstandöien Verdachtes
ist eine Verteidigung völlig ausgeschlossen.
Neben dieser Teilung des Inqnisitionsprozesses in drei Teile sind
noch viele andere Trennungen versucht, deren ich im folgenden kurz
gedenken wilL Hagem eister (Erörterungen Uber General- und
Spezialinquisition, Berlin 1804, S. 45) sucht, wie vor ihm Nettel-
bladt (De sententia condemn. sine praevia inqu. spec, Halle 1774)
den Einteilungsgrund in der Form des Verfahrens. Der formelle
Unterschied soll darin besteben, dali in der Generalinquisition ein
summarisolios. in der Spezialinquisition ein f<»rmliclieres V^-rfalircn
mit feierlicher Beweisaufnahiiir stattfindet. Die Artikelform sol! also
den Unterschied zwischen (icneral- und Spezialinciuisitiun bilden.
Dagegen lältt sich sai^cn, dal) die Artikelforni nur etwas Zufälliges
ist; wenn diese aueb abgeschafft würdt-, bleibt der Unterschied zwi-
schen General- und Spezialinquisition dennoch bestehen \.ö. a. Bauer,
a. a. 0. S. 239 und 240).
Sievert (Archiv des Eriminalrechts Vs St Nr. 4), stellt drei
FVagen auf:
1. Die Firage um das Dasein «ner Tatsache als eines Ver-
brechens (Inquisitio generalissimaV
2. Die Inquisitio generalis beschSftigt sich mit der fVage, wer
die Tat begangen habe (Imputatio facti).
3. Die Inquisitio specialis hat die Frage zum Gegenstand, wie
die Tat diesem Täter zuzurechnen ist (Imputatio jurisj.
Heister, Prim.jur.crim. $395 unterscheidet zwischen formdler
und materieller Spezialinquisition; letztere ist vorhanden, wenn der
Prozef5 gegen eine bestimmte Peraon als wahrscheinlichen Urheber
gerichtet wird.
4*
58
IL Pounv
Kleinsclirod (Archiv des Kriminalrechts, Bd. III, St. I, S. 20 ff.),
setzt das Wesen der GemruliiKiuisition in Sammlung der Beweise.
In der Spezialinquisition sollen diese Beweise dann geprüft und gegen
eine beetimmte Person benutzt werden«
Eeeh'enbaeh (Atufahrliche Abhandlung von der Genenlinqni-
sition, Schwerin 1795), stellt als Definition der Qeneralinquisttion auf
flie omfMse alle Handlungen, wodurch der Bichler beetimme^ ob gegen
jemand die Spesialinquirition anzustellen eeL In dieser Definition
▼on Eschenbaoh ist allerdingB bloß der Zweck oder Tielmehr der
Hanptsweek der Genendinquisition ausgedruckt Im Übrigen aber
gebt dentftth aus dieser Definition hervor, daß Eschenbaoh das
Wesen der Geneialinquisition richtig erkannt hat, und diese seine
Definition hat zuerst wieder eine scharfe Grenze zwischen General-
und Spezialinquisition gezogen, die in der Praxis längst verwischt war
Im direkten Gegensatz zu Eschenbachs Vorschlag steht die
Meinung Dalberg;8 (Entwurf eines Oesetzbuches in Kriminalsacbeili
Teil I, Abschnitt VI, § 1), der die Teilung des Strafprozesses in
General- und Spezialinquisition ganz aufgeben will (8. darüber noch
Eschenbach a. a. 0. $ 8, der ihn widerlegt).
6, Dogmatische Darstellung der Generalinquisition (Voruntersuchung)
dea deutschen Inquisitionsprozesses. § 6.
I. Begriff und Notwendigkeit der Inquisitio generalis
des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses.
Alle oben erwälinten Ansichten über Betriff und Grenzen der
General- und 8[)ezialinquisition sind ohne jjrößere Bedeutung. Die
Grenze beider wird sofort klar erkennbar, wenn am Schluß der Ge-
neralinquisition ein Urteil über Zolässigkeit der Spezialinquisition er*
folgt, gegen welches dem Angeschuldigten die Defensio pro avertenda
inquisitione apedali zusteht Nach Oarpzow ist nach und nach
die flUiohe Form der Artikel, mit deren Vorlegung an den Angeklagten
die Spezialinquisition eröffnet wurde, fortgefollen. Oberhaupt wurde
die formelle Unterscheidung und die Grenzlinie zfrischen General-
und Spezialinquisition immer mehr Terwischt, so daß die Spesisl-
Inquisition, falls überhaupt eine solche abgehalten wurde, nur eine
feierliche Wiederholung der Generalinquisition wurde. Trotzdem
aber behftlt die Einteilung des Plozesses in die General- und in die
Spezialinquisition ihren Wert durch den materiellen Oharaktor und
die Richtung^ des Verfahrens.
Die Spezialinquisition hat den Zweck, den Beweis der Schuld
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Die geriebtHohe VofimteiMehinig.
6a
oder ÜDScbuld de^^ Angeklagten zu erbringeD. Damit dies eintreten
kann, ist eine Oeneralinquisition nötigi die ermitteln soll, ob Gnmd
vorhanden ist, um die Spezialinqnisition gegen eine bestimmte Person
wegen gewisser Verbrechen tn eröffnen. Die Notwendigkeit einer
solchen Generalinquisition ergibt sich femer aus den drückenden
Folgen, die dif Vi'rliängung der F^pezialinquisition über eine Person
mit sich bringt. Zunächst leidet der gute Kuf eines Mannes; durch
die mit der Spezialinquisition zusammenhängende Verhaftung wird
Ehre und Freiheit des hiervon Betroffenen geschmälert. Außerdem
ist eine natürliche Folge der Spezialinquisition auch die Suspension
gewisser Ehrenrechte; bei Beamten findet Suspension vom Amte wo-
möglich mit Entziehung des Oelialtes statt Alle diese Nachteile
zeigen, daß eine straf gerichtliche Verfolgung rechtlich begründet sein
muß. Um diese rechtliche Begründung herzustellen, ist die General-
inquisition da, die also immer stattzufinden hat.
Baner n. a. schalten vor der Generalinquisition eine sogenannte
Information ein als Inbegriff der Handlungen, welche auf Aos-
mittdong der Statthaftigkeit und aal Vorbereitung eines Unter-
snchnngsveifalirens abzwecken. Die GeBenlinqinsition ist dann der
Teil der Untennohiing, worin der Btehter das Dasein des Verbreehens
erforscht und die Beweise wider dne bestimmte Person aufsucht und
sammelt, um ein gegen diese einzuleitmdee förmliches Untersuchungs-
verfiahren zu begründen und vorzubereiten. Die flbliche Auffossnng
aber von der Goieralinquisition ohne voim^gehende Information*), ist
die von Mitter maier (Deutsches Strafverfahren: Heidelberg 1846^
IV. Aufl., Bd. n, S. 17) gegebene. Darnach ist die Voruntersuchung
(wie Mittermaier schon die Cleneralinquisition nennt), der Inbegriff
der gerichtlichen Handlung^ zur Prüfung der Bedingungen der Zu-
lässigkeit der Untersuchungi zur Ausmittelung des Tatbestandes eines
Verbrechens, zur Entdeckung von Verdachtsgründen, welche eine be-
stimmte Person als wahrscheinlichen Täter darstellen und Uberhaupt
zur Sammlung alles Stoffes, welcher die künftige Bweisfühning der
Hauptuntersuchung vorbereitet und dazu dient, um darüber urteilen
zu krtnnen. oh gegen eine des Verbrechens verdächtige Person die
Hauptuutersuchung (Spezialinquisition) eingeleitet werden soll.
1) Siehe Grolb. ÖeM. Edikt vom 12. April 1820. Art 22.
2) Wie ile Ctrmignani (Elem. jar. crim. vol. I. S. 229; Henke, Dantel-
Inng, § 290: Martin, Lehrbuch, §123; Hagomcistcr, Eröiienmgen, S. 62;
Grolmnnn § 533; Feuerbacb, Löhrbach, § 624; Ahegg, Lehrbach, S. 265
asw. U8W. teilen.
64
IL PoLsnr
II. \ eranlassungsgründe zur Voruatersachung.
Als VennlassangogrOnde est Vonuitenuchniig smd zn nennen:
1. Gemeinkündigkeit und Gerücht (Carolina Art 6, 16).
2 Ergreifung des Täters auf frischer Tat f Sachsenspiegel II,
Art. 35, 36; Bayer. Ges. 181 T. 11, § H8 usw.). Eine ausgedehnte
Wirkung hat dies Institut im französischen Rechte als Dt'Iit flagimnt
erhalten (code d'instr. crim., Art. 41; cf. 32,40, 46,61, 106 etc.).
3. Eigene Wahrnehmung des Richters war schon in früher Zeit
ein Anlali zum Einschreiten (s. Clarus, Sent. rec. § fin. qu. 8 § 5), sei
es nun, dali der Richter nur zufüUiiü!; odiT durch ahsichtliche Be-
ohaehtunf? von einem Verhreclien Kenntnis erhielt, wobei irrelevant
ist, ob der Richter in richterlicher Eigenschaft oder als Privatmann
das Verbrechen bemerkte.
4. Anzei^'e: Schon im kanonischen Keelite war die Anzeige
(Denuntiatio) ein Veraniassungsgrund zur Iii(4uisitio, besonders aber
wurde sie es, als an Stelle der unbequemen strengen Accusatio all-
mählich die Denuntiatio zunächst noch mit Beweispflicht des An-
zeigenden trat Aber diese Beweispflicht fiel allmählich fort, und so
wurde mit der Zeit im Inquisitionsprozesse jede unaufgefordert ge-
gebene Benachrichtigung, die sich auf Verilbung eines Verbrechens
bexog, als Vennlassnngsgrund zur üntefsachnng bebandelt Da der
Richter an die Anträge des Anzeigenden nicht gdbnnden ist^ Bondecn
selbst m benrteilen hat, was Ton der Anzeige sn halten ist, so kann
jedermann mit einer Anzeige auftreten. Ein wichtiges Erfoidemis für
die Anzeige ist die Kamensnennnng des Anzeigenden.
5. Klage des verletzten Teils und 6. Selbstaaklage kSnnen wohl
mit nnter den Begriff Anzeige gerechnet werden.
IIL Stellung des Untersuchungsrichters in der Vorunter-
suchung und Gang der Voruntersuchung.
Der Untersuchungsrichter vereinigt im deutschen Strafverfahren
drei Hullen: ai die des Beamten, der von Amts w<><ren im Xamen
des Stiiates jedes Verbrecheu verfolgt und die Vorgerichtstellung des
Täters bewirkt, b) die Rolle des l, ntt isucliun^sriehters, der allein
das ganze für das Hauptverfahren nötige Material herbeischaffen
muß^ c) die Rolle des Verteidigers des Angeschuldigten, insofern als
er während der Voruntersuchung nicht einseitig handeln, sondern
unparteiisch alle Entiastungsmomente ebenso genau prüfen soll wie
die Belastungsmomente. In dieser dreifachen Stellung nun hat der
Die geiiditiidie Voiantennehnng.
55
Untersuchunjrsrichter allo d» r Voruntersuchung: zukoniniendon Hand-
lunfxen vorzuneliuien, ülx r deren Reihenfolge sich wef;:en der Viel-
jiestaltiirkeit der versehiedenen Fälle nichts Bestimmtes sauren lälU.
In Betraclit kommen alle Handluniren, auf denen das nac}ifoli;end('
Urteil über die Zulässifrkeit der Verhäni^nnir der Spezialintiuisition
benihen nniR. Vor allem ist in der Voruntersuchung; I. der objektive
Tatbe.stand des Verbrechens herzustellen, d. h. es niult fest^jestellt
werden, ob sämtliche zum Bej^riffe eines Verbrechens g^ehörigen Merk-
male in dem einzelnen vorliegenden Falle enthalten sind. Das Ver-
fahren, welches zar Erreichung dieses Zweckes erfolgte, war iii
frahmr Zeit venohieden, je nachdem das Vertmolieii nmilich wahr*
nehmbare Spuren binterliefi (Deliela facti permanentiB) oder nicht
(Delicta focti tianaenntiB). Bei den Delicta Uxä permanent» war
unTenfigHch ein Angenschdn Tonunehmen eventnell unter Znnefauig
von SachTerBtftndigen>). Bei den Delicta facti transeontiB waren
sSmtliche Personen, von denen man iigendwie eine Anfklftrong über
das Verbrechen erhoffen Iconnte, sammarisch zn vernehmen. SpUerhin
hat man diese Untersdieidiittg aber angegeben Der Untersuchnngs-
richtor hatte nun nnr die Pflicht, auf alle mögliche Weise den Tat«
b^tandy woninter man damals besonders die äußerlich erkennbaren
Spuren nnd Wirkungen der strafbaren Handlung verstand , aufzu-
nehmen. Vornahme des Augenscheins ist in sein Ermessen gestellt,
falls nicht bei einzelnen Verbrechen spesiell die Vornahme vor-
geschrieben ist
2. Neben der Erforschung des Tatbestandes bat sieb der Unter-
suchungsrichter mit Auffindung und Sammlung der Beweise hin-
sichtlich der Täterschaft zu beschäftigen. Diese Bemühungen sind
auf Entdeckung von Verdachtsgründen gegen einen vorläufig noch
nicht bekannten Verbrecher gerichtet. Zu diesem Zwecke dienen Ver-
nehmung von Personen als Zeugen, die Aufscblub hinsichtlich des
Täters geben können, sodann Leumundserforschungen usw. Ergibt
sich nun aus solchen allgemeinen Nachforschungen nach der Person
des Täters ein genügender Verdacht gegen eine bestimmte Person,
so ist die Voruntersuchung nun gegen diese zu richten und es ofolgt:
3. Die summarische Vernehmung des Verdächtigen. Diese Ver-
nehmung soll dem Veidichtigen GelegenhMt bieten, sich zn recht-
fertigen und die gegen ihn vorliegenden Verdaohtsgrttnde zn wider-
legen. Andererseits wird die Vernehmung des VerdSchtigen sehr oft
Ii St> insbesoiidorc beim Mord, s. Cai'olina, Art. 147, 149; spfiter ausgcdobut
auf alle Delicta facti peimanentis.
2) Schon baycr. KriminalgeselBbach von 1751. IL T. Kap. IIL § 2. Nr. 6.
56
II. PoLZor
den Richter auf richtige Spuren führen und ihm einen besseren Über-
blick über den Fall verschaffen. Vor allem gewährt die Vernehmung
auch Stoff und Grundlage für das weitere Verfahren. Diese summa-
rische Vernehmung, worunter man sich nicht ein einziges Verhör,
sondern alle VeroehmuDgen des Verdächtigen denken maß, hat die
Erlangung eines Gesttndmises zum Endzweck, wie ja flberluiiipt das
ganze Yerfehien im InqnisitionsprozeS auf Erpressung resp. Eisehlei-
chmig eines Geettndnisses binaibeitet
4. Neben der Yemeboimig des Verdlobtigen ist die Zengenm-
nebmnng ein wiebtiger Teil der Vomntersncbnng. Was die Be-
eidigung der Zeogen in der Vomntersnobnng betrifft, so war in der
früberen Zeit, wo die Zeugen sowobl in der General- als aneb Spezial*
inqnisition Yemommen wurden, unbeeidigte Yetnebninng die Bcgeli
die nur verlassen wurde, wenn der Zeuge nidit mit der Sprache
heransrucken wollte (CarpzoT, Prax. quaest 114, No. 67; Quistorp,
f 664). Später als die Grenzen zwischen General- und Spezialinqui-
Bition verwischt wurden und das Hauptgewiebt des Verfahrens in
die Voruntersuchung gelegt wurde, begnügte man sich mit einmaliger
Vernehmung der Zeugen (s. o. S. 49) und diese fand dann natürlich
unter Eid statt. Die Oesetzj^ehnnEren aus dem 18. und Anfang
des 19. Jahrhunderts, die sich sämtlich an den Inquisitionsprozeß
angeschlossen haben, stellen die Beeidigung der Zeugen in der Vor-
untersuchung dem Ermessen des Richters anheim. Nach der ])reurji-
schen Kriniinalordnunfr von 1805 § 332 soll die Beeidigung nur er-
folgen, wenn die Zeugenaussage als Beweismittel benutzt wird. Die
badische Strafprozeßordnung von 1S45 § 155 schreibt die Beeidigung
der Zeugen vor bei Zweifeln an der Glaubwürdigkeit eines Zeugen.
5. Die Vernehmung des Verdächtigen und der Zeugen bilden
die Grundlage für die weitere Tätigkeit des Untersuch ungsrich-
teiB. Alle Angaben des Verdächtigen mttssen durch andere Be-
weise bekräftigt, alle Belastung»- und Entlastungsmomente mtssen
eiloiBebt und berfteksiehtigt werden. Zu dieser Tätigkeit stehen dem
Riehter zahlieicbe Zwangsmittel, wie Hanssuehung, Beschlagnahme
von Papieren, Urkunden usw. zur YerfllgQng.
6. Die Uberzeugong, daß die Hauptontonuebung fSr den An-
gesebuldiglen ron naebteiligen Fdgen begleitet sei, bat dazu geffthrt^
dem Angeeehuldigten zur Abwendung derselben ein Reohtsmittel zu
geben (Defensio pro averlenda inquisitione speeiali). Sehen OarpzoF
efwähnt sie.
Als man später die Bedeutnng von Vor- und Hauptnntefsncbung
verkannte, fiel sie vieUaoh fort (so in Preufien, Geselz von 1796 ;
Die geiiditlielie Vorantemidiiiiig.
57
Württemberg^, Baden und Österreich). In den Ländern, wo sie ge-
stattet ist, erhob sich über ihre Stellung im Verfahren, ob sie zur
General- oder Spezialinijuisition zu rechnen sei, ein großer Zwiespalt.
An und für sich gehört eine formelle Verteidigung pro avertenda
ioquisitione speciali Uberhaupt nicht in den Inquisitionsprozeij, da der
üntenoebungsrichtar ron vornherein TerpfliehCet ist, auch alle Ent-
lastungsmomente za berficksichtigen (Gafolina Alt 47). Damit ist eine
materidle Verteidigiing gegeben und die gehört natOrKob sebon snr
Genenüinqnintion. Die fonneUe Defensio pro avertenda inqniflitione
gpedali kann man aber wobl nicbt gnt noeb zur Genenlinqaiaitiön
rechnen (Escbenbaeb iLa). Dai Bichtigite wird 8ei% de mit dem
Urteil anf Eröffnung der Spesialinqnintion als Grenze swiroben General-
und Spesialinquisition anzusetzen. Carpaoy, Hittermaier u. a.
rechnen sie zur Generalinqnisition.
7. Hat der Untersuchungsrichter die oben erwähnten Handlungen,
die die gewöhnlichen Bestandteile der Generalinquisition bilden, vor-
genommen und sich Klarheit darttber verschafft, ob die Spezialinqni*
eition genügend vorbereitet ist, so schließt er die Voruntersuchung.
Hinaiebtlich der Frage, ob der Untersuchungsrichter selbst auf Eröff«
nung der Speziali nquisition erkennen soll, respektive ohne weiteres von
der General- zur Spezialinciuisition übergehen kann, oder ob eine Ver-
fügung des urteilenden Gerichtes hierzu nötig ist, ist die Gesetzgebung
wie auch die Wissenschaft im Zweifel. Der richtigen Ansicht und
Auffassung nach ist ein solches Erkenntnis des (ierichtes erforderlich
(siehe Bauer § 234; Mittermaier a. a. 0. § 136). Nach dieser
Ansicht muß der Untersuchungsrichter die Akten der Generalinquisition
an das Obergericht einsenden; dieses prüft dieselben und s[)rioht auf
Grund dieser sein Erkenntnis. Erforderlich ist ein solches P^rkenntnis
immer, wenn eine Defensio pro avertenda iuquisitione speciali einge-
reicht ist (darüber sind alle bedeutenden Rechtslehrer einig : Martin,
Grolmann, Heffter, Ahegg, Mttller, Henke usw.) und wenn
naeb der GeriehtsveifiaBnng einzelner LSader die Spezialinquiflition
dnem beeonderen Kriminalgericbte obliegt Ein zolebez Erkenntnia
kann lanten I. auf Ergänzung der Geneialinquiaition oder 2. auf einat-
weilige Aufbebnng respektive völlige Anfbebung der Unieisnehnng
und 3. anf Eröffnung der Speaialinquisition«
58
Ii. Pounir
IL Teil.
Die VomnterBiiehuDg von der Beform des Strafprozesses
am 1848 bis m Sirafprozefsordnnng für das Deutsche
Reich. §§ 7 -13.
A. 6Mchichtliclio Entwicklmm der gorichtlichen VoruntersudiiMg,
I 7.
CMbtMkn Im MiMgeB YflclUknM — ItofemTOffBeUlge — Tonaterraelnnf
tat AnunMiehMi ni mgllMheB Beehti
Wie schon oben (S. 481) erwihnti war im dentaehen InqniflitionB-
prozeß die Teilnng des Veifobrens in General- nnd Spesialinquisition
allmlhlich immer mehr verwiBcbt Die Notwendigkeit einer solchen
Trennung wurde aber Ton allen Bechtslebrem bewiesen, nnd Überall
wird das Fehlen dieser ünterschddnng als Gebrechen des deutschen
Kriminalprozesses gegdfielt (siehe 7or allem: Zachariae, Griwecben
und Reform des dentseben Strafverfahrens, Göttingen 1846, S. 123 ff.).
Viel mehr noch w urde aber geeifert gegen die schrankenlose Gewalt
des Inquirenten. Für Sklaven mochte ein Verfahren, wie es die
deutschen Richter betrieben, vielleicht passen, aber nicht für freie
Menschen. Die gänzliche Schutzlosigkeit des Angeschuldigten g^egenüber
dem Inquirenten war ein haltloser Zustand. Die Wünsche, die in
Deutschland seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts laut wurden,
deuteten fast alle auf ein öffentlich-mündliches Haupt verfahren nnt
Ankhigei)rinzip hin. Besonders wurde auch von vielen Seiten hin-
frewiesen auf eine Reform und zweckmäliij;e Anordnung der Vor-
untersuchung. Den richtigen Weg, den die Voruntersuchung
auch gegangen ist, hat Zachariae (a. a. 0. S. 221 ff.) gewiesen.
Er verlangt eine öffentliche, mündliche Hauptverhandlung und eine
Anklagebehörde. Für die Voruntersuchung ist nach seiner Ansicht
aber die Heimlichkeit und Schriftlichkeit des Verfahrens, verbunden
mit dem hKjuisitionsprinzip, die einzig brauchbare Form. Es dürfen
natürlich die unbegrenzte Macht des Untersuchungsrichters, die Er-
zwingung von Geständnissen, Ungehorsamsstnilen und sonstige An-
hängsel des Inquisitionsprozesses nicht mit ttbemommen werden.
Außerdem ist fflr dm Angeschuldigten eine Verteidigung notwendig,
die nach Zachariaes Ansicht so weit gehen muß, daß die Waffen
der Anklage nnd Yerteidignng gleich sein mfissen (a^ a. 0. S. 278).
Den SchQpfem solcher Beformvorschläge, denen gegenüber die Ge-
setzgebung sich zunächst ablehnend verliielt, schwebte hierbei das
französische Strafverfahren vor Augen.
Die geriditlidie Vomnteniichiiog.
69
I. Das französische Recht konnte Dciitscliland zum Vorbild
dienen, da Frankreich ebenso wie Deutschland den Inqnisitionsprozeli
mit schriftlicher, geheimer Untersuchung besaß, sich aber zur Zeit der
Revolution davon losiremacht hatte. Vor der Revolution war in
Frankreich das X'tTfahren in zwei Abschnitte preteilt, deren erster die
lufonnation war, der deutschen Generalin«|ui8ition verfrleiclibar. auf
welche liin ein richterliches Dekret erfoljrte, welches die KinUMtung
der llauptuntersuchung gegen den Beschuldigten verfügte. Ciiarak-
teristisch für die Strenge war die Stellung des Angeklagten im
Strafverfahren. Zu Beginn der Untersuchung muHte der Angeklagte
schwören, die reine Wahrheit sagen zu wollen. Eine Verteidigung
des Angeschuldigten war ausgeschlossen. Die Anklage stellte ent-
weder eine Zivilpartei oder die Staatsanwaltschaft. Stellte die letz-
tere keine Anklage^ so war auch dem Richter die Eröffnung einer
Unt^nehung von Amte wegen ermSglicht naeh dem Grandmise:
tont juge est officier dn ministöre pnblie. Den Wert der Vonmter-
Buchung preist Tor allem Hölie'): „Wohl geleitet achfitit sie die
Rechte der Btirger vor nnfiberlegten Schritten; sie bereitet das Urteil
Tor und nchert die Richtigkeit desselben. Auf ihre natürliche Mission
beschrSnkt, ist sie ein unentbehrliches Prozeßglied; sie ist das frncht-
bringendste VermSchtnis der Gesetzgebung des fflnfzehnten Jahr-
hunderts an die Gegenwart"
Zur Zeit der Revolution fand in Frankreich eine tiefgebende
Reform des Kriminalprozesses statt. Der wesentliche Fortschritt dieser
Gesetzgebung war, daß mit den Vorteilen des geheimen schriftlichen
Inquisitionsprozesses der Schlitz der persönlichen Freiheit gesichert
wurde. Für die Ilauptverhandlung wurden die (Grundsätze der
Mündlichkeit und Öffentlichkeit mit kontradiktorischem Verfahren ein-
geführt-). Der Prozeß zerfiel in drei Teile: der erste entsprach der
früheren schriftlichen Information; der zweite prüfte die .Matenalien
der Information und sjirach die Versetzung in den Anklagezustand
aus. Der dritte lH'>tan(l in einer vollständigen Verhandlung, für welche
die Trinzipien der Ulf entlieh keit und Mündlichkeit des Verfahrens
maligeltend waren.
Die Information, die uns hier hauptsächlich interessiert; tritt ein
1) Holtsendorfr, Handbodi des Stn^woMeses. l.Bd. S. 12.
1) Dnreh ein Dekret von 1789 wurde Midi fBr die Vorantanaehiuig ein
öffontlieh-mttndlichcs , teilweise kontradiktorisches Verfalircn eingeführt ; bereits
1791 al)or wurtU' dicsi Verfahren wio<lcr durch die schriftliclio itHiuisit(»ris( he In-
formation ersetzt, da das uiündliche Verfahren zu viel Kulluäiuuuu bciilrcbten
lief. Vgl. Benedict in den Mittelinngen der knltnipoHtlsoben GeaeUscfaaft 1902.
60
n. Poum
auf einen Antrag; der Staatsanwaltschaft Dies Moment untorschi'idet
die Infornjation von der jremeinrechtlichen Generalinquisition. Hat sich
das r!cricht aber einmal mit der Sache befaßt, so hat es auch die
weitere Verfüf?;unp: über die .Saclie in Händen. Von diesem Antrag der
Staatsanwaltschaft auf Eröffnung,' der Information abfresehen, wird die
Information vom Inquisitionsprinzipe beherrscht, g:enau wie die (ieneral-
inquisition. Aber das vorteilhafte der französischen Information ist, daß
sie stets ein untergeordneter Teil des Verfahrens blieb, während die
deutsche Generalinquisition nacli und nach der Mittelpunkt des Prozesses
wurde, demgegenüber die Speziaiinciuisition zu einer wesenlosen Form
und Wiederholung herabsank, eventuell sogar in Wegfall kam. Außerdem
«DterBcheidel tich die Information von der Generalinqniäl»»! dadmehy
daft sie nicht in allen FUlen stattfinden muß, während dies yon
der dentochen GenefElinqnisition ron der herrBchenden Meinung mil
Beefat (Mittermeier xu a.) behanptet wird. In Itekreich ist
nftmlieh daa Yerfahien verBehiedea, je nachdem es sich um eine
Obeitretang, ein Vergehen oder ein Verbrechen handelt:
1. In den flllen der Übertretung findet keine Information statt
Der Fall wird sofort vor dem Polizeistra|gericht abgeurteilt
2. In den Fällen, wo es sich um Vergehen handelt, kann eine
Information stattfinden, ist aber nicht erforderlich. Die Staatsanwalt*
Schaft entscheidet darüber je nach Lage des einsefaien Falles» ob eine
Information stattfinden soll oder nicht
3. Bei Verbrechen ist die Information und eine richterliche £ut>
Scheidung über Versetzung in den Anklagezustand obligatorisch. Am
Schlüsse der Information kommen die Akten an die Staatsanwalt-
schaft und durch diese an die Ratskammer, welche darüber ent-
scheidet, ob die Information zu erg<Hnzen ist, und den Fall dann an
die Anklagekammer übenveist. Diese entscheidet dann über die Ver-
setzung in den Anklagezustand.
Eine von den wenigen Veränderungen, die dieses französische
Verfahren im 19. Jahrhundert erlitt, ist die Aufhebung der eben-
erwähnten Batskammer durch Gesetz vom 17. Juli 1856*). Femer
1) Die Befugnisse der Ratekammer waren folgende: 1. Übte sie eine Kon-
U'oilc über die Information aas; der Untersuchungärichter mui>te z. B. einmal
wOchcntttcfa Aber den StMid denelbcn Bericht «ntatteo. 2. Hatte sie Aber die
Venreiimig vor daa Zoch^olizeigeildit so entscheiden. Bei Veibneheii hatte
sie schlieJ^lich die oben erwähnte Vorpriifnng uhcr die Informatiim vorzunehmen.
Diese Befugnisse der Ratskiinimcr Clingen dun li d:i> (xesotz von IböG zum Teil
an den Uutereuchungsricliter, zum Teil an die ^Vnklagekummer über. Über die
Zwaekmlfigkait der Anfhebaog der Batakanner, die auch fBr DenlMUaiid maf-
Die geriditüdie Vonmlenadiiiiig.
«1
ist noch zu erwähnen das wichtige Gesetz vom S. Dezember 1897;
( Journal officiel de la ßepubli<iue francaise Xo. 335). Es bestimmt,
(lal^ der Unter^uchunfrsrichter nicht bei der Urteilsfälhing über Strat-
sa^heu teilnehmen darf, in denen er eine Vonintersuchungshandlun^'
vorgenommen hat Ferner gewährt dies Gesetz auch dem verhafteten
Angesehuhligten vollkommen freien Verkehr mit seinem Verteidiger,
der niitigenfalls von Amts wegen zu bestellen ist. Die Rechte dieses
Verteidigers werden sehr erweitert Ihm ist der Zutritt zu allen lland-
Imigen der Voruntersuchung , insbesondere zu den Verhören des An-
geschuldigten, gestattet Die Tätigkeit des Verteidigers ist aber auf
Btnmmea ZuhOreE beBobiSnkt; von Amts wegen ist er ron diesen Ver-
hören mindeatens 24 Stunden vorher in Kenntnis in setzen nnd hat
vorher das Beeht der Akteneinsiebt Ebenso wie dem Verteidiger ist
anoh dem Staatsanwälte Gegenwart bei aUen Akten der Vomnter-
snohnng gestattet 0*
IL Neben dem franzSsisehen Strafvei&hren kam in Dentsohland
aneh das englisehe Verfahren in Betraeht, was ja bei dem all-
gemeinen Verlangen nach einem Anklageprozeß ganz natürlich war.
Das engliscbe Strafverfahren beruhte aiüf dem reinen Anklageprinzipe.
Ebenso wie im römischen und älteren deutsclMni Strafverfahren
wird nur auf eine förmliche Anklage ein Strafverfahren eingeleitet.
Die Erhebung einer solchen Anklage erfolgt von staatlich angestell-
ten Beamten (dem Attorney General und dem Solicitor General) nur
in Prozessen von sj^ezifisch-politischer Bedeiitnn«:. In den meisten
Fällen dagegen werden die Anklai'en von Privailt'uten, die allerdintrs
nicht in eigenem Namen auftreten, sondern in dem der Krone, erlioben.
Dem Privatankläger obliegt auch die Sammlung der Beweismittel,
wobei ihn die I\)lizei unterstützt. Während aber im älteren deutschen
und im rrunisclKn Kecht noch keine Trennung des Verfahrens in
Vor- und üauptverfahren stattfand, ist diese Trennung im englischem
Ki'chte vorhanden. Diese Voruntersuchung des englischen
Rechts besitzt aber einen durchaus andern Charakter als
die Vornntersuchung des deutschen Inquisitionsprozesses
gebend wurde, liat man viel ^pstritton. Mittemiai er. Im Gcrichti^saal, 18.57,
Abt. l. S. 8lff. äphcbt sich entschieden für Beibehaltung der Katekammer aus»
ebiiiioWaUlier, ebenda. Abt. II. 8.200fr., wihraad Triett fai HoltnodorffiR
Stnfreditiultniig, 1801, Sp. 89, f fir Aafhebmig der Ratakammer plidiert nnd die
doppelte Prüfung der Akten der Infoimslion bei Verbreeben tadelt (b. bierfiber
noch untt n, S. S4ff.).
1) Über die Erfahrungen, die man mit diesem Gesetze in Fraukrcicli gemacht
hat, vgL Cnrtlne in Zeitiehr. f. gee. bt.B.W. 23. Bd. S. III. Fecner: unten
B.107f.
62
II. Poumi
oder des französischen Strafprozesses. Der wesentlicbste
Unterschied besteht darin, daß die englische Voruntersuchung kein
wesentlicher Bestandteil des Strafprozesses ist Vielmehr kann der
Anklfiger ohne Torberige Vonuitieniiehiuig sofort die Anklage vor der
großen Jniy erheben nnd andererseits kann der Beschuldigte jegliehe
Aussage in der Vornntersnchung Terweigem und Eiöffiiung des Haupt-
▼eifahrens Terlangen. Findet aber eine Vonmtonuofaung statt, so
bringt der Anklfiger wm gesammeltes Anklagematerial in einer öffent-
lichen, mündlichen, kontcadiktorisehen Veriiandlung vor. Den Beginn
der Voruntersnohung bildet also nicht, wie in Deutschland nnd Frank-
reich, eine Vernehmung des Angeschuldigten, sondern der Anklfiger
und die Belastungszeugen werden gehört und zwar in Gegenwart des
Angeschuldigten. Nach dieser Vernehmung werden dem Angeschul-
digten sfimtliche Aussagen yorgelesen, sodann wird er befragt, ob er
etwas zu erwidern habe auf diese Anschuldigungen. Er ist nun nicht
ver]>flichtet zu irgendwelchen Aussagen. Im Gegenteil ist er vom
Kiehter darauf aufmerksam zu machen, daß er nicht die Pflicht habe^
etwas zu erklären; falls er aber etwas sage, werde es als Beweis-
mittel gegen ihn benutzt werden. Der Angeschuldigte kann nun,
wenn er sich ül)erhaupt auf d'w Vi'rhandlung einlassen will, mit den
Zeugen Kreuz\ t rliiire anstellen und die gegen ihn vorgebrachten Be-
schuldigungen widerlegen, kann sich dabei auch eines Verteidigers
bedienen, der ihm von Beginn des Verfahrens an in der Regel gestattet
wird. Ein \'eriiör des Augeschuldigten wie im deutsciien intjuisitions-
prozesse iht dem englischen Strafverfahren gänzlich unbekannt. Aus
dieser Art des Verfahrens in der Voruntersuchung erhelit schon, daß
es gar nicht Zweck der englischen Vornntersnchung tstj Beweismittel
zu sammeln, um sich Aufklfirung zu "vtaewAmßea ftber die Schuld oder
Unschuld des Angeschuldigten, sondern ihr Zweck is^ auf Grund der
▼om Anklfiger und Angeschuldigten Torgebnusht^ Bewasmittd fest-
- zustellen, ob beide Parteien zum Erscheinen in dw Hauptverhandlung
anzuhalten sind und besonden, ob der Angeschuldigte bis dahin auf
freiem Fuße, eventuell gegen Sicherheitsleistung^ verbleiben soll oder
in Haft zu nehmen ist Die Festetellung dieser Maßnahmen ist die
Tfitigkeit des Bichters in der Vorunteisnchnng. Die Sammlung des
Beweismaterials, die den Hauptinhalt der Voruntersuchung in Deutsch-
land und die nau]>ttätigkeit des deutschen Untersuchungsrichters bilden,
geschieht völlig außerhalb des staatlichen Strafverfahrens und ist nicht
Sache des Kichters der Vornntersnchung. Ein weiterer Unterschied
der englischen Voruntersuchung gegenüber der Voruntersuchung des
deutschen Inquisitionsprozesses liegt darm, daß die in der Vorunter>
Die gMiehtUdie Yonintenadiiuig.
63
suchnng geführten Akten nicht die GraDdlage für die UrteiUfälliiDg
bilden; vielmehr ist für die l^teilsfällung nur maßgebend, was in der
öffentlicb-mündliehen Ilauptverhandlun^ unmittelbar vorg;ebracht wird.
Schließlicli ist noch darauf hinzuweisen, dal5 die Voruntersuchun": des
englischen liechts sich durch ihre Kürze auszeichnet. Gewöhnlich ist
nur ein Termin erforderlich. Sollte ausnahmsweise der Ankläger oder
der Anirescluildigte noch weitere Beweismittel angeben, so wird die
Verhandlung auf höchstens acht Tage vertagt Den Schiuli der eng-
lischen Voruntersuchung bildet die Erklärung des Richters, dali der
Beschuldigte auHer Verfolgung zu setzen sei idisciiarge) oder dalS
er vor das Schwurgericht zur Hauptverhandlung gestellt werde (coni-
mited for trial). Aus der ganzen Art dieses Verfahrens erhellt schon,
dal) es weniger eine Voruntersuchung ist, als vielmehr eine Beschluli-
faäsung Uber die Eröffnung des Hauptverfahrens, die von den Prin-
zipien der llfindlichkeit und Öffentlichkeit beherrscht wird.
§8.
laierof des Ch«nklen ier getMitliehMi Tmnnrtefmiehuf In mtmm Ver-
AdvoL — StMitMUlvndtliekes EndtthugBiwflriureB oni feriehtlldieTamter-
saehvif.
Im Jahre 1845 entstand in Dentschland noch eine Stnlprozeß-
ordniug für Baden, die hinsichtlich der Voruntenachung sieh eng
an den Inquisitionsprozeß anschließt. Hier herrscht noch die irrige
Auffassung von dem Verhältnis der Verhandlung vor den urteilenden
Bichtem zur Voruntersuchung. So spricht der Titel XVII, Art. 224 ff.
von einer „Schlußverbandlung^. Nach $ 296 soll sich der Richter in
der Vornntersucbung in die Lage der urteilenden Richter versetzen
und fragen, ob diese nach den Beweisregeln alle Tatsachen der An-
schuldigung für erwiesen halten werden. Dadurch wird die Vorunter-
suchung verzögert, und die eigentliche Ilauptuntersuchung ist nur eine
Wiederholung der ersteren. (Den neuen Anforderungen sucht diese
St. P.O. gereciit zu werden durch Einfiilirung der Staatsanwaltschaft
und einer öffentlich-mündlichen SclilulU erhandlung. Ahnliche Neue-
rungen weist auch die St. P.O. für Württemberg von ls4;] auf.)
Diesen Milistäudeii, die in ganz Deutschland damals herrschten,
wurde ein P^nde bereitet durch die Neuordnung des Strafver-
fahrens in Deutschland seit dem Jahre 1848. Der im vorigen
Paragraphen (unter I) geschilderte französische Strafprozel» wurde nach
Deutschland übernonimcn. Bald nach lS4b gelangten trotz der grolien
Mannigfaltigkeit der legislativen Verhältnisse doch auf dem weitaus
größten Gebiete Dentschhmds dieselben GmndsStze inr Geltung. Eine
64
n. Pount
St.P.O. diente der andern zum Vorbild. Die badische St. P.O. wirkte
auf die tbüringiscbe und dieae wieder auf die Österreich iscbe. Der
preußische Entwurf einer St.P.O. von 1S51, der allerdings nur ge-
ring:e Bedeutung hatte gegenüber der Verordnung vom 3. Januar 1S49
und durch ein Gesetz von 1852 überflüssig wurde, diente dem
preuliischen Entwurf von 1865 zum Vorbild. Dieser Entwurf war
daun maßgebend für die St. P.O. von Oldenburg, Bremen, Lübeck,
Baden. PienßeD und Bayern .waren die einzigen Liuider, die keine em-
heitliehe St P.O. hatten; hier waren nur AbinctentngsgesetKe des be> •
stehenden Bechtee erlassen ■). Kein Strafv^rbihren mit Mflndliehkeit
und öffenitichkeil^ Staatsanwalt nnd Anklagephnzip haben eingefflihit
MecUenbnrg und Lippe.
Die Bedentnng der gerichtlichen Voruntersuchnng
ist in dem Verfahren seit 1848 allerdings eine gans andere
geworden als im deutschen Inqnisitionsprosesse. In diesem
hatte der Untersuchnngsrichter, ein einzelner Beamter, die Sparen der
Verbreeben zu ermitteln; einen eines Verbrechens Verdächtigen zieht
er vor Gericht, verhaftet ihn und prüft alle belastenden wie eot-
lafitenden Momente und Ijüit sebliefilich den Verdächtigen frei, wenn
die Gründe der Verfolgung in sich zusammenfallen oder aber zieht
ihn vor das Richterkollegium, welches dann nur auf Grund der Akten
der Voruntersuchung, ohne sich sonst mit der Sache weiter zu befassen,
sein T'rteil spricht. Also die Akten der Voruntersuchung bildeten die
entsciieuiende (irundlage für das Urteil des Richterkollegiums. Im
reformierten Strafprozel) da^a^gen wird das Urteil gefällt nur auf
Grundlage der inündliclien Uauptverhandlung. Akten der Vorunter-
suchung werden nur in Ausnahmefällen herangezogen. Die Vorunter-
suchung hat deshalb im neuen Strafverfahren nur die Aufgabe, die
Uauptverhandlung vorzubereiten, so daß diese ohne erhebliche Uuter-
1) So in Preulieu die Vcrurdiiung v. 3. Jau. ISAii. Diese gibt ciageheode
Vondiriftm (Iber IMlUinmg der Staatsanwaltschaft und ihren amtlichen Wirkung»-
krab (Abecfanittl), Uber das Strafverfahren auf Grand der Priiiii|iifln der te«n^
liebkeit und Mündlichkeit; hieran schließen sich dann ausführfidlio BartunaniBgai
über Einrichtung von Schwurgerichten, RechtsniitteU erfahren usw. So war auch
in Preui^n, wie diese kuize Inhalttuuigabe zeigt, eine den Kefonuwünschen
genugende laderuug dea StnifverfidireDB goeohaffen. Die neben dieeer Veroid»
nnng in Kiaft bleibende KrimiiialordniiDg too 1805 liatte dareh aie den gHMkea
Teil ihrer Bedeutung verloren: insbesondere ist dieft der Fall hinaiditlieh der
Hauptverhandlung Aber auch <lie ^^>l■<( luiften über die Voruntersuchung, soweit
aie neben der Verordnung von lb4ü bestehen bleiben, haben nur noch die Be-
deotmig einer lintraktion fOr ühtenaohiingBrichter. Vgl. Opponhoff , Die
pnnfi. Qeaelae Aber Verfahren in Stnfaaoben. Vonede. B. &
d by Google
Die gerichlUdM Vonrntennchiiag.
66
brechunp:en durchgeführt werden kann. Sodann aber besteht eine
Veränderung des Charakters der VonintersuchuDg darin, da(^ dem
l'ntersuchungsrichter die Funktion des Anklägers irenoninien und diese
einem besonderen Heaniten, dem Staatsanwalt, ül)ertragen ist, weil der
Richter unparteiisch sein soll; unter Vereinigung der Rollen dos An-
klägers und UntersuchungsriclittTs in einer Person aber immer die
Unparteilichkeit leiden wird. Dem Staatsanwalt liegt daher die Pflicht
ob, Verbrechen aufzuspüren und zu verfolgen: er hat auch die Al>-
haltung einer gerichtlichen Voruntersuchung beim Gerichte zu bean-
tragen.') Ausgenommen sind unaufschiebbare Ermittelungen, Sicher-
beitsmafiregeln, die Verdunkelung der Sachlage verhüten sollen; diese
kann das Gerieht ron Amts wegen Tornehmen. Bei der Emriehtong
der VornDtersuchung nacb den neuen Piozeßgnmdslllmi konnte das
Verfahren in der Vomnteranchnng nicht in allen Einaelheiten ans
Frankreich direkt übernommen werden. In IVankreich war nftmlich
die VomntennchnDg Aufgabe der gerichttichen Polizei, an der auch
der CnterBachnngBiicbter gehOrt (code d'instr. erim. Art 9.) Ihre Auf-
gabe besteht in folgendem: (code Art. 8) ,,eUe recherche les crimes,
les d61il8 et les oontraTentionsy en lassemble les ineuves et en liyre les
auteuTS aux tribunaux". Die deutsche Gesetzgebung kennt eine solche
gerichtliche Polizei zum Teil nicht In diesen Ländern ist der Staats-
anwalt der Polizei übergeordm t; sie muß den Aufträgen des Staats-
anwaltes Folge leisten, ihn bei Erforschung von Verbrechen oder ihren
Tätern unterstützen, wobei jedoch die Selbständigkeit als Behörde
der Polizei nicht genommen wird. Andere Länder kennen zwar eine
gericlitliche PolizeiVi. Hier ist aber der Untersuchungsrichter nicht
Mitglied derselben. Insofern stimmt die französische VoruntersuchuDg
1) Preuß. Vcronln. 1S49. §§ 1,2; Hannoverscher Entwurf §§ ,SS. 41, J2, 14, 57.
(Die Erlit'buiifj: der durch jede l'liertrotuiij; der Srnift.M'rsctzc begrüiidoten öffent-
lichen Kla^i^e steht in ihi-cm ganzen Umfau^^e dem Staatsanwälte zu (§ 87); er soll
jeder straibaren Handlung nachfurschen ($ 54i]; Brauuscbweig § 1, 3, 31 ff.;
Thflringen Art 4, 74; Altnobnig | 52;' Entwarf für HdnlDgen §§ 10, 86; Sachsen
§§36,20, 10'.», 11.5; Kurhessen, Gesetz v. 184^, §§2, 15.S, Gesetz v. 1S51, §24.
2) Eiit-ipri'iheiid dem Code d'instr.crhii. Art. 4*5, 49,50^ 59. Huden Art.51,54;
Preut'cn Veroidu. v. Ib4 § ü; Brauascbwei^ Art. b; Kurheä». &>LP.O. § 144, 145,
Entwurf für Meioiugen Art. S6.
8) Prenfen §§ 4, 7, Goeetz 12. Febr. 1860; Bayern, Ootete v. 1S48, Art 38;
Kurhe«sen, Gesetz v. 1S4S, $ 142, G.V G. §72; Thüringen, Art 4C, 30,91, III, 120,
I46f., 152; Altenbur^, Art. 2(», 126, 132; Oldenburg. Art. 26, 32, 65 ff.
4) Braunschweig, St. l'.U. § 23, 25, Gesetz v. 19. März lS5ü § 4; Sachsen, Art.
75 ff., 134; Art. 79 vgl. mit b3 u. 1U9; Hannover, 19, 53, 55, 58, 1U3. (G. V.6.
§ 52 bezeicbnet Staatsanwalt als Mitglied der gerichtlidien PoUzeL)
AnhlT Ol Crialiiluttanpoloito. XUL 5
60
IL Pou»
mit der ili iit.^clien mvht iilicreio. Im übrigen sind die BeätiiumaDgen
aber zii'iiilicli dio jrleiclii-n.
Die Stautfjanwaltschaft, die, wie oben iresagt, alle Verhrerlien zu
verfolj;en hat, iiiiil't eine Untersuchung anstellen, die den Zwt'ck hat,
den Straffall aufzukUiren, um erniestsen zu können, ob sie eine An-
klage stellen soll oder nicht IlierfUr sind zwei Wege denkbar:
1. Der Staatsanwalt als Ankläger leitet die Erforschungen selb-
ständig mit HUfe der ihm untentoheodeD Poliin. Aach die Gefiehte
mtbnen naeh den Vonehrifleii der einselnen L&ider den Antiigen des
Staataanwalts Folge leisten.
2. Der Staatsanwalt beantragt bek Geriebt die Vornahme einer
Vonmtennebnng; in diesem Falle verfolgt das Gericht dann den Fall
Yon Amts wegen. Also sind swei Arten einer Vornntersnehnng denk-
bar. Die erste, die in den Binden des Staatsanwalts ruht, ist das
Btaatsanwaltliclie Emuttlnngsverfabren; die zweite Art dagegen ist
die gericbtliebe Voruntersuch nng. Zwischen diesen beiden
Formen die Wahl zu treffen, lie^ dem Staatsanwälte ob; nicht immer
aber steht ihm die Wahl zwischen beiden frei. Die Gesetze in Deutsch-
land haben hier ihrem französischen Vorbild entsprechend Beeohrän-
kungen eingeführt.
1. Bei Vergehen der untersten Ordnung (Übertretungen) findet
keine gerichtliche Vonintersnchunt:^ statt;
•>. bei scliweren Verbrechen niuli sie stattfinden'). Diese Vor-
scliriften graben nun Anlali zu f^rolien Streiti^^keiten, Die einen hielten
an der NotwendiL^keit der p:erichtliclien Voruntersuchung in allen
Fällen (resp. in sclnvierif^eren Fällen j fest, fanden obifre Vorschriften
also zu weitgehend; den andern erschienen diese Vorschriften nicht
weitgehend {renn«?. Ihre Devise war: „Hinweg? mit der gerichtlichen
Voruntersuchung I" Die nähere Erürterung dieser Streitfrage und ihre
Regelung in den Gesetzgebungen dieser Periode möge uns im nächsten
Paragraphen beschäftigen.
§ 9.
Streit iber die Notweadlgkelt «hier feriehtlieliea Yomntersttdiaaf .
I. Bestrebungen, die gerichtliche Voruntersuchung ab-
zuschaffen.
1. Geib (Reform des deutschen Bechtslebens S. 104 ff.) ist der
erste Vertreter der Ansicht, daß die gerichtliche Voruntennchnng
1) S. i'ioul cu, VerorUa. li>4y §§ 4*2, "5; Reskript v. 3. September 1849 § 2;
BmanNcfaweig, § 33; KmmI, Geeets t.91. Oht. 1848 ff 148->150, vgL 199fL:
Thfliingen, Art 6, 845, Gesets r. 9. Desbr. 1854 f 3.
d by Google
Die geriditliclie Vonrnteoadiniig.
67
fallen uniW. Er verwirft die Anstellunir von Untersucliung:sriclitern
und wünsclit eine Vonintersuchunfj:, die der Staatsanwalt fülirt. Sollten
Handlungen in der Voruntersucbunjr notier sein, /ii deren Vornahme
Mitwirkung: des Gerichtes erforderlich ist, so ist das (Bericht verpflichtet,
einen« diesbezüglichen Antrag' des Staatsanwalts Folge zu leisten.
2. Der nächste erwähnenswerte Vertreter dieser Anschauung ist
Brauer (Justizministerialrat in Karlsruhe'}). Brauer geht vom An-
klageprinzip aus und hält die in Deutechiand bisher übliche Vorunter-
saefaung mit diesem Prinnpe für uiTeraiibar; deshalb muß die ge-
riebtliche Voumtennichiuig fallen. Im übrigen achliefit er flidi an
Geib an, geht aber noch weiter ab diesv insofern^ als er als die
einzige Aufgabe der Vomntersnehnng die selbsOndige Sammlung der
Anscbnldignngsbeweise durch den Ankliger (Staatsanwalt) betrachtet
(1 2). Wie aneb Geib Torschligt, soll zu gewissen Haadlnngen Mit-
wirkung «nes Amtsricbters nOtig sein<> Dör Angeschuldigte soll
genau wie in England Kenntnis Ton den gegeo ihn vorliegenden
Verdacbtsgründen bekommen und Gelegenheit erhalten, sich seine
Gegenbeweise zu sammehi. Verkehrt ist es, zwischen diese beiden
Parteien einen notwendig- parteiischen (V) Untersuch ungsriehter zu
setzen (§2). Denn einmal ist ihm die Aufgabe des Anklagens ge-
nommen und dem Staatsanwalt übertragen, sodann bestand die Tätig-
keit des Untersuchungsrichters besonders im Vernehmen des Ange*
Kchuldi^'^ten. Diese Vernehmung des Angeschuldigten in der Vorunter-
suchung uhir hält Brauer für völlig überflüssig, da sie nur auf Er-
wirkung respektive P>[)ressung eines (ieständnisses hinzielt. Ein solches
Verfahren aber widers|)richt seiner Ansieht nach völlig dem Anklage-
prinzip. Die dritte Aufgabe des Untersuchungsrichters war die ^^orge
für die Verteidigung des Angeschuldigten in der Voruntersucliung.
Brauer ist der Ansicht, dali es uiit der lieaolitung der Entlastungs-
momente durch den Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung
ziemlich schlecht bestellt sei und meint, der Angeschuldigte könne
selbst viel besser für seine Verteidigung sorgen. Die übrigen Ge-
schäfte, die der Untmichungsrichter zu besorgen hat, hält Brauer
nicht für so wichtig, daß zu ihnen — da sie doch gewöhnliob nur
die Ausnahme yon der Regel darstellen — ein besonderer ünter-
snebnngBri<^ter erforderlich sei. Diese schon oboi erwähnten Haad-
1) Aiisfülirlichc Abbaadlungen von in §§ ^Vonintcrsuchung auf Gnmdhige
des Auklaj;e])nu/.i|)s~ im (icricbtssaai. 1^49. Abt. iL S. 321 ff.
2) Brauer bat diese Fälle eiuzeln aufgef&hrt (§ 3): a) Einnahme dee
AugcMehfliiu, b) Veriialtaiig des AngeschnhligtHi , o) Haniwiiffhiiiig, Beachlag-
uhme» d) ddlicfae AbhSr der Zeugen.
68
II. Poxsnr
lun^en könne auch ein Amtsrichter auf Eräuohen des Staatsanwaltes
aubführon i§ 3)
3. Ein weiterer Vorkämpfer der Ansicht: ^Hinweg mit der ge-
riobtlicben Vornotersnchung!'' ist Stemann in Gottdammefs Aietiiy
1860 8. 41 ff. Stemann betrachtet die Lage der Vonmtenaehnng in
Pteoßeo nnd geht von dem dort geltenden Gnindaabse aua» daß die
gerichtliche Vonintenuehnng nur bei Verbrechen nOtig ist, im ftbrigen
aber vom Ermeflsen des Staatsanwaltes abbinge. Beantragt dieser
keine geriehtliohe Vornntersnehnng, so findet ein staatsanwaltlicbes
Ennittlnngsreifabren fSkrutinialTeifkbren) statt, wd^es dieselbe Auf-
gabe bat, wie die gericbtliohe Vorantersnchnnn^ nftmlioh „die Existenz
nnd Natur des angezeigten Verbrechens, sowie die Person des Titos
und die zu seiner Überführung dienenden Beweismittel soweit zu er-
forschen und festzustellen, als dies zur Begründung und zur Vorbe-
reitung der mündlichen Hauptverhandinog nötig ist* (s. Prenß. Verordn.
vom 3. Januar 1849 § 44). Stemann scblieUt hieraus nun, daß der
Staatsanwalt auch bei Verbrechen in diesem Ermittlungsverfahren mit
Unterstützung durch den Richter in den Fällen, wo nach Ermessen
des Staatsanwaltes schon in der Voruntersuchung urkundliche Fixie-
rung von Beweismitteln nötig ist, ebenso gut und in viel kürzerer
Zeit die Voruntersuehunir al)halten könnte. Die Erfahningen, die man
in der Praxis mit (ieiii Kriiiittlunc'sverfahren fremacht habe, bestätigen
(lies. Wenn man ferner die \ ernelinuin^'^ des Angeschuldigten als
einen nicht zu ersetzenden Vorzug der gerichtlichen Vonintersuchung
ansehe, so könne diese \'ernebmung nur für einen inhjiftierten Ange-
schuldigten in Betracht kommen, dem aus (h r Freiheitsentziehung ge-
wisse Nachteile erwachsen. Für einen luliaftierteu ist aber immer,
also auch im Ermittlungsverfahren, die richterliche Vernehmung vor-
gescbiieben (Preußisches Gesetz vom 12. Februar 1850 betreffend den
Schnta der persönlichen Freiheit § 5). Ein wdterer Grund, der Ste-
mann aar Preisgabe der geriohflidien Voruntefsnehung veranlaßt»
besteht in der Bescblnßbssung ßber das Besnltat der gerichtliehen
Vomntenuchnng. Im ErmitdnngSTerfahren bestimmt der Staatsanwalt
aUeiny ob und wie die weitere Verfolgung der Sache zu betreiben ist
Das Gericht hat keinen entscheidenden Einfluß auf das Verhalten des
Staatsanwaltes, so lange dieser nicht die Anklage erhoben hat Ist
aber eine gerichtliche Voruntersuchung abgehalten, so hat das Gerieht
darüber zu entscheiden, ob die Anklage erhoben werden soll oder
1) Wann bei diesen GeBchSfteo HitviikiiDg des Geriobtn nflUg ist, kommt
hier nicht in Betracht (s. dardber K bakL von Braaers Abhandlnni^
. d by Google
Die gerichtlidie Vonmtenadiang.
69
nicht, und dem Staatsanwalt ist in dieser Hinsicht jede Einwirkung
auf das Verbhren genommen. Gerade hierin liegt ein wichtiges Unter-
scheidungsmerkmal zwischen Ermittlungsverfahren und gerichtlicher
Voruntersuchnng. Diese Regel ist auch in den meisten Partikular-
gesetzgebungen durchgeführt. Eine Ausnahme bildet Braunschweig
(St. P.O. § 43); hier ist dem Staatsanwalt die Verfügung über die ge-
richthche Voruntersuchung überlassen. — Diese Vorschrift von Braun-
schweig lobt Stern ann, tadelt das im übrigen Deutschland geltende
Verfahren als inkonse«|uent: er verlangt für den Staatsanwalt, der
einmal das Amt des Anklagens hat, auch ein unbeschränktes Recht
auf Erhebung oder Nichterhebung der Anklage. .\ueh um dieser
Inkonstf|uenz willen verwirft er die gerichtliche Voruntersuchung.
4. Zuh tzt wäre wohl noch von den Juristenj die die gerichtliche
Voruntersiucliung beseitigt wissen wollen, Keller zu nennen. Schon
auf dem dritten deutschen Juristen tag wurde der Antrag Kellers, der
fttr Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung plädierte, durch die
drei Gntaiditen des Jnstizrats Dom in Bettin, Prof. Oefiler in Tübingen
und Staatsanwalt Heinze in Dresden Terworfen. Daraufhin bat
Keller dann in seinem Werke «Staateanwaltscbaft in Dentscbland^
(§ 19 6) sone auf Beseitignng der gericbtlicben Vomntersnobnng be-
zügliche Ansiebt, nacbdem er Torber die Gründe fttr Beibebaltong
der gericbtlicben Vomntersncbnng erwftbnt nnd sie zn widerlegen
▼eranobt bat, yerteidigt a) Seiner Ansicht nach muß die gericbtliche
Vomntersncbnng, die im Inqnisitionsprozesse des kanoniseben Rechtes
entstanden ist, aus unserem Strafverfahren ausgerottet werden, weil
sie mit den Prinzipien des deutschen öffentlichen, mfindlichen und
akkusatorischen Strafprozesses unvereinbar ist Kdler wünscht eine
Voruntersuchung, die sich an die Voruntersucbung anschließt, wie sie
vor der Entstehung des Xnquisitionsprozesses vorhanden war, die also
konsequent das Anklageprinzip durchführt b) Als zweiten Grund für
die Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung führt Keller den
Zweck der Voruntersuchung ins Treffen. Zweck derselben soll ledig-
lieli \'(>rbereitung der Anklage und der IIaui)tverhandlung sein.
Nach Kellers Meinung erreicht man diesen Zweck am besten, wenn
man diese Aufgabe dem Staatsanwalt allein überlälU. Dieser hat die
Anklage zu stellen, mub sich also auch das hierzu nötige Material
verschaffen, c) Wegen der Beweisaufnahme, die nur einen geringen
Teil der gerichtlichen Voruntersuchung ausmacht, das ganze Verfahren
dem Untersuchungsrichter zu belassen, hält Keller für unpraktisch
und ungerechtfertigt.
d) Durch eine Aufhebung der gerichtlichen Voruntersuchung
70
IL POLSSUf
würden nach Kellers Ansiclit auch die Kolli.siünen zwischen Unter-
suciiun^srichter nnd Stant.sunwalt, die sich aus dem ln(|iiisitionspro-
zeß, der seit 184S mit akkusatorisclien Formen vermischt ist, erj;reben
haben, beseitif^t. Die Mittel, die man, um Kollisionen zwischen Stiuits-
anwalt und Untersucliunirsrichter zu vermeiden, einjreführt hat, wie
z. B. Akteneinsicht und Beschwerden, nennt Keih-r unzureichende Not-
behelfe. Sodann will Keller die gerichtliche N'oruntersuchung beseitigt
wiflsen, weil dadurch das Ankla^eprivileg des Staatsanwaltes geschmä-
lert wild, insofern als der Staatsanwalt nach stattgehabter geriohtficlier
Vorantersuchung nicht mehr freier Herr seiner EntschlieOnngen ist,
sondern sich dem Beschloß des Gerichts, mag er anf Erhebnngr der
Anklage oder Etnstellang des Verfahrens lauten, unterordnen nnd an-
passen muß (was auch Stemann betont), e) Kell«' ist ferner der
Meinung, daß durch eine gerichtliche Voruntersuchung die Haupt-
Verhandlung zu einer bedeutungdoses summarischen BekapitulatioD.
also Sohlnßyerhandlung, herabgedrttckt wird, f) Auch werde der
Strafprozeß durch Beibehaltung der gerichtlichen Voruntersuchung un-
nötigerweise in die Länge gezogen. Durch Fortfall der gerichtlichen
Voruntersuchung würden die Geschäfte des Staatsanwaltes und der
Verteidigung sich vermehren. Andererseits ah» r würden die Unter-
suchun^'srichter und manche Ursachen der Verl&ngerung der Unter»
sucbungshaft fortfallen.
II. Bestrebungen für Beibehaltung der gerichtlichen
Voruntersuchung.
Im Gegensatze zu diesen Bestrel>un<:en. die auf Beseitifrung der
gerichtlichen Voruntersuchung: abzielen, ist das Gros der Juristen
für Beibehaltung der in:eri ch tli ch en Voruntersuchung.
Diese Meiiuin;: vertritt besonders Mitternjaier im Gericbtssaal 1862
S. 36ff. und Ahegg'). Ahegg ist: 1, für eine g:ründliche und mög-
lichst vollständige Voruntersuchung; 2. sie hat sich nicht auf die Her-
stellung der Voraussetsungen hinsichtlich der Versetenng in den An-
klagexnstand zu beschrSnken — wird aber, je gegründeter sie ist:
3. entweder zu dem Ergebnisse führen, daß eine rechtliche Verant>
wortung nicht vorhanden sei, ane bestimmte Person in den Stand der
Anklage zu Tcrsetzen; 4. oder wofern diese Voraussetzung geboten
erscheint, das Hauptr^ahren in einer der Gerechtigkeit entsprechenden
Wdse vorbereiten und die Gefahr beseitigen, auf jetzt erst hervor-
tretende neue Tatsachen (nova) eine Vertagung zu verfügen oder sofort
1) Ober die Notwwdigkeit nnd den Wert einer gründlichen Vonmtenndiiuig
in Haunerle VIerteljahrechr. 14. Bd. 8. Iff.
d by Googl
JHb geiiditUofa« Vonmteniiehung.
71
ein nicht selten bedenkliches l'rteil auszuspreclu n. ,'). Die Er^'ebnis?e
der über jenen nächsten beschränkenden Zweck hinausziehenden \'or-
nnUT'^uchunir dürfen als solche nirnials die Bi(leutun;r des nnindHch-
öffVntlK litMi Ihuii>tverfahrcn?ä, oder der l.'nniittelbarkeit vor (bMu er-
kenneruhm Oericlite bceinträclitif^en, da nur, was in dieser auf <:elir>ri^e
Weise Gej^enstand der Verhandlungen ist, berücksichtiirt wenleu darf;
al)er (5. jene Ergebnisse el)en auf gehörige Weise mit dem (Miarakter
der Unmittelbarkeit versehen, werden dazu dienen, das Reciii zur Gel-
tung zu bringen. 7. Die unmittelbar vor dem erkennenden Gerichte
stettfindfiiide mündlich-öffentliche Verhandlung ist ihrer Natur nach
nieht eine bloße WiederiiolnDi: oder Beprodoktioii des in der Vo^
nntersachmig VoiigekoiDmeDen; und selbst dann nicht, wenn sie, was
anob jener Bescbifinknng Nr. 2 nicht immer yermieden werden kann,
dem Inhalt nach dnrcbans nichts Neues beransstellt 8. Und gesetzt
es wire wirklich nnr eine — doch immer in anderer Form und vor
andern richterlichen Personen erfolgende Reproduktion — so wlie
dies für den Zweck, darauf em rechtliches und gerechtes Erkenntnis
zu giOnden, kein Nachteil — vielmehr ein nicht zn Tcrkennender
Vorteil, oder eine unerläßliche Voraussetzung für eine die Gerechtig-
kdt fordernde Hauptverhandlnng — darauf allein kommt es an, nicht
auf andere Rücksichten, die aus der Symmetrie, dem Zeit-, Kraft-^
Kostenaufwande, dem akkusatorisehen Prinzip entlehnt werden (siehe
Ahegg a. a. 0. S. 63 ff ).
Einige Juristen sind allerdings für Beibehaltung der gerichtlichen
Vonmtersuchung; sie soll aber möglichst eingeschränkt werden (siehe
Sundelin, Staatsanwaltscliaft in Deutschland § 17 (Anklam lSr)0); s. a.
Iloltzendorffs Strafrechtszcituni; ISbl Sp. 50ff.i. Im übrigen aber
stimmen die Meinungen ;j:rr.ritt nteils mit der Gt setzfiebung überein,
welche die irt richtliolie \ orunt^^rsuchung bei Verbrechen für uner-
lälMieh, bei l iitTtretungen für unznlä-ssig erklärt, bei Vergeben eine
gericlitliehe \'oruntersuchung in das Ermessen des Staatsanwaltes stellt.
Diese Vorschrift hat ihre guten Seiten. Das Strafverfahren in den
leichteren Fällen findet schnelle Erledigung. Anstoß bat man nur
daran genommen, daß die Schwere des Verbrechens als Maßstab an-
genommen wird für die Frage, ob eine gerichtliche Vorontersncbung
abzuhalten ist y. Tippeiskirch (Qoltdammers Archiv II S. 313);
Dieterid (ebenda IV S. 189ff.) und Dalcke (ebenda VIII S. 145ff.),
welch letzterer ffir mSglichst große Einschrftnknng der Vomntersachung
ist, Tertreten die Meinung, die Individualität des einzelnen Straffalles
mflsse entscheidend sein für diese Frage; diese FVage sei dann in das
firmessen der Staatsanwaltschaft zn stellen.
72
U. PouDir
Alle diese Streitigkeiten haben f;:ewi88ermaßen ihren
Abschluß gefunden auf dem dritten deutschen Juristentag"
(1862). Hier wurde der Antrag Kellers, wie schon oben erwähnt (s.
S. b9) abgelehnt und auf Glasers Antrag folgender Beschluß
angenommen (s. VerbandloDgeii des 3. deutschen JoristeDtages Bd. II
a 72 XL 73).
I. Die gericbtliche Vonrntenaohmig mvA beibehalten werden,
weil nicht dem Staatsanwälte, Bondeni einem nnabhftngigen riGfatieiv
lidien Beamten die VerfOgnng über die Penon des Angeacbnldigten,
die Aufnahme jener Beweise» welche in der Hanpkverhandlnng nicht
wieder voigefUhrt werden kOnnen, endlich die HerbeisdiaffQng des
Vetteidigungsmaterials anvertrant werden kann (Herbeischaffnng dea
Verteidigungsmaterials nnr im Sinne der Vorbereitong der Haupt-
TerhandluDg gemeint).
II. Die gerichtliche Vonintersnchnng muß aber beschränkt werden:
ai Dadurch, dal) der Staatsanwaltschaft die Erbebung der öffent-
lichen Klage vorbehalten wird.
b) Dadurch, dal^ die Staatsanwaltschaft angewiesen wird, der Er-
hebung der öffentlichen Klage gerichtspolizeiliche Vorerhebungen
. voran sf:«^hen zu lassen (unbeschadet der persönlichen Freiheit des Be-
schuldi^'ten und der Begel, daii die Ergebnisse derselben keine
weiskraft haben).
c) daß die Voruntersuchung wegfällt^ wo es sich nicht um Ver-
brechen schwerster Art handelt und weder Staatsanwalt noch An-
geschuldigter sie verlangen
Hauptgründe für die Reibehaltung der gerichtlichen
Voruntersuchung waren folgende'^):
1. Durch Aufhebung der gerichtlichen Voruntersuchung wird die
rechtzeitige und erfolgreiche Verteidigung erschwert. Überläßt man
die Voruntersuchung völlig dem Staatsanwalt, so ist von ihm als
AnklSger Ebseitigkeit und Parteilichkeit au befOrohten. Ein Ver-
teidiger ffir den Angeschuldigten kann kernen genügenden Eiaatz hier-
f&r bieten, da man ihm auf keinen Fall ebenso viel Beohte^ wie dem
Staatsanwalt (AnklSger) geben kann. Demgegenflber meint Keller
(Staatsanwaltschaft in Deulachland S. 262 Ü,), von dem Untennchnnga-
richter sei dieselbe Einseitigkdt und Parteilichkeit zu befürchten, wie
Yon dem Staatsanwälte, und gibt seiner Verwunderung darüber Aua-
1) Uber Punkt III der Bosclilii.sse des 3. deutsiclien Juristeuta^fes betreffend
Verbesseruug der gericlitlicben VorunterBuchuug ist später zu sprechen.
2) & Gntaditen des StaatMuiwaltB Helnse fai Dresden, Veriumdlinigen des
3. deatacben JnriBtentages. 1. Bd. S. 41 If.
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Die gttriditiiehe Voniiitenadiiing'.
78
drnck, da(\ man den „früher so viel geschmähten Inquirenten jetzt
auf einnial als Cherub der Gereclitigkeit glorifiziert, der mit gleicher
Unparteilichkeit fast in einem Atem anklagen, verteidigen und unbe-
fangen richten kann". Dabei vergibt Keller aber, daß dem Unter-
Buchungsrichter im neuen deutschen Strafverfahren die Aufgabe des
Allklagens überhaupt genommen ist, um ihn eben unparteiisch zu
madien. Jetzt soll der Untersuchungsrichter ganz unparteiisch die Be-
lastnngs- und EDtlaatuDgsinomente erforschen, und ein Gerichtskollegium
besehließt fiber die AnUage. Überi&Dt man aber dem Staatsanwälte
diese Aufgabe des UntenuebungsricbterB, so ist^ was liei dem alten
InqnisitioDBproaeBse so sehr getadelt wurde „die KoDzentriernng ent-
gegengesetzter Fonktionen in dendben Penon** wieder Yorbanden,
wie Glaser scbon ganz ricbtig bemerkt in seiner Verteidigangsrede
für BeibebaUnng der gerichtlicben Vorantersncbnng (s. Verbandl. dea
3. dentscb. Joristentages 8. 319).
2. Die geiiobtlicbe VorDntersacbnng ist aber niebt nur Torbe-
leitendes Verfahren für die HanptTerhandInng, sondern ancb end-
gültige Verhandlung, nämlich wenn sie mit Einstellung des Veifabrens
schließt Aus diesem Grunde ist auch eine gründliche Ausnutzung
der Beweismittel in diesem Prozeßstadium unbedingt erforderlich.
3. Bei verwickelten Fällen ist die gerichtliche Untersuchung über-
haupt nicht zu entbehren. Die Hauptverhandlung könnte sich oft
tage-, selbst wochenlang hinziehen bei umfangreichen Prozessen. Dies
führt aber zu keiner Zeitersparnis, im Oegenteil Verschleppung der
Prozesse würde die Folge sein. Andererseits würde man bei solchen
Fällen durch Beseitigung der gerichtlichen Vonintersuehnng auch
nicht viel Zeit sparen, da wiederholte nötige richterliche Erhebungen
sicherlich den Gang des Verfahrens aufhalten. Dafür, daß eine ge-
richtliche Voruntersuchung nicht gänzlich zu entbehren ist, spricht auch
der Umstand, daß die Staatsanwälte in der Praxis häufig eine gericht-
liche Voruntersuchung beantragt haben in Ländern, deren Gesetzgebung
eine liauptverhandlung ohne gerichtliche Voruntersuchung billigt
B. Dogmatische Darstellung der gerichtlichen Voruntersuchung in dem
Strafverfahren der deutschen Staaten (mit Rücksichtnahme auf dieStraf-
prozefsordnungen der einzelnen Länder und etwaige Reformvorschläge).
§ 10.
StfUang mdHetagabBe desStwitM&waltM In der feriebtlleheaTMnuitemicliuig.
Die Stellung des Staatsanwaltes in den neuen Gesetz-
gebungen Deutschlands ist yerscbieden, je naebdem die Gesetz-
74
II. Pounr
^ebunfr (Hannover, Preuliin, Braiinscliweifr, Sachsen) die jrericlit-
liche U nf ersuchun^; nur auf Antra:; des Staatsanwaltes
beginnen lälH oder das Gesetz den Untersuchungsrichter die
Verfolgung der Verbrechen von Amts wegen ttberläiU (so
in Baden, WOrttembeig und Bayern). In den LSodern, die diesem
letzten Prinnp folgen, hat der Staatsanwalt während der geriehtlicben
VomntersaehuDg gar keine Befngnisse. Erst am Sehlnsse der Vor-
untersaebung bd^ommt er die Akten und hat die Anklage zn erheben,
die vom Geriebt dann geprflft wird anf ihre ZnlSnigkeit Diese
Meinung, daß der Staatsanwalt in der gerichtlichen Voruntersuchung
nicbt mitwirken soll, um die inquisitorische Natur derselben zu wahren,
vertritt auch Oerau (in der Zeitschrift für deutsches Sliafreifobren
N.F, IS H S. 261 ff,).
In den Ländern nun, wo die gerichtliche Voruntersuchung nur auf
Antrag des Staatsanwaltes eintritt, darf der Untersuchungsrichter ohne
^en solchen Antrag nur Handluno:en vornehmen, die keine Ver-
sOg^rnng erdulden können (s. a. S. 65). Hat der Staatsanwalt einen
Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gestellt, so
muß der Untersuchnn^'srichter diesem Antrair Folire leisten; in Han-
nover (§ 77; 1 10) kann der l'ntersueliunpsricliter den Antrag ablehnen,
und es entscheidet dann die Ratskaninier. Ferner tritt die Fraire auf,
ob der Untersuchunfrsricbter sicli an die Anträ^^e des Staatsanwaltes
festhalten soll, oder ob er diesell»en überschreiten darf durch Aus-
dehnung auf andere Straftaten des Reschuldigten oder auf
Mitschuldige ohne Einwilligunj: (Ks Staatsanwaltes. Die Ausdeh-
nung der üntersuchnng auf andere Straftaten des Besch uldijjten ist
dem Untersuchunjrsriehter all*::emein nicht gestattet, vielmthr iiat ».r
erst diesbezügliche Anträge des Staatsanwaltes abzuwarten. Hinsicht-
lich der Ausdehnung auf Mitschuldige nehmen die Gesetzgebungen
eine verschiedene Stellung du. Während Sachsen (Art 124) und
Hannover (§ 44) dies Secht dem Untersuchungsrichter nicbt zuor-
kennen, spricht man es ihm zu in Braunschweig (§ 34); Tbfiringen
(Art 75; 53) dem französischem Rechte folgend (s. H^Iie, traitö
V.a 140).
Dem Staatsanwälte steht femer das Becbt zu, während der gericht-
lichen Voruntersuchung Anträge auf Verhaftung, Vemebmung von
Zeugen usw. zu stellen, die der Richter erledigen soll, soweit es nach
den Gesetzen zulässig und von Wichtigkeit ist^).
In Thüringen (S 76) und Sachsen (§ 109) ist es in das freie Er-
iTösterreich 77, 104, 110, 145, 148, 186; Pronfen » 5 (Bescheid des Ober-
tribnnato vom 17. Oktober 1856); Kurheaeen, Ges. v. 1851 }9$, 6es.v. 1648 $ 17S.
Die gerichtlidie Vonmtenndrang.
76
messen den T'ntersucliiinL'-sricbtr'rs irestellt. ob er d^ri Anträgen des
Staatsanwaltes Fol^c leist en will. Hannover IHi) thhI l>raun-
schweifr (§ überlassen dem Untersuchunirsrichter ebenfalls einr
selbstän(li«i:ere Reurteilunii: über die ZweckmäHiiiTkeit der Anträge.
Leimt (Irr l^ntersiiebungsricliter AnträjL'e des Staatsanwaltes ab, so
stellt dem Staatsaiiw alt Resehwerde an das Bezirksgericht (resp. Rats-
kammer) frei; diese entscheidet dann über den Antrag des Staats-
anwaltes').
Naber zn erörtern igt sodann die Frage, ob der Staats-
anwalt den Untersuchnngshandlangen der gerichtlichen
Vornntersuehnng beiwohnen darf. Nach einigen Strafprozeß»
Ordnungen bat der Staateanwalt das Becbt, allen Untersaehungshand«
Inngen beizuwohnen, also auch der Vernehmung des Angeschuldigten*).
Nach andern darf er nur den Tatbestandsbandlnngen beiwohnen
und im flbrigen ist seine Gegenwart ausgeschlossen^.
Bei den übrigen Untersuchungsbandlnngen der gerichtlichen Vor^
Untersuchung ist gegen die Anwesenheit des Staatsanwaltes nichto ein-
zuwenden: er soll im Gegenteil zu solchen Handlungen eingeladen
1) Dies iit der Fall in Sachaen (Art 132. 891, 117, 97, 125), Thüringen
(Art 76, 77), Bayern (Oeselz v. 1848 Alt 48), Knrheflaen (Geeets v. 1848 § 155)
nnd BraimsdiweMr (hier liegt die endgültige Entsdi^img In der Hand des An-
klagOHonatos)
2) Preul>eu $ 7, Oldenburg § HO, Bniunscliwcig § 44, Kurheuseu, Gesetz v.
1848 § 152.
S) Sadisen Art 188, Baden §45, Altenbmg Art 61, Thüringen Art 81,
Hannover St. P.O. v. <i. N<.v. isr.f) 91.
Auch in Zoitsiiiril'teii hat man ültL-r ZulaHsunff des Staatsanwaltes bei den
Vonmteräuctiuu^shaudhingcii. vur allem bei der N'eruehmuug des Angeächuldigteu
gestritten. La Belgique judidaire 18S4, No. 8, ebenso die franzö^scfaen Sebiift-
atellor versagen dem Staatsanwalt das Recht der Anwesenheit bei der Verneh-
mung des Aniri'sclmldi^toii. TMesor :ill<:^onK'in verbreiteten Meinung, die aueh
Mittermaier (An-lüv fiir Kriinii'aliciht. X. F. ]'^hh. 2tK")ff.) vertritt, tiitt
Keyser im Archiv tür Kriminalreciu iN. F. Ib5«i. S. lÜTff. entgegen; er verlaugt
fOr den Staatsanwalt das Beeht t>ei den Veraelunnngen des Angeechnldlgten zn-
gej^en /u sein, ohne allerdin^ irgendwie in die Fragestellung eingreifen zn
dürfen Er meint, vit-r Aujren «oiien mehr als zwei. Oft könne aueh der Unter-
t*uchuugsriciiter in der IIaiii»tverhandlunj,'', wo er nicht zujrefjen ist, von dem
Angeschuldigten verdächtigt werden. Dem Icünntc der Staatsanwalt, weuu er
bd den Veinelunnngen zugegen gewesen nibe , i^eidi eneigisch entgegentreten.
Diese Gründe flberwiegen aber nicht die von der Gegenpartei vorgebrachten,
die durch Gegenwart des Staatsanwaltes bei der Veniehmung des Angeschul-
ditrteii den Zweck der X'einelninui'T als vereiteh )»etracliten . da iln'er Meinung
naclt der Angei>ehuldigtc uu f^taatbonwalte seiueu Feind erblickt uud deshalb bei
dessen (Segenwart mit seinen Antwwlen nnd einem Iraimatigen Bekenntniase
zorückhalt» wird.
76
II. POLZW
werden (z. B. in Hannover). In Thfiiingen (Art 79) und Prenfien
(Alt 1) soll der Staatsanwalt anch Kenntnis erhalten von aOen Be-
aeUttsaein in der geriiditlichen Yomntersnebnng. Bei Berichten dee
UntenuchungsrichterB an die Batskammer nnd wiehtigen Handhingen
(Haftenflassang usw.) ist der Staatsanwalt mit seinen AntrSgen zu
hören >).
Bei den BenUnngen in der geriehtHchen VomntMsachnng darf
der Staatsanwalt zug:e^n sein. Diese Befugnis erstreckt sich aber
nicht anf die Bescblußfassongen (Thttringen St-P.-O. Art 45. Ge-
setz 1854 §15: Kurbessen Ges. ISIS § 15; Oroßhessen § 76). In
Sachsen mnß der Staatsanwalt bei den Beratungen zngcgen sein,
widrigenfalls dieselben nichtig sind (Sachsen 28).
Wenn nun auch dem Staatsanwalt in einigen Ländern die Gegen-
wart bei allen Untersuchungshandlungen^ insbesondere beim Verhör
des Angeschuldigten, nicht gestattet ist, so kann er in fast allen LÄndem
doch die Akten der Voruntersuchung einsehen und sich
so von ihrem Stande überzeugen-). Doch darf der Gang des
Verfahrens dadurch nicht aufgehalten werden.
Der Staiitsanwalt soll ferner den Untersuchungsrichter
durch Mitteilungen usw. unterstützen. Zu diesem Zwecke
soll er seine ihm zu Gebote stehenden Organe (Polizei usw.) in Be-
wegung setzen'"*).
Einige Gesetzgebungen haben dem Staatsanwälte das Kecht ge-
geben, in dringenden Fällen bei Gefahr im Verzuge Untersucbungs-
handlungen Tonnnefamen, sieh dabei an das fransSsisohe Recht an-
schließend, das dem Staatsanwalt bd den sogenannten „dötits fiagianla'^
dies Becht zur Vornahme Ton Untexsnchnngshandlnngen eimfinmte*),
regelmäßig aber ist sofortige Überliefemng des Materials an den
Bichter Yorgesohrieben. Die Strafprozeßordnung von Brannaohweig
(M 27, 28) gestattet dem Staatsanwälte nicht nnr Vornahme von ünter-
snchnngshandlnngen, sondern yerieiht den Protokollen des Staats-
anwaltes fiber solche Untennichnngshandhingen sogar öffentliohen
Gkuben.
Zum Schlüsse ist hier noch die wichtige Frage zu erOrtecn,
ob der Staatsanwalt den Antrag auf Einleitung der ge-
1) Tharingea Art TS, Hannover § Iii, 112, PmP. Entr. 18&1 Axt. 256
Baden § 61. Kurhosscn § ir»n.
2) PrciitH'ii § 7. liniunscliweip; § 44, Kiirlio»eii Ce^^ctz v. lS4b § 152,
Thüringen Ait, 45, iSachscn Art 2Ü, Ulilenburg § ül, Uauiiover 19.
8) Sachsen ArL 26, 134, Kuihetten, Geaets v. 1848 1 151, Thüringen Art 80,
4) Es sind dies die Gesetzgebongen vun Altenbnig S§ ßO, 25, Freuen § 7.
ThflringGD Art 81, Oesetz v. 1854 f 18, Hannover i§ 58, 54. Saeheen Art 76, 8S, 109.
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IHe gerlditUohe Voranterrachiing.
77
richtlichen Voruntersuch unfj nach Eröffnung' derselben
zurücknehmen kann. Diese Befugnis ist dem Staatsanwälte von
den Gesetzgel)unj;en nicht gejreben ')• Ist der Staatsanwalt überzeugt,
daß das \'erfahren wegen nachträglich zu seiner Kenntnis gelangter
Gründe eingestellt werden müsse, so kann er die Einstellung der ge-
richtlichen Voruntersuchung und überhaupt des Strafverfahrens bean-
tragen. Über diesen Antrag entscheidet aber nicht der Untersuchungs-
richter, sondm grandsatzlich das Gericht^ Ans dieser Toreehrift
ergibt rieh ein gewiebtiger Untencbied zwiaeben dem staatsanwatt-
lichen EnnitttiiDgSTerbdiien imd der geriehtliehen VonuitersDobiuig.
Über jenee ist der Staatsanwalt vollkomnieo Herr, er kann jederaeit
das Verfabren emsteUen, wieder anfaebmeD usw.; das Yeifabren
liegt also gaiu aaßerbalb des Strafprozesses selbst. Hat der Staats-
anwalt aber seinen Antrag auf Erdffhnng der gericbtlieben Vomnter-
saobnng gesteUl, nnd sieh das Geriebt erst mit der Saebe beftJk, so
bat der Staatsanwalt kein Becbt mebr, den Antrag rfiekgftngig zu
machen, vielmebr ist das Gericht Herr des Verfahrens. Also kann
nur dieses die Anstellung der gerichtlichen Voruntersnehnng aus-
sprechen, nnd diese Einstellung des Verfahrens ist gewissermaßen ein
Vrteil (prozesBoaler Charakter der gerichtlichen Voruntenachnng).
6 11.
Stellnf «ad AnllpAeB dos l'ntcrsuohnniBrBtMAen in der gcriebtlMMn
Vonuiteniehii]^. ■
Der Untersncbnngsricbter bat die Anfgabe, den Zweck der ge-
riehtliehen Vornntersachnng zn erfüllen, d. b. die Existenz nnd Natur
des Verbrechens und die Person des Täters, sowie die zu seiner Über-
ffibrung dienenden Beweismittel zu ermitteln (Prenßen § 14, Hannover
§ 44). Dazu ist nötig: Beschaffung des für Begründung der Anklage
nötigen Materials (Tatbestand; Beweise der Täterschaft, Entschuldi-
gnngsgründe des Angeschuldigten). FtTuer sind alle Kenntnisquellen,
deren Benutzung für die Hauptverliandhmg verloren gehen könnte,
in feierlicher Heweisform vorzunehmen (Zeugen, Augenschein), l'ber
sämtliche Handlungen der gerichtlichen Voruntersnclnuig sind Aktt-n
zu führen. Dies dient dazu, daH die Hauptverhandlung <^\n^' l'nter-
brechung zu Ende geführt werden kann und dal) eine Kontrolle über
die \ oruntersuchung möglich ist Im einzelnen gilt folgendes: der
1) Sachsen §§ 27, 116, 230, Motive S. 24S, Bniuuachweig §49, Thfiringen
Axt 95, Altenbug Art. 74, Oldeobuig Art 64.
2) ThOringeii Art. 9S, Prau^ 1 47, Haonover { 77, SadtBen Art. 27.
7a
Uatersuchuügsricbter hat möglichbt un{>arteii8ch zu handeln, die Ent-
lastnngBiiioiiiente ebenso sorgfältig zn beaebton wie die BelastongB-
momente. Im Vergleich snin frfiheran IaqiiisitionBpr(»e& bat der üntei^
sucbiingBricbter nieht mehr die Zwangsmittel gegen den Angeschul-
digten, wie VerdaeblBBtrafen, LBgenetiafen usw. Auch Enwingnng
and Eiachleichnng Yon GeBtSndmaaen ist dem Untenncbungsriehter
Terboten. Auch entreeken sieb seine Kacbforschmigeii niefat so weü^
daß keine beesece AnfklSrung der Sache an erboffen siebt, wie ee im
alten Inquisitionsprozesge der Fall war, sondern nur bo weit, bis eine
Entscheidung möglich ist darüber, ob die Hauptverhandlnng angestellt
werden kann oder nicht <).
Zum Zwecke der Uerbeiaohaffnng des Materixils; das aur Be-
gründung der Anklage dienen kann« stehen dem Untecsachongsriehter
alle gesetzmäßigen Mittel zur Verfügung.
Die Vernehmung der Zeu^^en hat in der gerichtlichen Vorunter-
suchung regelmäßig ohne Eid zu ^^^schehen 'j. Beeidigung der Zeugen
in der gerichtlichen Voruntersuchun'; ist zulässig, wenn der Verlust
eines Zeugnisses für die Hauptverhandlung zu befürchten steht (z. B.
wegen Krankheit eines Zeugen, Reise ins Aii.slanil usw.). Außerdem
aber auch, wenn der Zeuge nicht mit der Sprache herausrücken will
Nach der Thüringischen btP.O. (Art. ISS) kann die Beeidigung der
Zeugen in der gerichtlichen Voruntersuchung auch auf Antrag des
Staatsanwalts oder des Augchchuldigten erfolgen. Auch über Kon-
frontationen von Zeugen unter sieh oder mit dem Angeschuldigten
entscheidet der Untersuchuugsricbter. Auf Antrag des Angeschuldigten
kann eine Konfrontation stattfinden in Thüringen, Art 187; Hannover
§ 93 ; Sachsen Art ^23. Die hmfende Korrespondenz des Angeschul-
digten mit Beschlag zu belegen, ist dem UnteiBacbungsrichter gestattet,
damit nicht durch etwaige Kollusionen der Zweck der gerichtHchen
Vorontersnchnng gehindert oder vereitelt werde. Außerdem daif der
Untersttchnngsrichter die Beschlagnahme yomehmen, wenn eine Per-
son eines Verbrechens derart yerdSchtig is^ daß sie verhaftet werden
1) Eine Ausnahme von dieser Itegel büden Österreich, St.P.0. v. 18591,
ThOriiigeii,Art. a n. 198 (8.d«rilber:Bertr«b, ImGerichtnuJ, 1M8, 1. Bd., & 104CL)
— im (iesotz vom 9. Dezember 16M § 2 aber geändert — die den Zweck der
gericlitlii Ikii Y()runt(>i>uchung erst als erfiUlt betrachten, wenii keine beaeere
Aufklärung der Sache zu erwarten ist.
2) Thüringeu Gesetz v. Ibbi §29, Ilaauuver $ 92, Österreioh StP.O. ISftS
i Preoi^en M ISU. 144, Saehsen Art 225.
3) Kussel Gesetz v. f Jtt2, Bniiuiachweig 1 38, Hannover f 92, Sadiaen
Art 224 iMoÜve & 2itöfi.;.
Die gerichtUehe Vorantenachann;.
79
soll oder könnte Auch die Eroffnunir der Briefe ist naeli den
meisten Gesetzo:ehun^en dem UntersucbuDgshchter, nicht aber auch
dem Staatsanwälte gestattet.
§ 12.
StdlvBf des AnfMdiiMisteB Ib 4er geriehtUehea YemtMWMkuff.
Der Angeschuhlij^e kommt in der p^iclitlichen Voruntersuchung'
in zweifacher Hinsicht in Hetracht. Zunächst ist er eine Kenntni8(|uelle,
also ein Beweismittel, für den Richter wie jeder Zeuge, sodann aber
ist er der Angeschuldigte, d. h. eine Person, die im \ erdachte
steht, ein Verbrechen begangen zu haben. Im früheren deutschen
Inquisitionsprozeme ging man mit all«r HSite gegen den Angeaehiil-
digten Tor. Be«bte . hatte er ttberhaopt nicht, er war ganz der Will^
kfir des UntenncfanngsrichterB fibeftassen, der mit allen möglichen
Operationen gegen ihn vorgehen konnte. Diese MifietSnde konnten
die Geaetzgehnngen nm die Mitte dee nennzehnten Jabihvnderts, die
für die gerichtliche Vorontennchung das Inqnisitionsprinzip beibe-
hietten, nicht mit Qbemehmen. Die vielfachen Bestrebnngen anf diesem
Gebiete liefen darauf hinaus» dem Angeschuldigten eine dem Anklage-
pioxesse mehr enteprechende Stellung zu geben, die ihm auch Rechte
gegenftber dem Untersuchungsrichter gewährt. Allen übrigen Ge-
setzgebungen ist in diesem Punkte die 8t.P.O. für Braunselnvei^^ voraus
(Uöff*; 42ff."^). Für die weitere Entwicklung dieser Rechte des
Angeschuldif^ten haben sodann die Verhandlungen des :5.
deutschen Juristentages eine Grenze markiert. Darnach soll die
gerichtliche Voruntersuchung verbessert werden: a) dadurch, daß das
Hinarbeiten auf ein (ieständnis des Anfresohuldiirten aiif;;ef;eben wird;
b) dadurch, dali (sowohl der Staatsnnwaltscluift als iiueln der Vertei-
digung eine fortwährende Einwirkung; auf ihren (iang erniüglicht wird;
c) dadurch, dal) die ( >ffenthclikeit, wenifcstens die Parteienöffentlich-
keit, auch für sie als die Kegel anerkannt wird. (Verhandlungen des
3. deutschen Juristentages IStii^. Bd. II. S. 73).
Bevor wir zu der Besprechung dieser Punkte übergehen, wollen
1) Tliüi-ingün Art 152, Sachsen Art. 309, Hannorer § 106, Preutf. Ent-
wurf § 123.
2) Der Angeschuldigte kann zu jeder Zeit ^cine Vcmehmung verlanj^en,
darf sich auch während der Vonintcrsuchunf; schon eines Verteidigers bedienen,
der da» licciit der Aktcncinsicht hat und bei allen Uutersuchungabaudluugein»
insbesondere bei der Vernehmung des Angeschuldigten, zugegen sein darf. Audi
kann dm verkaftete AngeecfankUgte ungehindert mit seinem Verteidiger ticfa be-
raten <riuie Gegenwart einer Aa(aiditqMiw»i*
80
IL POLZUf
wir noch kurz handeln über die Verhaftung des Angeschuldigten.
Der schwerste Eingriff, den man in die Reehfasphtoe eines Hemwfaeii
tun kann, ist die Bntzidiung der FVeiheii Im deotocbeii Inqoisilioiis-
proseeee war eine Verhaftang des Angeschuldigten und endlose Unter-
snohnngshaft an der Tagesordnung. Nnr eine sölche ennSgliehte es
ja anch dem Biehter, den Angesehnldigten mfirbe zn machen und sa
einem OestSndnisse an bringen. Derartige Mittel sind bei dnem ge-
bildeten Knltnrrolk nicht mehr erlaubt Die Begel mnß sein, da0 die
Verbaftnng nnr in dringenden FUlen erfolgen darf. Diese Bcget
stellten auch die deutschen Grundrechte auf (Art III § 8): „Die Frei-
heit der Pensen ist unTcrletzlich Jeder Angeschuldigte soll
gegen Stellung einer vom Gerichte zu bestimmenden Kaution oder
Bürgschaft der Haft entlassen werden, sofern nicht dringende An-
zeigen eines schweren peinlichen Verbrechens gegen densdbeo vor-
liegen." . . . Die württembergische Regierung erklärte in einem Mini-
sterialreskript vom 14. Januar 1849, diese Vorschrift finde auf die
Voruntersuchung keine Anwendung. Ein solches Vorgehen ist nicht
zu billigen; auch spricht der Wortlaut obiger Vorschrift schon dagegen
(s. Mitterniaier im Archiv für Kriminalreclit N. F. is lUl: «Angeschul-
digtcr" = prövenu == der in der Voruntersuchung Befindliche; nach Zu-
lassung der Anklage heilH der Angeschuldijrte: ..Angeklagter" = accus^.
Ähnliche Vorschriften über Verhaftung, wie die deutschen Grund-
rechte sie geben, weisen auch die Gei>etzgebungen der einzelnen Staaten
auf, so z. H. das preubische Gesetz vom 2 1. September 1848 und
Gesetz vom 12. Februar ISöO. Nacli diesen Vorschriften soll eine
Verhaftung nur bei schweren Verbrechen erfolgen. Im übrigen soll
der Angeschuldigte aber gegen Sicherheitsleistung aus der Haft ent-
lassen werden. Die Hdhe derselben, die das Gericht bestimmt, muß
derart sem, daß eine Fluchtgefohr ausgeechloseen erscheiiit Weiter
geht das französische Recht, welches die Verhaftung bei allen Ver-
brechen fordert Der gerichtliche Verhaftungsbefehl mit Eotsehei-
dungsgründen versehen, ist dem Angeschuldigten innerhalb der ersten
24 Stunden der Haft zuzustellen (Preuß. Geselz vom 12. Febr. 1850,
% 1 IL). Eine Art Haft, die im Inquisitionsproseß sehr viel zur An-
wenciung kam, war die Haft, um Kollusionen zu venneiden. Die-
jenigen Juristen, die den Anklageprozeß nach englisdiem Bfuster nach
Deutschland übernehmen wollen, z. B. Brauer, Im Gerichtssaal 1849
Abt II S. 321 ff. §5) sprechen sich gegen die KoUnsionshaft aus.
Ihre Aufhebung aber ist bekanntlich nicht erfolgt
Vernehmung des Angeschuldigten: Eine Vernehmung des
Angeschuldigten geschah im Inquisitionsprozeese zu dem Zwecke^ ein
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Die gcricbtUdie Vonuitenachniig.
81
Geständnis zu crlanfcen. Der Anpreschuldiffte war zu Aussagen ver-
pflichtet; körperliche Strafen konnton <re^^r'n ihn anirowondet werden.
Derarti<!:es ist dem neuen Straf verfaliren pinzlich fremd. Die Gcsetz-
g:chunf?en hahen aber dennoch die Vernehmun«; des Ang:e8chuldiirten
in der gerichtliehen Voruntersuclmnfr entsprechend dem Inciuisitions-
prinzip, das in ihr herrseht, heihchniten: der Anfresehuldi^'^te kann die
\ (iiu'hinung verian^'on, wenn er vt-rhaftet ist. In Braunschweig (§ 42)
kann er die Vernt liniiing jederzeit fordern. In Thüringen (Ges. 1854
§ 23) soll die ^ ernehmung, wenn mr»glieh, hei einer geriehtlichen Vor-
untersuchung über ein Verbrechen erfolgen. Unbedingt vorgeseh rieben
ist die Vernehmung in der gerichtlichen Vonintersuchung in Hessen
(Ges 1848 §§157; 172) und Hannover (§§ 108; 120). Dmeli dieae
Vernehmung soU dem Angeschuldigten Gelegenheit gegeben werden,
die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgrttnde zu entkräften und Ver-
teidigungsgrflnde vorzubringen. Erfolgt ein Gestftndnis des Ange-
Bcbuldigten, so ist dieses anzunehmen. Ein Hinarbeiten auf ein solches
Geständnis aber durch Suggestionen, kap4i(tae IVagen, Versprechungen,
Vorspiegelungen usw. wird ffir unzulissig erklärt*)' Femer sind die
sogenannten Ungehorsams- und LAgenstrafen verboten. Nur UngebtthTi
Drohungen und Schmähungen darf der Untersuchungfirichter diszipli-
narisch ahnden 0> Allgemeine Ermahnungen und Vorhaltungen an
den Angeschuldigten und spezielle Vorhaltungen Uber Widerspruche
mit Aussagen Dritter erklären: Bayern, Art. 43 und 38 — Thüringen,
Art 127; I2:i — Sachsen Art 168; 171 für zulässig. So ist das Hin-
arbi'it<'n auf ein (ieständnis fn-iHch nicht ganz beseitigt, aber goofen
die -Mittel, die hierzu angewendet wcnlrn dürfen, ist im Vergleich mit
denen des InquisilionsprozcNscs durchaus nichts einzuwenden. Bei
seiner ersten Vernehmung sollen dem Angeschuldigten alle gegen ihn
vurliegenden Verdachtsgründe mitgeteilt werden; ebenso sollen ihm die
Gründe für eine etwaige Untersuchungshaft angegeben werden
(Hannover $ S2 — Thüringen, Art. 103 — Sat lisen, Art. 152). Diese
Vorschrift, die dem englischen Rechte entnommen ist, wird nicht nur
von den Gesetzgebungen anerkannt, sondern auch die wissenschaft-
lichen Darstellungen des Straf^erfahi'ens, sowie die Keformvorscbläge
Aber Verbesserung des Stialver&hrens sprechen diese Forderung aus*).
t) Wfirtteniberg St. P.O. § UO, Baden StP.O. § 199, Bayern Art 42, Hifl-
ringen Art 126, Hannover! SS, Österreich S 1T7, Preu^-Entw. % 197, Sachsen Art 17! .
2) Kassel, Gesetz r. 1848 § 171, Ili&ringen Art 98, Hannover 1 78, PreoA.
Entw. § 21«.
3) Z. B. Jagcinann, Gcrichtssaal. 1»49. I. 122ff., Mittermaier, Archiv
für Krim.-Becfat N. F. 1849.
Aithlv fir Kriwfaihmthwyotogi» XIIL 6
82
11. PAumr
Dagegen hält Ahegg. (Arcliiv für Krim. -Kocht N. F. 1841 S. 206 ff.)
die sofortige Mitteihinir der Ver(Uiclitsgrün(U' für verfehlt ').
Die Strjifitrozelionlnung von Braunschweig 43j gelit noch
weiter; sie legt dem Untersuchungsrichter die Pflicht anf, dem Ange-
schnldigten mitzuteilen, daß er su keiner Antwort verpflichtet sei
Zulassung einer Verteidigung und Akteneinsieht
wfthrend der gerichtlichen Voruntersuchung:
Nach Schlufi der gerichtlichen Vomnteranchung erst kann nach
den deutschen Geeetigebungen der Angeschuldigte sich durch Einsicht
der Akten von den gegen ihn Torli^nden Verdachtsgrflnden ttber^
zeugen; erst jelit kann er sich zu seiner Verteidigung voUstindig vor-
bereiten und sieh cTent einen Verteidiger nehmen. <}
In LSndem, in denen eine doppelte Prüfung des Materials der
gerichtlichen Voruntersuchung stattfindet, ist dem Angeschuldigten,
sobald das Vorweisungserkenntnis Rechtskraft gewonnen hat, ein Ver*
teidiger gestattet, dem auch die Akteneinsieht erlaubt ist (Kurliessen
§ 225 — Altenhurg, Art. 180). Arnold im Archiv für Kriminalrecht
N. F. 1 856 S. 103 ff. verlangt, dal^ schon nach Erla^ung des Ver-
weisungsurteils und nicht erst mit Rechtskraft desselben dem Ver-
teidiger diese Reclite gegeben werden, wenn gegen ein solches Er-
kenntnis eine Nichtigkeitsbeschwerde zugelassen wird, was in Bayern,
Art. t>6 — Altenburir, Art. 190 - Sachsen, Art. 43 und .32, der Fall ist.
In Baden (Ciesetz vom 5. Februar 1851) ist dem AngeschiiMiiri. n
selbst Akteneinsielit gestattet, wenn nicht besondere Hinderungsgründe
vorliegen. Tliüringen Art. 196; 19s — Weiniar-Schwarzburg (Novelle
von 1854 3<t 40; 43 ff.) — Nassau i(n'!selz vom 17. Mai 1S49
Art. 74 gestatten die Akteneinsicht nach geschlossener Vorunter-
suchung schon vor Erlassung des Verweisungserkenntnisses. Einige
von den deutschen Strafprozeßordnungen gestatten schon während
der gerichtlichen VoruntersuchuDg eine Verteidigung mit Akten-
einsicht Hier ist zu nennen:
1. Braunschweig (St-P.-O.v. 1849 §8) 0ie Aktenemsicht ist
dem Verteidiger schon während der gerichtlichen Vomntersncfaung
1) Der Onterendninftmlehter wird nseh Aheggs Meinung vielflMb sciiift
Mittel \ er])rnu(lu'ii um! ziii^eii, wie viel er bis jetzt von der Sache weiß. Da-
durch winl er ahiT oft den Aiif^e>cimldif^toii im Keiifjnoii bestärken. AI»o«r^
hält es für das liiciitif^^ie . derarti^ji- l'ra^en nicht ^'es«-t/li« h zu ref^eln , soiidcru
deui Ermessen des L'nteriiucliuiigsrichicr» je nach Lu^^' de» einzelnen Falle» zu
fiberlA8sen.
•2) Preuüen, Vcrord. 1949 $ 16, chenso Bayern, Gesetz v. 1848, Tharingen,
äuP.O.Art 6, li)b,01denbuif:,StP.O. Ibö7 Art. 173, Hannover, St P.0, 1869, §60.
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Die gericfadidie Vomntennchang.
88
gestattet, sobald der Angeschuldigte verhaftet ist oder ein Verhilr, Haiis-
ßuchung und dergl. abgehalten ist. Audi kann sieli der Verteidiger
ohne Gegenwart dritter Personen mit dem verhafteten Angeschuldigten
besprechen (§ 7). Eine Auslieferung der Akten in die Wohnung des
Verteidigers findet nicht statt. Daß auch dieses gewährt werde
wttoscbt Tri est in seiner AbhandluDg: ^Über die Verteidigung in der
Voinntersaehnng und Bechtsmittel gegen Anklagebeschlüsse" (Qolt-
dammers Axchiy Bd. IX & 662 ff; 800 ff.).
2. Baden (St.-P.-0. 1845 § 189) bestimmt: Der in PrftTentiThaft be-
findliche Angeschuldigte kann den Besuch yon Personen, die mit ihm
in GeflchSftsTerhlUtnissen stehen oder mit denen er sieh zu beraten
wttnseht^ yerlangen. Akleneinsieht ist dem Verteidiger und Beschul-
digten unter Aufsicht einer Gerichtsperson gestatteL
3. Anhalt iGesetz vom 10. September 1853, § 35) gestattet eben-
falls Akteneinsicht und Verteidigung.
4. Sachsen-Altenburg (St-P.O. v. 27. Februar 1854, Art. 115) ge-
stattet eine Verteidigung während der Voruntersuchung. Ist eine Ge-
fährdung der Untersuchung zu befürchten, so wohnt den Besprechungen
zwischen Verteidiger und Angeschuldigten eine Gerichtsperson bei.
Die Akteneinsicht ist dem Verteidiger in) Gerichtslokale gestattet
5. Die Straf prozeliordnung von Sachsen (13. Auir. 1855, Art 41)
gestattet gleichfalls die Verteidigung in der Voruntersuchiinir, jedoch
nur in beschränktem Unifjmge. Es ninl» nämlich allen Ht spreeliungen
zvvisehen Verteidiger und Angeschuldigtem eine Gerichtsperson bei-
wuiinen. Eine Akteneinsicht kann der Untersuchungsrichter gestatten,
wenn dadurcli keine Gefährdung des Untersuch ungszweckes zu be-
fürchten ist').
Öffentlichkeit «resp. Parteieaöffeutlichkeit) der ge-
richtlichen Voruntersuchung.
Im Anschluß an das englische Recht, wo die Voruntersuchung
öffentlich ist, haben sich «Dch in Deutschland yereinzelt Stimmen
gefunden, die eine solche Öffentlichkeit der gerichtlichen Vorunter-
suchung befürworten, z. B. Daicke (Goltd. Aroh. XIV. a 15 ff.)^).
1) Cb«r diu Frage aelbet, ob eine Verteidigung und Aktenwiddit in der
gerichllkhai Vonintenacbtinir stattfinden soll oder nicht, ist viel geetritten. FQr
Zulassung der V«rteldigung in der Vonintersuchung spricht sich aus: v, Tippel s-
kirch (üoltdammers AiHiiv. II. S. :n9ff.), Dalcko iGultd. Aa-h. XIV. S. ir)ff.,
gegen die Aktcueiuaicht üägt er Bedenken) und btemann (üoltd. Arcb. XVIU.
3) Er wfinaebt mindeetena einen öffentUohen AbBcblu^ derVonmteiBiicfaung.
Dadnrch w&ide dn Angeedraldigter, g^en den das Yeifehren eingeateUt wird,
6»
84
IL POION
Im allgemeinen legte man aber in dieser Zeit weniger Gfr wicht anf
diese vollkommene öffentlitlikeit (s. darüber u. S. 102 ff.) als auf die
Parteienöffentlicbkeit. Eine solche kennt von deutseben Gesetzgebungen
nur die Strafprozeßordnung von Braunscbweig (§7), die dem Ver-
tadiger des Angeschuldigten gestattet, bei allen Unteranchungs-
^andliingen nnd aneh bei der Veroehnning des Angeschuldigten zugegen
zu Bein. Diese Vonehrift, die zunächst wenig Anklang fand, bat im Laiife
der Zeit immer mehr Anhänger gefunden (s. darüber nnten S. 104 ff.).
§ 18.
Mint der fcifelitUebMi Tdrantannchuig ani Bewhlwillunnir äfeer die
EfefIhnBf des HanptTMflArna.
Erachtet der T/ntersucbungsricbter den Zweck der VorunttT-
suchung für erreicht, so scblieIH er dieselbe. Was nun das weitere
Verfahren l)etrifft, so lassen sich nach den deutschen Gesetzgebungen
dieser Periode zwei Gruppen bilden:
1. Es ist die Einrichtung einer Batskammer Tor>
h an den. Diese bat den Gang der gerichtlichen Vomniersnchung
zu kontrollieren, ttber wichtige Handlungen zu beschliefien und
Differenzen zwischen Staatsanwalt und Untersuchungsrichter zu
schlichten. Dieses Verfahren, das in Frankreich herrschte >j galt in
Deutschland in Preufien (Verordnung v. 1849 %% 47, 76, 1% Bayern
(Gesetz von 1848, Art 47ff.), Hannover (St-P.-O. % 120^ Baden (Ge-
- setz von 1851, 8f 30fl, 40, 77 ff.), kurhessisches Gesetz $172ft,
Oldenburg (St-R-C, Art 225 ff^ 240 ff.), Sachsen (Art 22d ff.). Diese
Batekammer, die aus einem kollegial iscb besetzten Gerichte besteh^
wartet nach Schluß der gerichtlichen Voruntersuchung die Antrabe
des Staatsanwalts ab und entscheidet dann über das Resultat der
gerichtlichen Voruntersuchung. Betrachtet die Ratskammer den Straf-
fall nun zur weiteren Verfolgung geeigne, so gelangen die Akten in
die Hände der Anklagekammer, die endgültig über die Eröffnung
des Hauptverfahrens oder Einstellung des Verfahrens entscheidet.
2. Es ist keine Ratskammer vorhanden. Die Akten
gehen von dem [Untersuchungsrichter an die Staatsanwaltschaft Diese
stellt ihre Anträge und gibt die Akten, wenn es sich um ein Ver-
brechen bandelt, dann weiter an die Ankiagekamuicr, welche ihrer-
Tollkommeoer rehabilitiert »ein vor der Mitwelt, da ein jeder sich von dem gegen
denselben vorlicK-enden Vcrdaclit und peiner l-ntschoIdlgUDg einen Begriff über
die Unschuld des Augeaubuidigtcu machen kann.
1) Codedlnetroetkni crimiBelle, Art. 127—134, abgeändert durch Oeeets rom
IT.JoU 18M.
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Die geriditUdie Vornntenndiiuig.
65
seits Beschluß falU über Krüffnun^ des IlaaptTerfahrens oder Ein-
BteUmig des Verfahren». Lici^t ein Verirehcn vor, so ist ein Beschluß
dnes Gerichtskollegiums nicht erforderlich. Ein solches Verfahren
herrschte in Frankreich seit dem Oesetz vom 17. Juli 1856*). Ebenso
ist das Verfahren jrere^elt in liraunschweig f§ 45 ff.); Altenburg
lArt. 174 ff.. IS2 ffi; Thüringen (Art. 194 ff., 200 ff. s. a. die Ab-
änderunfrt ii durch Gesetz von 1S54, 4} ff.i. Damach soll die An-
klagekanin i er nur bo.'^oliließen, wenn die Staatsanwaltschaft wegen
Verbrechen Anklage erhebt In den übrigen Fällen beschließt das
Gericht unterer Ordnung.
l her die Frage nun. welchem dieser beiden Prinzipien der Vorzug
zu geben ist, hat sich ein lebiiafter Streit erhoben, als in Frankreich
die Katskammer durch Gesetz vom 17. Juli 1856 abgeschafft wurde-).
MittermaierundWalter(Gericbt88aall857l.S.Slff.,II.S.200ff.)
und für Bdbebaltong der Batsluinimer und also für zweimafige
PrOfong der Anklage bei Verbreeben* Sie sipd der Meinung, daS
Art 133 des Code d'instr. orim. bätte geändert werden mfissen, was
aaeb schon Möbl (Zeitsobrift ffir dentsebes StrafTerfabren N.F. 1844,
S. 230 ff.) bef&rwortet bat Von Zeitersparnis könne keine Bede sein.
Triest (Holtzendorffs Strafreobtszeitnng 1861, Sp. 89 ff.) ist nicht
fUr direkte Aufhebung der Kalskammer; er will sie bestehen lassen,
damit sie dem Untersnchnngsrichter, der im Zweifel ist. Bat erteilen
kann usw. Nur hfilt er die zweimalige Prfifung der vor das Schwur-
g^cbt LM^iörigen Sachen für vollkommen verfehlt und ist für eine
nur einmalige Prüfung der Anklage durch die Anklagekammw.
Diese Ansiebt von Triest bat viel für sich. Die zweimalige Prüfung
Tersobliogt nur unnötigerweise Zeit. Die Beschlüsse der Batskammer
z. B. auf Ergänzung der gerichtlichen ^'orunte^suchung usw. kann
die Anklagekammer ebenso gut abfassen wie die fiatekaramer. — Wie
1; Der rntorsn cliunpsrichter ontscheidet hier: a» daP kein rtrund zur Stiaf-
vcrfolguug vorbanden ist; b) dui> die Sache au das kumpoteute Polizei- oder
Zuchtpolizcigerioht sn venreiera «m; e) daf bei Verbreehen die Akten durch den
Staatsanwalt an das AppeUationsfferidit gesandt w»den. I>ieMe entBcbeidet anch
Ober Diff^ienaen zwischen Staatsanwalt und rntersuc lnin>isnchtcr.
2» Siehe darüber: Gericlitssaal is:.-. Ai)tl. S. sl ff. II 200 ff, Holtzendorffs
Strafrccbtszeitung. tStil. Sp. 89. Den Anlaß zu diesem Gesetze gab Art. 133 des
Code dtnatr. erin. «nnr eine Stimme genügte ffir den BeecUal^ der Batskammer,
daß der Straffali an die Anklagekammer verwiesen worde. Nun aber batte der
Cntersuchungsrichter Sitz und Stimme in der Ratskammer; also konnte er allein
schon Verweisunjr di-r .Safhc an die Ankia^^ckaninier bewirken. Paher hat das
Gesetz von lS5ö die iiatäkammer aufgehuben und dem Lutersuchuugsrichter ihre
Befugnisse fibertragen**.
86
IL POLZIH
wir soelx'n gcselii'n haben, entscheidet über die Zulassung der An-
klage nach abjrelialtener gerichtlicher Voruntersucliung immer das
Gericht. Hei (U ni stjuitsanwaltliclien I>niittelungsverfaliren kann der
Staatsanwalt nach 8chluli desselben Hclbständig darüber entscheiden; er
kann Anklage erheben oder das Verfahren einstellen, liei der gericht-
licben Voruntersuchung ist aber immer ein Beschluß des Gerichts nötig,
dem entsprechend der Staatsanwalt eveat seinen Antrag zu ändern bat.
Inhalt des ßeschlnsses Aber die gericbtliohe Vor-
antersuebang:
a) Kein ErSfhrangBbeschlnfi ergeht 1. bei mangelnder Zustftn-
digkeii In diesem FRUeerUSien Hannoyer § 117; PrenO. Entr. % 259
das bisherige Verfabiea fOr nichtig. Der Stnatsanwalt bat dann das
Beeht^ eine neue gericbtliebe Voronterenebnng bei dem kompetenten
Geriebt zn beantngen. Verhaftong und Beschlagnahme dllifeii event.
innerhalb einer festgesetzten Frist beibehalten wefden, damit der Staats-
anwalt in dieser Zeit die nStigen Vorkebrongen zu dem neuen Ver-
fahren trefien kann. Dagegen lassen Bayern (Art. 154); Thüringen
(Ges. y. 1854, % 34) und Österreich (§§ 50 £f.; 196) die stattgefandene
Vomntersucbnng als gültig bestehen.
2. Wenn die gerichtliche Vornntersnchnng yeryoll-
fltändigt werden soll').
3. Die endgültige Entscheidung kann für einige Zeit
hinausgeschoben werden. Gründe der Art sind: Abwesenheit oder
Flucht des Angescliuldigten; Rücksicht auf andere Prozesse, deren
Auagang für die Entscheidung von Wichtigkeit sein kann.
b) Ist der Fall aber zu einer BeschluBnahme vollkommen reif,
so lautet der Beschlui') je nach Inhalt des Materials der gerichtlichen
Voruntersuchung: 1. auf Einstellung des Verfahrens; dies tritt
besonders ein, wenn vorauszusehen ist, daü die Anklage kein Ötraf-
urteil herbeiführen wird wegen Mangels von Beweisen für Strafbar-
keit der Tat (usw. usw.) oder wegen nicht hinreichender Verdachtsgründe
nnd einigen andern Gründen-). Dem Einstellangsbescbfaifi smd die
für Einstellung des Yerfobrens maßgebend gewesenen Gründebeizufügen.
2. auf Weiterfttbrung des Verfahrens (sog. ?er-
weisnngsbeschlnß) d. h. das Gericht bJUt den yorliegenden Stoff
1) Danastadc Art. öO, Nassau Art. 82, Preo^n 41, 77, Braanachweig
S 97 fr., ThOringen, Gesets 1854 S SS, Hannoyer § 114, Kassel, Oeselz t. 1891
$ S7. Sachsen Art. 237.
2i Darnistadt Art. 77, Nassau Art. 79, *^:{, l'rculH'n 47, 7H. Brann-
schweij; § ys, Hannover §§ 115, 124. Kassel. Cosetz v. 1851 §37, Uesetz v. lJ>4y
§§ 176, ISb, Buden, Gesetz v. 1851 § 79, Thüriugeu, Gesetz v. 1854 $35, Prenj.
Entw. § 262, Sachsen Art 285.
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Die gerichtlicfae VonmtenadiiiDg.
87
zur Rejrründiin^' t'iuer wirksamen Ankln^n' für ausreichend und be-
auftraget den Staatsanwalt, diesem Hosi-Iilnl» entsprechend seine Ankhi-re
zu stellen. Der \'erwei3un^;shescliiur> kann den .Straffall nun weiter-
freben u) an ein Strafgericht unterer Ordnung. Da für derartige Fälle
eine gerichtliche Voruntersuchung unzulässig ist, würde das Natür-
liche sein, daß in einem solchen Falle der Besch lul) des (Tcrichts
auf Einstellung des Verfahrens lautet und der Stiuitsan waltschalt
das weitere tiberlassen bleibt (so Österreich § 199). Die meisten Ge-
setzgebungen dieser Periode haben aber diese Konsequenz nicht ge-
sogen und yerlangen einen Verweisungsbeschlaß ß) an ein Stnf-
gerieht mittlerer Oidnnng, /) an ein Schwurgericht bei Verbrechen.
Neben dieser VerweiBang an ein (s^cht mnfi der Beechlnfi enthalten:
die Tat mit ihren erbeblichen Beetandteilen, StmferhöhungsgrQnden
(Darmetadt und Naasan) nnd die rechtliche Gnindlage der Ankhige.
Ober die rechtliche Natur des Verweisnngsbeschlusses
ist viel gestritten worden. Die Bexeichnmig in den einsebien Gesetz-
gebnBgen („Beechlnfi, Erkenntnis, Urteil, Entscheidnog^) deoten eben-
faÜB darauf hin. Als Urteil ist der Beschluß nicht anfznfiusen, da
er nicht definitiv entscheidet über Schuld oder Unschuld, sondern
nur über Batsamkeit des weiteren Hauptverfahrens sich ausspricht.
In gewissem Sinne hat der Beschluli aber doch die Bedeutung eines
Urteils, nämlich wenn er auf Einstellung des Verfahrens lautet. Die
gerichtliche Voruntersuchung gegen eine bestimmte Person wegen
eines bestimmten Verbrechens darf nämlich, wenn der Beschluß auf
Einstellung des Verfahrens lautet, nicht wieder aufgenommen werden,
es sei denn, d&U neue erhebliche Verdachtsgründe bekannt werden''^).
III. Teil.
Die gerichtliche Vorontersochung in der Strafprozess-
orduong für das Deutsche Reich.
A. Dm geltende Recht
§ 14.
bkfttt and dang der i«riditiielieB Toruitenwdnuf .
I. Der zweite und dritte Entwurf der Beichsstrafprozefiordnung
ging in der BeschrBnkung der gerichtlicben Voruntersuchung ziem-
1) So Darmstjult Art. *^2, Nassau Art. S4, Braunsdiwcig § *.t^ , Haniiov< r
116. 124, Baden, Gesetz v. 1851 § 80. Kassel, Gesetz v. 1851 § 37, Thiuiugen
Oeeetz v. 1654 1 84, PrniO. Entw. § 263, Sachsen Art. 236.
2) Saduen Art. 886, Thüringen Art. 334, Baden, Gesetz v. 1S51 § IIB
Hannover $ 126, Bnumscbweig $ 48, NassM Art 91 ff., Darautadt Art 89 ff.
88
II. POLZIX
lieh weit Er eiUürte die geriobUiobe VonmleiBiieliang für notwendige
in leichsgerichUicben Sacheni für nnnittaBig in Saehen, die tot die
Schöffengerichte gehören. In den Übrigen FSUen soll das ErmeeseD
des Staalsanwaltee entscheiden Über die Fcage^ oh ^e gerichtliche
VornnterBachang stattfinden soll oder nicht (3. Entwurf % 149). Er-
folgt in diesen letiteren FSllen aber unmittelbar Erhebung der An-
klage durch den Staatsanwalt, so kann das Gericht die Ffihrnng oner
gerichtlichen Vomntennehung Terantassen, wenn es die Sache dnreh
das aufiergerichtlicbe Ermittelungsverfaliren nicht für genügend vor-
bereitet erachtet Die Keiclisstraf Prozeßordnung selbst (§ 176) folgt
der bisherigen gesetzgeberischen Praxis nnd erklärt die gerichtliche
VonintersQchung für notwendig in den Sachen, die zur Zuständigkeit
des RHiclis«:erichts oder der Schwurgerichte gehören (§1761). In
den Straf>acli( n. für die das Landgericht kompetent ist, find^ eine
gerichtliche Vuruntersudiiing statt:
r) Auf Antrag dt» Staatsanwaltes, der bisherigen Gesetzgebung^
folgend.
b) Auf Antrag des An,ü:tbeliTildifrten, wenn er erhebliehe Gründe
geltend macht, die eine gericlitlielie Voruntersuchung zur Vorbereitung
seiner Verteidigung nötig crsdieinen lassen (§ 17G II) entsprechend
dem Vorschlag dess 3. deutschen Juristentages. Uber einen der-
artigen Antrag des Angeschuldigten entscheidet das Gericht t§ 199 III).
c) Auf Anordnung des Gerichtes. Dieses kann nämlich, falls
eine gerichtliche Yorontersuchung nicht abgehahien ist, sur besseiea
Aufklärung der Sache die Eröffnung derselben anordnen bei der Be-
schlußfassung über die Eröffnung des Hauptveifahrens (§ 200). Diese
Bestimmung tritt hier zum ersten Male auf; sie bezweckt eine Ver-
hinderung Idchtfertiger Anklageerhebung durch den Staatsanwalt
In den Strafsachen, die vor das Schöffengericht gehören, ist die
gerichtliche yonmtersnchung ebenso wie vor 1877 unzulässig. Statt-
finden kann sie bei derartigen Straelen, wenn sie infolge mee Zu-
sammenhanges mit einer anderen Sache höherer Ordnung yeri>unden
werden i^j ITi; vgl. §5)*).
Ii. Die Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung erfolgt auf
1) Gnoist und v. Bar wünschten in ihren Benicrknnf2:cn znm Entwurf
einer Strafprozclionlnunj.'- eine ohli<ratorische gericlitliclie Wtnuitersuchunfr in allen
Uaftsachen. Dies»es Veilangcu war uuch nach den Vurecliriften des Entwurfes I
über Verhaftang bereditigt. Dnrch Ändenmg dieser Paragraphen (99, 114, 115)
Ober Verhaftung ist die^ieni Wunstehe genügend Rechnung getragen und eine ge-
richtliche Voruntei-sucliun^' in lIaftBacbeiiflberflfi88ig(8. a. & Mayer, Bemakimgen
zur ätrafprozeßordnusg, ä. 104).
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Die geriditHche Voruntemidiiiiig. 89
Antrag' des Staatsanwalts und {;ilt als Erliehunfr (icr öffent-
liclien K!a<re. Dius frrschah, um dem Staatsanwalt, dem die Initia-
tive der Slrafverfojf^un^ zusteht, die Einwirkung auf da^ Verfahren
zu entziehen, wenn er einmal die Sache dem Gerichte ührrwiesen
hat. Die Motive zur Stratprozeliordnun^; (S. 8S) rechtferti^j;en dies
damit, (lall, wenn einnud das Kichteramt sich mit der öffentliclien
Kla^e befaJit habe, es ebenso sehr dem Wesen einer Strafsache als
der Würde des strafriehterfiohoi Amtes eotsiiieche, den Fortgang der
Saehe Dioht mehr dem eiiiseitigeii ErmeMen der StaateanwaHsehaft
zu anterBtelleD, daß die Klage vidmehr dnreh richterliche Eniaeheidung
ibie Erledigang finden mllBse. — Außerdem hat diese Maßnahme
einen bedeutenden praktischen Wert Bei komplizierten StiaffiUlen
nämlich wird die Frist von höchstens vier Wochen, Aber die ein
Haftbefehl vor Erhebung der öffentlichen Klage nicht ausgedehnt
werden darf (St-P.-O. § 126), oft nicht genügen. Wenn nun der
Antrag auf Eröffiiung der gmhtlichen Voruntersuchung nicht der
Erhebung der GffeDtlichen Klage gleichstünde, so wUrde sich als
zwingende Notwendigkeit erprehen, daß bei Ahlauf der Haftfrist
der Staatsanwalt entweder eine nicht genügend vorbereitete Anklage
erhebt oder aber einen, wenn auch noch so schweren Verbrecher
wieder in Freiheit setzen mul). — Dieser Antrag der Staatsanwaltschaft
auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchunf!: muß den Beschul-
digten und die ihm zur T^ist ^relegte Tat enthalten i§ 177\ Weitere
Angaben über Verdacbts^rründe usw. enthält dieser Antra^^ nicht.
Dem Antruij: sind die bisher ireführten Akten beizule^^en. Der l'nter-
suchun^srwlitt r linl den Antrag; des Staatsanwalts auf seine Zulässij^-
keit zu prüfen. »Stflit der Eröffnunj^ der ^^t ru litlichen Vonuiter-
suchuuf? nichts im Wep', so eröffnet der Untt'rsuchun/;srichter die
Voruntersuchung' durch eine diesbezüjLrliche Vcrfü^^un^ (§ 182). —
\'('n dieser Zeit an kann der Stmit.sanwalt die Khiijre nicht mehr
zuriieknelimen ^§ 154). Gegen diese Vorseliiift des § ir)4 sind viel-
fach Einwendungen erhoben. Man verlangt vielfach für den Staats-
anwalt das Recht, die Klage zurücknehmen zu können bis zum £r-
öffoung8be8chluß(soS. May er ; ähnlichstem an n, im GlericbtssaalXXV).
Die Österreichische Strafprozeßordnung von 1873 (§ t09) geht noch
weiter und gestattet die Zurücknahme der Anklage durch deo Staats-
anwalt noch in der Hauptverhandlung, bis zu dw Zeit, wo der
Gerichtshof sich zur FSUung des Erkenntnisses zurückgezogen hat
Durch eine solche Bestimmung wird das Anklageprinzip folgerichtig
duiohgeführt Die Vorschrift ist daher auch vielfach mit Freuden
begrüßt, z. B. von Bar (Prinzipien der österreichischen Si-P.'O. von
90
IL PoLzm
1873 in Orünhuts Zeitschrift 1874, 8. 305). . . Immerhin dürfte aber
die Vorschrift der deutschen StrafprozeÜordnung, nach der der Staats-
anwalt die Klage niebt mehr sniHekiiehiiien kann, sobald sieh das
Gericht mit der Saebe befkßt bat, den Voizag Terdienen, denn es
widerspricbt dem Wesen der gericbtlioben Vomntersnebnng als ein»
Handlung des Geriebts, dafi an dem Geriebt femstehender Beamter
dieselbe inhibieren nnd iUnsorisch maobenkann und der SelbsIXndigkeit
nnd ünabbftngigkeit des Geriohls Schranken setzen durfte. Ganz ab-
gesehen von diesen prinzipiellen Gründen würde eine derartige Befognia
den Staatsanwalt oft zn ToieOiger Beantragung einer geriobtlieben Vor-
nntersnchnng verleitmi, da ihm jederzeit die Rilcknahme des Antragea
gestattet ist. Hierdurch würde der Untersuchungsrichter nutzlos belastet.
Hält der Untersuchungsrichter den Antrag des Staatsanwaltes
für unzulässig, so hat das Gericht über die Zulässigkeit des Antrages
zn entscheiden, nicht der Untersoohungsrichtcr selbst'). Abgelehnt
werden kann der Antrag nur wegen Unzuständigkeit des Gerichts
oder wegen Unzulässigkeit der Strafverfolgung oder der Vorunter-
suchung selbst (§ 178, <j t7();. Außerdem ist der Antrac: abzulehnen,
wenn die in ihm bezeichnete Tat unter kein Strafgesetz fällt (§ 17S).
Nach § 178 II kann der Beschuldigte vor der Beschlußfassung ge-
hört werden. Das hängt mit dem Rechte des Beschuldigten zusammen,
gegen die Verfügung, durch welche auf Antrag der Staatsanwaltschaft
die Voruntersuchung eröffnet worden ist, aus den ebengenannten
Gründen Einwand zu erheben, über den ebenfalls das Gericht ent-
scheidet. Bei reichsgerichtlieiien Sachen ist für diese Beschwerden
kom])etent der erste Strafsenat des Reichsgerichts (§ 138, G.-V.-G)
Wird dagegen die gerichtliche Voruntersuchung auf Antrag des Ge-
richtes eröffnet (§ 200), und ist der Angeschuldigte hierbei gehört,
so bat er kein Mittel, die Vomntenpehnng anznfeebtea. Gegen den
Besehlnfi des Geriehtes über solebe Bänwendungen des Angeschul-
digten hat letzterer ein Beebtsmittel nnr bei dem Einwand der Un-
snstKadigkeit (| 180, vgl. § 16). Femer haben der Staatsanwalt und
der Besebnldigte das Beebt der sofortigen Besohwerde gegen den
Gerichtsbeschlnß, wdcher den Antrag auf ErOffnnng der Vorunter-
snohnng gemftß § 176 und § 199 ablehnt
1) DastndcItOrtloff (Goltd. Archiv. XXX. S.JnMff.. ZcitM-lir. f. pos. St U.W.
1SS2. S. 497 ff ), der überhaupt dem Unterauchungsi-ichter möglichst wcitgeheude
Befugnisse geben will. Der UnterBttchungsricfater aoU, nach Ortlof f , alle in den
Bereich der Vornntenocfanng fallenden VerfQgangen and Entaeheidnngeii sdlMt
troffen nnd aoBffihren. Das Gericht soll sidi nur mit Beecfawerden gegen solche
Beechlflaee des UnteiaochnagBricbten zu befassen haben.
IHe geriditlidie Voinntenadmii;.
91
III. Führung der gericbtlicben Vorantersachung — Übertragang
an einen Amtsrichter.
Die Voruntersuchuno; wird in der Kefrel von dorn ünteröiichungs-
richter des Landfrericlits eröffnet und geführt, der geiiiiiri § 60 des
G. V.-G. durch die Landesjustizverwaltunfj bestellt wird. Ausnahms-
weise kann durch Heschluß des I^ndfrerichts auf Antrag' der Staats-
anwahschaft die Führung der Voruntersucliun^^ einem Amtsricliter
übertragen werden (§ 183). Was diesen Punkt betrifft, so wünscht
Seeger (Gerieldssaal Bd. 33, S. 241 — 247 1, daß nicht nur die Führung
der gerichtlichen Voruntersuchung durch einen Amtsrichter erfolgen
kann, sondern auch die Eröffnung derselben, eine Meinung, die auch
Thilo, Keller, Puchelt und Ortloff (Ztschr. f.ges. St-R.-W. 1882,
8. 497) Tertreten. — Löwe und Doeho w dagegen yerlangen zar Er*
öffhimg der gerichtlicheil Voranteraoehung den Beschlnfi des Unter-
snchiiiigBrichterB. Nach ihnen kann der Amtsrichter die geriohdiohe
Vomntennchnng nnr fuhren, nicht aber ancb sie erSffnao. Dieser
Meinung, die auch dem Wortlant des § 183 entspricht^ ist wohl eben
dämm der Voring sn geben, wenngleich zn bemerken ist, daß prin-
zipiell gegen die G^egenmeinnng als BeformTorschhig nichts ein-
zuwenden wire. Um Vornahme einzelner Untersnchnngshandlnngen
kann der Untersuchungsrichter die Amtsrichter ersuchen; diese müssen
einer solchen Aufforderung des T^ntersuchungsrichters entsprechen, es
sei denn, daß sie mit ihm denselben Amtssitz haben. In diesem
Falle können die Amtsrichter eine diesbezügliche Aufforderung des
Untersucbungsrichters ablehnen (§ 183 II und III). Bei dem Reichs-
gericht, wo kein ständiger Untersuchungsrichter vorhanden ist, wird
er für jeden einzelnen Fall aus der Zahl der Mitglieder durch den
Präsidenten bestimmt (4} 1^4 1). Der Präsident kann jedes Mit-
glied eines andern deut.schen (Jcrichts und jeden Amtsrichter zum
Untersuchungsrichter resp. zum Vertreter desselben für einrn be-
stinunten Geschäftskreis bestellen ijj IM II) Diese Untersucliuiigs-
riehter und ihre Vertreter haben gleiehtalls das Recht, um Vornahme
einzelner Untersuchungshandlungen die Amtsrichter zu ersuchen
(§ 184 III).
IV. Art der Führung. Der Untersuchungsrichter hat die ihm
durch den Zweck der Untersuchung gegebene Aufgabe nach eigenem
Ermessen mit den ihm überwiesenen Nachforschungs- nnd Zwangs-
mitteln zn erfüllen. So steht in seinem Ermessen die Vereidigung
der Zeugen in der Vomntersnchnng im Falle des § 65 II, sowie die
Konfrontation von Zeugen (§58); femer hat er das Recht, Vntet-
suchungshaft anzuordnen und event. wieder aufzuheben, letzteres jedoob
92
iL Pou»
nur, falls der Stajitsanwjilt zustimmt : andernfalls entscheidet das Ge-
richt über die Aufhebunj; der Untersuehun^shaft 124 Iii.
The ReihenfoliTf, in der der Untersuchunprsrieliter die einzelnen
llandlunj^^'n vornimmt, ist seinem Ermessen überlassen. Zur Ver-
fügung: stehen ihm die Behörden und Beamten des Polizei- und
Sicherheitsdienstes. Sie haben Aufträge des Untersuchungsrichters
um Ausführung einzelner Maßregeln oder zur Vornahme von Er-
mittelungen auszuführen (§ 1S7). Gewisse Grenzen für seine Tätig-
keit Bind dem Untersnebium^ebter gezogen.
1. Seine Tätigkeit ist auf die Vonmtersiiebaiig besehiinkt; er
darf in Sachen, deren Vorontennicbang er geführt hat, weder Mit-
glied des erkennenden Gerichtee sein, noch bei außerhalb der Han|it'
Verhandlung erfolgenden Entich^dungen der Strafkammer (s. B. Er
OfbiungBbeechluß) mitwirken (§ 23, II).
2. Femer ist dem UnterouehungBriobter eine Grenae geaagen
duieb den Antrag der StaataanwaltBchaft. Ergibt rieh nimlioh
im Laufe der Voruntersuchung Anlaß zur Ausdehnung derselben auf
eine Person oder Tat, die im Antrage dee Staatsanwaltes nicht be-
zeichnet ist, so bat der üntersucbungsricbter nur in dringenden f^len
die in dieser Besiehung nGtigea Untersuch ungshandlungen von Amta
wegen vorzunehmen; im übrigen aber muü der Untersuchungsriditer
den Staatsanwalt hiervon benachrichtigen und dessen weitere Ver>
fOgung abwarten isj is'.ti.
3. Eine dritte Grenze ist der Tätigkeit des Untersuchungsrichters
gezogen durch den Zweck der Voriint<'rsuchnng 1S8). Die Vor-
untersueliung ist nicht weiter ausziidiiinen als erforderlich ist, um
eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das llauptverfahren zu
eröffnen oder der Angeschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei. —
Auch sind Beweise, deren Verlust für die Hauptverhandlung zu be-
sorgen stellt, rider deren Aufnahme zur Vorbereitung der Verteidigung
des Angeschuldigten erforderlich erscheint, in der Voruntersuchung
zu erheben. Schließlich muß der Untersuchungsrichter noch einige
Formvorschriften beachten (§§ 1S5, 186). Bei der Vernehmung des
Angeschuldigten, der Zeugen und Sachverständigen, ebenso bei Ein-
nahme des Augenscheines muß der Untersuchungsrichter einen Ge-
lichtsschreiber zuziehen. In dringenden FSllen kann der Untere
suchungsrichter eine ihm geeignet eradieinende Person als Gerichts-
schreiber zuziehen, diese Person ist dann zu vereidigen. Ferner ist
über alle Untersucbungsbandlnngen ein Protokoll au&unehmen.
y. Bei der Vornahme von Untersucbungsbandlnngen besteht ein
wichtiger Unterschied, je nachdem die Beweiserhebungen nur vor-
Die goriditlidie Vorantmnacbiiiig.
98
bereitender Natur sind oder endirültiore. die in der Hauptverhandlunir
nicht aufjj:enoiiin)L'n werden, sondern nur aus den Protokollen verle.sen
werden. Während näniheh der Untersuchun<;:8richter die vorbereiten-
den Untersuehungshandlun^'en allein resp. unter Ziizieliunjr eines
Gerichtsschreihers (§ IS.')) vorninunt, ist hei den Beweiserhebungen,
die in der Hauptx erhandlunfc nicht wiederholt werden ') der Staats-
anwaltschaft, dem An<reschuldifrten und seinem \'erteidiger die An-
wesenheit bei der Verhandlung zu ^jestatten 191 I — III).
VI. Die Rechte des Angeschuldigten in derVoruuter-
saehnng sind:
a) Einwendungen: Nach §179 kann d« Angenhnldigte gegen
die Verfügung, durch welehe die VornnteiBuebnng auf Antng des
StaateanwaltB eröffoet wird, ans den im § 178 I beseichneten QrOnden
Einwand erheben; dies Becht gebt fflr ihn Terloren, falls die Vor-
nntenncbnng auf Geriohlsbeschlnß eröffnet und der ilngesohuldigle
vorher gehört ist Über diesen Einwand entscheidet das Gericht
b) Rechtsmittel: Gegen den Beschluß des Gerichts, der den
Antng des Angeschuldigten auf Eröffnung der gerichtlichen Vor-
untersuchung aUehnli findet die sofortige Beschwerde statt
c) Nach § 193 kann bei Einnahme von Augenscheinen unter
Zuziehung von SaohverstSndigen der Ang:eschuldig:te die von ihm für
die Hauptverhandlung vorgeschlagenen Sachverständigen laden lassoi
resp. selbst laden; sie dürfen an den erforderlichen Untersuchungen
sich beteiligen, sofern sie die gericbtsseitig bestellten Sachverständigen
in ihrer Tätigkeit nicht hindern.
d) Von großer Bedeutung für den Angeschuldigten ist auch das
Recht der Akteneinsicht (St.-P.-O. $ 147), welches er durch seinen
Verteidiger ausüben kann, soweit hierdurch keine Gefährdung des
üntersuchungszwecks zu befürchten ist (vgl. n. § 17 I am Ende).
e) Sehr wichtig ist die verschiedene Stellung des Angeschuldigten
in der gerichtlichen V'oruntersuchung, je nachdem er sich auf freiem
Fuße befindet oder in Untersuchungshaft ist. Ist über den An-
geschuldigten die Untersuchungshaft nicht verhängt, so kanu er mit
seinein Verteidiger und mit der Öffentlichkeit unbeschränkt ver-
kehren, sowie allen endgültigen Beweiserhebungen der Yorunter-
Buchung beiwohnen. Ist er dagegen verhallet, so treffen ihn große
BesohiSnkungen. Zunichst kann der Untersuchungsrichter, so lange
das HanptverCabren .noch nicht eröffnet ist, schriftliche^ an den An^
1) So Einnahme von Augenscheiiien , Vemefamung von Zeugen, die in der
Haoptveriumdlung am Endieinen veiliindert Bind mw.
94
U. PoLzni
jüreschuldi^t'n p richt» tc Mittt ilun^en zurüekwt'isen , wenn iliiii nicht
vorherige Einsieht gestattet wird. Sodann kann mündlichen Unter-
redungen des Angeschukiigten mit seinem Verteidiger eine Gerichts-
persoD zur Aufsiebt beigegehen werden (§ 148 11 u. III.) Schheß-
fieh kana der Angescbuldigte bei endgültigen Beweberbebungen in der
Vorontenachiing seine Anwesenheit nur verlangen, wenn die Hand-
lungen an dem Orte yorgenommen werden, an dem er sieh in Haft
befmdet (§ 191 IV)i).
VII. Schluß der gerichtlichen Voruntersuchung: Der
Schluß der gerichtlichen Voruntecsnchung ist dem Angeschuldigten
mitsnteiien (f 195 III); femer hat vom Schlüsse der gerichtlichen
Vornntarsnchung ab der Verteidiger das unbeschrSnkte Becht der
Akteoeinsicht (| 147); schliefMich geht der Angeschuldigte des Beohtes,
den Einwand der ünsuständigkeit des Gerichtes zu erheben, Teriustigy
wenn er ihn nicht vor Schiaß der gerichtlichen Voruntersuohnng er»
hoben hat (§ 16). Dies zeigt schon hinlänglich die Bedeutung des
Schlusses der gerichtlichen Vonmtersuchung. Deshalb ist es von Wert^
den Schluß der gerichtlichen Voruntersuebung genau zu bestimmen.
Es sind über den Schloß der gerichtlichen Voruntersuchung drei
Meinungen aufgestellt:
1. Mit der t'bersendung der Akten durch den Untersuchungs-
richter an den Staatsanwalt, gemäß § 195 I, ist die gerichtliche Vor-
untersuchung geschlossen. Die Richtigkeit dieser Meinung ergibt sich
aus St.-P.-O. § 195: Der Angeseliuldigte ist von dem Schlüsse der
Voruntersuchung in Kenntnis zu setzen und zwar naturgemäß durch
den Untersuchungsrichter. Dies wird der Untersuchungsricliter tun
wenn er nach § 195 I den Zweck der Voruntersuchung für erreicht
hält (so Heneke- Beling, Löwe, Ilosenfeld).
2. Eine zweite Meinung nimmt den Schluß der Voruntersuchung
an, wenn der Staatsanwalt die Akten mit seinen Anträgen an dajs
Gericht sendet, wodurch er zu verstehen gibt, daß er von einer Er-
gänzung der Voruntersuebung gemäß $ 195 St-P.-O. absieht — (so
Glaser, Ullniann, y. Kries; ähnlich John, nach dem der Staats-
1) Diese BenachtuiUgimg des veriiaftcteu Augesch uKtigtou hat mau vielfach
mh Recht gerügt, iiubeBondere die Beedirlnkniigen des § 148 II n III. DieM
Vonchriften völlig zu beseitigen, ddrftc aber nicht angebracht erscheinen, da
dann der Zweck der Uutcrsu( lmii«r (Uuch Kollii^iviTien sehr leicht gefährdet werden
konnte. Wo eine »olclic (Jifahr nicht zu licfiUchtcii ist , wird es Sache ein«»s
verständigen üntersiichungönchter» sein, »u lauge er überzeugt sein kann, einen
reclrtachaffenen Verteidiger vor dch za haben, diesem möglichst ungehinderten
Verkehr mit dem Angeadmldigtoi za gestatten.
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Die gOTichtlidie Vorantenadmng.
06
anwalt und nicht der Untersuchungsrichter die Voruntersuchung!: zu
schlicPitn hat . — Hierdurch will man eine Wiederöffnunjr der Vorunter-
suchunfr pniiilt § 195 II vermeiden, die hei der suh. 1 vertretenen
Meinung; allerdinp:s niög:lich ist. Die Anhänjrer dieser zweiten Meinung
erreichen ihren Zweck aber doch nicht. Denn auch bei ilirer Ansicht
vom Scldusse der Voruntersuchung ist die Möghchkeit einer Wiedereröff-
nung derselben nicht beseitigt. Eine solche ist nämlich gemäl^ § 200
St-P.-O. noch möglich durch Anordnung des Gerichts hei der Ent-
scheidung über (lif Eröffnung des Haupt Verfahrens. Also führt diese
Meinung, die einem Mangel abhelfen will, der ihr selbst doch wieder
in gleichem Maße anhaftet, zu unbefriedigenden Resultaten.
3. Will man eine Wiedereröffnung der Voruntersuchung ver-
meiden, 80 kann man dies nur dadurch, daß man den Schloß der
VonintenachuDg eist annimmt, wenn der ErSffnnngsbeBohluß Aber
das Hanptverfahren ergangen ist, eine Meinung, die ein weimar. Min.-
Reskr. Tom 2(i. Dez. 1882 vertritt, n. a. Birkmeyer.
Gegen diese Meinung spricht aber entschieden die JSinteilmig der
Stra4>n>zeßordnnng; es dfirfte anch sonderbar erscheinen, die Vor-
nntenncbnng ttber den ihr im Qesets angewiesenen Babmen ans-
dehnen zu wollen in einen neuen Abschnitt des Verfahrens hinein,
der sowohl vom Verfahren mit vorgingiger, gerichtlicher Vorunter-
suchung, als auch ohne solche bandelt und der den Untersuchungs-
nchter mit keinem Worte erwähnt Somit wäre wohl der ersten
Meinung der Vorzug zu geben, und diese Ansicht ist auch augen-
blicklich Torherrschend.
B. Kritiscber Teil.
§ 15.
(!)t«lluu(^ der gerichtlichen Vorunterüaehuiigr ge^uUber deiu 8taat8anwaltücheii
ESrniltt^lmifBTierfidireii.
Hat die gerichtliche Voruntersuchung gegenüber
dem staatsanwaltlichen Ermittelungs verfahren eine Exi-
stenz!) c icc Ii t i gu njir und inwit'fernV Das ist die hier zu erörternde
Frage. Der Zweck biulir Verfahren ist nämlich derselbe. Sowohl
die gerichtliche Wnuntersuchung als auch das sta^itsanwaltliche Er-
mittelungsverfahren haben den Zweck, dir I [au|)tverhanfllung vor-
zubereiten und eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das
Ilauptverfahrcn /n eri.ffm-n ist (St.-P.-O. § 1S8 vgl. 168). Von vielen
Seiten ist daher die Frage aufgeworfen, oh nicht eins dieser beiden
Verfahren überflQssig sei, und zahlreiche Juristen haben sieb für
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96
II. l'ounr
Beseitigung der gerichtlichen YomntenncbnDg «nsgesprocheii Die
Gründe hierfür waren: die gericbtliehe Voruntersuohnngbeein-
trftehtige die Hanpt7erhandlung in ihrer eoteeheidenden Be-
dentang, insbeeondeie die Unmittelbarkeit der Beweieaufiiahnie in
denelben. Dieser Emwand ist im nftobaten Paragrapbeii dieeer Dar^
ateUnng za erOrtera. Ferner sprieht man der geriobtlieben
Vornnteranehnng ihre Exietenaberechtignng ab, weil ein
„Biobter'^ mit ibrer Fübrnng betrant ist Die Angabe eines
Biehtera bestehe eben nnr im Richten, niebt im Srmittelny welches
doob die Hanpttitigkeit des Untersuchnngsriehters bilde*). Diese theo-
retisehe Behauptung, die von v. Kries, Hugo Meyer, Zuckern, a.
aufgestellt wird, ist nicht stichhaltig. Denn das Ermitteln an sich ist
keine dem Richter femliegende Aufgabe. Auch in d^r Hauptver-
handlung bildet es ja einen henronagcnden Bestandteil Heiner Tätig-
keit^). Es kann sich also nur daniin handeln, ob praktische Gründe
die Ermittelungstätigkeit des Untersuchungsrichters neben dem staats-
anwaltliehen Ermittelungsverfahren als entbehrlich oder gar als schäd-
lich erscheinen lassen. In dieser Hinsicht hat namentlich Hugo
Meyer (Mitwirkung der Parteien im Strafprozeß, Erlariircn 1S73)
folgendes ausgeführt: Die gerichtlicbe Voruntersuchung werde in
vielen Fällen nur eine Wiederholun des staatsanwnltliclien Er-
mittel ungsverfabrens sein; gebe der UntiTsucliungsriebter aber über
eine solche Wiederholung des staatsanwaltlichen EriDitthingsverfabrens
in der gerichtlichen Voruntersuchung liinaus, so leide die Einheit
des üntersucbungsplanes darunter, es werde auch die Hauptverhand-
lung leicht zu einer Wiederholung der gerichtlichen Vonintersuchung
werden. Die Stellung des Staatsanwaltes (Antragstellung — Antrag
1) S. (). § !) und femer: Hugo Meyer, Mitwirkung der Parteien im Straf»
prozeC, Eiiiin^eu 1873; Wahlberg, Kritik dos Entwurfs einer StP.O. für das
DeutBcho Kcich, S. 62ff.; Ulimann, Bemerkungen zum Entw. einer St. P.O. für
das Dentsebe Reich in HoHzendorffB Straf rechtszeitung, 1&73; v. Rries, Zelt-
•dur. f. gea. StRW. DL, 1889, & 1—105, insbeaondere 8. 79 IT.; Zneker, Gerichta-
aaal, 47. Bd. 8.436- 462; derselbe auf der IX. Jahrosversammiung derdeutschea
Lundeegnippe der Internat, krini. Vereiniofunj? (Bremen), v^rl. Mitteilungen der
kulturpolitischen Gesellschaft: und iieucrdinpi auf <lem KougreU in Dresden
(&. Juni 1903), insbesondere Zucker und Mittermaier.
2) 8ow«it die TKligkiit des UntenaobmigBriehters aber nicht im Bnnittdn
besteht, soll die gerichtliche Vonintenndinng die Hauptverhandlong beeIntriMi-
tigen. SchluD daraus: „Hinweg mit der gerichtlichen Voruntersuchung".
.3) Ebenso H. GroÜ, ^Zur Frage der Vonintei-suchung'' in diosciu Aiehiv
Bd. XIIL S. 191 ff. Mit vollem KecJit sagt GroU: „Richter ist der, der die
Sache sun Rechten bringt und wendet**. Nicht also lediglich hn ,RiohteB'* (,£atr
•ehetden") besteht die TItigkeit des Richters.
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Die gerichtliche Voranteraachung. 97
auf ErfcänzuDf:: usw.) zum UntersuchuDgsrichter in der gerichtlichen
Voruntersuchung störe die Einheit des Untersuohungsplanes. Nicht
eine Beschleunigung des Verfahrens trete ein bei Beibehaltung der
genohtUohenVonmienaehnng, sondern dnegewal tige Verzögerung,
b) im Interesse der Verteidigung. Wenn bei der Vernehmung deB
Angeschuldigten aneh der Zwang zu «nem GeetSndnis ansgeflchloBsen
ist und nach § 343 des Beiebastiafgesetzbuchee schwer beBttaft wird,
so ist im ftbrigen doch in der gerichtlichen VomnteiBuchung noch
der alte deutsche InquisitionsproneB mit seinen Fehlem und Schwächen
Torhanden. Meyer hält die gerichtliche VomnteiBUchung somit für
eine Gefährdung des Angeschuldigten, trotz der watgehenden
Befugnisse, die der erste Entwurf der Strafprozeßordnung dem An-
geschuldigten hot. Auch Wah i her^' (Kritik des Entwurfs einer Straf-
prozeßordnung für das Deutsche Reich S. 62) hätte lieher die gericht-
liche Voruntersuchung beseitigt gesehen. Ebenso ist Uli mann (Be-
merkungen zum Entwarf einer Strafprozeßordnung; auch in Holtzen-
dorffs Stralrechtszeitung 1873) für Fortfall der gerichtlichen Vor-
untersuchung. Alle diese berufen sich auf Gründe, die früher schon
Stemann und Keller aufc:estellt haben (s. o. S. 67 ff.). Wenn die
Gegner der gerichtlichen Voruntersuchung glaubten, sie könnten die
genehtliche Voruntersuchung noch tilgen aus der Strafprozeßordnung,
so hatten sie sich getäuscht. Die Meinung der grolu'n f^berzahl der
Juristen war für ihre Beibehaltung, besonders weil man in ihr neuer-
dings ein Ersatzniittel für die aufgehobene Berufung in Strafsachen
erblickt fs. v, Bar: Kritik der Prinzipien des Entwurfs einer Straf-
prozeßordnung u. a.), wie es in Deutschland schon vorher der Fall
war in Schwurgerichtssaclien. Damals schon hielt man die gericht-
liche Voruntersuchung in Schwurgerichtssaclien für unerläßlich. In
den übrigen Strafsachen w^rd der Ersatz für die nicht unerläßliche
gerichtliche Voruntersuchung in der Statthaftigkeit einer zweiten Instanz
gefunden (s. 0 pp enhof f zu § 75 der preuß. Verordnung von 1849). —
Die Gründe der Gegner der geneliilichen Vonmtmiefauiig wurden viel-
fach widerlegt, so in den Verhandlungen des III. denlschen Jarislen-
tages, sodann von Gneist (Vier Fragen) u.a. In neuerer Zeit hat sich fUr
Beseitigung der gericht&chen Vonmtersnchung noch Kries ausge-
sprochen (s. Zeitschrift für gesamte Strafrechtswissenscbaft IX S. 1
bis 105). Erics will das Stafveifiihren in zwei Stadien zerlegen:
a) Das Stadium der Ermittfamgen (Vorverfohren). Dies soll der
Staatsanwalt führen und nur er kann es. Ein Biditer ist nicht dazu
geeignet, da sdne Aufgabe im Eichten und nicht im Ermitteln be-
stehen kann.
AnUv Mr KrimiBaUBthtopoloi^ XIII. 7
DiyiliZüa by GoOgle
08
IL Poumr
b) Das Stadium der Aburteilung: ('Hauptverfaliren . Hiervon au8-
frehend wünscht v. Kries die Beseitigung der gerichtlichen Vorunter-
suchung. Der Staatsanwalt soll das Vorverfahren führen; für Hand-
lungen, die notwendig richterliche Mitwirkung verlangen, wie
besonders die Verhaftung, wünscht v. Kries einen besonderen Arrest-
prozeß, dessen Akten ein Amtsrichter führen soll, getrennt von den
Akten des Vorverfahrens. Die Nachteile dieses Reform vorschlaga
von Kries hat Kronecker (in der Zt für ges. St-R-W. X, S. 518 ff.)
naehgewiaaen. Was die Beedtigung der geriehffichen Vorontersucbung
betriff^ 80 Terweist Eroneeker anf Gneist (Vier Fragen) und
den dritten Deiitaehen Jnristentag. Kroneoker seibat mdnt, daß
das Inatünt der geriobtlieben YoranterBnohung unklaren nnd wider-
aprachBToUen Yorstellnngen enfq[irangen ist, sein Dasein auch nur
den Bestrebungen verdankt, die alte Einrichtungen im neuen Ver-
fahren beibehalten wollen. Kroneoker hSlt ebenfiüls für recht
fraglich, ob der Untersnchungsriohter die Interessen der Anklage als
auch der Verteidigung in unparteiischer Weise gldcbmäßig vertreten
werde. Solehe Mißstände erkennt Kronecker an. Mit Bedit aber
sagt er: man solle erst einmal ein Verfahren vorschlagen, welches
diese MSngel vermeidet! Das ist bisher noch nieht geschehen! Was
nun den sogenannten Arrestprozeß betrifft, den von Kries vonohligt,
so kann man sich auch hier wohl der Meinung von Kronecker an-
schließen, der in ihm materiell nichts anderes sieht als eine gerichtliche
Voruntersuchung. Das Verfahren in einem solchen Arrestprozeß würde
sehr kompliziert und schwerfällig sein. Besonders dieTrennung der Akten
dürfte fast unmöglich erscheinen (s. Zt. für ges. St,-R.-W.X, 526 und 527).
Schließlich spricht sich noch für Beseitigung der gerichtlichen
Voruntersuchung aus Zucker (Gerichtssaal, Bd. 47, S. 436—462).
Er beruft sich auf seine Vorgänger, die die gleiclie Meinung vertreten
wie er, ohne selbst neue Gründe für die Beseitigung der gerichtlichen
\'oruntersuchung angeben zu können. Die Gründe der Motive zur
deutschen Strafprozeßordnung für Beibehaltung der gerichtlichen
Voruntersuchung hält er nicht für stichhaltig.
Im Gegensatze zu den bisher Genannten haben die
übrigen Juristen sich für Beibehalt ung der gerichtlichen
Voruntersuchung ausgesprochen (so v. Bar: Kritik der Prin-
zipien des Entwurfs. — - Hissen: Bemerkungen zum Entwurf
du«r St-P.-O. und S. Majer: Entwurf einer denlsehen St-P.-0.)
in Übereinstimmung mit den Motiven zum Entwurf der Reichsstral-
prozefiordnung. Die Motive (zu § 149 des 3. Entwurfs) geben zu,
daß es der Anklageform des heutigen Yeifahreus entspreche, daß die
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Die geriehtüohe Vonmlerenohiuig.
99
gerichtliche Voruntersnchung fortfalle. Gänzlich za entbehren aber
sei sie nicht. „Wo mit Rücksicht auf die Schwierigkeit und Weit-
läufigkeit der Sache die Staatsanwaltschaft genöti^ sein würde, das
Gericht wiederholt mit Anträgen auf Beweiserhebungen anzugehen,
da ist es im Interesse der Einlieit des Untersuehungsplanes und der
Beschleunigung des Verfahrens geboten, von vornlierein von einem
aui^ergerichtlichen Ermittelungsverfahren abzusehen und dem Gerichte
die Führung der Voruntersuchung zu überlassen. Wo ferner aus
denselben Rücksichten ein sorgfältigeres Eingehen auf die Verteidigung
des Beschuldigten schon im Vorverfahren geboten erscheint, nament-
lich dann, wenn derselbe mit einem Verteidiger noch nicht versehen
ist, da verdient gleichfalls die gerichtliche Voruntersuchung vor dem
außergerichtlichen Ermittelungsverfahren den Vorzug, da mindestens
▼on dem Bescholdigten nicht erwartet werden kann, daß er überall
SU der Staatsanwallsebaft das Yerlmnn hege, dieselbe weide aebie
Bechte in yOllig genügender Weise wahmehmen.*^
Mir seheinen namenUieh folgende Gründe fflr die
Ezistensberechtigangder gerichtlichen Vornntersuchnng
gegenflberdemstaateaawaltliehenErmittelnngsverCahien sn sprechen:
1. Znnftchst ist der Staatsanwalt von staatBrechtlioher Seite ein
abhängiger Beamter, der Befehlen nnd Anordnungen seiner vorge-
setsten Behörde nachznkommen hat Der Untersnchnngsriditer hin-
gegen ist TdUig freier Herr seiner selbst nnd an die Anordnungen
keiner Behörde gebunden. Der Untersuchungsrichter kann also ge«
gebenenfalls viel unbeeinflußter seine Ermittelungen anstellen als
der abhängige Stsatsanwalti der jeden Befehl von oben gehorsamst
anszuführen hat.
2. Weil aber der Untersuchungsrichter persönlich unabhängig
ist, deshalb konnten ihm Machtbefugnisse zur Verfügung gestellt
werden, welche man der Staatsanwaltschaft als einer abhängigen
Beh(>rde nicht gewährt hat und auch de lege ferenda nicht wird ge-
währen können 1).
Der Untersuchungsrichter kann Zeugen und Sachverständige bei
Vermeidung von Ordnungsstrafen laden und erstere eventuell zwangs-
weise vorführen lassen. Er kann nötigenfalls zu eidlichen Ver-
nehmungen schreiten. Ihm stehen die Zwangsmittel der Verhaftung,
Durchsuchung und Beschlagnahme zur Verfügun::. er kann Akte
definitiver Beweisaufnahme mit der Wirkung vornehmen, daß seine
1) Kulemann, Reform ilcr Vonmtorsuchung, Berlin 1903, S. 47. sieht kohl
Bedenken darin, auch dem Staat-^anwalte die Machtbefugnisse des Uutersuflnings-
richtcrä zu geben; su das lischt, Zeugen und Angeschuldigte zu vomelimeu.
7*
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100
IL Poun
Protokolle als gerichtliche in der Hauptverhandlong verlesen werden
können usw. usw.
Der Staateanwalt dajregen ist überall, wo er gericlitliclier Unter-
suchunjjshandlungen für den Zweck des Emiittelungsverfahrens be-
darf, darauf angewiesen, sieb mit einem entsprechenden Ersuchen an
das zuständige Anitsfirericht zu wenden.
Es erscheint mir hiemach klar, dali gerade in wichtigen und
schwierigen Fällen die Konzentrierung der Untersuchung in den
Händen eines peisdnlich unabhängigen, sachlich aber mit erhöhter
Haehtrolikommenhot aoBgerfisteten Bauntm bowoU im Interoese der
Sehleanigkeit als var aUem im Intemae der Wahiiwftwnnittelnng
gelegen Ist
In letzterar ffinsioht kommt {HRaktiseh noeb besonden in Beteidit^
daß der üntennehnngsnebter die Vemehmungoi an seuiem AmtsaHa
regefanftfUg persönlich ansfährt, wSbiend sieb die Staatsanwaltschaft
hierf&r in weitem Umfimge der Hilfe der Polisei an bedienen pflegt
Der Untersnchnngsriebter arbeitet insoweit also mit weitaus anyer-
läflsigmn Material schon deshalb, weil nnr die persönliche Rfiokspiaohe
mit dem betreffenden Menschen einen wiikliehen Einblick in dessen
Glanbwllrdigkeit gewährt 0*
3. Eän weiteres Argument zugunsten der gerichtlichen Vor-
untersuchung ist die heatige Beschränkung der Haft im staatsanwalt-
lichen Ermittelungsverfahren auf die Maximaldauer von vier Wochen.
Solange diese Sehiaoke besteht, ist die gerichtliche Voruntersuchung
sdion aus diesem Grunde unentbehrlich. Denn wenn die Zeit von
vier Wochen in concreto zur Aufkläning nicht genügt, so ergibt sich
bei Reseiti<rung der gerichtlichen Voruntersuchung für den Staats-
anwalt nur die Wahl, den Verdächtigen ungestraft laufen zu lassen
oder abor bei, wenn auch nur geringfügigem Verdachte, leichtbin die
Anklage zu erheben. Der eine Ausweg wäre ebenso unerträglich wie
der andere.
§ 16.
IMe SteUuBp der sofehtiiehea Tenutersnehmiff sur Haaptrerlunfliuif .
Die Gegner der geriebtlicben Voruntersuchung hehaui)tcn, dal»
dieselbe der Hauptverhandlung die entscheidende Bedeutung nehme,
1) AuB eben dieeen GrBnden ist auch H. Groß für ßcibchaltiug der go-
richtiichcn Voruntcrsucluins: (v;;!. Archiv f. Kniuinalaiithropologie u. Kriminalistik.
19031. Lcitler kam mir diese Schrift, die fast durcliwc^ den Standpunkt d'u^vr
Arlieit teilt, erst nach Fertigstellung dieser zu Gesicht, so dali ein näliorcs
Eingehen auf dieinteressanten Auaffihnmgea von H. Groß nicht mehr mOglich wir»
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IKe geriohtliehe Yoniiitentidkimg.
101
insbesondere die Unmittelbarkeit der Beweisaiifnabme in der-^olben
beeinträcbtige und die üauptverbandlang zu einer Scbluliverbandlung
bera))(l rücke.
Das aber ist unrichtig:. Auch wenn eine ^gerichtliche Vorunter-
suchung stattgefunden hat, gründet sich das Urteil des erkennenden
Gerichts lediglich auf die in der Hauptverhandlung selbst erfolgte
Ueweisaufnahme, nicht auf die Akten der Voruntersuchung. Freilich
muB da* Gericht und insbesondere der Vorsitzende diese Akten ge-
nau kennen, um die Hauptverhandlung sachgemäß leiten zu können').
Die Annahme aber, daß diese Aktenkenntnis ein Vorarteil erzeuge-)
nnd die HsnptverliaadlaDg deshalb etwa lediglich zur Konstetierung
dieser TargeÜSten Ansieht diene^ wire nur dann riefatig, wenn der
betreEfende Biehter von den Grundlagen unseres heutigen Staaf-
prozesses keine ansreiehende Vorstelhing hätte. Wer diese Kenntnis
besitsty der weiß aueh, daß er den Torakften ToOkommen selbstindig
firtttend gcigenflbeistehen mufi. ünd wer dies nicht weifi^ der würde
sieh aneh durch die Akten des staatsanwalflidien ErmitbelungSTer-
fahrens ebenso irreführen lassen kSnnen, wie durch die der gericht-
lichen Voruntersuchung; für ihn müßte man also überhaupt die Be-
seitigung jedes aktenmäfiigen Ermittdungsveifthrens foidem, was
wohl ni^and beabsichtigen wird.
Der vorbereitende Charakter der Voruntersuchung wird auch im
Gesetze, § 188 I, mit aller Schärfe markiert Sie ist „nicht weiter aus-
zudehnen, als erforderlich ist, um eine Entscheidung darüber zu be-
gründen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte
außer Verfolgung zu setzen sei^. Daß nach Abs, II. „Beweise, deren
Verlust für die Hauptverhandlung zu besorgen steht, oder deren
Aufnahme zur Vorbereitung der Verteidigung des Angeschuldigten
erforderlich erscheint, in der Voruntersuchung zu erheben'* sind, ist
ein allgemeiner, unentbehrlicher Grundsatz des Strafprozesses, welcher
auch nach Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung unverändert
aufrecht erhalten w i rden müßte.
Öcbließlich meint man, die gerichtliche Voruntersuchung sei zu
1) Ebenso G. Gro^: „Will aber ein Vorsitzender sein schwierige und
höchst verantwortliches Amt richtig und frowissenhaft versehen, so ist es seine
aller wichtigste Pflicht, auf das Peiulicliste genau irifurmiort zu sein; eine schwie-
rt Yeriumdlmig m leiten, ohne auf das Sot^gfältigste davon unterrichtet m eeb,
was ▼orkommt und Toikonuiien kann, eiUire ieh ala gremeolofle Gewiaaais-
loBlgkeit".
2) Neuerdings mit besonderer Scharfe von Kulemann betont. Nach ihm
soll es über menschliche Kraft gehen, den Akten der Voruntersuchung
gegenfiber Tonirteilafrei m blelbea.
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102
II. Poxdsn
beseitigen, weil (liesoll)e ein Richter führt, der Ijeute den Unter-
suchnnfrsrichter spielt, also Ermittelungen anstellt und morgen wo-
niö;j:licli Mitglied des erkennenden Gerichts ist, also richtet. Dal>
hierdurch die Objektivität dieses Richters und damit der Wert der
Hauptverhandlung beeinträchtigt wird, kann ich ebenfalls nicht
finden. Denn ausgeschlossen ist der Untersuchungsrichter als Mit-
glied dee erkennenden Gerichts nach St-P.-O^ § 23 II bei Aburteilung
▼Ott SadiCfD» in denen er die geriehtüehe Voniiitenneliung gefiUut
hat WesliBlb er mm in anderen ^mlBaehen, wo er nieht die V<Nr-
nnteiHnehung geführt hai^ nieht Mitglied des erkennenden Qeriehta
sein Bolly kann ieh nieht einleben. Das einsige ZugeBOndnis, daa
man hier maehen konnte, um Bolehen Einwendungen endgültig daa
Wort abKoaehneiden, wäre^ daß der in der Begel für ein Jahr be-
stellte üntennohnngsriehter in dieser Zeit überhaupt nur als soleher
zu besehtftigeii ist und unter keinen ümstinden Mitglied des er-
kennenden Geiiohts wShrend seiner Amtsperiode sein darf. Ich
persönlich aber halte^ wie gesagt, ein solebes Zugestindnis niebt für
eifordarlieb.
§ 17.
OüntUehkelt umL Jf MMlUelüMit 4er feriehtitohea YmaKbtamOamt*
Die Vorteile, welche die Beibdialtnng der geriehtliehen Vor-
unteisuebuig gewährt, habm wür soeben Uaigelegt Die Sttnunen
derer, die ctie gerichtliche Voruntersncbnng beseitigt wissen wollen,
▼eiBtunimen auch mehr und mehr. Gerade neuerdings freilieb scheint
man wieder sehr die Beseitigung der Yomntersnchnng zu wfinscben,
wie ans den Zeitungsreferaten über die Sitzung der Intern, krim.
Vereinigung v. 5. Juni 1903 in Dresden hervorgeht Aber auch ein
großer Teil derer, die an sich für Beibehaltung der gerichtlichen
Voruntersuchung sind, wünscht, daß große VeiSnderungeQ dieses Ver-
fahrens vorgenommen werden.
I. Öffentlichkeit der gerichtlichen Voruntersuchunfr:
1 . So wird von vielen Seiten verlangt, dali das Verfahren in
der gerichtlichen Voruntersuchung ein unbeschränkt öffent-
liches sei<). Die Öffentlichkeit der gerichtlichen Yonmtersuchung
hält man für erforderlicli :
a) Im Interesse des Angeschuldigten: wenn nämlich die
1) Gncist, Vier Fragen. Köhne, Deutscher StrafprozeO und seine Reform.
Berlin 1S95, S. 5Tff. Oiaser, Ges. kleine Schrifttn. T. 2r)lff. Stemann, Goltd.
Archiv. VITT. 41 ff. Zachariac, Handb. des Strafproz. I. in. TT. f.^. Der
deutäche Jiuibteiitag (ilannovor lbT3). Prius et Pagam^ni, Keforme de l'in-
Btrnction pr^paratoire oi Belgiitue. Paris 1872. Neaerdfugs: Knlemann, Befoim
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Die f(erichtlicbe Vonrntei-äuciiung.
103
YoziuifeiniebuDg nicht genügend Verdaobtsgrtinde geliefert hat, so daß
das Verfahren eingestellt werden muß, soll anf dem Angeschuldigten
in der öffentlicben Meinung ein Makel mtzen bleiben. — Der in
höherem Maße verdächtigte Angeklagte sei demgegenüber noch im
Vorteil, weil sebe Unsehnld in der öffentlichen Hanptverhandlnng
klar zutage treten kann.
b) Im Interesse der Zeugen: die Öffentlichkeit des Verfahrens
soll auf ihre Wahrhaftigkeit einen größeren Einfluß machen als die
Vereidigung. Anf diese Weise hofft man die Widersprüche der Aus-
sagen in der gerichtlichen Voruntersuchung mit denen in der Hanpt-
Terhandlung zu beseitigen.
c) Im Interesse des Richters: Die Öffentlichkeit des Verfahrens
soU ein wirksames Mittel sein, um jeglichen Zwang zu Gestiind-
nissen usw. unmöglich zu machen.
Diesen Gründen kann ich nicht zustimmen. Zunächst
hat der Angeschuldigte von der Öffentlichkeit der Vorunter-
suchung: kaum g:rolien Gewinn. Vielleicht ist ein solcher dann
gegeben, wenn seine Unschuld eklatant zutage tritt, l lterall aber,
wo irgend welche Verdachtsmomente übrig bleiben, dürfte die ( Öffent-
lichkeit ein direkter schwerer Nachteil für den Angeschuldigten sein,
— DaH auf die Zeugen die Öffentlichkeit unter Umständen ein-
wu-ken kann, ist gewil» möglich, das Entscheidende aber wird die
Art und Weise sein, wie der Richter mit ihnen umzugehen versteht.
Ist es im Interesse der Waliriieitsenuittelung nötig, so kann Be-
eidigung erfolgen. Und ein Zeuge, der sicli nielit sciieut, einen
Meineid zu leisten, wird sich auch nicht durch die Öffentlichkeit von
einer falschen Aussage zurückschrecken lassen. — Der Unter-
der Voruntersuchung. Berlin 1003, AuBer den im Text angegebenen Gründen,
die bei allen Verfeehtem der Uffcntliehkeit wiederkehren, verspricht sich Kule-
nianu von der Öffentlichkeit der Yoruntersudiang grolie Erfolge, indem er be-
hauptet, auf diese Wehe werde die Volk inteieBriert weiden, nur l^tdecktuig der
Verbrechen ttitenwlikeii (S. 11 ff.). Und dieser Vorteil soll die Kachteile der
Öffentlichkeit bei weitem aufwiegen. Ich kann diese Ansicht nicht teilen. Wer
nicht ohnehin das Interesse an Verfnlfriing eines bestimmten Verbrechens besitzt,
den wird auch eine ülfeutlidie Voruntersuchung nur ausnahmsweise zur Mit-
wirkimg in dieser Bichtang Tenmiassen. In den StSdten wird dies femer auch
kaum eiforderiieh sein, da hier meistena eine gut oiganisierte nnd saUreidie
Polizei vorhanden ist, so daß man hier auf die Mit^kung des unbeteiligten
Volkes verzichten kann. Vom Lande her aber werden uiibefciligte Volkskreise
ükh nicht in die bei den Landgenchtcu stattfindenden \ erhancllungeu bemühen
nnd überdies besteht gerade auf dem Lande vielfach eine Abneigung zur aktiven
BeteiUgmtg, weil man sich schont, mit den Gerichten in Berührong ni kommen
nnd OTont anch die Bache des Veii»reehers nnd seiner Genossen fOrchtet
DiyiliZüa by GoOgle
IL P0L2IK
snohnngsriohter selbst soUieSfieh wird sieh wohl so leiefat nicht
dam herbeUassen, einen GestSndnisiwing aassBObea. DalUr ist dorob
seme Ansbildnng und St-G. B. § 343 wohl genügend Vonoige getroffen.
Für eine nnbesehränkte Öffentliehkeit der geriehüiohen Vomnfer-
snehnng kann ich mich somit nicht aosspreoheni). Sie wlie flbrigeiis
praktisch nur für Vernehmungen allgemein erreichbar, während
andere Untersnohnngshandlungen, z. ß. zahlreiche Angensebeinsein«
nahmen, schon rem technisch keine öffentliehe Vornahme gestatten.
Die Wahrung der Interessen der Parteien aber kann
man m. £. auch durch die Parteienöffentlichkeit erreichen-!.
2. Verspricht somit eine völlige Öffentliohkeit dsr gericht-
lichen Voruntersuchung nicht viel Nutzen, so ist von yielen
Seiten für teilweise Öffentlichkeit der geiiohtlichen Voruntersuchung
plädiert. Insbesondere wünscht man einen öffentlichen Ab-
.schliil» (lerselben'i. Gegen einen solchen öffentlichen Abschluß
der gerichtlichen Voruntersuchung hat sich m. E. mit Recht aua»
1) Heinz CS Vorschlag iBcilafrehpft zum r.oriolits.«.inI. 27. Bd.), die Öffent-
lichkoit der ^criclitlii-lion Vonintcrstichunj; in das Krniosson dos l'iitersucliungs-
ricbters zu gtellea, dürfte vollkoiumen wcrtluH t>ciu. Der AussdiiuLi der Offent-
Udikeit dfiilto dann dodi wohl dorchwcg die Begd bidben.
2) Ebenso S. Mayer, Entwurf dner doutschen Strafprozefioidniing. Klein-
f ello r, (Jcriclitssaal. 3?t. S. 417 4S0 u.a. f^n luMicrdiii^'s Synions frtrccht) auf
dem Kon^'ieli der internationalen knm. Vereinigiinji; in Petei-sburg. Mittoilnnfren.
10. Bd. 1. lieft. 1902. Symons hält die Üffcutiichkeit für den Angeacliuldigteu
direkt geflhriich; anfierdem kann dar wahre Titer, falls gegen einen Unadml-
digen der Verdacht sich einmal richtet, durch die Öffentlichkeit der Verhandlang die
Maßnahmen des Geriehts erfahren und sich mit Leicllti^^kpit in Sicherheit bringen.
.3) So Dalcke, Goltd. Archiv. XIV. S. 2»iff. und v. B:ir: Kritik der Prin-
zipien. S. 28. — V.Bar meint, auf eine inquisitorische gerichtliche Vorunter-
anchung k6nne nicht nnmittdÜNur dne akknaatoriache Haoptveriiandlnng folgen.
Für den Fall, daß man sich nicht für völlige Parteienöffentliehkeit entachUeOen
kann, maeht er daher folf^enden Vorschlag: „In allen wichtijren Sachen muß der
öffentlichen Haui»tverhandluiifj vorausfrehen eine öffentliche Verhandinnj? vor
einem lüchter, der nicht der Untersuchungsrichter sein darf, in welcher die Par-
teien die Stehe ammnariich unter Angabe der Beweiamittel Mrörtem, aber aucii
2^gen und SadiTerstflndige zur nichtddlichen Vernehmung zur St^e bringen
kOnnen. Die richterliche Entscheidung besehr&ikt sich auf den Ausspruch, ob
mit HQcksicht auf die Anklaj^e, ^s■ie t-ie der Kliifrer beabsichtifit nnd dem<remäl!
auch im Termine zu foniuiliereu liat, die Uauptvcrhandluug genügend vorbereitet
iat ^neht in dieaem Tennitte vorgebradite Bewefenlttel kteea In der Bai^-
%*eriiandlung nur naeh Ermessen des OericfatsvorBitzenden und von selten der
Ankla}:o überhaupt nicht vorj^ebracht werden.) Ein Rechtsmittel gegen diese
F2nt8cheidun^'- findet nicht statt." Diese ^'erhandlun{2: soll den Beschluß über Er-
öffuuug des iiauptveriahrens überflüssig machen und gleichzeitig die Stelle eines
SeblttßverhOrs emnehmen, welches die Motive zn § 162 des EntwmfB IH dnr
JStP.O. verwerfen. Dieser Vorschlag v. Bars würde sich sonst etwa decfan
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Die gerichtlidie Yonrntemichiuig.
106
^esprochon S. M ay er (a, a. 0. S. 1 10). Mayer meint, man würde
auf diese Weise zwei Haui)tverbandlun^ren bekommen, und diese
Oefalir lie^^t allerdini^s auch nahe. Die Unmittell>arkeit der llaupt-
verhandlung würde entschieden darunter leiden, und sehr leicht
könnte im Laufe der Zeit die Foi^^c eintreten, d&ü die Uauptver-
bandluDg zu einer Scbluftdekoration herabsänke.
3. Eine unbeschränkte Öffentlichkeit der gerichtlichen Vorunter-
suchung kann ich somit nicht empfelilen. Das einzige Zugeständnis
das man hier machen könnte, wäre, vulle ( )ffentlichkeit zu gestatten
für die endgültigen lieweiserhebungen , die in der gerichtlichen
Voruntersuchung vorgenommen werden, sofern der Durchführung der
Öffentliehkeit nicht technische Schwierigkeiten in den Weg treten.
Größeren Wert dagegen hat die Parteienöffentlichkeit,
nnd darftber herTBcht &8t ▼SUige Einigkeit Die geeetslichen
Vonchriften hierttber nnd die folgenden: Die Stiafproaeßordnnng
gestattet die ParteienOffentticfakeit grondsttdieh nnr bei den-
jenigen Handhmgen, die aller Voranaeicht nach, in der Hanpt-
▼erhandlnng nicht nnmittelhar voigenommen werden, sondern nur
ans dem Protokoll Teriesen werden; also bei Einnslinie des Angen-
scheines (§ 191 1 TgL § 193), femer bei Vemehmnng von Zeugen nnd
Sachverständigen, die aus wichtigen Gründen am Erscheinen in der
Ilauptverhandlung verhindert sind ({^ 191 II, III bis V); wegfallen kann
die Anwesenheit des Angeschuldigten im Falle des § 191 IV *) und
wenn die Gefahr besteht, daß ein Zeuge in seiner Anwesenheit nicht
die Wahrheit sagen werde (§ 192). Weitgehender waren die Be-
stimmungen des 1. Entwurfs der St.-P.-O., welcher Parteieniiffentlich-
keit hei allen Zeugen vemelimungen gestattete. Im übrigen ist die
Parteienöffentlichkeit ausgeschlossen, insbesondere bei der Vernehmung
des Angeschuldigten (ij 190 Iii. Diese Bestimmungen der St,-P.-0.
hält man vielfach für nicht weitgehend genug-) und fordert mit
mit dem Vorscliliip* Walilbrr^-s (Kritik des Ejit^viirfs einer St.P.O.i, <lcr nicht
volle Önentlichkcit, wie v. Har, somlorn nur l'aiteiiMiöffontHchkeit fordert für
die Beeclilulifassuug über die Eröffnung dee liauptverfalirens. Ein weiterer
Unteracfaied bestdit darin, dafi Bar nur einen Richter bei der von ihm vor-
gesdiia^ttieD Veifaandlung wflDBcht, während der Beschluß über die Kröffnong
des Hanptverfahrens vor einem Richtcrkolleginm abgefalU wird. Ilioiv.ii ist zu
benu'rkoii . daü ein HichterkoUegium immerhin objelitiver entacbeiden wird als
ein einzolncr Kichter
1) § 191. IV. Einen AmiMnieh anf AmreBenhcit hat der iddit anf freiem
FnB l»efindUche AngeBdinldigte nnr bei solchen Teminen, wddie an der Ge-
richtsetelle des Orte!) abgehalten wonlen. wo er slch in Haft befindet.
2) So V.Bar, H. Mcvcr, S. Mayer, Nissen, in ihren Bemerkungen tVttk
Entwurf der btP.Ü., Stemauu im üerichissaal. XXV'. IbSff.
DiyiliZüa by GoOgle
106 IL PoLsm
Kech t vor allem die Parteienof feilt lieh keit für al le Zeugen -
vernehniu nf::en und besonders für die Vernehmung? des
Anf^eschuUiigten')- Dafregen ist auch nichts einzuwenden, der
An^a^schnldigte kann dadurch, daß er alles gegen ihn vorliegende
Beweismaterial erfährt, seine Verteidigung Torbereiten; dasselbe gilt
für den Verteidiger ; der Staatsanwalt auf der anderen Seite ist in der
Lage, seine Anklage gehörig TonoberateD. Für die YmehiDiuig
dee Beeohiüdigten ist die Puteienafl^füchkeit inaofein toh Bedeatung,
ab etiraigeii EnwingoogeA voa Geetändniaeeii, die naeh der Offent-
UcbeD HeinBg so liiofig TocluHiiiiiea loUen, endgültig ein Biege!
TOigeschoben wird. Wie weit aoUen nun aber die Beebte
gehen, die dem Verteidiger, Angeeebnldigten nnd Staats-
anwalt dnrcb die Parteiendff entliobkeit verlieben werden?
Vidfaeb fordert man, daß die Proseßbeteiligten dnreb Fragen, An-
tiSge, Anstellnng yon EreozTerbOren nsw. anf den Gang der Ve^
handlnng einwirken können. Diese Fordemng gebt zu weit Oewiß
würden sieb manche Zweifel nnd Wideraprttehe von Zeugenaussagen
beseitigen lassen. Dieser Vorteil ist aber gering gegenüber den Naeb*
teilen, die ein solches kontradiktorisches Verfahren mit sich bringen
würde. Durch ein solches kontradiktorisches Verfahren würde näm-
lich schon in der gerichtlichen Voruntersuchung die ganze Beweis-
aufnahme erschöpft werden. Die Stellung der Voruntersuchung zum
Hauptverfahren als vorbereitendes Verfahren würde erschüttert werden,
denn die Voruntersuchung: soll nur eine l'bersicht über das Beweis-
material, nicht aber eine erschöpfende Ik'weisaufnahme liefern, die der
Hauptverhandlung vorzubehalten ist -). Ein kontradiktorisches Ver;
fahren würde die Voruntersuchung zu einer Hauptverhandlung unter
Ausschlul^ der vollen Öffentlichkeit machen. Die Hauptverhandlung
würde demgegenüber nur eine Wiederholung der Beweisaufnahme in
feierlicher Form werden, die sich nur durch völlige Öffentlichkeit
auszeichnen würde. Sodann aber könnte das Verfahren leicht durch
chikanöses Vorgehen der Parteien erheblich verzögert werden. —
Um diese Nachteile zu vermeiden, hat man den Vorschlag gemacht,
den Prozeßbeteiligten die Anwesenheit bei den Vernehmungen der
1) iso btemann, H. Meyer, S. Mayer, rilmann u.a., besomU'is Dr.
E. Benedikt und Dr. W. Scbneeborger (Mitteilungen der kuiiurpulitiiM:bcn
(«eidhduifl, 1902) auf der IX. JahreBvenammlang der deatechen Landeegmppe
der inteniationalcn kriminalisti^'hen Verdnigang in Bremen. Noch weiter geht
Mittermai er (Verh. d. int. kriin. V^erein. 5. Juni 1003 in Drcsdem. Nu-Ii ihm
tioll der Verteidiger berechtigt sein, sellistilndiir Howeismittel zu saimuehi und
Gericht und Polizei soll ihm evcuL zu diescuj Zwecke iur Verfügung gestellt werden.
2) S. 0. § 16 Anbog.
Diyilizua by GoOgle
Die geriehtlidie VortmtenadHmf .
107
Zeup^cn und des ADp:eschuldigteii zwar zu «restatten; ihre Rechte
sollen aber lediglich im „Zuh<">ren'' bestehen. Kine Parteicnöffentlich-
keit in diesem Malie ist sicherlich von ^[rölierem Werte als eine blolW'
Akteneinsicht'), da die Einsicht von Akten nie ein so lebendiges
Bild von der Sache ^ribt, jils wenn man mit eigenen Augen den Ver-
lauf der Sache ansieht. Durch Zuhören wird den Prozeltbeteiligten
die Sache klarer, und speziell für den Verteidiger des Angeschuldigten
würde schon das Zuhören eine Vorbereitung der Verteidigung des
Angeschuldigten ermöglichen. Dies ist aber auch der einzige Vor-
teil, den diese Art von Parteienöffentlichkeit gewährt. — Gerade in
Frankreich, wo die Parteienöffentlicbkeit in diesem Maüe gesetzlich
sanktioiiieit ist (Geaeti vom 8. Des. 1897), bat man wUecbte Er-
fahrangen mit diesem Yerfahren gemacht, wie die aiufilhrlieben Hit-
teUnngen yon OnrtiiiB (Zeitscbr. für ges. Si-R.-W. XXIII, S. 1 bis 40)
eigeben.
„Haß und Mifltranen** gegen die üntemiehnngsriehter biaoliten
diee Gesets zustande, bei dessen Beratung nioht das geringste Maß
von GrfindKchkeit beobachtet wnide. Da ferner die PloteienOffent-
liehkeit nur für die «Voranteranobnng'^y nicht für das ganze Yorver-
fahlen gilt^ sucht man das Gesetz in FEankreieh zu umgehen, indem man,
falls irgend angfingig, keine Vomntersachung abhält Außerdem ist tnits
der Yonchriften des Gesetzes dennoch eine Gestfindniserpressung durch
die UnterBUchungsrichter, der das Gesetz vorbeugen sollte, möglicb| da bei
derErklSrung des UnterBuchungsrichters an den Angeschuldigten, „er sei
zu keiner Erklärung verpflichtef^ niemand zugegen ist Sodann aber
hat sich gezeigt, daß nur ein geringer Prozentsatz der Angeschuldigten
sieb eines Verteidigers in der Voruntersuchung bedient hat, da die Beob-
achtung der Förmlichkeiten des Gesetzes von 1897 -) das Verfahren ver-
zögert und somit die Untersuchungshaft verlängert. Ferner betreiben die
Verteidiger, wenigstens die Of fizialverteidiger,die Verteidigung in der Vor-
1) Dio nach § 147 II St. P.O. deoi Verteidiger gestattet werden kaiin bereits
während der VonuitersDcbiuig, falls keine Gefährdung dee Untersachmigszweckee
zn befttrditcn ist Bar, Hugo Heyer, Nissen, Stemmnn, 8. Mayer
neuerdings Benedikt und Schnccb erger auf der IX. .Tahresversaninihing der
internationalen kriminaJistissehcn Veroini^ning wfinsrhcn unbeschninkto Aktcnein-
Hcht, was ich allerdings für etwas bedenklich halte; es könnte dies ininierhiu
Anlaß zu Kollusionen geben, wie sich dies in Frankreich zeigt (vgl. Curtius in
Zeitschr. f. gee. StB. W. XXIIL S. Mtl.}, Ans eben diesem Grande daif man
auch iiit-lit ungehinderten schriftlichen und mündlichen Verkehr des verlinftctoi
Angescliuldifrten mit seinem Vorteidiirer «restatten und sind die Vorschriften der
StrafprozcLiordnung hicriiber wohl am Platze (vgl. oben Ö. 94 Anm. 1).
2) Vgl. das Nahcrc oben Ö. 61.
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108
IL POUOB
Untersuchung^ nur lässic: und zwar in i^cwisser Hinsicht mit Reclit, da sie
darauf verzichten, ^AufpassiT" dos l ntersurhunfrsrichters zu spielen; denn
es entspricht kaum der Würde ein( s Verteidigers, als stummer Zuhörer
bei den Vernelimunfj^en sitzen zu müssen. — M. E. dürfte es daher das
liiehti<re sein, den Prozeßheteiligten möglichst viel Befugnisse ein-
zuräumen. Ihre Grenzen müssen diese Befugnisse aber dann finden,
wenn durch sie die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der
Hauptverbandlung beeinträchtigt wird.
Eb miifi Strang yenueden werden, daß die HaaptFerbandlimg
zu einer Wiederholung der VomnlierBiichung herabsinkt Za weit
geht daher der Wunsch, den ProseBbeteiligten das Abfingen von
Sieogen, Anstelliing Ton Erenzrerhören usw. zu gestalten. Hietdnrdh
geht die entseheidende Bedeutung der Haaptrerhandlung, wie oben
gezeigt, yetloren. M. E. mftssen daher die Befugnisse der
Prozeßbeteiligteu derart begrenzt werden, daß sie das
Recht haben „zuzuhören*^ und am Schlüsse des Termins
berechtigt sind, Anträge zu stellen, tlber deren Zulassung
der Untersuchungsrichter nach freiem Ermessen zu ent-
scheiden hat Weitere Bechte beeinträchtigen die Haupt-
verhaodlung oder verzögern das Verfahren und sind
daher den Prozebbeteiligten zu versagen. Sieht man aber
in dieser Form der FarteienöfCentlichkeit keinen besonderen Vorteil,
dann allerdings ist es besser, man läßt die Parteienöffentlichkeit über-
haupt schwinden, wie dies besonders von SeeU) empfiehlt^ als daß
man weitergehende Rechte gewährt.
II. Vielfach ist mau auch gegen die Schriftlichkeit der ge-
richtlichen Voruntersuchung zu l-\'lde gezogen und hat die Münd-
lichkeit an ihre Stelle setzen wollen-).
Alle diese Autoren wünschen ein der englischen Vorunter-
suchung entsprechendes Verfahren (s. o. § 7 II). Iiiergegen sind
folgende Einwendungen zu machen. Zunächst ist eine völlige Münd-
lichkeit, wie man sie wünscht, nie zu erreichen. Es muß ja doch
ein Protokoll geführt werden, welches allerdings kurz sein soll und
nur die Ikweiserhebungen enthält Auf Grund eines solchen Pro-
tokolls soll aber bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten zwischen
Staatsanwalt und Untersuchungsrichter ein Gerichtehof entscheiden
(so Kronecker); Eronecker selbst tadelt an der heutigen Vor-
untersuchung, daß ein nur durch Protokolle mangelhaft untmchteter
1) V^I. (ieric'litssaal. l'^74. S. 4'.»ff.
2) Kruuecker, Zcitachr. f. ges. 0t.lt. \V. Vli. (IbbT.) S. 3^5 if. v. Tippels-
kirch, Ctoltd. Archiv. 1854. S. 8291!. Gnelst, Vier Fnigen.
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JJie geriditlidie yornntenacbaiig.
109
G«riohtBbof über die Eröffnung der Ilauptverhandlun^ entscheidet.
Bei seinem Vorsclilai: ist das Gericht aber noch viel mangelhafter
unterrichtet, wenn Mf imm^verschiedenheiten zwiselien Staatsanwalt
und rntersuchungsricliter bezüglicii Eröffnung? der Hauptverhandlung;,
die sie nach Kroneckers Vorschlag aussprechen sollen, ausl)r»'ciipn ;
wie nämlich auf Grund des kurzen Protokolls, das Kroneeker
empfiehlt, das (iericht eine objektive Entscheidung treffen soll, ist
mir nicht recht klar. Also ein Protokoll muH doch geführt werden.
Aul'terdem soll diese mündliche Voruntersuchung auch noch die heu-
tige Beschlulifassung über die Eröffnung des Ilauptverfahrens ersetzen.
Tut man dies (vergl. Kronecker), so hat man überhaupt keine ge-
nchtliche Voruntersuchung mehr, denn diese sog. mündliche gericht-
liche Vonmtersucbung ist dann nichts weiter als eine Beschlußfassung^
Aber die Erflffidung des HauptTerEahiens Sodann aber ist die pmk-
tisohe Dnrdiflibrbarkeit einer solcben mfindlichen Vonmtersncbanf^
mit Recht bezweifelt^. Es wflrde eine solche Vorantersnchung eine
große Yenohleppong der Proseese nnd vor allem eine maßlose Be-
lästigung der Zeugen henrormfen. Voraassetzung fOr diese mflnd-
lidie Yomntennchnng ist immer, daß die An^iabe des staaisanwalt-
liehen Eimittelnngsyerfabrens bereits Tollkommen gelOst ist Ist dies
nicht der Fall, so versagt der ganze Apparat Besonders wflrde dies
eintreten bei einem etwaigen Weohsd in der Person des Angeschul-
digten. Hier wflrde die ganze Verhandlung nutzlos sein und müßte
ganz Ton neuem begonnen werden, weil der Angeschuldigte ja
Kenntnis von allem vorgebrachten Belastungsmaterial haben soll.
Auch manche Beweiserhebungen, die jetzt schriftlich geschehen, würden
fflr die Hauptverhandlung verloren gehen, z. B. es stirbt ein Zeuge
in der Zeit zwischen Voruntersuchung und Hauptverhandlung. Schließ-
lieh das wichtigste aber ist, daR eine solche Voruntersuchung entweder
nicht gründlich genug ausfällt, dann kann man sie lieber ganz fallen
lassen; oder aber sie füllt zu gründlich aus und diese Gefahr liegt
sehr nahe. Kronecker behauptet, die schriftliehen Protokolle der
jetzigen gerichtlichen Voruntersuchung beeinträchtigten die münd-
liche Haupt Verhandlung. Meiner Meinung nach aber kann die Huupt-
verhandlung nicht schlininier beeinträchtigt werden als durch eine
solche mündliche Vor Untersuchung. Die Haupt Verhandlung würde
eine immer untergeordnetere Stellung bekoiumen, falls sie nicht ganz
fortfällt, was Kronecker ja auch bei leichten Fällen gelten lassen
will. Mit der Zeit würden sich durch Einfülirung eines solchen Ver-
1) So mit iJecht v. Ki ie;*, Zcitschr. f. ges. StR.W. IX. 95ff.
2) Su iieiuze a. a. O., v. Krics a. a. 0.
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110
n. Pounx
fahrens die«ell)en l hclstände ergeben, die ,im genieinrecbtlicben In-
quisitionsprozelt f^eberrscbt haben. Die Trennung von Vorunter-
suchung und Hauptverfabren würde verwischt werden. Und diese
Mißstände werden meiner Meinung nach auch immer eintreten, wenn
die gerichtliche Voruntersuchung und die Ilauptverbandlung von den-
selben Prinzipien beherrscht sind. Auch heute noch ist Zachariaes
Vorschlag zu berücksichtigen, der da.s Inquisitionsprinzip verbunden
mit Schriftlichkeit und Heimlichkeit des Verfahrens, als einzig brauch-
bare Form für die Vonmtersacüung betrachtete (Zachariae: Ge-
broehea und Beform to Krim.-Fn»ze8Bes. Güttingen 1846. S. 224£L).
010 nftehate Folge ron der EinfiihrnDg einer mtndlidieii gericht-
liehen YomntefBncbaQg wlMe die Einf&hnmg des BeformyoiBehlages
sdn, den John in sdnem Kommentar znr Stn4>roBeßordnung
(II, S. 188lf.) macht: «Die Trennung des VerCahrens in Vonrer
ftJuea ataatoanwaltlichea ErnuttelnngfTerCahren und gerichtliehe
Vorantarsnchnng) und HanptreiCahren ist anfinigebeo. Derselbe Vo^
schlag war für den gemeinrechtlichen InqoisitionsproBeß von Dal>
berg (Entwarf eines Ctosetzbnches in Krimiaalsachen, Teil I, Ab-
schnitt VI, § 1 gemacht, süeß damals aber anf schweren Wideistaad
und Widerspruch (s. bes. Eschenbach: Generalinquisition § 8).
Nach Johns Vorschlag würde eine Verhandlung stattfindon, wie
Kroneoker sie für die gerichtliche Vomntersuchung wünscht, auf
welche hin sofort das Urteil gesprochen wird, indem dem Unter-
suchnngsrichter frloioh eine Anzahl Richter oder Geschworene bei-
gegeben werden. Ein solches Strafverfahren läßt vielleicht an Kürze
nichts zu wünschen übrig, aber welche Garantien bietet es? Nach
V. Kries' Meinung bedeutet der Vorschlag von John nichts weiter
als Einfühning des tremeinreclitlichen Inquisitionsprozesses verbessert
durch Einführung der ()ffentlichkeit, verschlechtert dadurch, daß die
Trennung von untersuchendem und erkennendem Hicbter aufgegeben
wird.
Ganz neuerdings hat sich Bornhak für eine raiindliche und
öffentliche Voruntersuchung ausgesprochen. Er tadelt besonders die
Zersplitterung der staatlichen Strafaktion, daß sich zuerst die Polizei,
dann der Staatsanwalt, darauf der Untersuchungsrichter, dann wieder
der Staatsainviilt mit der Sache beschäftige; daß dann noch ein Ge-
richtsbesch lu Ii über die Eröffnung des Haupt Verfahrens folge, ehe es
znr Hauptverhandlung komme. Born hak schwebt als Ziel, das so
schnell wie mögli^ erreidit werden muß^ vor Augen ein Otteutlidier
nnd mflndficher Inqnisilionsproseß. Der Änklageprozeß nnd mit ihm
die StaatsanwaltBchafl ist au&nheben. Das Vonrer&hren denkt sich
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Die geridbtUcbe yorantenudniii^.
III
Bornhak folgendermaßen: es ist öffentlich und mündlich. AUeAuB-
SiO^en müssen aber ausführlich protokolliert, verlesen und von den
vernommenen Personen genehmigt werden. Die Zeugen sind sofort
zu vereidigen. Das Vorverfahren ist ein allgemeines, solange ein be-
stimmter Beschuldigter noch nicht vorhanden ist. Ist er vorhanden,
so kommt es zum besonderen Vorverfaliren, welches durch Beschluli
des Amts- rCvSp. Untersuchungsrichters eröffnet wird. In diesem
besonderen Vorverlahren dürfen üntersuchungshandlungen nur vor-
genommen werden, wenn der Verteidiger und der Beschuldigte ge-
laden sind. Der Verteidiger hat sich passiv zu verhalten, hat höchstens
ebenso wie der Angeschuldigte das Recht der Antragistellung von
Entlastungsmomenten. Der Untersuchungsrichter betreibt daä Vor-
verfaloaii T<m AmtB wegen md hat sowohl die ESnUaBtangs- wie Be-
lastnngsmomente zu berfleksiehtigeii* Die Besohlußtonng Uber Er-
Qffhnng des Hanpt^erfobrens erfolgt bei Veigeheii duroh den Unter-
snchimgsriehter allein; bei Yerbreohen wird ein zweiter Richter als
Korreferent zugezogen. Sind beide Tenohiedener Ansieht, so ent-
scheidet der Direktor der Strafkammer. Auch im Hanptyerfohren
soll der Unteisnchnngsriehter, der das Yorrerfahren gef fthrt hat, Sitz
nnd Stimme haben.
Ffir diesen Vorschlag wird Bornhak wohl wenige Anhänger
finden. Ein Verfahren, welches vor 100 Jahren henschte und trotz
seiner großen Nachteile erst nach vieler Mühe beseitigt wurde, wieder
einzuführen mit einigen Verbesserungen wie Mündlichkeit und Öffent-
lichkeit, die übrigens bei Bornbaks Verfahren darehaas keine Be>
deutung haben, dürfte kaum ratsam sein.
In ähnlichem Sinne spricht sich Knie mann aus. Auch er wünscht
eine mündliche und öffentliche Voruntersuchung, da weder der Staats-
anwalt und Verteidiger noch die Anklagekammer sich ein vorläufiges
Urteil über die Sehidd oder Unschuld des Angeschuldigten erlaul)en
können auf Grund der Akten, die „ein so trauriges Surrogat der
Wirklichkeit" bilden sollen. Daher erkläre sich auch der Milibrauch,
der in praxi beim Eröffnungsverfahren herrische. Der Referent er-
kundige sich meistens beim Untersuchungsrichter über den Eindruck,
den der Angeschuldigte bezw. Zeuge auf ihn gemacht habe. Die
übrigen Mitglieder der Ankhigekammer seien, ohne die Akten über-
haupt durchzulesen, der Meinung <les Referenten, die in fast allen
Fällen auf Eröffnung des Ilauptverfahrens geht, da man ,,dem er-
kennenden Gericht nicht vorgreifen dürfe". Diese Mißstände in praxi
sind für Kulemann der Hauptgrund, aus dem die Voruntersuchung
einer Beform bedarf. Nicht anf Grundlage von Akten soll gehandelt
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112
werden, da sie mir ein tranrigeB Surrogat der Wirldiolikeit bilden
nnd weil es oaeh Eolemanns Andcbt „über die menacUiehe Kraft*
jedes erkennenden Richters ^ebe, den Akten der Voruntersnchang
gegenüber vomiteüafrei sn bleiben; yielmehr üff entlich und mündlieh
8oU die Vomntersuchung gesebeben. Über die Eröffnung des Haupt-
Verfahrens entscheidet dann notgedrungen der Untersudinngariehter
da keine Akten vorhanden sind, und er soll dazu allein geeignet sein,
weil nnr er nnterricbtet ist über die Einzelheiten des bisherigen Ver-
fahrens. Und ans diesem Grunde soll der üntersuchungsricliter, <len
man nach Kulemann zweokmänifrcr „Untersuchungsbeamter" nennen
soll, auch in der Ilauptverliandlung die Anklage vertreten; daneben
soll ihn der Verletzte als Nebenklä^^er unterstützen, bei Fehlen eines
solchen der Staatsanwalt. Dies sind m Kürze die Reformgedanken
Kulenianns. — Auch dieser Reform Vorschlag läuft ungefähr auf das-
selbe hinaus wie die von Kronecker und Bornhak. Man bekommt,
wie Kulemann dies auch wünscht, ein Vorverfahren, das schon sämt-
liche Beweismittel sammelt und erschöpft, und hinterher ein feierliches
Nachspiel, welches man dann noch „Hauptverhandlung" nennen will,
Da keine Akten vorhanden sind, mul» das Gericht ja notwendiger-
weise den Ausführungen des Untersuchungsrichters Folge leisten, und
man könnte dann ja auch, um die Reform vollständig zu machen,
diese :HauptveihaDdluDg beiseite lassen. Denn der Unteisuchnngs-
riehter isl denn dneh bei weitem geeigneter, das ürtell sn ftUen, als
das erkennende Geriebt, das naeb Enlemanns Vorseblag gar kerne
Ahnung hat von dem ihm vorliegenden Fall, und aneh keine Akten,
ans denen es sieh die erforderliche Kenntnis yerBohaffen kann. Wie
nftmUeh ans der „knrsen*^ Hanpt?erhandlung| die Eulenuum verlangt
wegen der Qrfindfichkeit seines YonrerfiahrenSy sieh die Biehter
ein seibetindiges Urteil bilden sollen, ist mir nieht reeht klar. Sie
werden, wenn sie flberhanpt entsehaden sollen, sdion der Meinung
des ünterBuchungsriohters folgen mllsaen. Wur würden somit wieder
ein Verfahren bekommen, in dem die Tittigkeit der strafverfolgenden
Behörden auf eine einzige Person kruuentriert wird. Dieses Verfahren
soll dann große Vorteile bieten dadurch, daß es öffentlich und münd-
lich ist Die Öffentlichkeit wird dazu beitragen, daß der Untersuch ungs-
zweck in vielen Fällen vereitelt wird, wie oben S. 103 dargelegt
Die Mündlichkeit ist gedgnet, jeder Verzögerung des Verfabrens vorzu-
beugen. Wir bekommen auf diese Weise ein sehr kurzes, summarisohes
Strafverfahren, bei dem der Staat auch jährlich große Summen sparen
kann (Kulemann 8. 6 I i. Aber Garantien bietet ein solches Verfahren
ganz und gar nicht. Wie oben (§§ 15 u. 16) ausgeführt, gewährt
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Die goricbtlicbe Voruntereucbung.
113
die heutige gerichtliche Vonmtersuchung dodi entschieden bessere
Garantien (ür eine gerechte Strafreditspflege. Kommen in praxi bei
diesem Verfahren und dem Uber Eröffnung des Hanptyer&hieoB
wirklich so schwere VerstSfie gegen die gesetxUcben Bestimmiingen
Yor, wie Knlemann behauptet und mit ihm viele andere, so ist das
Gesetz doch hieran wohl nicht schuld. Jedes Gesetz, das in praxi
nicht ordentlich angewendet wird, fahrt naturgemäß zu Hifiständen.
Deshalb ist man m. £. aber noch nicht berechtigt^ die Beseitigung dieses
Gesetzes zu verlangen. Denn wer bliigt daffir, daß das reformierte
Gesetz nicht ebenso lüssig angewendet wird? Gerade aber die Fehler,
mit denen das Verfahren in praxi behaftet sein soll, werden neuer-
dings als Gründe aufgestellt, die die Beseitigung der gerichtlichen
Voruntersuchung') resp. eine radikale Umwälzung des ganzen Straf-
Tcnrfahrens rechtfertigen sollen. — Und man muß sich tatsächlich
wundem, daß auf dem letzten Kongreß der Internationalen kriminali-
stiscben Vereinigung in Dresden (6. Juni 1903) nur ein «ttziger Jurist
gegen derartige Reformvorschläge aufgetreten ist. Dr. Weingart steht,
wenigsten nach den Zeitungsberichten, die anscheinend auf Grund
besonderer Sachkenntnis energisch Beseitigung' der gerichtlichen Vor-
untersuchung verlangen, vereinzelt mit seiner Meinung da. Weingart
sa^t ganz mit Kecht: Die Mißstünde des Verfahrens, die neuerdings
hervorgesuciit werden, iiiu der gerichtlichen Voruntersuchung die
Existenz zu rauben -j, sind durciiwci,' solcher Art, daß sie im Ver-
waltungswege beseitigt werden können, wenn gut vor-
gebildete gewissenhafte Richter das Verfahren gemäß
den Vorschriften des Gesetzes führen-'). Und diese Ansicht
ist auch durchaus die meinige. Die Beibehaltung der gericht-
lichen Voruntersuch ung vi ellei ch tm it er w ei tertcrl'arteien-
öffentlichkeit erscheint mir bedeutend vorteilhafter als
alle Beformvorschläge, die neuerdings gemacht werden.
Im obigen habe ich darzulegen gesucht, daß die gerichtliche
Voruntersuchung eine große Bedeutung in unserem Strafverfahren hat
daß sie insbesondere neben dem staatsanwaltlichen Ermittelungs-
yerbihren entschiedene Existenzberechtigung besitast Sodann habe ich
untersucht, ob eme fundamentale und radikale Änderung der gericht-
lichen Voruntersuchung wünschenswert ist Ich bin zu der Ansicht
1) Die riltri;^(Mis meines Erachtons noch das kleinere Cbei wäre gegenüber
den Keformvoi-schlägen \un Kroneckor, Jolin, Bornhnk und Kulemunn.
2) Denn mit sachlichcu Argumenten die Beseitigung der VonmterBachuug
begrfinden sn wollen, ist meine« EiBditens nicht möglich (vgl § 15 a. 16).
3) Eben dieser Ansicht ist auch H. Groß aia.0. S. 2Sff*
Arahir (Ar Ktiminahuithiopologi*. XUI. 8
DiyiliZüa by GoOgle
114
II. Pousur
gekommen, da(> dies nicht der Fall ist. Ks dürfte überhaupt in den
vielen Vorschlägen, die für radikale Veränderung der •rerichtlichen
Voruntersuchung der deutschen Strafprozeßordnung gemacht sind,
nicht sehr viel Brauchbares vorhanden sein, wie schon v. Eries (Zb.
für ges. St-R.-W IX S. 95 ff.) sagt Es soll duoliai» mobt YvAMmA
werden, daß nnsoro beatige geriehtliohe Vonuttersachnng anch ihre
sehwaohen Sdten hat Die BeformTonehUlge aber haben neben
manchen Vorteilen anoh wieder ihre großen Kacbteile nnd swar smn
Teit dieselben, die man der heutigen Yoranteraachnng yorwirft, zom Teil
nooh schlimmere, die bd Einfabrong der Reformyorsobläge in der
Praxis sieb erst lecht fflhlbar machen würden. Dahv dürfte es wohl
das Richtigste sein, nnsere geiicbtlicbe Yorantersnchung, allerdings mit
erweiterter ParteienQffentlichkeit, zn behalten, solange man kdn
besseres Verfahren an ihre Stelle setzen kann.
§ 18.
Atthaay: Kurze Cbersl<>ht UI>or die ireriehtUche VorunterKuehung in dea wieh-
tigsten «uberdeatächeu enroplUseheu Stimfprozeüiordnuiiir^n*
I. Nächst Deutschland dürfte vor allem die österreichische
Strafprozeßordnung von 1S73 zu berücksichtigen sein. Als
wichtigster Unterschied gegenüber der deutschen Voruntersuchung ergibt
sich hier, daß der Süiafsnnwalt über die Klage völlig freier Ilerr
bleibt. Der Staatsanwalt näinlich hat das Kecb^ jederzeit die be-
antragte gerichtliche Voruntersuchung aufzuheben; auch nach be-
endeter Voruntersuchung ist es in das Ermessen des Staatsanwalts
gestellt, ob er die Anklage erliclien will oder nicht. Eine gerichtliche
Heschlußfassung über die Eniffnung des Ilauptverfahrens findet in
der Kegel niclit statt; nur falls der Beschuldigte eine solche beantragt,
ist dieselbe erforderlich; die Entselieidiing des Gerichts ist aber auch
in diesem Falle, wenn es dem Antrage des Angeschuldigten (Be-
schuldigten nach der österr. St.-P.-O.) Folge leistet, mehr eine Prüfung,
ob der P^inspruch des Angeschuldigten gegen die vom Staatsanwalt
erhobene Anklage begründet ist, als eine Beschluiifassung über Er-
öffnung des Ilauptverfahrens. — In Deutschland dagegen ist, wie
bekannt, dem Staatsanwalt, sobald er die Eröffnung der gericliiliciien
Voruntersuchung beantragt hat, jede selbständige Verfügung über
die Klage genommen. Das Gericht entscheidet über die Eröffnung
des HauptverfohrenSy nnd an diese Entscheidungen ist der Staats-
anwalt gebunden. Abgesehen von diesem prinzipiellen Unterschied
stimmt die gerichtliche Voruntersuchung der öeterr. Stw-P.-0. mit den
Vorschriften der deutschen Strafprozeßordnung fast yöUig übeiein;
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Die gerichtliche Voiunteraachaiig.
115
Bo t)cson(lers hinsichtlich der Znlässi^^keit der gerichtlichen Vorunter-
suchung, der Verteidigung des Angeschuldigten, des Rechts der Akten-
einsicht, der Parteienöffentlichkeit nsw. Als Abweichungen sind zu
erwähnen, daß der Antrag des Staatsanwalts anf EfOffinmg der ge-
rioh1iu)hen Voniiitenniebiiiig die Angabe aller VerdachtsgrUnde ent-
halten rnnls (österr. St-P.-O. % 92 II), was sieh au der deutschen Straf-
prozefiordnnng (§ 177} nioht ergibt; ferner hat der Untenaehiings-
richter nach dsteir. St-P.-O. § 92 lU das Beeht, die Znläasigkeit des
Antrags des Staatsanwalts nach allen Bichtungen zu prOfeo, während
naoh der deatschen StrafprozeßordanDg (§ 178) die PrÖfamg des
üntenmchnngsriehteis sieh nnr daranf erstreek^ ob der Antrag des
Staatsanwaltes einigen einseln anfgefllhrtea Voranssetznngen entaprioht
Bei der Veniehmmig des Besehnldigten sind naöh der Osterreiohisehen
Strafprozeßordnung zwei Gerichtszengen zuzuziehen; diese Vorschrift
besweckt eine Sicherstellung des Angeschuldigten vor Anwendung
unerlaubter Zwangsmittel durch den Untersuchungsrichter. Immerhin
zweckmäßiger dürfte es doch sein; dem Verteidiger des Angeschol-
digton die Anwesenheit zu gestatten; die Anwesenheit des Verteidigeis
hat für den Angeschuldigten entschieden mehr Nntsen, als die sweier
Gerieb tszengea.
In Ungarn gilt die Strafprozeßordnung von 189ö.
Die Vorschriften über die Voruntersuchung unterscheiden sich wenig
von denen der deutschen Strafprozeliordnung. Zu erwähnen wäre
nur: obligatorisch ist die gerichtliche Voruntersuchung („Untersuchung-
genannt) bei allen Prelidelikten und bei den Verbrechen, die mit
mehr als 5 Jahr Freiheitsstrafe resp. mit der Todesstrafe bedroht
sind. Bei Ergreifung des Täters in flagranti ist eine gerichtliclu; Vor-
untersuchung nicht erforderlich. Bei der Vernehmung des Angeschul-
digten sind wie in Österreich zwei (Tcrichtszeugen zuzuziehen, Parteien-
öffentlichkeit bei ihr wie bei den Zeugenvernehmungen ist in der
Regel nicht gestattet.
II. Italien. Hier gilt augenblicklich noch der Codice di
procedura penale ron 1S6 5. Dieser brachte aber keine Beform
des Strafprozesses^ sradeni war lediglioh eine BeTisiou des Godice
Yon 1859, der seinerseits ebenso wie die Straf prozefk>rdnuig von 1897
nur ebe getreue Kachbildong des Oode d'instruotion criminelle Frank*
leichs Yon 1808 ist Es kann somit auf Frankreich Tcrwiesen werden.
Zu erwähnen ist allerdings noch, daß augenblicklich eine Beform
des Strafprozesses in Italien vorbereitet wird')* Die für die
1) Vgl. V. Bar in Goltd. ÄxMv. 1901. 8. 88fr.
8»
Diyilizua by v^üOgle
116
IL Pouor
crerichtliche Voruntersuchuni^ hier geplanten Reformen bestehen in folg-en-
deni : Der Untersuchungsrichter soll bei der Vernehmung des Be-
schuldigten diesem die Hescliuldigung und die gesammelten Beweise
nebst Quellen kundtun, ihn auüerdem darauf aufmerksiini machen,
daß er zu keiner Antwort verpflichtet sei. Falls der Angeschuldigte
noch keinen Verteidiger hat, soll von Amts wegen der Untersncbungs-
riehter ebioi Bolofaeii beatelleD. IHdit khur za etaAm ist ans dem
EDtwnrfOy ob bei der Vernehmung des Ängeechnldigten Parteien-
öflendiehkeit herrsohen soll, die im flbrigen nnr wie anefa in Dentsch-
land bei endgültigen Beweiserhebungen in der geciehtlichen Vor-
nntennehong snUssig ist In Saishen, die vor die Gerichte mittlerer
Ordnung gehdren, ist die Eröffnung der Voruntersuchung in das Er-
messen des Staatsanwaltes gestdlt Der Angeschuldigte und das Ge-
richt können eine solche nicht beantragen, was sehr su bedauern ist.
Von sweifelhaflem Werte eisoheint mir ferner die Vorschrift, daß die
Beschlußfassung über die Eröffnung des Hanptveifahrens mfindlioh
erfolgen soll und bei einem Geständnis des Beschuldigten die Haupt-
verhandlung ausfallen kann. Im übrigen stellt der Entwarf für die
gerichtliche VorunterBuchnng ähnliche Vorschriften an^ wie sie die
deutsche Strafprozelbrdnung aufweist
III. Spanien >): In Spanien sieht es mit der Strafgesetzgebong
sehr schlecht aus. Bis 1872 war der ganze Prozeß völlig inqui-
sitorisch und schriftlich. 1872 wurde ein Verfahren eingeführt, das
sich vollkommen auf der Höhe der Gesetzgebunfron 'der zivilisier-
testen Staaten Europas bewegte. Bereits 1875 aber wurde das münd-
liche und öffentliche Verfahren der Ilauptverhandlung witnler be-
seitigt und es herrscht bis heute noch der schriftliche Inquisitions-
prozeß.
IV. England: Für England gilt noch heute das Verfahren, wie
es in § 7 II dieser Arbeit geschildert ist. Es gibt in England noch
immer keine Staatsanwaltschaft trotz vieler Wünsche, die auf Ein-
führung einer solchen wie einer gerichtlichen Voruntersuchung ab-
zielen-). Klage zu erbeben ist in England Sache des Verletzten, der
sich auch sein Ankiageniaterial selbst sammelt. Also ist für eine ge-
richtliche Voruntersuchung kein Platz. Es findet unter Umständen
nur eine mündliche kontradiktorische Verhandlung statt, die man
freilich „Vomntersucbung'* nennte die in Wirklichkeit aber nichts
1) Thicracb, AnwendimgBgebiet der Frivatklage. Berlin 1901. (ä.den§
über ^Spanien'".)
2) Vgl. Liepmauu, Zcitschr. f. ges. St It. \V. VI. 413ff. Hahn, Materialien
zur St P.O. (2. Aufl. 1884.) 1. Bd. 8. 166. Amn. 1.
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Die gericbtHdie VomBtemidiaiMir.
117
anderes ist, als eine Beschlnßfassnng Uber die Eröffnimg des Hanpt-
▼erfahrens.
V. In Frankreich herrscht noch heute der Code d'instruction
criminelle von 1808^ durch einige Novellen geändert. Für die Vor-
antersuchung kommen in Betracht die Gesetze von 1S56 (Aufhebung
der Ratskammer) und besonders das Gesetz vom S. Dezember 1897,
welches erweiterte Parteienöffentlichkeit in der gerichtlichen Vorunter-
suchung gestattet, aber ein kontradiktorisches Verfahren in derselben
mit Recht zurückweist. Über alles dies s. o. § 7 I. Das französische
Verfahren ist im übrigen auch maßgebend für Belgien und Hol-
land; es sind hier nur Abänderungsgesetze ergangen, so in Belgien
ein Gesetz von 1S52 und 1874; in Holland die Strafprozeßordnung
von ISSG mit Novellen von 1886, 1887 und 1889. Alle diese Ge-
setze haben an dem Verfahren in der gerichtlichen Voruntersuchung
so gut wie nichts geändert In diesen Liindern herrscht also eine
geheime, inquisitorische Voruntersuchung oline l'arteienöffentlichkeit,
eine grolJe Beschränkung des Verkehrs zwischen dem Angeschul-
digten und seinem Verteidiger und beschränkte Akteneinsicht; es
gelten somit ziemlich dieselben Vorschriften wie in Deutschland.
VI. Norwegen*): Das tiftero norwegische StiafyeE&hren er-
innert sehr an den alten gennanis^en Strafprozeß. Es galt ein
öffendiches^ mfindliohes Anklageyerfialiren yor den Gangerichten, in
denen jeder Gangenosse ein Stimmrecht hatte; also das Volk gab den
Bichterspmch. Erst |im 12. Jahrhundert kamen ordentliche Richter
anf. Die Bestfttigang des Urteils dnroh das Volk yerschwindet mehr
und mehr und beschrSakt sich anf die ^Lebens- nnd Ehrensachen**.
Allmfthlioh bildete sidi nnn anch die Auffassung auf , dafi der Staat
als solcher anr Verfolgung ^der Veibreehen befugt tuL Eine Ver-
pflichtung hierzu wurde erst im 17. Jahrhundert anerkannt Die
Verfolgung lag damals der Zivilobrigkeit (Amtsmänner) ob^ eine Staats-
anwaltschaft bestand nicht. Eine gerichtliche Voruntersuchung , die
dem Anklageverfahren widersprach, gab es bis in diese Zeit nicht
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts drang dann aber der Inquisitions-
prozeß in Norwegen ein, und das (tericlit verfolgte nun die Ver-
brechen von Amts wegen, zu welchem Zwecke natürlich eine gericht-
liche Voruntersuchung nötig erschien. Genau wie in Deutschland bildete
mit der Zeit die gerichtliche Voruntersuchung den Mittelpunkt des
Strafverfahrens, demgegenüber das Hauptverfabren in den Hinter-
grund trat 1877 wurde für Norwegen eine Strafprozeßord-
1) Vgl Ila'.'^eriip, Zoitechr. f. gcä. St.itW. IX. lOSff. and daselbst Anhang:
Norwegische ättafprozeßordnaiig von 1S87.
DiyiliZüa by GoOgle
118
IL POISIN
nnn^ erlassen, die dem Inquisitionsprozesse ein Ende bereitete. Seit-
dem lierrscht ein akkusatorisches Verfahren mit einer ^richtlichen
Voruntersuchung in den schwierigeren Fällen. Die Vorschriften des
Gesetzes bringen uns dabei nichts Xeues, da die norweirische Straf-
prozeßordnung sich die deutsche Strafprozeßordnung direkt zum Vor-
bild genommen hat.
VII. Schließlich möchte ich noch die gerichtliche Vorunter-
Buchung in den Kantonen der Schweiz Ije8j)rechen
A) Charakter der Voruntersuchungj ihre Stellung
zum Haupt verfah ren:
Eine gerichtliche Voruntersuchung in dem Sinne, daß von ihrer
Eröffnung an das Gericht allein die weitere Verfügung über die
Sache in Händen hat, ist vorbanden in Wallis, Graubünden, Glarus^
Zug, Freiburg, Genf, Waadt, Solothnm, Neuenbürg ; St. GsUen, LnxeKn,
Bern (Erimmaliioteraachiingj; zweifellialt ut, ob auch Scbwyz biolier
gehört Der Name für die gerichtliohe Vornnteisiiehung ist yei^
schieden; in den Kantonea mit akknaatorisehem Yearfohren f9hrt aae
den Titel VonmteEBndiiuig (anch üntenochimg), wihiend man ia
den Kantonen mit inqniflitoriflohem Yer&hien die Beacichnnng „Haupt-
nntenachnng" für sie findet Eine gerichtspoliBeifiche Vonlnfte^
tniihüng in dem Sinnci daß swar daa Gericht die Yonintenachiuig
führt, die StaatsanwaltBchafl aber die VeEfflgung über die Klage be-
hält, also über die Erhebung der Klage entscheidet, ist vorhanden in
Uri, Ob- und Nidwaiden, AppenaeU, Schaff hausen, Tessin, ßaselstadt.
BaseUand, Thurgau, Zürich, Aargau, sowie die korrektioneile Unter-
sucbnng in St Gallen, Lnzem, Bern. Hier haben wir also im eigent-
lichen Sinne keine gerichtliche Voruntersuchung, sondern nur ein
staatsanwaltlichcs Ermittelungsverfahren; denn der Richter, der hier
die Untersuchung führt, ist kein Richter, denn es fehlt ihm, da er
den Anträgen des Staatsanwalts Folge zu leisten hat, ja vollkommen
die dem Richter eigentümliche Selbständiprkeit und Unabhängigkeit.
Er ist vielmehr nur ein Gehilfe der Staatsiinwaitschaft. Charakte-
ristisch für die «icrichtliche Voruiitt rsuchung der Kantone der erst-
genannten Gruppe ist, dal) dies Verfahren nicht die Erhebung der
Anklage, sondern vieliiielir Fundierung des Urteils bezweckt Es hat
sich in diesen Kantonen also der alte ln(piisitionsprozeß erhalten, wo
es auch Aufgabe der Voruntersuchung wurde, den Fall spruchreif
zu machen.
l) Im AnschluC an die neuci"ding}» erschienene Disftoitnti'tn von C. Meyer:
Kritische uml vergleichende I>ar.''tenung der VunrntersttchttUg uacü den kantonalea
ÖtrafpiDzeliordnuugen. Zürich l*^y7.
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Die geriditUcfae Yonmteniidiiiiig.
110
An den alten Inciuibitionsprozeli erinnert aueli, daB das (iericbt
diese Vornntersuchunp von Amts wej^en eröffnen kann und niclit auf
einen Antrag der Staatsanwaltschaft z\i warten braucht. Nur wenn
bereits ein polizeiliches Ennitteiun^sverfahren voraus^a^^'anjüccn ist,
wird die Untersucliung' auf Antrag des Staatsanwaltes eröffnet. Nach
Schluß der Voruntersuchung^ entsciieidet dann (his Gericht über Ver-
setzung:: in den Anklii^^ezustand und es findet dann eine öffentliche
Schiuliverhandlung statt. In ihr wird das Urteil entweder auf Grund
der Akten der Voruntersuchung gefällt, so daß das erkennende Ge-
richt nicht einmal mehr neue Beweise erheben darf (so Uri, Schwyz,
UnterwaldeOf Appenzell, Scfaaffhaiueii, WalÜB), oder aber es findet eine
öffentliehe, mttndiiebe akkusatoriache Hanptrerhandlung statt, in der
das Gericht auf Grand eigener unmittelbarer Ansehauung seinen
Spruch fiUlt (80 GranbOnden, Glarus» Zug, Freiburg, Bern, Genf,
Waadt, Neuenberg; St. Gallen und Luzem bd KriminidfäUen). Da-
neben aber besteht die Voruntenuehung fort, als ein Stadium der
Beweiserbringung. Dies Verhiltnis ist aber unhaltbar; es hätte hier
die Vornntersuchung beschrttnkt werden mdssen auf eine bloße Vor-
bereitung der Anklage und Hanptverhandiung, was aber in den Ge-
setzen dieser Kantone nicht geschehen ist; yielmebr haben wir eine
inquisitorische Vornntersuchung mit voller Beweiserbringung und
dazu cnie akkusatorische Hauptverhandlung, die die Stellung einer
Beweisreproduktion einnimmt. Die Hauptverhandlung ist also nur
eine Wiederbclung der Voruntersuchung. Die richtige Konsequoiz
haben nur BaseUand, Baselstadt, SolotburUf Zürich, Aargau und
Thurgau gezogen, wo es Zweck der Voruntersuchung ist, die Sache
soweit aufzuklären, daß eine Anklage erhoben und die Hauptver-
handlung ohne grof5e TjnterhrecliunL'- diircliirefülirt werden kann. —
Von Bedeutung ist, daÜ die \'oruntersuchung in den Kantonen durchweg
heimlieh ist; eine Ausnahme macht hierin nur Neuenburg fArt. 286\
welches die Öffentlichkeit der Voruntersuchung in das Ermessen des
Untersuchungsrichters stellt
Bi Voraussetzungen und Notwendigkeit der Vor-
untersuchung; St el 1 u n g des Staatsanwaltes in derselben.
Abgesehen von den Fällen, wo das Gericht von Amts wegen
direkt ohne ein vorheriges Ermittelungsverfahren die Voruntersuchung
beginnt, ist die Eröffnung derselben von einem Antrage des Staats-
anwaltes abhängig. Notwendig ist die gerichtliche Voruntersuchung
nach französischem Vorbild bei Verbrechen; bei Vergehen bildet ihre
Abhaltung die Regel, pdiseiliehe Ermittelungen genügen jedoch in
Tessin, Genf, Aargau, Baselstadl^ Uri, Appenzell; unstatthaft ist die
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120
IL PoLsni
Vonmteröucliuug in Polizeistraf fällen, sowie bei der Amtsklage in
Vrif wo Personen in amtlicher Eigenschaft durch Eid verpflichtet
sind, gewisse Veiiirechen, die ilrnen zu Ohran kommen, einzuklagen.
Sobald die gerichtliche Vornntenachiing eröffnet ist, hat das Gericht
daa weitere VeiUien allein in der Hand. Die Tätigkeit der Staats-
anwaltschaft beachrSnkt sieh darauf, den Unfeeranchnngariohter zu
nnterstlitaen nnd AntrSge zu stellen; anfieidem hat sie das Beeht,
allen Untersnohnngshandlnngen beizuwohnen. Eine Ausnahme bildet
hier nur der Kanton Waadf^ wo der Staatsanwalt in der Begel den
ZengenTemehmangen, sowie dem Verhör des Angeschuldigten nicht
beiwohnen soll. Geschieht es dennoch, so ist auch der Verteidiger
des Angeschuldigten zuzulassen.
C) Die Stellung des Angeschuldigten:
Für die Vernehmung des Angeschuldigten gelten ähnliche Vor-
schriften, wie in der deutschen Strafprozeßordnung. Ein Becbt auf
Kenntnisnahme der Akten und des Heweismaterials eriLennm nur die
Kantone mit vorwiegend akkusatorischem Verfahren an. Hier hat
der Angescliuldifi^e resp. sein Verteidiger das Recht der Akteneinsicht
schon während der Voruntersuchung. Tessin, Obwalden, Neuenburg,
Glanis, St. Gallen, Graubünden gestatten die Akteneinsicht dem Ver-
teidiger. Nicht gestaltet ist sie in Wallis; fakultativ in Solotburn;
ZUrich und Aargau gestatten auch fakultativ dem Angeschuldigten
die Akteneinsicht. Am weitesten in dieser Richtung geht Genf (Art. 63):
en matiere criminelle, la copie de toutes les pißces de la procödure
est dclivröe i\ l'inculpe, sans frais et sur jiapier libre, avec la signature
du greffier, cinq jours au moins, avant que la chambre d'instruction
ait ä statuer. Teilnahme an Untersuchungshandlungen ist dem An-
geschuldigten gestattet in Zürich und Aargau, sobald förmliche Ver-
handlungen vor dem Untersuchungsrichter erfolgen ; in Genf nur, wenn
der Angeschuldigte es verlangt.
Der Vertddiger darf an allen üntersuchungshandlungen teil-
nehmen in Zürich, Genf und Aaigan. Waadt und Tessin beschränken
die Gegenwart auf Augenscheinseinnahmen und Haussuchungen.
Außerdem ist in Waadt der Verteidiger dann immer zuzulassen, wenn
der Staatsanwalt zugegen ist bei der Vernehmung des Angeschuldigten
resp. der Zeugen. Ausgeschlossen ist die Anwesenheit des VerteidigeiB
wie die des Angeschuldigten selbst in Baselstadt, Thuigau, Solothum
und Neuenbürg. Wie sich aas dem Yorigen ergibt, ist eine Verteidigung
des Angeschuldigten schon während der Voruntersuchung nur in einigen
Kantonen gestattet, nämlich in Baaelstadt, Waadt, Genf, Neuenbürg,
Tessin, Zürich, Solothum und Aaigau. Und auch diese gestatten die
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Die gcrichtiiehe Vonmtemidiiiiig.
121
Gegenwart des Verteidigers beim ersten Verhör des Angeschuldigten
nirgends. Der Verkehr des Angeschuldigten mit seinem Verteidiger ist
in der Regel frei und ungehindert. Nur in Sulotliurn besteht die
Aufsicht durcli eine Oerichtsperson. Aulierdeni kann der Verkehr
des Angeschuldigten mit dem Verteidiger in einigen Kantonen auf
gewisse Zeit verboten werden (sog. mise au secret), so in Aargau,
Zürich, Waadt auf 14 Tage; in Neuenl)urg und Genf auf 8 Tage.
VIII. Kesumö: Aus dem obigen ergibt sich, daß in allen Straf-
prozeßordnungen, die wir betrachtet haben, außer England, eine ge-
richtliche Voruntersuchung sieh findet. Die Unterschiede und Ab-
weichungen, die sich zeigen, sind keine fundamentalen^ abgesehen von
Spanien und dem Teil der Schweiz, wo noch der alte Inquisitions-
prozeß in Übung ist Diese fast durchweg ähnliche Behandlung der
gerichüichen VonrnterBUchong in den Strafprozeßordnungen der ein-
zelnen LBnder aägt aebon, dftB eine fandameatale Änderang der ge-
richtlichen VonrnterBuohong der dentalen Strafprozeßordnung nicht
am Platze ist Vielmehr nehmen wäi yiele L&nder die denteche
Stni^inrosefiordnnng direkt zum Vorbilde, so Norwegen nnd der
italienisohe Entwurf einer Stmfprozefiordnnng vom Jahre 1900. Wenn
man in Dentaohland eine radikale Änderang der gerichtlichen Vor-
nnterBüchnng, die so vielfach yeriangt ward, Tomehmen wollte^ könnte
man sich anf das Verfahren anderer Lftader nicht berufen, da hier
gldche oder ganz fthnfiche Gmndsitze herrschen wie in Dentachland %
sondern müßte ein in keinem I^de bbher geübtes Verfahren ein-
führen. Ob dies zweckmäßig isl^ erscheint mir sehr fraglich. €terade
die Tatsache, daß besonders in neuerer Zeit bei Reformen der ge-
richtlichen Voruntersuchung in anderen Ländern die deutsche Straf-
prozeßordnung mehrfach zum Vorbild gedient hat, scheint mir zu
beweisen, daß unsere gerichtliche Voruntersuchung doch nicht ein
so schlechtes und mangelhaftes Verfahren ist, wie vielfach behauptet
wird.
t) England kaau deshalb nicht zum Vorbilde dieoeu, weil es keine gcricht-
lidie Vornntenuchung besitzt Vgl oben 1 7, II «n Ende and § 8. IV.
DiyiliZüa by GoOgle
III.
£rfaliroDgeii über einige wichtige Gifte
und deren Nachweis.
Tob
Prof. Dr. Julius Kratter.
Bearbeitet nach einem im Vereine der Arzte in btcicriuurk am 23. Februar 1903
gehaUmenVoxtnig mit uigeBchloii«n«i DemonatiatioBeii.
Aus dem leiehen Sebatee langjllirigen gerichtsärztlicbeii
und g^richdich-chemiBchen Erfahrungen auf dem Gebiete der Ver-
giftungen einiges Neue und auch für weitere Kreiae Wiaaenawerte
daiznatelleni ist der Zweck der folgenden Mitteilungen. Damm werde
ich auch nicht gerade die Seltenheiten gewiaaermaOen als eine Art *
von Raritätensammlung vorführen, sondern einige neue Erfahnmgra
Uber altbekannte und häufig gebrauchte Gifte erörtom.
A. Anorganische Gifte.
/, Amen.
Ich beginne mit dem König der Gifte — dem Arsen. Man darf
dieaea Gift wohl so bezeichnen, weil es wenigstens bei uns und den
angrenzenden Tündern weitaus das verbreiteteste, bekannteste und meist
gebrauchte Gift ist. Man könnte es mit Recht auch das Ilausgift des
Steirers nennen; denn es ^\ht Gebenden in Steiermark, z. Ii. im
Koralpengebiet, wo es kaum in einem Bauernhause felilen dürfte.
Man kennt es liier fast nur in den zwei Formen als weiHen und
gelben Arsenik, weilier und gelber ITüttenraucli (Ilütlrach) genannt
Der weilte Arsenik ist bekanntlich Arsentrioxyd (Asi 0:0 oder arsenige
Säure, der gelbe im chemisch reinen Zustande Arsentrisulfid (AszSs).
Wegen seiner fast völligen Unlöslichkeit ist chemisch reines
Arsentrisulfid un giftig. Der in den Händen der Leute befind-
liche gelbe Arsenik ist aher ein künstlich durch Zu.summen-
schmeizen von weitem Arsenik mit iSeliwefel dargestelltes Fräparat,
das zum geringsten Teile aus Arsentrisulfid, dagegen zum weitaus
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Erfahningen fiber einige wichtige Gifte und dvrea KachwelB. 128
größten Teile ans araeniger Sftnre besteht und daher in hohen Grade
giftig ist.
Wir haben selbst in mehreren Fftllen den Gebalt des gelben
Arseniks an arseniger Säure quantitativ genau bestinimt iin<l gefunden,
daß die gebräuchlichsten Sorten 85 95 Proz. Arseotrioxyd enthalten.
Dieser künstlich hergestellte gelbe Arsenik ist also gewissennaßen nur
ein durch Schwefel gelb gefärbter weilier und scheint sich auch einer
größeren Beliebtheit zu erfreuen als dieser. Ich kann es wenigstens
nicht als einen Zufall betrachten, wenn etwa '■^j* meiner fälle Ver-
giftungen mit dem gelben Arsenik betreffen.
Man muß sieli mit Recht fragen, wie so es kommt, daß dieses
Gift eine solche Verbreitung im Volke gefunden hat. Die Antwort
glaube ich auch aus meinen Erfahrungen gel)en zu können. Für den
Steiermiirker ist der xVrsenik eine Art von Universalmittel, das den
verschiedenartigsten Zwecken dient. Der Pferdeknecht oder der Hauer
selbst mischt ihn ab und zu zum Futter, damit die Pferde besser aus-
sehen, feuriger und leistungsfähiger werden; er nascht selbst etwas mit,
wenn er ihn den Pferden reicht und wird so zum Arsenesser. £r
tat dies auf Omnd der mystischen Vorsteliiing, daß der Arsenik
dem Pferde nur dann nfiltzt^ wenn der Heir aneb etwas davon genießt
Dem Arsenesser gUt der Arsenik als bestes Mittel zur Erhaltnng der
Gesundheit, zur Verhütung von Krankheiten nnd znr Errdchnng eines
langen Lebena Arsen bebt die gesohwichte Manneskrsft nnd regt die
Gesehleehtslnst an, ist daher ein gesehfitztes Aphrodisiacnm; es
befreit aber anch von den Folgen dee Geschlechtslebens nnd ist des-
wegen als FmebtabtreibnngBmittel beliebt Man kann damit die
Ratten nnd MSnse im Hanse vertilgen, aber auch dem Nachbar das
Vieh „veiffitteni'' (vergiften) und besitzt eine gewaltige Angriftswaffe,
wenn es gilt den alternden Mann hinterlistig in das bessere Jenseits
zu befördt rii. um den jnngen Knecht freien zu können, oder wenn der
Mann sein Eheweib „vergeben** i) will
Für alle diese Verwendungsarten unseres Giftes besitze ich
meist mehrfache kasuistische Belege, welche ich im folgenden zum
Teile auszugsweise mitteilen werde.
In mancher Bichtung sind auch die Darreichungsarten
interessant, wofür ich in vorliegenden Präparaten lehrreiche Beispiele
besitze: hier ein Stück Käse, in das von der beite her Einschnitte
1) In Steiermark steht noch die andte Fonn ^veiifeben* ffir «vefgifleii*
lifiiu I.amh niko in (Jrbrauch. >Sic hat ihn veij:eboir sie hat ihn vergiftet,
ist (Muc oft gehörte Hedewenduog. Bekanntlich i&t du Wort «Gift*^ vf« ngeben*
abgeleitet.
DiyiliZüa by GoOgle
124
in. Kbatteb
gemacht wurden, welche mit Arsenpulver bestreut sind, da ein
KnQdel, aus Kartoffeln, Kleie und KolilblUttern her^^estellt, in dessen
Mitte sieh ein pjoHes Stück gelben Arseniks befindet, bestimmt für die
Schweine des Nachbars, die jedoch merkwürdifi^erweise den Lecker-
bissen nnl)erührt lie<ren ließen, bis er jiuf^refunden wurde und zu
(ierichtslianden kam. Klüger hat es jene Häuerin jremacht, welche
den in diesem (Hase befindlichen Kukurutz in Wasser, dem Arsen bei-
gemengt war, kochte und das so hergerichtete Lieblingsfutter der
Hühner in den Ilühnerhof des Nachbars warf. Als dessen Hühner
plötzlieh fast alle verendeten, sammelte der beschädigte Hühnerbesitzer
sorgfältig die noch vorfindlichen Maiskörner und brachte diese sowie'
auch einige Hühnerkröpfe zu Gericht. Der in den vorliegenden
Kröpfen befindliche Mais ist wie der aufgelesene Mais stark arsen-
haltig gefunden worden.
Es ist jedenfalls die laffinierteste Art der Giftbeibhngung, wenn,
wie hier, die araemge Store dnrcb längeres Koehen in Wasser, Suppe,
MUeby Kaffee nsw. in LSsnng gebraeht wurde; wegen seiner yöUigen
Gem<di- und Geschmacklosigkeit bleiht das Gift nnerkannl^ jeder von
uns würde eine so znbeieitete Speise essen, ohne etwas zn merken.
Trotz der dadurch gewissermaßen Terbttrgten Möglichkeit der heim-
lichen und lacht unentdeckt bleibenden Bobringung ist diese Art
doch nicht die häufigste; vielmehr ist die gewöhnliche Darreiohungs-
art die, daß die fdn oder grob gepulverte Substanz als solche auf
eine Speise gestreut oder in räi GeMnk gegeben wird. So ist hier
ein StMz «US Maismehl (das gewöhnliche Frühstück des Steirers) mit
aufgestreutem weißem Arsenik, hier Mehl, da Salz mit beigemengtem
gelben Arsen, hier ein Hustentee aus Eibischwurzel, Johannisbrod
(sog. Bocks-Hörndl) und Zucker, dem, wohl in der frommen Absicht,
den armen Huster baldigst von sanem Leiden zu erlösen, ein ansehn-
liches Stück gelben Hüttenrauchs» wie man es im Präparate sieht,
beigemischt worden ist.
Erstaunen erweckt es zu erfahren, welch große Mengen des
Giftes mitunter zur Verwendung kommen und wie grobe Mengen
sich in den Händen der Leute befinden. Dafür nur einige wenige
Belege: In einem jüngst chemiseh untertsuchten Falle von auswärts
vorgekomnieneni ( Üftmord fanden wir im Magen ungelöst und durch
Sehläninien isolierbar l,*>31',)g weiben Arsenik, dazu noch im Magen
und Darm l)ei d«'r Üxydition (l,S994 g, somit im ganzen 2,5313 g
ar.senige 8äure in den ersten Wegen. Diese Erfahrung hat deswegen
eine besondere Hedeutung, weil im allgemeinen gewib nnt Recht ge-
lehrt wird, dub grobe Giftmengen für Selbstmord sprechen. Ich habe
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Erfahnugen über einige wichtige Gifte und deren Nacliweis.
126
bei Selbstmördern allerdings auch schon bedeutend p:r(UU're Mengen
im Magen vorgefunden, Mengen, die man mit dem Löffel schöpfen
konnte, wie in vorliegenden Präparaten zu erselien ist; allein ich selbst
hätte im angeführten Falle unbedenklich erklärt, die große Menge
spreche weit mehr für eigene, wie für fremdhändige Beibringung,
wenn letztere nicht unzweifelhaft sichergestellt gewesen wäre. Es
fltebt fest, daß diese g;roße Menge, die doch nur ein Bmehteil der
wirklich eingeftthrten sein konnte^ dem Manne von seinem Weibe in
die Mehlsuppe gemischt wurde, die es ihm zum lYtthstfick bereitete
nnd zwar in Form des sogenannten Giftmebls, das ist fein gepnlverter
weißer Arsenik.
In anderen lUlen sind 30, 50 nnd bis zu 100 g weißen oder
gelben Arseniks in Stücken als Vorrat bei Hansdnrchsnchungen
angefunden worden; alle Toigewiesenen Objekte entstammen foren-
sisehen FKQeo. Das schönste Stflok meiner Sammlung gehOrt auch
dahin. Im Jahre 1893 starb hier die Waat eines Fiaokeis an akuter
Arsenvergiftung. Bei der wegen des Verdachtes, daß sie von ihrem
Manne yergiftet worden sei, eingeleiteten Voruntersnchnng wurde im
Hause dieses prachtvolle Stück weißen Arseniks vorgefunden, das
an einer Seite deutliche Scbabespuren aufweist Es wiegt nur um
ein geringes weniger als ein halbes Kilogramm, reicht also, selbst
wenn man die tödliche Gabe fUr arsenige Säure statt mit 0,1—0,2 g
mit 0,5 g ansetzen wollte, zur tödlichen Vergiftung von wenigstens
lu<l(> Menschen hin! Da die legalf Erwerbung solcher Giftmengen
sicher ausgeschlossen ist, so kann nur an ungesetzliche Wege der Be-
schaffung gedacht werden. Kenner der Landessitten lenken den Ver-
dacht dieses ungesetzlichen (lifthsmdels auf fremdzustäiidigc Hausierer.
Ich uK'Jclite noch i'int' niciit uninteressante Tatsache hervorhel)en.
Das saure chrdinsaure Kali hat wenigstens für den I^ien eine ge-
wisse Ähnlichkeit mit hochgelb gefärbten Sorten des Arseniks; es gil)t
eine Sorte roten Arsi niks, die im äuberen Ansehen dem genannten
Chromate wirklich sehr nahe kommt. Wir haben nun schon mehrere
Vergiftungsfälle (versuclite Giftmorde) zu untersuchen Gelegenheit ge-
habt, wo Kaliumbichromut zur Verwendung gekommen ist — und zwar,
wie ich glaube sicher annehmen zu dürfen, — weil die betreffenden
dieses Salz für gelben Arsenik hielten; die Anwendung des saueren
chromsanren Kalis beruhte also auf einer — Verwechslung. Daß
es sich so TerhAlt» scheint mir zunächst durch die Art der Ver-
wahrung des yermeintUchen Arseniks sichergestellt zn sein. Der
Steierer verwahrt nSmlich sein Hansgift in der Begd besondeiB sorg-
fiUtig. Vielfach in Papiere ^gewickelt, vergiftbt er seinen Schatz —
DiyiliZüa by GoOgle
126
IIL isUEUTTEB
denn der B^itz des Giftes ist ihm ein wertvolles Gut — in der
tiefsten Ecke seiner Truhe oder in einem Winkel oder verborgenen
Boke BoineB Kastens, za dem er deu Sohltlflael stels liei ridi tilgt.
Auch ein Fach des Qeldtäsdhchens dient als Aufbewahrangsoit oder
dn Lederbeatelehen ans gefaltetem Leder mit Zngriemen TerseUieO-
bar. In einem Falle war eine leore Patronenhülse^ die mit einem
Korkstoppel venchlossen wnide^ znm Giftmagazin ganz sinnreuA
heigeriohtet worden; der ganze Ranm war mit Stftcken von gelbem
und weifiem Areenik gefOIlt Anoh leere Zflndbolzsehfichtelehen
worden wiederholt dafOr in Yerwendnng genommen. Geoan ebenso
sorgfiUtig nnd mitunter eigenartig verwahrt wurde in unseren FUleo
das in Rede stehende falsche Arsen — das Kaliumbichromat. Als Bet-
spiel diene aus meiner Sammlung ein echt steiriscbes Ledertäsohebea
der geschilderten Art, welehes den rotgelben Schatz in StQoken ent-
hält, die — saneres-chromsaueres Kali sind. Davon war eme be-
achtenswerte Menge einem Gerichte sauerer Rüben, die wir unter-
sachten, beigemischt worden. Auf eine Chromsänrevergiftang
war es gewiß nicht abgesehen (!), sondern der Täter vermeinte wohl
zweifellos den so bekannten gelben Hüttenrauch besessen nnd ver-
wendet zu haben.
Dafs aber meine Ansicht, es liege diesen Fällen eine Verwechs-
lung' zu^^rundc. mehr als eine naheliegende Konjunktur ist, geht
aus einem anderen hierfür beweisenden Falle hervor: Eine ältere
Bäuerin kocht sich einen Kukurutzhrei und bemerkt dabei eine
verdächtige Gelbfärbung des zur Zubereitung verwendeten Wassers.
Da sie mit ihrem Schwiegersohne in stetem Unfrieden lebt, vermutet
sie einen Vergiftungsversuch, begibt sich mit dem eben gar gekochten
Sterz im Topf zum Bezirksgericht und erstattet dort die Anzeige überihre
Wahrnehmung. Bei der Hausdurchsuchung findet der Untersuchungs-
richter eine mit verdächtigen Resten einer gelben Substanz verunreiniirte
Militär-Eßschale und mehrere andere ähnlich verunreinigte Gebrauchs-
gegenstftnde sowie das Hehl, welches zur Bereitung des oberwähnten
Sterzes gedient hat Die dortgericbtlichen GericbtsSizte erklfiren Uber
Befragen mit Bestimmtbeii^ daß die fraglichen Beimengungen
und Verunreinigungen gelber Arsenik seien. Daanfhin
werden die Gnzer Gerichtsohemiker ansdrUcklieh beauftragt an den
ihnen eingesandten Ooiporibns delicti nur die quantative Aisen-
bestimmnng auszufahren. Die Untersuchung ergab in simtlidien
Objekten völlige Ab wesenbeit von Arsen, — wohl aber fibenül
die Anwesenheit von Kaliumbichromat u.zw. im Mehl in euier
an die tödliche Dosis heranreichenden Menge. — Nach wenigen
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EifahraiifeD ftber dnigo wichtige Qifte imd deraa Nachweis.
127
Wochrn erhielten die Sachverständit^en das Aktenmaterial und ein
weiteres Untersuchun^sobjekt aus dem Besitze des Hescliuldigten zur
Bestimmung: zui^esandt. Es war ein wohlgereinigtes gläsernes Tinten-
faß, in dem sich ein schönes Stück sauren chromsauren Kalis (bei-
läufig 12 g schwer; befand. Bei den Akten lag auch die Ver-
nehmung des Beschuldigten, der eingestanden hatte, daß er seine
Schwiegermutter mit Arsenik vergiften wollte ; er habe das gelbe, im
Tinteoglas sorgfältig verwalirte Stück, von dem ein Teil zor Tat ver-
wendet wurde, von einem Hirten aU Arsenik gekanft und ea
immer dafür gehalten.
Aber niobt nnr die Gifte werden verkannt und verweehaeU, son-
dern aneb die Vei|fiftnngen. Eine vermutete Arsenvergiftung wird
durcb die Ldehenöffoung nicht aUzu selten als ein natttriicbes Ge-
scbehnis erkannt Gewisse BancbfeUentsflndnngen, namentlieh sobdie
naeb Darmdnrchbrilclien, DarmveiBoblingnngen und emgeklemmten
Brttehen gleioben bekanntliob Vergiftungen, wie ein Ei dem anderen;
. sind sie doch auch, wie wir beute wissen, wirkliche Vergiftungen nur
mit dem Unteiscbiede^ dafi in diesen schweren Krankheitsfällen das
Gift im Körper selbst entsteht; sie sind wdogene Intoxikationen zum
Unterschiede von jenen, wo das Gift von anßen in den Körper ein-
geführt wird, die man als exogene Intoxikationen bezeichnet Aus
einer solchen Verwechslung, aneh mit gewissen Infektionskrankheiten,
wie Cholera, Typhus, Sepsis usw. kann niemandem ein Vorwurf ge-
macht werden; die Erscheinungen während des Lebens machen eine
sichere Unterscheidung oft unmöglich. Von diesen allgemein be-
kannten Dingen will ich hier nicht weiter handeln; ich möchte nur
ein ])aar besondere Fälle solcher Verkennungen kurz schildern und
dadurch das lehrreiche Gebiet der Vergiftuugs-Irrungeu durch
neue Erfahrungen erweitern.
In einem Falle handelte es sich um die Frage, ob Arsen- oder
Wurstvergiftung vorliege. Ein etwa 20 jähriges Mädchen ist
unter Vergiftungserscheinung gestorben. Die chemische Untersuchung
hat in allen Organen die Anwesenheit von Arsen ergeben. Es war
auf den Gesaintkörper eine Menge von 0,2175 g als arsenige Säure
berechnetes Arsen, somit mehr als die kleinste tödliche Dosis vor-
gefunden worden. Da die Untersuchung weder einen Anhaltspunkt
für Mord, Selbstmord oder beabeiebtigte IVnebtabtreibung ergab, wohl
aber die Möglichkeit einer zuGUligen Vergiftung mit einer alten Wurst
vorzuüegen sohien, so wurde uns die fVage gestellt, ob eine Ver-
weobslung der dureb Wurstgift oder durch Arsen beibdgef&brten
Vei^giftungserscbeinungen ausgeschlossen sd?
DiyiliZüa by GoOgle
128
HL Kbatteb
Wir beantworteten sie folf]:endeniianen:
„Die Wurstverf^iftunf^ (Botulismus oder Allantiasis) beruht, wie
heute wissenschaftlich fe8tf::e8tellt ist, auf einem Gemisch organischer
Basen (Fäulnisbasen), unter denen das Ptomatropin, welches sich bei
UDzweckmäliiger Darstellung der Würste leicht bildet, das Wichtigste
ist Nach Falck ist die Verwendung alten Fleisches, das Mischen des
gehaoktan Fleisches mit Him, Semmel, Mileb, das Einfallen in sehr
dicke Darmabechnitte n. dgi. nnzweckmlßiges Znbereiten der Wfintey
sowie za eohwache Bäneherong, zumeist die Una4she der Bildmig des
Wuistgifles. Die Wnrstyeigiftang tritt daher fast ansnahmaloe als
Masseny ergif tnng auf nnd istselbstalBsolche selten. EinzelfiUle mit
tödliehem Ausgang sind nur sehr spSrlich in der literstor veneiehnet
Das Wnratgift ist vorwiegend ein Nervengift nnd finßert sieh
znnftobst in Ohrensanaen, Schwindel, Eingenommenheit, Eopfsohmen,
GehOrtftnsohnngen, Pnpillenerweitenmg nnd Beaktionslofligkeit der
Papillen, Ptosis, Doppelt- nnd Esrbensehen. Daam von Seite des
Verdannngskanales: weiße, später rissige Zange, R5te der Bachen- .
Schleimhaut, Aufhören der Speichelsekretion, Aufstoßen, Erbrechen,
Durchfall mit hartnäckiger StahlveiBtopfung abwechselnd, Schmerz
bei Palpation des Leibes, zuweilen Kolik. Der Henschlag nimmt
nach vorübergehender Steigerung an Frequenz ab^ er wird klein,
schwach, kaum fühlbar. Die Stimme rauh, heiser, aphoniseh. Der
Tod erfolgt in der Regel innerhalb Yon 4^8 Tagen unter zunehmendem
Kräftoverfall iCollaps).
Verixleiclit man damit die bekannten Erscheinungen der irastro-
intcstinalen Form der Arsenversriftung. welche bei subakutem Ver-
lauf in dersell)en Zeit zum Tode führt, so kann nicht verkannt werden,
daß eine Reihe von Syini)tonien sich bei beiden Yerg:iftungen findet,
wenn auch andere wesentlich verschieden sind und das (iesaint-
bild der einen Ver^nftun^ von dem der andern wohl unter-
scheiden läßt. Bemerkt sei, daii in der vorliegenden Kranken-
gescliielite auch nicht ein Symptom angegeben erscheint, welches
ausschlielilich einer Wurstvergiftung zugeschrieben werden müßte,
während andererseits alle beobachteten Krankheitserscheinungen einer
Arsenvergiftung wohl entsprechen. Immerhin ist es schwierig, solche
Differenzialdiagnoseu am Lebenden zu stellen.
Wir beantworten sohiu die Frage dahin, daß eine Verweohs-
lung der durch Wurstgift mit den durch Arsen herbei-
geführten Vergiftnngserscheinangen darjohans nicht
ausgeschlossen erscheine."
In derselben Sache stellte das Gericht noch eine zweite immerhin
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Erfabmngai Aber einige wichtige Qifto und deren Nadiweis.
129
etwas seltsame Frage daliiiiL'ohend, ob (die Annahme einer Wurst-
vergiftung vorausgesetzt) der Giftstoff „Arsen" der Wurst sclion von
Anfang an beigemisclit sein mußte oder aber sich aus faulem
Fleisch auch originär bilden könne?
Wir beantworteten diese Frage w^ie folgt:
Arsen ist ein Grundstoff (Element) und kann niemals und unter
gar keinen Bedingungen aus etwas Anderem entstehen; er kann sich
absolut nicht erst in einer Wurst bilden, sondern muß, wenn er in
derselben vorhanden war, in diese von außen gebracht worden sein.
Erwiesen ist es jedodi (da «Ine Wnrst oder ein Best davon zur
Untoreaehung nidit votlag) dmeh nichts, daß die M. Z. nnr durah
die Wurst das Gift „Aisen'', das nun einmal in ihren Organen un«
zweifelhaft vorhanden war, sieh ebverleibt haben kdnna Wie dies
tatsichlich geschah, entnefat sich natflrlich vollständig unserer Be-
urteilung. Wir mttssen nnr noch bemerken^ daß auch die Leichen-
befunde, namentlich die VefSndemngen im Magen und Dannkanal,
fttr die Arsenvergiftung sprechen.'*
Die interessanteste Vergiftnngsiniing lag im folgenden Eslle rot:
Auf einem Gntshofe in der Umgebung von Graz war plötzlich ein
BD großes Sterben unter dem Geflügel aufgetreten, daß der Verdacht
einer absichtlichen böswilligen Vergiftung entstand. Man vermutete,
da die Tiere unter Durchfällen akut verendeten, eine Abfütterung
mit Arsen, was in Steiermark nicht allzu selten vorkommt. Eine
verendete Gans war behufs Untersuchung an die k. k. Untersuchungs-
anstalt für Lebensmittel gesandt, von dieser jedoch abgelehnt und
dem gerichtlich-medizinischen Institute übermittelt worden.
Die von uns vorgenommene Obduktion des Tieres hat nun das
überraschende Ergebnis der Anwesenheit eines interessanten Darm-
parasiten geliefert. Der Darm war, wie dies noch schön an Prä-
paraten zu sehen ist, gespickt mit zahlreichen, in die ^\'and ein-
geboliitenj 3—5 mm langen, wurmähnlichen Parasiten, deren fach-
niünnisclie Pestimnmng sie als sog. Kratzer'^ (Echinorhynchus poly-
morphus) erwies. Dieser I'arasit wird im Darme von Gänsen, Enten
und anderen Wasservögeln geschlecbtsreif. Als Zwischenwirt fungiert
der m Tfimpeln lebende Flohkrebs (Gamodaros pnlex). Diesen fressen
die Wasservögel und so gelangt die im flohkrebs befindlicbe Larve
des Ecbinorbynchns in den Verdanungskanal der Vögel, wo sie sich
zum gescUechtsreifen Tiere entwickelt Der Parssit veranlaßt, in-
dem er sich in die Darmwand einbohrt, Darmentzündung (Enteritis)
und, indem er bis zum Bauchfell vordringt und auch dieses durch-
bohrt, Bauchfellentzfindnng (Peritonitis). Bei Masseninfektion kann
ArUt fflr KiiBlaalaiitlifopologl«. XIU. 9
DiyiliZüa by GoOgle
130
HL Kbatteb
or auch Endemieen bervorrufeu, was im gedachten Wirtdchaftsbofe der
Fall war.
Man sieht aus diesen Beispielen, dali das Gebiet der möglichen
Yergiftunf^sirrungen noch keineswegs erschöpft ist.
Ich kann diese Erörterung nicht schließen, ohne za erwähnen,
daß es auch noch eine andere und zwar absichtliche Tänschnng, eine
flimnlierte Arsenvergif tung gibt^ d. fa.es gibtFftUey wo jemand
ans Boshat oder Bachsnoht behauptet, es m ihm Gift von einer be-
stimmten Person in emer Speise beigebraoht worden. Er fibermittelt
d«n Geriehte oder dem (Gendarmen ein Gettß mit einem Speiserest
und siehe — obenanf, so leeht anffiUIig hingestrent, liegen grOfiere
nnd kleinere Stüokehen gelben Arseniks mit ganz irischen Bmeh-
ilSohen, im Innern des Objektes keine Spnr des Giftes! loh habe
durch eine sorgftltige üntersnchnng einen dersrtigen Fall anfoudeoken
vermocht, der dnrdi das nachtrSgliche Geständnis bestätigt wnide^
und einen anderen Fall begatachtet, wo eine Person, die allerdings
erbrochen hat, zur Vortäuschung eines an ihr TerUbten Mordversuches
ebenfalls gelben Arsenik auf das Erbrochene streute und dann den er-
hebenden Gendarmen mit auffälliger Eindringlichkeit auf die gelben
K5mer aufmerksam machte.
Bevor ich auf die Erörterung des Arsennacbweises übergehe,
möchte ich noch kurz bemerken, daß sich bei den Hausdurch-
suchungen mitunter verschiedene, einzeln verwahrte oder auch ge-
menj^te (lifte, sowie eigenarti^^'c Zubereitun^'en finden. So sahen wir
Oemenj^'o von wi iUein und gelbem Arsenik, von Arsen und Eisenvitriol,
Arsen und Kupfervitriol, Arsen mit versehiedenen ^'etrockneten Wur-
zeln vermengt u. dergl. Die seltsamste Komposition ist aber un-
zweifelhaft die folixende: In einem Marburger Vergiftungsfall, wobei
ein Mensch an akuter Arsenvergiftung zu^Tunde gegangen war, fand
man bei der Suche nach Gift in einem verschlossenen Glasgefäße
dies Gemenge aus Schnaps, ordinärem Kauchtabak, grobgepnlverteni,
weißem Arsenik und einer grünen Eidechse vor. Da ich nur nur vor-
stellen kann, daß bei dieser Zubereitung irgendein Aberglaube mit-
spielte, bezeichnete ich diese seltsame Giftmischung, die in der Tat
eine Merkwürdigkeit meiner Sammlung darstellt, als „Zaubertrank'^ >).
1) Anmerkung des fleranegebers. Es dttifte sich hier tun einVoIks-
mittol gegen Wet'bscifieber handeln; solche kommen hiiafig durch Soldaten, die
im malaiiareiclieu Ungarn gedient liaben, iiarli Osterreich und von da auch nach
Deutselilaud ; sie sind sehr vei-scliifdcn, stiuinien aber dann überein, daU sie:
1. etwas Arsen, 2. etwas sehr ächarfes (l'feffer, Capsicum, Asche, Tabak) und
3. etwas recht Ekelballes enthalten. Als letzteres werden empfohlea: 7 lebende
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Erfahnmgen flb«r «inige irlebüge (Hfte and deren Nadiweis. ISl
Der c h e in i 8 0 Ii e X a c h weis d es A r s e n s in einem Objekte
ist, wenn Körnchen isoliert werden können, leiclit, wenn das Gift
jedoch ausschließlich in den Orp:anen deponiert ist, nur durcli eine
mühevolle und aulSerordentliche Sor^xfalt erfordernde Arbeit, unter
allen Umständen aber, wenn es überhaupt vorlianden ist, mit abso-
luter Sicherheit zu erbriDgen. Leider gilt dies nicht vou jedem an-
•deren Gifte.
Es ist hier nicht der Platz die Methoden des Arsennachweises
im einzelnen zu schildern und die verschlungenen Wege, die für den
Ungeübten nur allzu leicht auch Irrwege werden können, zu ver-
folgen, welche erforderlich sind, um aus einem Stück Leber oder
Niere, aus Erbrochenem oder Kot, aus der Magen- oder Darmwand
•das Amen lusm m cntwiekehi, big es endlich iiiiiler der Glflhstelle
im Gasableitiiiigerohre des HarshBohen Apparates ak spiegelnder
Metallbdag im chemiseh reinen Znstande ersebeint oder sieb ab das
Doppelsais der arsensanren Ammon-Magnesia in feinen, weißen Kii-
ataUnadebi am Boden nnd den Winden eines Ghttbeobeis anssebeidet,
nm in dieser Form der WXgnng angefUbit sn werden, sondern es
sollen nnr die Gnmdzflge knrs erörtert nnd einige ErCiahmngen
▼on praktiseb-forensisobem Bekuige mitgeteilt werden.
Das Endsiel jedes forensiseh-obemiseben Giftnacb-
weises ist die Darstellung des Giftes ans dem Objekt im
xeinen Znstande. Es muß also jeder Giftkörper znnftehst isoliert,
aus den Organen nnd ans den im Organismus öingangenen Ver
ibindunfjon frei gemaebt nnd der rein dargestellte Körper durch ent-
scheidende Reaktionen sichergestellt (identifiziert i werden. In jedem
Falle sind also zwm Operationen erforderlich: die Isolierung nnd die
Identifiziemng.
Die Isolierung eines Giftes aus Leichenteilen beruht auf der
genauen Kenntnis seiner physikalischen und chemischen Eigenschaften
und auf einer entsi)rechenden Anwendung derselben zur Abtrennung
-des in den Kfirperi^eweben befindlichen Giftes. Wie der Waidniann
•den Spuren des Wildes oft stunden- und selbst tagelang foigfii iniiB,
bis er es zur Strecke bringt, so verfolgt der Chemiker das gesuchte
Läii8o oder l'.i Ktllcrassoln auf nüchternen Mafien, zerqnefciclitr Spinnen auf
Butterbrot, Öchlangenexkremente usw. Dazu wird Sehnaps ^oinuiktn. der mir
Paprika, Pfeffer, Asche, Tabak und etwas Arsen angesetzt ist. Alle drei iiomedicu
finden deh im „Ztnbertrank". Za bemerken ist, dtfi Anen tateloliHeh (Tinct
Fowleri) gegen Wechaelfiober verweudet wird, namentlich wenn der Kranke
€hinin nielit veitiä;;t: dal! heftiger l-^kel in \i('lon Fällen jjewaltig einwirken
kann, ist bekannt, allerdings kann er aber nicht Bakterien töten.
üans GruU.
9*
Diyilizua by v^üOgle
182
m. Kbattbb
Gift durch die oft verschlunprenen Pfade zahlreicher Einzeloperationen
hindurch his zu dem Punkt« , wo er am chemisch reinen Körper die
Identitätsrcaktionen ausführen kann. Und wie der erfahrene und des
ReviiTcs kundif^e Jäger rascher, leichter, sicherer und häufig:er zu
Schusse kommt als der unkundifre, so kann auch nur der kundige
Gerichtschemiker die volle Gewähr eines zuverlässigen Ergebnisses
bieten, während forensisch-chemische Untersuchungen in der Hand
des auf diesem Gebiete ungeübten, wenn auch theoretisch nocb 80
wohlbewanderten Gbemikeis nieht Bvr dieMm aeUwt mitimtor un-
geahnte Sohfrierigkeiteii bereiften, aondeni aneh niobt immer eine
genügend aehere Unterlage für die Bechlipieohiiiig bieten werden.
Die forense Chemie iat eben eine aal ein beitimmtes piak-
tisebeB Ziel gerichtete^ daher angewandte Chemie. Sie hat deswegen
auch ihrem Sondenweoke dienende bOBondere Methoden imd Unter-
snchnngsginge aoBgebildeti wie dies bei anderen angewandten ohe-
miflchen Disziplinen, der Nafarnngsmittdohemie» Agriknltozehemie^ der
chemieohen Teohnologi® luw. anch der Fall ist Nur die volle Kenntnia
des Endzweckes, die Vertrantheit mit den foreneiaefaen Aufgaben und
Zielen, eine reiche Erfahrung nnd nicht zum wenigsten dem Zwecke
entsprechende besondere Laboratoriumseinrichtnngen können die Ge-
währ vollkommen zuverlässiger Untersuchungsergehnisse liefern nnd
solcher bedarf die Rechtspflege unbedingt Die Sache ist von so
hoher Bedeutung, so ernst und wichtig, daf) ich mich als dermalen
ältester Vertreter der forensischen Medizin in Österreich einer Pflicht-
verletzung schuldig: fühlen würde, w^enn ich es nicht ungeschent
sagte, dali nach meinem Dafürlialten diesen Voraussetzungen
nur ein chemisch ausgebildeter Arzt und ein den foren-
sischen Zwecken ansschlielilich dienendes Laboratoriuni
jpi entsprechen vermögen.
Dieses mir vorschwebende Ideal einer gerichtlich-chemischen
Untersuchungsstelle suchte ich beim Neubau des Institutes zu ver-
wirklichen. Die chemische Abteilung des neuen Grazer forensischen
Institutes besitzt an Einrichtungen, Apparaten und Gerätschaften alles,
was zur raschen, kunstgerechten Ausführung von toxiologi sehen Un-
tersuchungen notwendig ist, und vermag, weil nur dem einen Zwecke
dienend, auch großen Anfordemngen zn genügen. Noch immer
wird an seiner inneren Ansgeetaltong nnd VervoUkommnong ge-
arbeitet nnd hat mich in dieser Tätigk^t vor allem mein lieber
Firetmd und Schüler, Dr. Fritz Pregl, Assistent am physiologischen
Institut unserer Universität und Privatdozent für Physiologie, in außer-
ordentlicher Weise mit Bat nnd Tat unterstützt Sdt einer Reihe von
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Erfahnmgen ftber einige wiohlage Gifte und denn Naehweb. 188
Jahren als beeideter GLTichtscliemiker mein pflichtgetreuer und ua-
ennüdlicher Mitarbeiter auf dem (iobiete der forcnsen Chemie ist er,
vom praktischen Bedürfnis getrieben, Erfinder neuer Api)arate und
zahlreicher Modifikationen von alten geworden, welche dem Sonder-
zwecke angei>ar»t^ uns vorzügliche Dienste leisten. Ich erwähne unter
anderem besonders konstruierte Wasserbäder, neue Extraktionsapimrate
für Zwecke der Alkaloiduntersuchungen, einen neuen Vakuumtrocken-
schrank, eine neue Form des Marsh sehen Apparates, die den Vorteil
großer Zeitersparnis bietet, eine liöchst zweckmäßige Titrirvorrichtung,
einen Desarsenierungsapparat und vieles andere. Einiges von dem
genannten hat Dr. Pregl auf der Karlsbader Naturforscherversamm-
iung (1902) ausgestellt und demonstriert Außer bei uns stehen diese
äußerst zweckmäßigen and den forensischen Aufgaben bemnden an-
gepafiton Euukhtongen kaum noch irgendwo in Verwendung.
ünaer ohemisch-forenBiflohei Laboratoriitm ist eine Sache fBr sieh,
d. h. in diesem Banme werden nur geriohttioh-chemisohe Unter-
SQohnngen ansgeltthrt Schüler betreten ihn niemale. Hier haben nur
die mit der Untersnchnng Beanftmgten und ihr Gehilfe^ der Laborant
des Institutes, Zutritt Die ünteranehmigsgegenBtftnde stehen unter
Sperre. Hier befindet sich auch unser größter Schals — die chemis ch
reinen Beagentien, deren meist yon uns selbst durehgeffthrte Her-
stdluttg einen sehr großen Aufwand von Zeit und Mühe erforderte.
Kehren wir nach dieser, vteUeieht doch nicht für überflüssig
erachteten Abschweifung zum Arsennachweis zurück, so besteht die
Schwierigkeit hier hauptsächlich in der Beschaffung absolut arsen^
freier Beagentien. Von Haus ans Bind fast in aUen bei der Isolierung
des Arsens zur Verwendung kommenden Prüfungsmitteln Spuren von
Aisen enthalten, so in der Salzsäure, Schwefelsäure, im KaUumchlorat,
Ammoniak, Zink usw. Der aus Schwefeleisen erzeugte Schwefel-
wasserjstoff enthält neben diesem Gas auch Arsenwa^sserstoff — kurz
aus der fast unbei^renzten Allgegenwart des Arsens in der Natur
(wenigstens spurweise), sowie aus der i'berempfindliclikeit der Marsh-
schen Reaktion, welche hundertste! Teile eines Milligramms mit er-
schreckender Deutlichkeit wahrnehmen lälU, erwachsen Gefahren für die
Richtigkeit des pjidergebnisses, gegen welche der forensische Chemiker
unausgesetzt anzukämpfen hat. Wir eröffnen beispielsweise zur Unter-
suchung einlangende Pulver, welche möglicherweise Arsenik sein
oder enthalten könnten, grundsätzlich nicht in diesem sakrosankten
Räume, sondern an einem anderen Orte, weil wir uns vor der Ver-
stäubung fürchten. Ich kann in der Tat als das Ergebnis einer
viertelJahrhuDdertjährigen Erfahrung sagen, es ist keine so besondere
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184
in. Kjuttsb
Kunst, auch noch eine minimale Spur von Arsen uns einem Objekte,
in dem es vorhanden ist, als Arsenspie^el zu erhalten; es ist dagegen
ein Beweis wirkliehen Könnens eines forensen Chemikers, wenn er
bei Objekten, die kein Arsen enthalten, auch vollkommen blanke
Röhren bekommt. Hier liegen solche als Beweis der absoluten Reinheit
der von uns bereiteten arsenfreien Reagentien in größerer Zahl vor.
Auf die Schwierigkeit, auch der geringsten Arsenspur in den
Beagentiai sicher aaszuweicheOf ist es wohl zarQduiifttbreD, wenn
beute noch nioht sichergestellt aRBcbemt, ob Argen sie normaler
Bestandteil in menschlichen Organen vorkommt oder nicht
An der Schwelle des 20. Jahrhunderts konnte Armand Qantieri)
noch vor der Pariser Akademie der Wissensohaften die Bebaaptong
anfistellen, daß in der SdiUddrIlse, BrostdrHse^ ThymnsdrSse and im
Gehirn des Hmsehen normalerweise Aisen enthalten sei, in ge-
ringsten Spmen auch noch in Haaren, Hant^ Hilch, Knochen, während
die fibrigen Organe davon frei wiren und Ziemke^ in Beilin (gegen-
wfirtig in Halle a. S.) sowie Hddlmoser') in Wien konnten bald
darauf als Ergebnis besonderer Untersnchnngen den Satz aQSsprecheD,
daß Arsen nicht zu den integrierenden Bestandteilen des menschlichen
Körpers gehört. Gautier hält auch jetzt noeh an seiner Bebaaptmi|^
fest und stützt sich aul^er auf seine eigenen auf Uirtersuchungsergeb-
nisse Ton Lapierre, Pagel, Imbert, Abenius und Bertrand*).
Daß ein solcher Streit heute noch möglich ist, beweist mehr als alles
andere die Schwierigkeit eines exakten Nachweises oder Ausschlusses
geringster Arsenspuren '^). Wer recht hat, kann hier nicht ent-
schieden werden, es sei nur l)enierkt, daß die Gau ti ersehen Arsen-
spuren, auch wenn sie tatsächlich vorkommen, toxikologisch belanglos
sind, da auch er die zur gerichtlich-chemischen Untersuchung ge-
langenden Organe des Mensehen: Magen, Gedärme, Leber, Milz,
Nieren eventuell Herz, Lungen arsenfrei gefunden hat. Eine gegen-
1) Gautier, Sur l'eiistanoe normale de l'araeQic chez les animaax et aa
locaKsationdaucertaiiwoiganes. Comptrend.deracad.deeadeiio. 129. Bd. 8. 989.
2) Ziemke, Über das Vorkommen von Arsen in menschlichen Orfranon
und seinen Nai hwcis auf biologiBchem Wege. Vierteljahnachr. f. ger. Med. S.F.
XXIIL 1902. 1. Heft. S. 51.
3) Uüdlmoäer, Enthalten gewisse Organe des Körpers physiologischer-
weise Anetit Zeittclir. f. pbys. Chemie. SS. Bd. 1901. Heft S n. 4. 8. 829fy.
4) Gautier, Arsenik kommt nunuaierwcisc im tinlBchai OiganiODiM vor
Z«it»chr. f. piiys. Chcniio. nfi. Bd. V.m. lieft l. S. .^01.
5) Derselbe, (ieuauigkeitsgrad des Nachweises von Spuren von Arsen in
den organisclien Substanzen. Bull. Soc. Chini. Paris 29. Bd. S, 639—643. Nach
Chem. Zentralblatt 74. Jabrg. 190S. II. S. 524.
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Eifahmogen fiber einige wichtige Gifte und deren Nachweis.
135
teilige Behauptung würde allcrdinjirs auch durch unsere Erfahninjjen
auf (las hcstimnitehte widerlej^t werden; denn die zuletzt f:;:enannten
und in Vir^^iftungsfällen ausscblieltHch untersuchten Organe des
M enschen sind normalerweise bestiuimt arsenfrei. So haben
wir sie hundertfältig gefunden.
D&t> augebliche (oder wirkliche?) normale Vorkommen von Arseo
in einzelnen menschlichen Organen wird also niemals zu ein» TrfUrang'
des Untemidiiingsergebiiiflses fflbren können; diese Ge&hr ist viel
größer wateoB der nieht yollkommen gereinigten Beagentien.
£b kdnnte sich nun die Vorstelinng aufdrängen, daß es mit dem
iHiemisehen Nachweis einer ArBenveigiftnng fiberbanpt schlecht be>
stellt nnd die forense Toxikologie nicht in dto Lage sei, eine yoll-
kommen gesicherte Unterlage für die Bechtsprechoog su schaffen.
Zn dieser H«nnng kdnnte man um so leichter kommen, als ro alle*
dem anch noch die Gefahr des Antimonspiegels Yorhandenist
Antimon liefert hekanntlich einen Ähnlichen spiegelnden Belag im
Ableitnngsrohr des Marsh sehen Apparates wie Arsen. Antimon und
Arsen kommen sehr bSnfig gemeinsam in der Natur vor nnd es sind
daher viele Beagentien nicht nur arsen- sondern auch aatiraonhältig*
Je gerin^^ere Spuren vorhanden sind, desto schwerer ist ohne
weiteres Verfahren der Arsenspiegel von Antimonspiegel zu untO^
scheiden. Diese Gefahr besteht aber für wirklieh ^fachkundige nur
tbeoretisch, obgleich gerade das Antimon in der Geschichte der Arsen-
vergiftungen schon wiederholt eine sehr verhängnisvolle Kolle gespielt
hat, 80 unter anderem in dem berühmt gewordenen Korneul)ur<rer
Vergiftungsprozeß Wir trennen durch die sogenannte Me versehe
Schmelze das Antimon als wasserunlösliches Natrium pyroantimoniat
vom Arsen ah, bevor dieses in den Marsh sehen Apparat kommt, und
leiten überdies dk- Gase aus der Entbindungsflasche zunächst durch
ein mit Chlorkalcium und Kaliumhydroxyd beschicktes U-Rohr, wo
Antimonwasserstoff zerlegt und diis Metall «gebunden wird. Spiegel, die
bei diesem Verfahren entstehen, können überhaupt nur Arsenspiegel sein.
Es ergibt sich demnach, dab bei saehkiinili^^er und sorgfältiger
Durchführung der chemischen Untersuchung wohl jeder Irrtum aus-
geschlossen und eine vollkommen sichere Unterlage für die Becht-
sprechung gewonnen werden kann ; es ist andererseits aber auch klar,
wie schwer den Bedingungen einer unanfeditbaren chemischen Analyse
zu genügen ist.
1) Der Konieuburgcr Ver^iftunfj^fipiozcli ilSöT — 1859), darpjestellt von cineitt
prakt Juristen, nach den Akten und fleii nicht zur Verhandlung gelangten med.
ehem. Gutachten von Fresenius, Delffs, Schneider, ockaaeasteia,.
Schlager und Dole und der Wiener med. Fakultät Wien ISSO.
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136
m. Kbaitcb
AUerdings besteht nocli eine sebr ins Gewicht fallende Siehentng,
die MengenbestimmiiDg des Giftes — der quantitative Arsen-
nach weis. Hieraber will ieh mioh an dieser Stelle nur ganz
snmniariseh ftaßenu Wir haben, wenn wirUieh eine aknte Aisenik-
vergiftnng yorlag, stets wägbare Mengen ans den Organen erhalten.
Solche Mengen sind aber aach fiUlbar. Man erhSlt also, beyor die
Marsh sehe Scblnßreaktion angestellt wird, schon einen sichtbaren
NiederBcblag, der je nachdem entweder aisensanre Anunon-Magnesia
oder auch Schwefelarsen ist, und nach dem analytischen Gange gar
nichts anderes sein kann. So bat man das Arsen schon sieher erkannt,
bevor die Marshsche Probe angestellt wird. Diese hat nur noch den
Wert der Hestätigung einer bereits festgestellten Tatsache. Oft ist
dann der Marshsche Apparat überflüssig, weil der dem Gerichte als
Belegstück zu tibergebende Spiegel Tiel rascher auf trockenem Wege
durch Schmelzen der gewogenen arsensauren Magnesia mit einem
Gemenge von Cyankalium und Soda erhalten werden kann. Wir
haben manchen Vergiftungsfall mit positivem Ergebnis untersucht,
ohne den Marslischen Apparat zu verwenden. UnerlälHicli wird seine
Verwendung überhaupt erst, wenn eine wägbare Arsennienge nicht
vorlumden ist. Dann kann es sich aber nur mehr um Spuren bandeln,
also um kleinste Bruchteile von Milligrammen,
Ob und in wie weit solche aus chemisch untersuchten Organen
erhaltene An5ensi)uren toxikologisch verwertet werden können, das zu
beurteilen ist nicht Aufgabe des Gerichtscliemikers, sondern Sache des
Gerioiitsarztes. Dieser hat nicht nur bei der Arsenvergiftung, sondern
in einem jeden Vergiftungsfalle das Ergebnis der chemischen Analyse
mit den iRoltucliteten Krankheitserscheinungen und den aufgenommenen
Leiclitnbefunden sorgfältig zu vergleichen. Erst aus einer sachlichen
gerichtsärztlichen Darlegung, welche sich auf die ganze Beweistrias
(KrankheitserscheinuDgeu, Leiohenbefonde nnd chemisehea Giftaaoh-
weis) ersb!eckt nnd stützt, kann sich der fUr die Bechtoprechnng
unbedingt erforderliche Schluß ergeben: N. N. ist an dieser oder jener
Vergiftung gestorben.
Die chemische Untersuchung yermag sonach auch bei
einem positiTen Ergebnis niemals den Bestand mer Vergiftung
zu erweisen, sondern sie kann nur dartnn, daß in den Organen
Gift und wieviel davon vorhanden war. Damil, daß in den Leichen-
teilen eines Menschen Arsen gefunden wurde, ist noch lange nicht
erwiesen, daß dieser Mensch auch au einer Arsenveigiftung gestorben
sei Denn er kann entweder ein Arsenesser gewesen sein oder vor
seinem Tode medizinale Mengen von Arsen bekommen haben oder
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Erfahrangen über einige wichtige Gifte und deren Nachweis. 137
das Arsen ist als eine zufällige V'erunreinigung von aulien in den
Leichnam gekommen, z. B. durch arsenhaltige, künstlieh gefärl)te
Blumen, Kränze und anderen Leicheuschmuck, oder durch arsenhältige
Friedhoferde. Für alle diese Möglichkeiten besitze ich kasuistische
Belege, die im einzelnen liier mitzuteilen, viel zu weit führen würde.
Nur beispielshalber erwähne ich eioigQ mir besonders wichtig er-
scheinende Erfahrungen.
Wir haben in Steiermark äemlich yiel ArsenesBer. Wieder-
holt ist es nun Torgekoninien, daß im Verlanfe der Untenncbnng
oder Veriiandlung die Behauptung anftanohte, der yentorbene N. N.
war ein Arseneflser. Diese Bebanptong kann natiirlieh wahr oder
unwahr sein, gleiehvieli es entsieht die Fnge^ ob sich auch unter der
Annahme, daß der Verstorbene ein AisenesBer gewesen, noch be-
haupten läßt, daß «ne (kriminelle) akute Arsenyeigiftnng TorUege^ und
es ergibt sieh für den beurl^enden Geriditsarzt weiter die Frage, ob
die forense Chemie Anhaltspunkte sn bieten vermöge^ um etwa auch
die akute Arsenyergiftung eines Arsenessers zu beweisen.
Zunächst ist klar, dal^ bei einem Arsenesser alle Organe arsen-
haltig sind. Arsen leiebert sieh aber bei habituellem Genüsse auch
im Organismus an, da es wegen seiner Affinität zu den £iweiKkÖrpem,
namentlich zum Zellprotoplasma, auch schon bei einmaliger Einver-
leibung lange zurückgehalten und fixiert wird. Es wird beim Arsen-
esser daher in den sogenannten zweiten Giftwegen , besonders in der
Leber, diesem Giftfilter des Organismus, ziemlich viel Arsen vorhanden
sein, wenig dagegen in den ersten Wegen (Magen und Darmkanalj,
wenngleich auch diese nicht völlig frei sind, da Arsen sowohl durch
die Galle, wie die Magen- und Darmdrüsen abgeschieden wird. Soll
ein an Arsen (n-wühnter akut vergiftet werden, so muli er grolie Gift-
raengen erli alten, denn er verträgt unter Umständen ohne Schaden
tödliche (iahen. Wir finden also dann neben grolWn Mengen von
Arsen in <len ersten Wegen auch auffallend viel Gift in den zweiten,
namentlich der Leber vor, und es kann auf Grund eines solchen
chemischen Befundes mit voller Sicherheit die akute tödliche Arsen-
vergiftung eines mutmaßlichen Arsenessers behauptet werden. Es ist
jedoch unwahrscheinlich, daß jemand Arsenesser w ar, wenn die zweiten
Giftwege nur spärliche Mengen von Arsen enthielten, denn je kürzer
die Vergiftung dauerte, um so weniger Gift ist in den zweiten Wegen
abgelagert Sind jedoch reichliche Mengen you Arsen in der Leber,
dagegen nur Spuren oder weit geringere Mengen im Magen und den Ge-
därmen nachgewiesen worden, so ist das Arsenessen wahrscheinlich, die
akute Vergiftung dagegen unwahrscheinlich, ja sogar höchst zweifelhaft
DiyiliZüa by GoOgle
138
1X1. Kbatter
Dies ^'\\t auch für jene Fälle, wo die Einverleibung des Gifte»
nicht durch den Mund, sondern anderswie geschieht, z. B. durch Em-
fuhren Yon Arsen in die Scheide, was mir zweimal Toigekotnmett iat
Auch m diesen Fillen entsteht BFeebdnrchfatt und es wird von dem
zirkulierenden Gifte, das von der Soheidenschleimbant aus resorbiert
wurde, TerhSltnismäfiig viel durch die Drfisen der Magen- he-
ziefaungswdse Darmsehleimhaut in die Höhlungen dieser Oigane mit
den massigen wässerigen Ausscheidungen abgegeben. Hagen und
GedXrme samt ihrem Inhalt sind also unter Umständen auch dann,
wenn sie nicht als erBte Giftwege sondern aJs AnsBcheidungswege
bei anderweitiger Einverleibung dienten, die wichtigsten Unter-
snchnngsobjekte bei akuter Arsenyergiflung.
Solchergestalt konnten wjr mehrmals auf Gnind des Ergebnisses
der quantitativen chemischen Analyse die kriminelle Vergiftung eines
mutmaßlichen ArsencBScrtt behaupten und umgekehrt auch die Be-
hauptung des Arsenessens als unwahrscheinlich zurückweisen.
Es sind uns aber auch Fälle Foigekommen, wo trotz des Auf -
'findens von Arsen in den Organen die Vergiftung nicht an-
genommen werden konnte. Eine solche Zurückhaltung: ist besonders
bei Spätexhuniierten dann f^cbotcn, wenn gleichzeitig die Fried-
hoferde arsenhaltig gefunden wurde. Es liegen schon alte Versuche
von Orfila u. a. vor, welche l)eweisen, dal» in den uneröffneten
Leichnam von auüen keine Gifte, namentlich nicht Arsen, gelangen
können.
Von dt.T liichtigkeit dieser Versuch sergebnisse haben wir uns vor
einigen Jahren in einem Ernstfalle zu überzeugen Gelegenheit gehabt
In den Organen einer wegen \'erdaclit des Giftniordt s nach 14 Monaten
exhumierten Leiche ist keine Spur von Arsen gefunden worden, obwohl
die Friedbüferde stark arsenhaltig war.
Ist also die Verwesung der Leiche noch nicht so weit vor-
geschritten, daß die Körperhöhlen eröffnet sind, so kann der Magen^
die Leber usw. niemals durch Eindringen von der Friedhoferde
her araenbaltig geworden sein. In solchen iUlen liegt nur die
^e Gefahr vor, daß etwa die Ätzte mit ron arsenhalligem Erd-
reich beschmutzten Händen die Eingeweide an&seen! Wenn diese
grobe Verunreinigung ausgeschlossen werden kann, beweist der Be-
fund Ton Arsen bei einer ausgegrabenen Leiche mit noch geschlossenen
E9rperhöblen, daß es von außen in den noch lebenden Körper ein^
geführt wurde.
Ganz anders hat man zu urteilen, wenn die KÖrperhdhlen schon
eröffnet waren, wobei ich bemerke, daß ein gewöhnlicher Sarg keinen
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ErfRhnngai Aber doige wlditige Gifte and deno Naehweis.
189
Schutz ^?egen das Eindringen von aus der Friedhoferde in die Nieder-
schlagswässer übergepingenen Arsen zu bieten vermag. Wird in
solchen Fällen nur wenig xVrsen in den niensclilichen Überresten ge-
funden, dann kann im Höchstfälle die Möglichkeit einer Vergiftung
zugegeben werden, ein Gutachten, das in der Regel für die Begründung
einer Anklage als unzureichend betrachtet werden dürfte. Su war
es in einem unserer Fälle, wo eine Aufhebung der über 5 Jahre im
Grabe gelegenen Leiche stattfand. Die Leichenreste und die Grab-
erde enthielten Arsen. Das chemische Gutachten gelangte auf Grund
▼on eigens angestellten VeiBachen Uber die Fortbewegung des Arsens
im Boden za folgenden Brgelmiflsea:
1. £b kann nicht öeher ftnageschloasen werden, daß flbeiliaiqit
Arsen yon anfien in die Leiche dee J. & gelangt ist
2. Es kann mit der grOßteo, der Gewißheit nahekommenden
Wahrwsheinliehkeit ansgeschloeBen werden, dafi die ganze Menge Ton
Arsen, welche in den Besten der inneren Organe des J. S. anf-
gefonden worden ist (37,2 Milligramm aJs arsenige Sftnre bereehnetes
Arsen) yon anßen dabin gdangt sei
Bei diesem Falle wurden yon uns Gerichtschemikem umfäng-
liohe Untersnohnngen über die Bedingungen des Übertrittes
von Arsen ans der Friedhoferde auf Leichen angestellt, deren
Eigebnisse von mir veröffentlicht worden sindO* D«a Interessenten
yerweise ich auf das Original, wo die ganze Frage auch nach
ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt ist Hier möchte ich
als neues Ergebnis unserer damaligen Versuche nur kurz hervorheben,
daß verschiedene Erdarten das Arsen auch in verschiedenartiger
Bindung enthalten, so dal) es nicht genügt, bloß den Arsengehalt eines
Friedhofes zu bestimmen, sondern es muß in jedem Falle die Lös-
lichkeit des Arsen in der betreffenden Erdiirt und das Ab-
sorptionsvermögen der Erdart für Ar.^en bestimmt werden. Von
diesen beiden Faktoren hängt vor allem der Übertritt in den Leich-
nam ab.
Es gibt arsenhaltige Erden, deren Arsen w eder durch kaltes, noch
durch siedendes, noch durch ammoniakalisches Wasser gelöst werden
kann und wo die Aufschlicßung der Verbindung nur durch Säuren
gelingt: das Arsen ist in einer für die Grabwässer vollkommen un-
löslichen Verbindungsform in der Erde vorhanden. Es gibt aber auch
im kochenden Wasser und in Ammoniakwasser lösliche Verbindnngs-
1) Kratter, Über das Eiadriugcn von Areen aus der Fricdbufseixlü ia
den LeichBam. Wiener kUn. Wochenechr. 1896. Nr. 47.
DiyiliZüa by GoOgle
140
III. Kbatteb
formen arsfiilialtif^er Erden, ja in dem oben erwähnten Falle ist es
»purweise 80^?ar in kaltes Wasser überfjefranjj^en.
Die Fortbewegung etwa irelösten Arsens bäng^ nun vom zweiten
Faktur, von dem Absorptionsverniü<::en des Bodens al>. Es ist von
vornberein klar, dali stark kalk-, niajrnesia- und eisenhaltige Erden
selbst Lösungen von leichtlöslieiien Arsensalzen in kurzer Zeit in un-
lösliche Verbindungsformen überfüliren, d. b. sie binden, und ihr
Vordringen hemmen müssen. Umgekehrt gibt es Erdarten, aus welchen
immer wieder neue Spuren in Wasser übergehen. So war es in
unterem Falle.
Wie ^ roter TtA^ sieht eioli dnreh die alle imd neae Utentar
immer wieder die Angabe Ton der Mamifikation der Arsen-
leichen oder wenigsteoa einzelner Teile der Ldobe. Naeh meinen
Erfahrungen iat dies nieht richtig, sondern die Mnmifikation kommt
als dne physikalische Leichenerscheiiiiiiig bei allen Leichen yor,
wenn die äußeren and inneren Verwesungsbedtngungen dies ermög-
liehen. Sind diese der Yertrooknung gflnstig, dann mumifiziert der
Leichnam, wenn nicht, dann entwickelt sich kolliqnatiye Fftnlnis oder
bei sehr großer Bodenfeuchtigkeit Fettwachs (Adipo^). Die Diagnose
dner ArsenTcrgiftung findet nach meinen Erfahrungen in den Leicben-
veränderungen keine Stütze, und ist der Mythus von der Mumifi-
kation der Arsenleicben vielmehr geeignet, das unbefangene Urteil
des ßeobacbters zu trüben. Idi habe dies schon vor Jahren mit
aller Beeämmtheit in dem Satze ausgesprochen, dessen Richtigkeit ich
seither immer wieder bestätigt fand: „Die so oft behauptete Mumifi-
kation der mit Arsenik vergifteten Leichen habe ich bei zahlreichen
Untersuchungen und Exhumierungen niemals beobachten können*).
Ebenso unricbtii: ist die Bebauptung von der Konservierung
der isolierten Oriraiie und Leichenteile bei der Arsen Vergiftung.
Man kann vielnjebr bei den zur cliemiscben Untersuchung kommenden
I^icbenteilen liochgradigste ])utriüe Fäulnis auch dann beobachten,
wenn eine Arsenvergiftung vorliegt
//. Phosphor.
Der Phosphor nimmt eine hervorragende Stellung unter den
Giften der Gegenwart ein. Seine Gescbiclite als Vergiftungsmiticl
beginnt erst 150 Jahre nach seiner Entdeckung, nämlich mit der Er-
findung der Phosphorzfindhölzchen im Jahre 1833. Die Köpfchen
l) K ratter, „Vcrgiftuugcu- in Dradches Bibhutliek der mediziniscbeu
WiiBensdiaftsn. Band: Cror. Med. u. Hyi^aie. 21. o. 2S. Heft
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Effahnuigeii Uber einige wichtige Gifte und deren Nadiw^ 141
dieser Zündhölzer enthalten je nach der Darstellun^sweise wechselnde
Mengen von •ielbeni Phosphor. Der Gehalt eines Köpfchens schwankt
nach den dankenswerten Untersuchungen von Smita') zwischen
0,167 und 1,78 Milligramm. Die meisten enthalten 0,5—1 Milligramm
und man wird gut tun, etwaigen Berechnungen über die Menge des
einverleibten Giftes diesen Mittelwert zugrunde zu legen. 15 Milli-
gramm Phosphor können schon schwere Vergiftungserscheinungen
hervorrufen und 50 Milligramm (0,05 g) sind als tödliche Gabe für
einen erwachsenen Menschen anzusehen. Die Köpfchen eines Schäch-
telcbens (bei 100 Stück) enthalten also leiohlich die tödliohe Dosis.
Giftig sind alle Alten der gewOhnlieheii ,^chwefelh5l&ehen^ das.
sind Züadlidlser, die aufier dem Pbosphoricdpfchen noeb mit dem nn-
giftigen aber gut brennbaren Sohwefel an ihrem vorderen Ende be-
legt sind, dann aber aneh die meisten sog. Salon- nnd Waehssfindr
bölzehen, gleichgültig, weleh gleißende Farbe immer die Kdpfeben.
tragen. Ungiftig dagegen, wenigstens im Sinne der Pho6phor7e^
giftnng, sind die zwar von BSttger in Dentsehland eifandenen, voik
nns jedooh als „sohwedisobe'' besmcbneten Streiobbökohen. Sie ent-
halten wohl anob Phosphor, aber nnr in der nahezu nngiftigen Modi-
fikation des roten oder amorphen Phosphors, der bekanntlich duroh«
Erhitzen des giftigen, gelben oder kristallinischen im Sauerstoff freien
Puiunie auf 260<> gewonnen wird. Auch dieser ist nur an der Reib-
fläche vorhanden, während der Kopf des Hölzchens chlorsaures Kali,
meist mit Zusatz eines ehromsanren Salzes, als leicht sauerstoffabgebende
Masse enthält.
Ein höchst gefährliches Gift ist also ganz allgemein verbreitet und
ohne jede Beschränkung billigst in todbringender Menge zu beschaffen.
Was Wunder, wenn die Pliosphorvergiftungon noch immer zunehmen.
Sie werden, wie sie mit den Pliospborzündhölzern gekommen sind,
auch mit diesen verschwinden — dann, wenn bei uns das geschieht,
was einige Staaten, beispielsweise Schweden schon getan haben, die
zwangsweise Einführung der giftfreien Streichhölzer; denn die übrigen
phosphorhaltigen Präparate, die als liattengift benutzte Pho8])hor-
latwerge, das Pliosphoröl und die Phosphorpillen haben sozusagen
gar keine praktische Bedeutung, da durch sie nur ganz vereinzelte
Vergiftungen vorgekommen sind. Mir selbst ist niemals eine andere
als durch Zündholzköpfchen hervorgerufene Phosphorvergiftung unter-
gekommen. Ob wir trotz der Einfachheit der Gegenmaiinabmc etwa
1) ämita, L'ntorsuchuugca Qber den Phosphorgehalt der Zünühülzchcu.
Friedreichs BUtter f. ger. Med. 46. Jahig. 169». & 194.
DiyiliZüa by GoOgle
142
IlL K BATIKS
schon am X'orabende der letzten Zündbolzvergiftang ätebeO} wage ich
gleichwohl zu bezweifeln.
Im Gefj:ensatz zum Arsen und sämtlichen übri^n Giften kommt
die deletäre Wirkung dem Phosphor selbst zu. Der Grundstoff, da>
Element, und noch die ihm nahestehenden Wasserstoffverbindungen
8md giftig, nicht aber seine Sanerstoff Verbindungen ; im Gegenteile
ut die OMbx der Vergiftang vorüber, wenn der Organismns den
Phosphor aneh nur bis sa nnterphosphoriger S&nre oxydiert hat
Aber diese Oxydation geht viel langsamer von stiUten, als man denken
sollte. Der Entgiftungaarbeit des Organismns, d. h. seinem Bestreben,
den einverleibten Phosphor in nngiftige Oxydstionsstnfen fiberznftthren,
eiliegt er selbst in einer sehr großen Zahl von FftUen oder erieidet
sehwento Störungen in lebenswiohtigen Organen. Alle Kiankheits-
erseheinnngen sind reaktive Vorginge des Organismus behufis Ent-
giftung, ein wütender Kampf der Teile im Organismus gegen sii
fremdes Agens, in welohem Millionen von Zdleiehen das Gampfbld
bedecken.
Innerhalb der mir in dieser Arbeit gesteckten Grenzen kann es
nicht meine Aufgabe sein, bekanntes wiederzukäuen und eine Dar-
stellung der Vergiftungsersoh einungen zu geben. Diese sind hundert-
fältig beschrieben worden und Gemeingut des ärztlichen Wissens. Der
Häufigkeit des Vorkommens halber hat wohl jeder Arzt ein- oder
das anderemal gerade diese Vergiftung schon als Student zu sehen
Gelegenheit gehabt Es gibt gewiß viel mehr Ärzte, die keine Arsen-,
als solche, die keine Phosphorvergiftung gesehen haben. Ich möchte
nur auch über diese Vergiftung einige forensisch belangreiche Erfah-
rungen bezüglich ihrer Erkennung am Leichentiscbe imd des
chemischen Nachweises mitteilen.
Die wichtigsten organischen Verändeningen sind bekanntlich all-
gemeiner Ikterus (Gelbsucht), fettige Entartung der Leber, der Nieren,
des Herzens und der gesamten Muskulatur, endlich Blutungen an
den allerverschiedensten Stellen des Körpers in Form von größeren
und kleineren subkutanen, subserösen und submukösen Blutpunkten
nnd -flecken, hervorgegangen aus der fettigen Degeneration der
KapilhirgefitSe. Die Blntongen der Haut können mitunter andi so
recht großen blauen flecken gedeihen. Ein solcher Mensch sidit
dann wie geprügelt aus. Ich sah Blntunterlanfungen der Augenlider,
wie man sie in der Regel nur nach schweren SohSdelverietEungen
zu finden pflegt Zu emstlichen T&nschungen kdnnen diese tzotsdem
fOr den einigermaßen erCahrenen Arst wohl nicht Anlaß geben.
Da diese multiplen Blutanstritte fftr die Diagnose der Phospho^
Diyilizuü by GoOgI<
Erfahnnig«ii Aber einige widitige €llfte und dereo TUwAwem, 148
Tergiftong von großer Bedeutung sind, ist es sehr wichtig, ihre lieb-
ling:8sitze zu kennen. Diese Stellen sind das Brustfell, wo sie nament-
lich im hintom Mittelfollranm länp:s der Kr»rporsohlagader zu um-
fänf^lichen Blutfloeken irodeihen können, dann das Zwerchfell, Netzte
und Gekröse, Achstlhrihlen und Schenkelbeujjen. Man soll es nie
unterlassen, bei vermuteter Phosphorver^iftung gerade an diesen
Stellen n.ich Blutungen zu fahnden. In manchen Fällen sind sie so
zahlreich, dal^ die serösen Häute und die von ihnen überzogenen
Organe wie getigert aussehen, in anderen Fällen dagegen kommen sie
recht spärlich vor oder sie fehlen wohl auch ganz. Und gerade
darauf möchte ich kurz zu sprechen kommen, weil ich diesen Um-
stand in den gebräuchlichen Lehrbüchern nirgends mit genügender
Schärfe hervorgehoben finde.
Der Arzt findet überall das Bild der sogenannten kUttsischen
Phosphoryeigiflimg beeehiiebeii. Dieses Bild trifft aber Buir fllr eim
besohiftnkte Zahl der FUle sil Findet er dann einmal die tjrpisefaen
Befände nichl^ so kommt er begreiflieberweise mit seinem Urteil ins
Sehwanken, wornns ihm aneh gar kein Vorwurf erwaehsen kann, da
ihm in der Sohnle die dogmatisehe Ansehannng beigebcaeht wnide,
80 und nar so sieht eine jede Phosphorrergiftong ans. In Wirklieh-
keit aber Teihfilt es sieh anders.
Die Leiehenbefnnde hängen ganz wesentlieh yon der
Daner der Vergiftung ab. Sie sind andere, wenn die Vergiftung
10 — 20 Stunden, andere, wenn sie 3 Tage, und wieder andere, wenn
sie 5—8 Tage angedauert hat Und dies alles kommt vor. Pliosphor^
yergiftnngen können in weniger als 24 Stunden zum Tode führen,
oder in 3 — 4 Tagra, adet sie dauern eine Woche und darüber an.
Während des ganzen Vergiftungsverlaufes schreiten die Veränderungen
der Organe fort und es ist daher selbst für den I^ien einsichtig, dal)
ein bis dahin völlig gesundes Organ, beispielsweise die Leber, anders
aussehen wird und nniB, wenn sie weniger als 24 Stunden als wenn
sie 3 oder 4 mal 21 Stunden oder gar lü Tage unter der (üftwirkung
stand. Sie ist im ersten Falle für die Beobachtung mit freiem Auge
kaum merklieh verändert, im zweiten stark vergrößert, plump, brüchig,
fettrt ieli, kurz vom Ausselx'u der Leber einer geschoppten Gans mit
hochgradig gespannter Kapsel, im letzten endlich selbst kleiner als
normal, schlaff, erfüllt mit Zerfallsprodukten der untergangenen Zellen,
die K:i|>sel gerunzelt. (Janz ähnlich verschieden gestalten sich die
VeriindiTungen des Herzens, der Nieren, der Muskeln und vor allem
auch der lilutgefäije nai li der Dauer des Prozesses. Infolgedessen gibt
es Phosphorvergiftungen ohne jede Blutung, solche mit wenig zahl-
Diyiiizea by Google
144
HL Kbattib
reichen oder nur ganz vereinzelten Blutaustritten und endlich welche
mit unzUhlharon großen und kleinen Blutextrava^aten in nahezu allen
Organen des Körpers.
Dieser flüchtige Hinweis auf die Variabilität der I^ichenhefiinde
dürfte genügen zur Erkenntnis, daß die anatomische Diagnose der
Phosphorvergiftung keineswegs immer leicht und sicher ist; sie kann
sich im Gegenteile mitunter so schwierig gestalten, daß die Frage an
die Chemie unerläßlich wird, auch wenn es sich gar nicht um eine
krimineUe Vergiftung handelt Die Schwierigkeit der Leiebendiagnosük
wird noch wegeotlich erhöht dnreh den Umstand, da0 keine einzige
OiganTerSndemng der Phoephorvergiftnng aneschließlieh zukommt
und daß andere Prozease ganz ühnliohe Yeiinderungen erzeugen. Ich
verweise nur auf die akute gelhe Lebentrophie und gewisse Formen
der Blutvergiftung (Sepsis), ohne hier auf eine ErOrtbrung der mitunter
reoht sehwierigen Differenzialdiagnose einzugeben. Aueh beim Be-
stände ehronisoher Fettdegeuemtion der Leber, des Heizens und der
Nieren, die so hSnfigen Oiganentartungen dnioh AlkoholmiDbnuich,
kann die Diagnose der Phosphorvergiftung am iLeiobentische auf
Sehwierigkeiten stoßen und kann es sieh nötig erweisen die Chemie
zu Eate zu ziehen.
Um sieb über die Möglichkeit und die Aussichten des cliemischeii
Nachweises eine klare Vorstellung machen zu können, bedarf es zu-
nächst einer kurzen Betrachtung der Schicksale des Phosphors
im lebenden Organismus und in der Leiche. Der in den
tierischen Körper eingeführte Phosphor beginnt sofort durch Sauer-
stoffaufnalinio sich zu oxydieren. Erst werden die niedrigen Oxydations«
stufen unterphosphorige Säure und pliospliorige Säure gebildet, die
aber auch bald durch weitere Angliederung von Sauerstoffatomen in
die höchste Oxydationsstufe des Phosphors, in Phos|)horsäure, über-
geführt werden. Diese und deren Salze sind normale Bestandteile
des Tierkörpers und kommen daher pliosphorsaure Salze sowohl
im Harne immer vor als sie auch aus den Geweben erhalten werden.
Der Phosphor ist also nur so lange .als ein von außen eingeführter
Giftstoff nachweisbar, als er noch unoxydiert im Blute kreist oder
noch als niedrige Sauerstoffverbindung in den Organen vorhanden ist.
War schon während des Lebens die Oxydation bis zur Bildung von
Phosphorsäure vorgeschritten oder ist dieselbe nach dem Tode, wo
der Chemismus kdneswegs stille steht, soweit gediehen, dann besteht
keine Möglichkeit mehr, ihn chemisch nachzuweiseo.
Wie schon oben bemerkt volhsieht sich die Oxydation des Phosphor
im Organismus nicht sehr rasch. Wir finden daher selbst bei subakutem
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ErfthmiigeD ftber dnigo wiohtige Gifte und deren Nachweis.
145
Verlauf der Verflnftiin^', du in tödlichen Füllen immerhin <;röi)ere Men<ren
genommen werden muBten, in derRep^l noch unoxydierten Phosphor auf,
mindestens alter unterphosphorige oder pliosphori^^e Säure. Mit der
fortschreitenden Fäulnis aber wird der zur Zeit des Todes noch vor-
handene Phosphor weiter umgewandelt und daher sein Auffinden um
so unsicherer, je längere Zeit vom Tode an verstrichen ist. Ra.scher
geht dieser Unjwandlungsprozeß vor sich bei sezierten als bei ganzen
Leichen, weil bei er.«iteren der Luftzutritt zu den Organen ein weitaus
leichterer ist. Gleichwohl sind Fälle bekannt geworden, wo er sich in
exhumierten Leichen noch nach 8 Wochen nachweisen lieli. Nach
10 — 12 Wochen findet man ihn nur mehr als phospborige Säure und
nach höchstens 16 Woehoii flberfaaapft nicht mehr, das hdfit nur noeb
als PbosphoiBänre, was eben die Veigiftong nicht mehr beweiaea kann.
Das sind also die von der Natnr gezogenen Grenzen der Nach-
weisungsmöglicbkeit des Pboepbois. Sie sind recht enge im Veiigldcb
zu anderen Qiften. Ihre Kenntnis ist beim Arzt, Untersaohnngsricbter und
Staatsanwalt Ton auf der Hand liegender Bedeutung. Wie viel unnfitse
Arbeit, Zeit und Geld mögen für venpStete Leiohenausgrabungen und
chemische Untersuchung su weit yerwester Leichenteile bei Termuteter
Phospborveigiftung wohl schon Terausgabt worden sein? Außerhalb
der oben angegebenen , gewiß äußersten Grenzen, gibt ss kernen
chemischen Pbosphomachweis mehr. Im Vergleich zur zeitlichen Nach-
weisnngsmöglichkeit des Arsens kann ich getrost sagen: Phosphor
ist in Leichen kaum so viele Wochen lang sicher nachweis-
bar als Arsen Jahre.
Ans dieser Erkenntnis folgt aber noch eine andere Lehre. Bei
vermuteter Phosphorvergiftung ist es auch im Gegensatz zur Arsenver-
giftung für die Erbringung des objektiven Beweises ganz und gar nicht
gleichgültig, ol» rasch oder langsam amtagehandelt wird. Einii^e Tage
Verzögerung in der Anordnung der Exhumierung können hier sehr viel
bedeuten. Da liegt aber noch die geringere Gefahr. Die viel größere
besteht in der üblichen Behandlung des Untersuchungsmaterials. Die
bei der Exhumierung und Leichenzergliederung etwa noch vorhandenen
Spuren von Phosphor werden in den zerschnittenen Organen, zu welcher
der Luftsauerstoff fast unbehinderten Zutritt hat, nun rasch oxydiert. Es
ist also dringend geboten, daß sie mit größter Eile und so verpackt,
dali nur wenig freier Kaum in den Glasgefäßen vorhanden ist, zur
ehemischen Untersuchung gelangen, und der Chemiker hinwiederum
muß sich klar sein, daß jede Stunde mehr, die das bereits in seiner
Hand befindliche Objekt bis zur Inangriffnahme der Arbeit weiter fault,
das Besultat der ganzen üntetsuchung gefiUirden kann. Nach meinen
AiüUt f«r KrinlnalaBthtopolatto. IUI. 10
DiyiliZüa by GoOgle
U6
UL Kbattse
schliminen Erfalinnifren in flicsor Richtung horrsclit bei allen heteiligU*n
Faktoron, namentlich nucli l>ei den Ärzten, die ja die sachkundigen
Berater des Juristen sein sollen, völlige Verständnislosigkeit für die
Bedeutung dieser Sache. So kommt es, dal» nicht selten eine, aber auch
zwei und mehr Woclien vergehen, bis die chemische Untersuchung an-
geordnet oder das zur Untersuchung bestimmte Objekt, welches nach
dem gegenwärtigen Geschäftsgänge leider nor allzuviel Hände zu
passieren hat, in jirbeit fgmomtmt f/ML
Meines Eraefatens solHe Voisorge getroffen sein, daß von der
L^chenzergliederung oder -Ati^giabQng an bis zur Inangriffnafane
der ehemisohen Arbeit jede weitere Zersetziing ansgeeehlossen ut
Einzig die „Instruktion ffir das Verfahren der Ärzte im EOnigreiefa
Bibern bei den geriebtiiohen Untersnohongen meoachlicher Leiehen*^
Yom 9. Dezember 1880 enthält meines Wissens eine dieses Ziel an-
strebende Bestimmung im $ 21, welche lautet: «Die Gefäße sollen zur
Konserviernng der in sie aufzunehmenden Organe samt
Inhalt reinen Weingeist enthalten. Wenn sie gefüllt sind, werden
sie luftdicht mit dem Pfropfen und darübergelegter Blase oder
Pergamentpapier verschlossen" . . . Speziell bei Phospliorvergiftungen
hat zwar dieses; V( rfaliren den Nachteil, daß dadurch eine wichtige
Reaktion, das Leuchten der Dämpfe, Terhindert wird, allein, da wir
Phosphor auch anderweits sicher nachzuweisen vermögen, so fällt
dieser Nachteil ])raktisch nicht ins Gewicht und es bleiben die grofiCD
Vorteile der sofortiiren Sistierunj? jeder weiteren Zersetzung.
Der chemische Nachweis strebt zunächst die Abtrennung? etwa
noch vorhandenen freien Phosphors an. Die Isolierung: aus den
Leichenteilen oder anderen Ol)]ekten erfol^-t wegen seiner Flüchtig-
keit durch Destillation aus dem mit Weinsäure angesäuerten Organbrei.
Enthalten die übergehenden Dämpfe .auch nur noch geringste Spuren
von Phosphor, so leuchten sie im dunkeln Räume; es ist dies schöne
Spiel der Phosphoreszenz im Kühlrolire zu beobachten. Die Reaktion ist
nicht nur absolut beweisend, sondern auch glücklicherweise so empfind-
lich, (lab sie den Nachweis minimalster Giftmengen gestattet. Nach
Fresenius zeigte 1 Milligramm Phosphor in 200000 Fächer Ver-
diinnung eine halbe Stunde lang das I^euchten, eine Beobachtung, die
ich oft zu bestätigen Gelegenheit hatte. Bringt man ein Zandhölzcben,
das auch nur «n halbes Milligramm oder w^th weniger Phosphor
enthält, in einen Destillierkolben mit schwach angesäuertem Wasser, w»
ist starke und andauernde Phos])horessenz zu sehen. Leider wird das
Leuchten der Dämpfe durch die gleichzeitige Anwesenheit von Alkohol
Äther, Kupfervitriol, Sublimat, Terpentinöl, Wasserstottniperozyd,
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Eiffthmngen Ummt einige widitige Gifle und deren Nadiweia.
147
Karbolsäure, Tetroleum, Benzin, Chloroform, Fette und Fettsäuren, und
durch manche Fäulnisprodukte, wie Schwefchvajiserstoff , verhindert.
Während also der positive Ausfall dieser Reaktion ein ab.suluter
Beweis für das Vorhandensein des Giftes ist, kann aus dem nej^ativen
Ausfall nicht im entferntesten auf die Abwesenheit desselben fj:esclilossea
werden. Ein Gerichtschemiker, der sich damit begnügte, würde sioh
eines Kunstfehlers schuldig machen.
In jedem Falle ist daher auch das Destillat zu untersuchen.
Salpetersaures Silberoxjd (IlöUensteinltmunp:) wird durch die ge-
ringsten Mengen von Phosphor zu schwarzem i'liosphorsilber redu-
ziert (Sc her er sehe Reaktion). Wir benutzen daher eine Vorlage von
SUberlösung auch zur quantitativen Bestimmung, indem wir das ge-
Bamie tob ihr aufgenommeiid Desdllat dureh Ozydalioii in Phosphor-
Bänre ttberfuhren und diese als Magnesiumpyrophosphat beetunmen.
Zur ungestörten Beobachtung der Phosphoreuenz besteht im
Gruer forensiachen Institute eine besondere Einriohtang. Eine als
cbemiseher Heid heigeriohlete Nisehe isl matt sehwaiz aust^ieziert;
eigene AbbtendnngsYoirichtnngen schließen jeden tSnschenden Reflex
der Glasröhren des H i ts ch e r 1 i chschen Apparates aus. Diese Kisohe
ffir die PhosphordestiUation befmdet sich in dem mit einer Ver-
dunkelungs-EiBiielitan^ versehenen Hörsaal, womit unter einem dem
Lehrzwecke Becfanung getragen erscheint
Wenn aber überhaupt kein freier Phosphor mehr Torhanden ist,
dann führt noch das Verfahren von Dusart-Blondlot zum
Ziele, welches den Nachweis der niedrigen Sauerstoffverbindungen des
Phosphors mit großer Sicherheit gestattet Unterphosphorige Säure
und phosphorige Säure werden im Wasserstoffentwicklungsapparat
in Phosphorwasserstoffgas übergeführt, welches beim Durchleiten
durch eine Silbernitratlösung unter Abscheidung von Silber und
Phosphorsilher und gleichzeitiger Bildung von l'hosphorsäure zersetzt"
wird. Piios))liürsilber liefert mit nascierendem Wasserstoff wieder
Phosphorwjisserstüff , welcher der F'lamme eine smaragdgrüne
Färbung erteilt. Dies sind die verhältnismäßig einfachen Grund-
lagen eines \'erfahrens, dessen Ausführung viel Zeit und technisches
Geschick in Anspruch nimmt. Ich begnüge mich hier nur mit der Fest-
stellung, daü diese schöne aber schwierige Methode eine kleine Kunst-
leistung darstellt, welciie nur der Hand des besonders Geübten gelingt.
Man ersieht aus alledem, daü der Nachweis des Phosphors in
Leichenteilen oder andren Objekten keineswegs eine so glatte und
einfache Sache ist^ sondern daß auch hier nur eine kunstgeübte Hand
ein sicheres Resultat zu Terbttigeu vermag. Und gerade bei einer
10*
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148
IIL KSATISB
fraglichen Phosphorvergiflung ist der chemische Nachweis und seihst
schon dor (|iialitative alles; denn auch schon die kleinstes pur von
freiem Phosphor in den Organen heweist die Vergiftung.
Phosphor wird selten zur Ausführung von Morden verwendet.
Die heiniliclie Beibringung des Giftes ist wegen seiner auffälligen
widrigen Eigenschaften, namentlich des knohiaucliartigen Geruches,
schwierig. Der Versuch wird leicht entdeckt, und es bleibt bei dem-
selben. Anstandslos auszuführen ist der Mord gewiß nur an ganz
kleinen Kindern und an nicht vollsinnigen Erwachsenen. Ich habe
als ein Unikum die Vergiftung eines drei Tage alten Kindes durch
die Mutter mit sieben Zündholzköpfchen gesehen und beschrieben >).
Die Vergiftung verlief selir naob, in efeva 10 — 13 Stunden, die Leieben-
befnnde lieferten keine AnbaltBpnnkte Ar eine Phoi^horvergiftung,
bei der ebemieeben Untenmebong landen aloh nodi Zflndbokköpfeben
in den QedSnnen!
Um 80 binfiger findet Pboipbor für Selbetmoidzwecke and
Tor allem aar Fraebtablroibang Verwendnng, In der angefttbrien
Arbeit babe ioh ToUgfiltige Beweise für letatgedaehte YeranlasBong
der PboBpborreigiftang eibraefat Ana einer daadbat mügetdlten
Statiatik der PboaphoitodeafiUle in Graz innerbalb von 17 Jabren et-
gibt aieb, daß von 53 Flllen 45 oder 86|5 PA», auf das weiUiebe
und nur 7 oder 13 1/2 Proz. auf das männliche Geschleobt fallen. Im
gleiehen Zeiträume kamen in Graz 26 TodeafiUle an ArsenTergiftoDg
TOr, davon betrafen 17 Männer, 9 Frauen, somit Männer 65,4 Proz.,
Weiber 34,6 Proz. Ich hielt mieb daher fUr berechtig^ den aacb
noch heute gültigen Sats aoasaapreeben:
Phosphor ist vorwiegend ein Weibergif t, Arsen mehr
ein Mfinnergift. Alle Frauen meiner Zusammenstellnng standen im
fortpflanzung«fähigen Alter, nur sechs hatten dasselbe überschritten;
die meisten waren bei Beginn der Vergiftung schwanger oder hatten
kurz vor der Aufnahme in die Krankenanstalt abortiert.
Phosphor ist, wie ich ebenfalls nachgewiesen habe, ein ebenso
gefährliches als unverläßliches und gleichwohl immer wieder an-
gewendetes Fruchtabtreibungsmittel. In meiner Kasuistik
finden sich folgende typische Fälle: die Schwangere stirbt, ohne dnß
Abortus zustande kam oder der Abortus ist eingetreten, und darnach
stirbt sie infolge des einverleibten Giftes, oder sie abortiert und bleibt
am Lehen ({lusitiver Erfolg) oder sie abortiert nicht und stirbt auch
nicht, sondern übersteht die Vergiftung nach vielwöchentlicher Krank-
1) Kruttcr, IMitT ^ll<l^pllOl• und Anteil als Fnichtabtreibuiigsiuittei. Viertel-
jahrsschr. f. ger. Med. 3. Folge. Bd. 23. 1902. 1. lieft.]
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Erfal^niigeD Obet einige widitige Gifte and deren Nechwde. 149
heit, kommt am normalen Ende der Schwanf^orscliaft nieder, brin«^t
ein lebendes Kind zur Welt und wird dann, wenn sie aus den Wochen
ist — wegen versuchter Fruchtabtreibung: ab2:eurteilt (A. o. 0. 7. Beob.).
In den letzten drei Jahren haben sich die Fruchtabtreibunt^en
durch Phosphor mit tödlichem Ausgang sehr bedeutend vermehrt, so
daß man den Eindruck empfängt, als näherten wir uns einem Zu-
stande, von dem dasselbe gilt, was Robert') in seinem ausgezeich-
neten Lehrbuclie der Intoxikationen von Schweden behauptet: ,,ln
Schweden war vor der zwangsweisen Einführung der phosphor freien
Zündhölzer der Phosphor geradezu Modemittel zur Fruchtabtreibung,
freilich meist mit letalem Ausgang/
Interessant ist die zunächst von meinem SohttlerD. A. Wassmuth^)
nenerdings experimentell festgestellte Tatsaehe des Überganges miBeres
Giftes auf die Fracht Dadurch wird diese im Mnttertoibe reigiftety
und es entitebt ein typisches anatomisches VetgtftungsbUd der FVnoht
Btt einer azbortierten menschlichen Leibesfraöht habe ich diese Ver-
ftndemngen als die Phosphormgiftnng einer Fracht erwiesen, eine
Tatsache^ die znr Entdedning der Yerbreoherin f iihrte, welche in einer
HeUanstalt an den nnyerkennbaren Erooheinnngen einer Phosphor-
Tcrgiftong nach Aborhis krank damiederlag. Das GestSndnis be-
stitigte die wissenschaftliche BeweisfQhmng.
///. Quecksilber.
Das Quecksilber und seine Verbindungen werden vielfach für ge-
werbliche, technische, kosmetische und besonders auch für medizi-
nische Zwecke verwendet. Dadurch ist nicht allzu selten Gelegenheit
zu absichtlichen und fahrlässigen Vergiftungen geboten, die teils als
leichtere oder schwere akute Intoxikationen verlaufen, teils zu chro-
nischen Vergiftungen führen. Selbstmorde, aber auch Mordyersuehe
mit Sublimat, dem fast anssehließlieh in Betracht kommenden
giftigstem Quecksilbentalze, sind nntf mehrfach vorgekommen.
Schon das metallische QaecksUber wirkt giftig, wenn es in feiner
VerteUnng als sog. Quecksilberdampf eingeatmet wird, wosn nament-
\Ußi bei der Verhüttang in Qnecksilberwerken und bei gewissen
technischen Betrieben Anlaß geboten ist, oder wenn es, wie dies auch
wiederholt vorkam, als grane Salbe namentlich von Quacksalbern ver-
stSndnisloB angewendet wird. Hierbei entsteht eme chronische Ver-
giftnng, die als Merknrialismns wohlbekannt ist Davon soll hier
nicht weiter gesprochen werden.
1) K ob ort, Lehrbuch der Intoxikationen. Stuttgart 1993. 8.416.
l) Dr. Anton Wassmuth, Übertritt des Phosphors auf menschliche und
tierische Früchte. Vierteljahraschr. f. ger. Med. S. Folge. Bd. 26. 1903. Heft 1. S.12ff.
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160
IIL KXATTSB
Akiito Veri:iftnn;xon, welclie bei stürniischeni Verlaufe ausnahms-
weise schon in weni^'en Stunden zum Tode führen können, in der
Regel alit r erst in einigen Tagen töten, werden nur durcli Verbindungen
des Quecksilbers lierv(»rgerufen. Dieselben sind nach dem Grade
ihrer Tiislichkeit starke oder schwächere Oifte, so daß man von
diesem fJesichtspunkte aus mit Recht von starken und milden
Quecksilberpräparaten sprechen kiinn. Unter ersteren versteht man
solche QuecksilberverbindungeUj welche in Wasser und verdünnter
Salzsäure leicht löslich sind, unter letzteren solche, welche dadurch
nicht gelöst werden. Von den zwei Verbindungsreihen, welche Merkur
bildet, sind im allgemeinen die Oxyd- oder Merkuriverbindungen die
Sterken, die Oxydul- oder Merkuroverbindongen die schwachen Gifte.
Die am aUerhftnfigsten sdhwere akute Vergillangen berrorrnfeDde
QneekflilbenreibindnDg ist das Qaeoknlbefchlorid (Hg CI2), der sog.
Sublimat; es wird dabor in den Lebibflobem Tiellaoh pars pro
toto nnr von der Sublimatreigiftung gebändelt Der Zinnober, eine
besondere Form dee SchwefelqneekaUbefSy kann wegen seiner gSna-
Ueben UnUMiebkeit wobl als nngiftig betrachtet werden.
Die Leicbenbefnnde gestalten sieb, wie bei der Pbospbor-
▼ergiftnng, Terscbieden nach der Daaer des KrankbtttB?eilaiifes.
Zunächst besteht nur Angfarong der Sdileimhftnte in den eisteii
Wegen, Mundhöhle, Speiseröhre, Magen nnd Zwölffingerdarm mit
reaktiver Entzündung. Tiefergreifende, ausgedehnte Yerschorfnng ist
in der fiegel nur im Magen infolge der hier länger andauernden Ein*
Wirkung des Giftes zu beobaohten. Sie kommt zustande durch die
Verbindung des Zellprotoplasmas mit dem Quecksilber zu QuecksUber-
albuminat, wodurch die vom Gifte berührten Zellen ertötet werden.
Dabei wird die Säure des eingeführten Metallsalzes frei, beim Subli-
mat also Salzsäure, welche ihrerseits ebenfalls Eiweiß angreift und so
die Ätzwirkung des Metalles verstärkt. Ein Metallsalz wirkt daher
um so stärker ätzend, je stärker seine Säure ist Die schwefelsauren,
salzsauren und salpetersauren Salze sind deshalb stärkere Atzgifte, als
etwa die kohlensauren oder essigsauren desselben Metalles. Der Grad
der Verschorfung der ersten Wege ist demnach hei ein und demselben
Metallgift verschieden einmal nach der Menge un<l Konzentration der
Lösung, daunaberauch nach der Stärke 'j der Säure des verwendeteuSalzes.
1) Es wflrde Uer m wdt fflhren die besprocfaeoen Wirkungen der Hg-Salae
im Lichte der clektrfM^en DiBBodationstheorie von Arrhonius zu betcichtMi.
Ich ziehe (iaher vor, an »licstr Stelle liolxr iiodi den älteren Anschauungen
zu folgen und vorweise nur anT I» res er : ..Ziu riiannakologie des Qaecksilben."
Arch. f. exp. raihul. u. rhanuakol. 1!>"J3. 32. lid. Ö. 456.
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Erfahningen fibM* einige wichtige Gifte and deren Nachweis.
151
Von der Stärke der Älzwirkurijr einerseits und der Dauer der
Vergiftuu«5 andererseits hängt hinwiederum der Grad der reaktiven
Entzündung der verätzten Gewebe ab. So ist sclion die Priniär-
wirkung, das primäre Verätzungsbild, bei den Einzelfällen graduell
oft recht wesentlich verschieden: Die Verschorfung ist je nach Um-
ständen mehr oberfläcblicii oder tieCdringend, ausgebreitet oder örtlich
beschränkt.
Der Endeffdd ist aber keineswegs aassoblielUick von dem Grade
der Vevitznng der ersten Wege abhängig, sondern wesenüich bedingt
von den Wirkungen, die das lesorbierte und zirkulierende Gift in den
entfernteren Organen, die wir die sweiten Giftwege nennen, ecsengt.
Hier treten neue Sekundärerscb einungen auf. Im gewissen
Sinne ist die Venchoifung sogar ein Schutzmittel der Natur gegen
die Terderblichen SekundSrwirkungen. Sie behindert und verlang-
samt wesentlich die Aufsaugung und Verbreitung des Giftes im
übrigen Organismus.
Frühzeitig entwickeln sich bei der Sublimatvergiftung die Ärzten
wohlbekannten Veränderungen in den Nieren, wo bald nach der Ein-
führung des Quecksilbers auch dessen Ausscheidung anfängt. Sie
bestehen in akuter Entzündung derselben (Nephritis), Fettdegeneration
und schlielMich selbst Ablagerung von Kaiksalzen, manchmal in dem
Grade, daß sie beim Durchschneiden knirschen, — wenn diese letzte
Veränderung der Mensch erlebt. Jedenfalls sind die oft und ein-
gehend besebriehenen Nierenerscheinungen kaum charakteristisch 2:0-
nug, um für sicli die anatomische Diagnose einer Sublimatvergiftung
zu sichern; denn iranz gleiche Veränderungen treten auch bei zahl-
reichen anderen Vergiftungen in den Nieren auf und ist der Zustand
dieses Organes wesentlich von der Dauer der Vergiftung abhängig.
Sie stützen aber als w ichtige Teilerscheinung des gesamten Vergiftungs-
bildes die Diagnose, die allerdings auch hier oft genug erst durch
die chemische Untersuchung zur Evidenz erhärtet werden kann.
Charakteristischer ist schon der sch warze Quecksilb crsaum
am Zahnfleisch und, bei Einverleibung des Giftes durch den Mund, die^
eigenartige schiefergraue Farbe der Mundschleimhaut, der Speiseröhre-
und auch noch des Magen. Als besonders wertvoll für die Diagnose
gelten mit vollem Becht die sekundären Veränderungen im uateisten
DOnndärm (Ileum) und im Dickdarm. Sit bestehen in Geschwttren
des Dünndarmes und in diphtheritischer VerschwSmng des Dickdarmes.
Es entwickelt sich eine toxische Dysenterie (Quecksilberdysentcrie). Sie
gleicht so sehr der gewöhnlichen Dysenterie, daß Yirchow eriüilrte^
er kSnne keine anatomischen Unterschiede zwischen dies^ beidea
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168
UL Khattbb
l'rozcssen anirrbcn. Hier nuiC» wieder die riieniie entscheiden ~ denn
in der toxisch erkrankten I)ariii\vund ist (^KiecksillxT ah^'chi^ert. Weil
das (^uecksilher auch durch die Darnidrüsen aus^'eschieden wird, ent-
stehen eben die ^'eschvvürigen Prozesse — sie sind die Wirkung einer
Öekundärätzun^' wie es auch die niercurielle Nephritis ist.
Man hat sich nun vorzustellen, daii in einem rasch tödlich ge-
wordenen Falle diese diagnostisch wichtigen Sekundärerscheinungen
vollständig fehlen oder geringgradig entwickelt sind, da zu ihrer Tollen
Ausbildung die Zeit mangelte. In den letzten Jahren habe ich bald
Dachdiunder drei iol<Ae sehr akut verianfeiie SelbBtmordftUe dnroh
SnbKmak seziert, wo keine oder nur ganz geringfügige Daral▼e^
Sndeningen vorhanden waren. Der Tod war bei allen dreien innerhalb
der ersten drei Tage eingetreten; bis zu dieser Zeit ist also Sublimat*
Dysenterie noch nicht vorhanden. Wir finden in solchen EBllen
nur Verinderungen der ersten Wege vor.
Andererseits gibt es auch EUle^ wo diese fehlen und nur Sekunder-
ersoheinungen vorhanden sind — dies dann, wenn die Einverldbnng
des Giftes nicht vom Munde ans erfolgt ist So war es in dnem sehr
interessanten Falle von Sublimatvergiftung bei einer auf der hiesigen
Gebärklinik laparotoniierten Frauensperson. Es mußte wegen eines
absoluten Geburtsbindernisses der Kaiseischnitt ausgeführt werden.
Die Frau starb unter klinisch nicht klar ausgeprägten Erscheinungen
am sechsten Tage nach der Operation. Die von Prof. Eppinger
vorgenommene Obduktion ergab, wie mir von seilen der Klinik mit-
geteilt wurde, Nekrosen an der Naht des Bauches und der Gebär-
mutter und eine Gastroenteritis necroticans von solchem Aussehen, dalt
der erfahrene patholoirische Anatoni den dringenden Verdacht einer
vorliegenden Bubliniatvergiftun«: auszusprechen sich veranlaßt sah.
Ich wurde ersucht, die chemische l'ntersuchun.ir der Leichenteile vor-
zunehmen. Sie fiel i»ositiv aus; in den Organen wurde Quecksilber
nachgewiesen^ und es la^r somit tatsächlich eine Subliuiatvergiftunir vor.
Das Sublimat kannte nur von den in einer Suldimatlilsung
gewaschenen und während der Operation oft in SubliniatliisuDg ab-
gespülten Händen des Operateurs an das reritoneuin und die
Eingeweide gekommen sein! Man wird mir gewiß zustimmen, wenn
ich ohne jeden weiteren Kommentar diesen Fall als einen sehr lehr-
reichen bezeichne.
Damit darf ich wohl die Erörterung ftber das Leiehenbild der
Sublimatvergiftung schließen.
In Bezug auf den chemischen Nachweis ist nur wenig zu
bemerken. Die einschlägigen Heihoden sind so ausgearbeitet und
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Erfahnmgen Qber dniine iriditiiii« Gifte mid deren Nadiwds.
163
erprobt, (laß Qooh minimalste Mengen von QnecksUber in den Organen
aufgefunden werden können. Das auch von uns stets geübte Ver-
fahren, das durch energische Oxydation nacli Bahn Fresenius in
Lösung gebrachte und durch Schwefelwasserstoff gefällte Quecksilber
elektrolytisch abzuscheiden — es schlägt sich in sauren I^sungen am
Kiipferpole als Metallbelag nieder — und dann in einer einseitig ge-
schlossenen Glasröhre durch Entwicklung von Joddämpfen in das
scharlachrote Quecksilberjodid überaufübren, gestattet noch bis zu
',111.1 Milli;:raniiii sieber zu erkennen. Dies ist auch die z\veckniär)igste
Metbude, um l^uecksilber im Harn und im Erbrochenen naclizuweisen.
Ist mehr als eine Spur vorhanden, was bei Vergiftungen innner zu-
trifft, so kann es nicht selten in der, wenn nötig etwas eingeengten
Flüssigkeit (llam, Mageninhalt) direkt nachgewiesen werden. Man
säuert die zu untersuchende Flüssigkeit an, filtriert und taucht in die
klare Lösung einen Streifen von blankem Kupferblech. Soweit das
Kupfer benetzt wird, bildet sich ein Belag von metallischem Queck-
silber, ein vereinfoehtM Verfahren, das bei aknten Vergiftungen, wenn
noeh UtsliGhe QnecksUberBalce im Magen vorhanden sind, Bethel am
LeichentiBche angewendet werden kann. .
Ich mnfi nnr aneh an dieser Stelle wieder henrorfaeben, daß natllr-
lieh das Auffinden einer Spur von Quecksilber in einem Objekte oder
anch in Leichenteilen an sieh noch nit^t m bewdsen vermag, daß
eine QneeksUberveigiftang voiÜegt Es kann sich anch um anfällige
Verunreinigungen handeln. So fanden wir einmal im Erbrochenen
eines mit gelben Arsenik vergifteten und an Arsenvergiftung gestorbenen
Mannes regnlinisobes Queckalber, fttr dessen Herkunft eine ErkUhnng
nicht gefunden werden konnte. In den Organen war keine Spur davon
anfzufinden.
In einem anderen EsUe, der uns auch nicht ganz eindeutig zn
sein schien, sahen wir uns sogar veranlaßt, im chemischen Gutachten
Bedenken auszusprechen, welche den Zweck hatten vor einer mög-
licherweise irrigen Deutung eines chemiscben Befundes zu schützen.
Der Fall ist folgender:
Am 2(1. Dezember 1902 erkrankte Mitzi K. in Leoben nach dein
Oenuli von Wein, der ihr von ihrem Liebhaber gereicht worden war,
unter Erscheinungen, welche eine Vergiftung vermuten ließen. Sie
wurde ins Spital gebracht, wo der Magen mit 5 Liter Wiisser aus-
gespült wurde. 2si> cm ' des ersten Spülwassers kamen zur chemischen
Untersuchung. Wir fanden (Quecksilber in Spuren darin, die wir nur
mehr abschätzen konnten: es waren etwa einige Hundertstel Milligramm.
Dies veranlalke uns nachstehende Bemerkungen auzufügeu:
164
UL Kbattkb
..Man könnte demnach an eine Verjjriftiinj; mit einem Quecksilber-
salz (JSublimat, weißer Präzipitat u. derj;l.) denken. Allein wir lialten
uns für verpfiiclitet darauf hinzuweisen, dal» der chemische Ik'fund
Wold nur mit fxröCiter Vorsieht im Sinne einer Ver^nftun^ wird forensisch
verwertet werden können u. z. a.) wegen der sehr g^eringen (unwä^^baren)
S{)uren dts im Magenspülwasser vorgefundenen Giftes; b) weil nicht
ausgeschlossen werden kann, dal) es sieb um eine zufällige Ver-
unreinigung handelt, nachdem möglicherweise in der offenbar nicht
neuen, aus dem Krankenhause stammenden Flasche sich einmal
Sublimatlösung befunden haben konnte, noch mehr aber, weil die
Flasche unzweckmäüigerweise mit direkt aufgeträufeltem rotem Siegel-
lack verschlossen war. Da die roten Siegellacke Zumober, also
one Qneokflübenrefbiiidiing, enthalteii, ist avcli cKe MSgfiohkeü mthi
sicher anssEUBcbließen, dafi dadureh eine Spur Ton QneeluUber ins
Objekt gelangen konnte.''
IV. Bfet.
Die forenae Toxikologie hat vorwiegend mit den akuten Ver-
giftungen zu tun, in dem Hafte, dafi der Qeriohtsarzt, wenn er tob
einer Veigiftnng schleohtweg spriohti anseehlieBlioh nnr die akute meint
Das rührt davon her, weil die forensisob bedeutsamen, kriminellen und
nicht kriminellen Vergiftungen fast ausnah ndos einen akuten Verlanf
nehmen, wfthrend die gewerblicli« n, technischen und ökonomische
Vergiftongen, sowie die durch den Mißbrauch von Genußmitteln er-
zeogten , v o r w iegend Znstandsbilder einer chroniBohenlntoxikation
hervorrufen. Trotzdem empfinde ich es als einen zu beklagenden
Mangel, wenn die Darstellungen der Giftlehre selbst in den besten
Lehrbüchern der gerichtlichen Medizin sich fast ganz auf die akuten
Vergiftungen beschränken. Die einer solchen Beschränkung wohl zu-
grunde liegende Meinung von der Hedentungslosigkeit der chronischen
Vergiftungen für die gerichtliche Medizin vermag ich nicht zu teilen.
Selbst vor dem Kriminalforum kommen chronische Intoxikationen zu
beurteilen, wie ich sogN iili an einem Beisiiit l*.- zeigen werde. Allein
die Bedürfnisse der Strafreehtspflege siml noch niciit das Um und
Auf der berechtigten Ansprüche der gesamten Rechtspflege an die
Heilkunde. Dem Gesamtumfange dieser zu genügen ist nach meiner
Meinung Aufgabe der forensen Medizin. Sie wird also auch den
Ansprüchen, welche aus der modernen Sozialgesetzgebung mit Eiu-
schlul) des Lrl>ensniitteigesetzes ent.si)ringin, gerecht werden müssen.
Von dieser höheren Warte aus betrachtet kommt der Gerichtsarzt
nicht gar zu selten in die Lage auch Uber chronische Veigiftungen
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Erfahrnngcn über einige wichtige Gifte and deren Kacbwds. 156
pro foro urteilen zn mlteeii} namenüioh tiei ÜDfaUbegntBehtongen und
LebensmittelfälBchnngeii.
Ein Gift nun, das nur sehr selten zu akuten, um so öfter aber
zu chronischen Vergiftungen Anlaß gibt, ist Blei. Und gerade des-
halb gUiubte ich es in den Kieis dieser Betrachtungen einbeziehen zn
sollen.
Das reine Metall, welches keine akuten Störungen hervorruft,
vermag selbst in geringen Mengen fortgesetzt einverleibt nach längerer
oder kürzerer Zeit chronische Blei\ ergiftung hervorzurufen. Im Altertum
hat das metallisclie Blei dadurch, dal) man es zu Kesseln und Trink-
geschirren verwendete, sehr oft zu Vergiftung geführt. Heute meidet
man Bleigeschirre, nur bleierne Wasserleitungsröhreii stehen noch wie
vor 2000 Jahren in Verwendung, allein von ihnen drolit wenig Ge-
fahr, weil die heutige Technik sie so herzustellen versieht, dal) kein
Blei gelöst wird. Ich habe dies in einem, für den tirolischeu LandeS'
Sanitätsrat erstatteten, veröffentlichten Fachgutachten näher ausgeführt').
Dagegen haben Bleiklmme^ Bleipapier, der BleHlbemig tob NIhaeidei
der Bleigehalt der Lettern nsw. zn Bleivergiftungen geführt
Die VecbindQngen dee Bleies sind alle giftig. Praktisch kommen
vorwiegend in Betracht: Das Bleiozyd (PbO) unter den Kamen
Bleiglätte, SilbeigUttte, Goldglfitte, Massicot, vielfach als Farbe ye^
wendet^ das Bleisnperoxyd (PbOi)^ welches in den letzten Jahren
in der Technik besonders ftr die HeiBtelhing von Akkumulatoren in
großen Mengen Verwendung findet und somit Anlaß zn Veigiftnngen
gibt, die als lote Malerfarbe bekannte Memuge oder Pariser Kot (Pbt04)y
das Bleiksrbonat (PbCOs), welches als basische Verbindung unter
dem Xamen Cerussa, Blei weiß, eine ausgedehnte Verwendung als
weiße Farbe hat. Kreraserweiß, Perlweiß, Hamburger-, Venetianerweiß
sind sämtlich bleiweißhalti^« Farben. Endlich wären noch Blei-
zucker, d. i. essigsaures Bleioxyd, und Bleiessig, ein basisches
Bleiacetat, zn nennen.
Akut tödlich verlaufende Bleivergiftungen sind recht große Selten-
heiten wohl schon deswegen, weil im Vergleich zu andern Giften
große Mengen dazu g«'hören, um einen Menschen oder ein Haustier
zu töten. Es werden in der Literatur 20 g Bleiessig, über 25 g
Bleiweiß und über 50 g Bleizucker als tötliche Gaben für den
Menschen angegeben, wobei wohl henierkt werden muß, daß viel
größere Mengen schon genommen wurden, ohne den Tod zu
erzeugen.
Ii Kratter, Über die Venvendbarkelt verzinkter Eisen- und veiziimter
BleirOhreu fQr Wasserleitungen. Der österr. Sanitfitsbeamte. 1SS9. ür. 6.
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156
IIL Kr^ttkb
Es ontatebt bei der Kinvcrleibuiif: größerer Gaben zunächst eine
in der Ke^el nicht tödlich verlaufende akute Bleiintoxikation,
deren vorwiegende Symptome in Metallg:e8cbniack, SjUMchelfiiiß,
lirennen, Würgen, Erbreclien, Magenkrämpfen, Kolik und blutigem
Durchfall, raancbnial auch Verstopfung, dann Schwindel, Kopfschmerz,
Mattigkeit, Uneinpfmdlichkeit, schlielilicb BewulUlosigkeit und
Krämpfen bestehen. Tritt nicht akut innerhalb von 1 — 2 Tagen der
Tod ein, so entwickelt sich nach einiger Zeit das typische Bild der
chronischen Bleivergiftung.
Diese Erscheinung, nämlich Ausgang der akatm Vergiftong in
chronische, auch dann, wenn nur eine einmalige EnireridbiiiMC statt-
hatte, teilt du Blei mit dem Anen, dem es fiberiumpt tozikologisdi
naheiteht Wie naeh einem mißlungenen SdbstmoidTerench dnioh
Anen, und zwar ent wochenlang naeh aeheinbaier Genesung das
Bohwere KiankheitBbild des chronischen Arsenidsrnns, das man auch
als Tabes anenicalis beieichnet ha^ sich entwickdn kann, nm dann
monatetanges, wenn nicht immerwährendes Sieohtnm an enengen<),
so endet eine nicht tödliche ahnte Bldyergiftnng wohl ansnahmdoe
nach einem kurzen Intenrall scheinbarer Geneanng mit der ohnmisolien
Vergiftung, die sdbst wieder dne Lebenagefishr bedeutet Man wird
meiner Hdnung nach mitunter nach einem halben Jabre noch nicht
doher bestimmen können, ob ein solcher Mensch nicht etwa doeh
noch an den Folgen der Vergiftung zugrunde ireht.
Von den typischen Störungen, die im Verlaufe der chronischen
Bldvergiftong auftreten, hebe ich nur den Bleisaum, die Gdbsnobt
(Icterus satuminus), die Anämie und den recht oft progressiveD
Marasmus als Störungen des allgemeinen Befindens hervor. Charak-
terisch sind gewisse Empfindun^sstörungen, die als Bleikolik, Glieder-
schmer/, Amblyopie und Amaurose (Unempfindliehkeit der Netzhaut)
in die Erscheinung treten, sowie die bekannten Bleilähmungen. Es
kann endlich sogar zur Entwicklung von Geistesstörungen kommen;
ein nicht seltener Ausgang ist Schrumpfniere.
Fast alles das konnten wir in einem Straffalle aus neuerer Zeit
beobachten.
Der Anstreicher Johann L. in Wildon bei Graz suchte sich seiner
1) Einen Fall dieser Art habe ich vor ndir als 20 Jahren beobaditet Ein
Baner vmi der Spnushgreiiie hatte aidaidü causa ein Stfiok gelben Ancnik ge*
nommen. Er Qbersrantl die akute Vcr^^ftung und fing wieder zu arbeiten an.
Nach einif^en Wochen stellten sich I<,rihniunjron aller Extremitäten ein und 3 Monate
später bot er uocli daa kiaasiäche Bild der typischen Arsonlähuiungen. £r genas
später vollständig.
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Eifahmiigai über didge widitige Gifte und deren Kachwtie.
167
alternden Ehegattin am so mehr zu entledigen, als er in leidenschaft-
licher Liebe zu einer jungen Frauensperson entbrannt war, die für
ihn nur durch die Ehe errciclibar schien. Er niisclite daher wieder-
holt Bleiweil^, in dessen Besitze er sich natürlich befand, den Speisen
bei, welche seine Frau :;enoß. Es ließen sich mehrere solche Attacken
durch plötzlich auftretende akutf \'er^ftungserscheinungen nachweisen.
Endlich zeigte sich das unverkennbare Bild der chronischen Blei-
vergiftung. Die Kranke wurde nun nach Graz auf die KHnik ge-
bracht, wo sie monatelang Gegenstand ärztlicher Beol)achtung und
wiederholter gerichtsärztlicher Untensuciiung war. Fast ein halljes
Jahr nach dem Auftreten der ersten Vergiftungserscheinungen konnten
wir erst ein Gutachten erstatten, welches, obschon auch jetzt die
Möglichkeit eines tödlichen Ausganges nicht sicher auszuschließen war,
doch als Grandlage für die Anklage auf versuchten Meuchelmoid
dienen konnte.
Eb gipfelte in den im Texte eingebend begründeten SdünfiBStKen:
1. Marie L. ist an cbromscher Bleivergiftung schwer erkrankt
2. Diese Veigiftnng ist yeranlafit dnreh bltobstwahrsoheinliob
wiederholte Einyeileibnng einer BlelTerbindmig in der Zeit wenige
Wochen Tor dem 81. Angnst bis zum 13. September (1900).
3. Das im MUchtopf (ans dem M. L. trank) nnd im Besitse des
Job. Lb gefundene Bleiweiß ist bierfflr vollkommen geeignet nnd
konnte auch den Tod der Marie L. herbeiführen.
4. Die dadurch bewirkte Erkrankung der M. L. ist einer an
sieb schweren und lebensgefährlichen Verletsong mit Folgen Yon weit
mehr als 30 Tagen gleichzustellen.
5. Die Erkrankung wird, wenn sie nicht noch tddlicb ende^
jedenfalls immerwährendes Siechtum zur Folge haben.
Über den chemischen Nachweis des Bleies eine Bemerkung zu
machen, sehe ich mich nicht veranlaßt. Es ist in Organen und Aus-
wurfstoffen nach Zerstörung der organischen Substanzen auf dem
Wege des sehulgemäHen Ganges der znsammengeBetzteu Analyse
jederzeit sicher aufzufinden.
1? Kupfer.
Auch die Gifte unterliegen im Wechsel der Zeiten der Mode.
Sie tauchen auf, verbreiten sich, erfreuen sich einige Zeit einer
großen Beliebtheit, um dann der Vergessenheit anheimzufallen und
anderen Volksgiften Platz zu machen. Nur Heroen unter denselben,
wie das wegen seiner Eignung für kriminelle Zwecke noch nicht
übertroffene Arsen, überdauern die Jahrhunderte.
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168
IlL KiunsR
Plia8|)hor ist eine Mode^nft oder weni^tens auf dem besten
We^e, es zu werden, seine Beliebtheit nimmt noch ininier zu —
Kupfer war ein solches, wenif^^tens in einigen Ländern, heute hat es
seine Rolle fast ausgespielt, wennj^leich auch in neuerer Zeit hie und
da einzelne Kii))fervcrp:iftunf^en vorgekommen sind'). In der ersten
llälfte des aijgelaufenen Jahrhunderts war es in Frankreich ein viel-
verwendetes Volksgift. Nach Tardieu kamen dort unter 617 ver-
brecherischen Vergiftungen in den Jahren 1S57— 62 11 ü Kupfer-
yergiftnngen vor nnd auch Orfila teilt in seinem klassischen Lehr-
buch der Toxikologie (deiitMhTon Krupp, Braonaehweig 1854)
Kiohe KasuBtik mit
Beines Kupfer ist ungiftig; als Gifte wirken nur seine Sabe,
Yoian der bekannte Kupfervitriol « aehwefelsanies Kupferozjd und
der Grünspan -»essigsanres Kupferoxjd. Die anderan Kupfenalse,
die &st nur Laboratoriumsartikel sind, dürften gar kerne piaktisehe
Bedeutung haben. Der unzweifelhafte Bflckgang der Knpferrer-
giftungen ist um so aufflOliger, ab heute Kupfdnalae, namentlich der
Vitriol, ausgedehnte Verbreitung in der Landwirtschaft finden. Es
koimte uns daher gar nicht wundem, wenn sich unter den uns cur
UntersnohuDg übermittelten yerdftchtigen Gcgcoatinden, welche in
Häusern gefunden wurden, öfters größere Mengen von Kupfervitriol
befanden. Man staunt nur darüber, daß trotzdem das Volk nicht zu
diesem Gifte greift. Die giftigen Eigenschaften des Körpers sind ihm
Tollbewußt
• Ich glaube der Verwendung der Kupfersalze für kriminelle
Zwecke und auch als Selbstmordmittel stehen zwei Dinge im Wege:
Die auffällijire Farbe Tsie sind sämtlich dunkelblau oder grünblau),
die eine heimliche Beibrinjning unmö^rlich macht und die g:eringe
Giftif^keit j;t'i^enüber von Phosphor und Arsen. Phosphor ist fast
lOOl) mal, Arsenik etwa 100 mal giftiger wie ein Kupfersalz. 10 — 20 g
Kupfervitriol töten einen Menschen viel weniger sicher als 0,1 — 0,2 g
arsenige Säure oder O.of) g Phosphor.
Ich hätte daher wegen der geringen praktisch-toxikologischen Be-
deutung des Kupfers in der Gegenwart hier gar nicht davon ge-
sprochen, wenn ich nicht doch einige mir nicht ganz belanglos
erseliL'inende Beobachtungen mitzuteilen hätte.
Eine ganze Ileihe besonders schön grüner Farben, die ver-
schiedene Bezeichnungen tragen, wie Schweinfurtergrün, Parisergrün,
1) rii<T '! Fälle tödlicher Kupferver;rirrnn^ in neupr Zeit berichtet Stefan
V. Horuszkiewicz uuü dem Krakauer gerichtsürzUichca luacituu Viurteljahreschr.
f. ger. Med. S-FolgOi 25. Bd. 1903. l.HofL S. 1.
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ErfdiraBgeii Qb«r «inig» nicfatife Gifte und dfinn Ntdiweia. 159
Hitie^ün, Kaiserin u. a. sind teils reine Knjifersalze der arsenigen
Säure (Kupferarsenit) oder Oemenj^e von Kuj)ferarsenit mit Orün-
span (Kupferacotat I. Dio^;o sind selir liofti^ wirkende Gifte und als
Farben leicht erhältlich. Ihre Gifti^jkeit ist be kannt. Schweinfurler-
grün wird daher auch als Ratteni,Mft verwendet. Diese giftigen
Farben, die früher auch noch häufi;[rer wie gegenwärtig zum Ziinnier-
anstrich, zur Herstellung von Tapeten, zur F'ärbung von KKider-
stoffen u. dgl. verwendet wurden, haben wiederholt zu ökunoniischen
und gewerblichen Vergiftungen geführt: sie wurden und werden aber
auch zu SelbstvergiftUDgen und sogar zu kriminellen Vergiftungen
verwendet.
Sie erzeugen allerdings keine reine Knpfervergiftung, ihre große
Gefährlichkeit liegt vielmehr im Arsen. Wir haben dann eine Abart
der ArseiiikTergiftiuig vor mtB^ wobei dem Kupfer ebe iinteigeordnete
Bolle zukommt Die grfine Farbe des Erbrochenen nnd der Stnhl-
enfleernngen l&ßt die Schweinforteigrfln-Vergiftang leicht erkennen. Im
letzten Jahrzehnt hatte ich zwei Selbstmorde dieser Art zu beobachten
Gelegenhttt In dem einen Falle, der am dritten Tage tOdÜch endetei
fanden sich noch als diag^nostisch entscheidende Merkmale dieser
Yergiftnng grttngefifarbte Scbleimmaasen im Didtdarm vor, während
der Magen und die dünnen Gedärme das gewöhnliche Bild der akuten
Gastroenteritis arsenicalis darboten.
Kupfer ist in Leichenteilen und allen sonstigen Objekten beim
üblichen Untersnchnngsgange auf Minenügifte sicher und auch noch
in Spuren nachweisbar. Gerade den Spuren Yon Kupfer möchte
ich noch ein Wort widmen. Uns ist es schon seit langer Zeit auf-
gefallen, daß man solchen bei der Untersuchung von Leichenteilen
recht häufig begegnet. Wir fanden sie neben anderen Giften und
auch, wenn sonst kein (üfl vorhanden war. Fast regelmäßig ist
eine Spur von Kujjfer in der lieber vorhanden. Es sind zu-
meist nur unwägbare Mengen. In spät exhumierten I^ichenteih-n
(Ausgrabung nach .lahreni haben wir schon öfters auch eine grrdiere
Menge vorgefunden. Im letzteren Falle liegt eine meist leicht nach-
weisbare \'erunreinigung vor. Das Kupfer ist beim Zerfall des
Leichnams von aulien in die Organe gelangt. Seine Quelle sind die
Messingkreuze, Rosenkranzdrähte, Knüpfe u. dgl., deren Reste wir
wiederholt in dem zur rntersuchung vorliegenden Organbrei auf-
gefunden haben. Dal» dieser Befund einmal eine falsche Deutung im
Sinne einer vorliegenden Vergiftung fände, ist zwar nicht leicht an-
zunehmen, gleichwohl glaubte ich meine bezüglichen Erfabrungcn
aor Warnung mitteilen an sollen.
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160 IIL Kbatteb, Erfahmngen Über einige wichtige Gifte und deren Nadiwda.
Sclnveror verständlich erscheint das sonst regelniäßip^e Vorkommen
von Kupfrrsiiiiren in der I^her auch von frischen Leichen. Diese
wird allerdinf^s niemand als Uewcis einer Verf^iftiing ansprechen, da
doch die ersten We^a' davon frei sind. Es entsteht aber frleiclnvoiil
die Fraj^e, woher die Spuren stammen V Die Antwort lie^t auch
ganz nahe. Erwiesenermaßen führen wir uns Spuren von Kupfer
sozusagen regelmäßig, jedenfalls aber sehr häufig zu. Kupferspuren
enthalten sehr viele Pflanzen, darnnter die Gerealien, deren HaU-
Produkte wir im tSglicben Brot und andenn Spdaoi genießen. Die
Pflanzen beziehen das Enpfer ans dem Boden, in dem ee weit yer*
breitet vorkommt Auch Fleisch und Blut mancher Tiere wurde
knpferhaltig gründen. Die Kupfenalze finden auagebreitete Ver*
Waldung zur kflnstlichen Kupferung von Nahrungs- und GenoS*
mittein und als Bekämpfnngsmittel pflanzlioher Paiasiten, namentlieli
jener der Weinreben. So kommt Kupfer audi in den Wein. Au
der noch immer vorkommenden Verwendung kupferner Eochgeschine
entspringt eine wettere Möglichkeit der Aufnahme ron Kupier in
unseren KOrper*). Die Leber ist das Organ, wo dem Körper fremde
Substanzen vornehmlich deponiert und aufgespeichoi werden, bis ne
durch die Galle wieder allmählich zur Ausscheidung gelangen.
Angesichts aller dieser Tatsachen ist es nicht zu verwandern,
wenn wir Kupferspuren in der Leber bei unseren forensischen Unter
Buchnngen geradem regelmäßig begegnen. Wir bestätigen damit nnr
eine alte Erfahrung von Gerichtschemikem und Toxikologen^, die
SonnoiT^chein^) in den Satz gefaßt hat: „Ich habe fast bei jeder
Untersuch unfj von I>eichenteilen Spuren von Kupfer gefunden,'^ und
wir können mit Tschirch') uns nur wundern, daß bei dieser Lsge
der i>acbe unsere Leber nicht mehr Kupfer enthält
1) K ratter, Über die Zoliasigkeit kupferner KoehkeeeeL Der fStttm.
Sanitätsbeamte. 1689. Nr. 7.
2) Sarzcan war dor erste, welcher das Vorhan<len>ioin von Kupfer in
gewissen Vegetabilien und im Blute positiv behauptete (1>30). Seither ist die^o
TVUBaclie zwar wiederholt bestritteu (Flandin, Danger u. a.) aber auch
fanmer wieder vielieitig bestitlgt wordeo (vgl. Orf ila, Ldubnch der Tojdkologiek
1854 und Taylor, Die Oifte. Deutsch von Soydeier. Köln 1862).
8) Sonnenschein, Ihuuiburli d. ger. Chemie. ISfil). S. '^5.
4) Tschirch, Das Kupfer vom Standpunkte <ler ^'■ericlitlicheu Chemie,
Toxikologie und Hygiene. Stuttgart 1893. Dazu meine kritische Besprechung
in fHener kifai. Wocbenaehr. 189S.
(Fortsetzung über organische Gifte folgt.)
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IV.
Ein Beitrag zar Kasuistik der ScblaftraakeDheit.
Von
Dr. XaekowItB in Inmbnidc.
In (las Kapitel der für den Kriminalisten und Psychiater gleich
wichtigen transitorischen Bewußtseinsstürangen gehört auch der Zu-
stand der Sclilaftrunkenheit oder Somnolenz. Man be^^reift darunter
den eigentümlichen Uber^nf;: zwischen Schlafen und Wachen, ^welcher
entsteht, wenn, statt dali wie beim normalen Erwachen das Selbst-
bewußtsein und die davon abhün^nj^'e Hesonnenheit sofort wiederkehren,
durch aus dem Traundeben herübergenonunene Traumvorstellun^^en
und Sinnestäuschungen oder durch verfälschte Apperzeptionen aus der,
noch nicht zum Bewußtsein ^ekoniiiienen realen Welt die Wieder-
gewinnung des Selbstbewußtseins und der Besonnenheit verzögert
wird*"
Als besonders wicliti«;e Merkiiuile führt K raf ft-EI)ing in der
zitierten Schrift an, dal» dieser Zustaiul stets nur kurze Zeit, höchstens
einige Minuten andauert, daß die Erinnerung an die Erlebnisse während
der Schlaftrunkenheit sehr summarisch zu sein pflegt und nur den
subjektiven Inhalt des Traumbewußtseins, nicht aber den objektiven
Sachyerhnlt in sich begidft Als Yoibedingungen gelten in erster
Linie abnormal tiefer Seblaf (der z. B. doreh yomngegangene Strapazen
oder lange Entbebrong des Schlafes yenusacht sein kann) femer rech-
licher Alkohol- oder Speisengenuß, fremde Umgebung, plötzliches
Erwachen zu ungewohnter Zeit; eine gewisse indiyidnelle ]>isp06ition
sowohl des einzelnen Individuums als auch ganzer Familien dürfte
nach den bisher gemachten Beobachtungen durchaus nicht von der
Hand zu wdsen sein« Die wichtigste Bolle spielen aber jedenfolls
die Traumvorstellungen, welche den Scblüfer zuletzt umfangen
hidteui und mit denen er, halb erwacht, seine Umgebung yerknttpfl^
Ij Kruf ft-Ebiu|;, Eiu Beitrag zur Licbre vom trauöituriäcUcu irrcsdn.
Erhuigcn 1868. & 7.
AieUr fb Kiteinalantiitofologi«. XIII. 11
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162
IV. V. MACKOwnt
ohne dal) irgendeine korrigierende Aktion des Denkens i)latz^reifen
könnte, sei es nun, dali leldiafte Traumbilder das spontane Aufsehrecken
erzeupMi, sei es, daß die unvermittelte, von außen bewirkte Unter-
brechung des Schlafes zufälHj; in eine Keilie vorüberziehender Trauiii-
vorstelluHfren fällt, oder sei es endlieii, daß, wie meistens, der Traum
erst durch die weckende Tatsache ausgelöst wird.
Diese kritiklose Verbindung der noch nicht völlig entschwundeneo
Traumbilder und der pliStztieli anftsnohoDden äußeren Sianeawahr-
nehmimgeii zeigt rieh nicht selten in wbieii Beden oder in feßex-
artigen Handlangen, die im Momente des Erwachens gesetzt, und falls
Überhaupt eine Erinnerung an rie flbrig bleibt, sofort als mdersinnig
empfunden werden, sobald der ransdiartige DImmeiznstand verklingt,
die Beminiszenz an die Traumrorstellungen sich veifiachtigt und das
Bewußtsein der Persönlichkeit mit ihren Beziehungen zur Umgebung
vollständig erwacht ist Auf solche Art erklärt es rieh, wenn ein
plßtzlich Erweckter Personen, die neben seinem Lager stehen, ver-
kennt, in scheinbar wachem Zustand sinnloses Zeug schwatst, mit den
Zeichen heftigster Erregung einen ihm erreichbaren Gegenstand ao
rieh rrißt oder beiseite wirft und ähnliche ungefilhrliche Handlungen
unt^immt; auf dieselbe Grundlage ist es aber auch zurückzufuhren,
wenn der Schlaftrunkene einen vermeintlichen Angriff mit Notwehr-
handlungen beantwortet und hierbei einen zufällig in seiner Kähe be-
findUcben Menschen verletzt oder tötet.
Wie Hoc he') hervorhebt, befaßt sich hauptsächlich die ältere
Literatur mit der Kasuistik von objektiv strafl)aren Handlungen,
welche im Zn-^tand der Schlaftrunkenheit bej^angen wurden und es ist
d»'r modernen Forschung: ircwiß ohne weiteres einzuräumen, dal» gar
niancher von diesen Fällen von der heutigen Wissenschaft in das
Gebiet der epileptisclitn Krankheitsforiuen gewiesen würde; kurze,
sich in wirren Reden (»der Ansätzen zu Handlungen ersehöj)fende
Schlaftrunkenheit ist aber im täglichen I>el)cn so häufig zu beobachten,
daß man mit der Möglichkeit folgenschweren aktiven Vorgehens um
so eher wird rechnen müssen, als es sich hierbei nur um graduelle
Unterschiede, um anscheinend kleine Zeitiutervalle, um mehr oder
1) Uuudbucli der geridltlichou T«^ chiutriu. iicrausgcgcbcu vou A. Uoche.
llinchwald, Beriin 1901. S. 474 fr.
2) IHese ist zusammengestellt in Krafit-Ebing op. dt S. 5 und in desselben
Verfassers „Lehrbuch der gerichtlichen Fsj-chopathologie". Eiike, J^tuttjrart 1900.
tj. v^l. aus »Ion angeführten Schriften, insbesondere K rn gel st ei n , Iber
ilie im Zustand der Sclilaftrunkeuhcit vcrübtcu Gewalttätigkeiten, llenkes Zeit-
schrift für Staatsaraneikttnde. ISäS. 65. Bd. S. 183 u. 4a4.
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Ein Beitrag zur KasniBtik der Schlaltninkenhelt.
168
minder tiefen Schlaf, um die Beschaffenheit der Traumvorstellun^en und
um die stärker oder geringer ausgesprochene Neigung einzelner Per-
sonen zur impulsiven Reaktion auf tätliche oder wörtliche Angriffe
handelt.
Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, verdient die SchUiftruiiken-
heit nocli immer das Interesse des Kriminalisten und jeder forensische
Fall, der möglicherweise darauf zuriick/uführen ist, {genaueste Unter-
suchung durch psychiatrische Sacln crständige.
Die Schwierigkeiten, mit denen Kichter und ärztliche Experten
hier zu kämpfen haben, liegen einersi its gerade in den charakteristischen
Merkmalen des Zustande» — Kürze der Zeit, Aufhebung der Er-
innerung. Mangel an objektiven Symptomen — andererseits iui berech-
tigten Mißtrauen, mit dem man einer darauf abzielenden Verantwurtunu:
entgegentritt. Krafft-Ebing weist die ärztlichen Sachverständigen
hauptsächlich auf die nachfolgenden Punkte, um die sich die Unter-
audiung zu drehen bat:
a) beEflglicfa der IndividnalüBt: ob ähnfiebe ZustSnde oder ab-
normale Kenrenenebeinungen beim Exploranden oder in dessen
Familie beobachtet wurden und ob die Vorbedingungen fQr die Scbhif-
trnnkenheit vorliegen;
b) bezüglich der Zeit: wie lange der scblaftmnkene Zustand
dauerte und ob die Tat in die Zeit des gewShnliohen Schlafes fiel;
c) ob die Tat den Obaiakter einer unbewußten, zufälligen an
sich trägt;
d) ob sie unmittelbar in den Moment des Erwachens oder Erweckt-
werdens fällt, oder ob zwischen Erwachen und Tat Umstände kon-
stantierbar sind, die das Wiederkehren des Selbstbewußtseins, — damit
aber auch das Nichtvorhandensein der Schlaftrunkenheit beweisen, —
endlich ^velchen Zeitraum und welche Punkte die Erinnerung umfaßt.
Die Beantwortung der Frage, wie sich dieser Zustand entwickelt,
die Analyse seiner einzelnen Phasen, seines Zusammenhängens mit
dem gesamten Geistesleben eines Individuums, muß dem Psychiater
und dem Psychologen überlassen bleiben; zweifellos steht fest, daß
während des Andauerns der Schlaftrunkenheit der hievon Befallene in
seinen Beziehungen zur Aur)enwelt i^estürt und seines Sell)stl)ewußt.seins
beraubt ist, daß auf die Tat weder trt.'ibcnde nocli hemmende Momente
einwirken können, welche unter normalen Verhältnissen die Hand-
lunj^'en bestimmen. Hiermit ist aber für den praktischen Juristen be-
reits die Bedeutung dieses Zustandes gekennzeichnet: lautet nämhch
das ärztliche Gutachten dahin, daß eine inkriminierte Handlung in
Schlaftrunkenheit begangen wurde und vermag der erkennende liichter
164
IV. T. UACKOWm
dieser Ansicht beizupflicliten, so ergibt sieb für ihn die Konsequenz,
diese Tat deshalh für straflos zu erklären, weil sie „in einer Sinnes-
verwirrung, in welcher der Täter sich seiner Ilandlung nicht bewuüt
war, begangen worden ist'' (§ 2c österr. St.-G.), bezw. „weil sieb der
Täter zur Zeit der Begehung der Handlung in einem Zustand von
Bewußtlosigkeit befand (§ 51 deutsch. St.-G.-B.). In analoger Weise,
nämlich aus dem Gesicbtspunkt der Bewußtlosigkeit, muß die Som-
nolenz auch nach anderen europäischen Strafgesetzen als Strafans-
aobließnngsgrund aagesdiflii weidfln (Art 71. belg. St-0. Art 41
bnlgar. St-6. § 38 dimBcb. St-G. Art. 64 tens. St-G. f 4€f itaL
St-G. § 44 norweg. Eotwuft Art 43 port St-G. $ 5 aehwed.
St-G. Art 11 des sehweis. Eotwnrf 1896. § 78 imgar. St-G.)*)
Der Fall» welcher nach diesem knizen Überblick über die Grund-
zfige der Lehre Ton der Schlaftrunkenheit nnd ihre Bedentong für die
StruQnBliB enShU werden soll, spielte sich im Gebiete eines Mndlichen
tiroler Besirksgerichtes ab nnd dfirfte fttr die Kasuistik der Sonmolens
yon Wert ma^ weoni^eich das YeMm des Bescfauldigton viel zu
wenig erhoben und die lYage der Schlaftrunkenheit Überhaupt nicht
gestreift wurde.
Am Sonntag 1 7. November 1901 TOrmitlags begab sich der 41 Jahre
alte, ledige Tischler Johann T. von seinem Wohnorte N. nach dem
etliche Stunden entfernten T^, woselbst er Geschäfte zu besorgen hatte;
teils bei Bekannten, teils in Gasthäusern trank er bis gegen 7 Uhr
abends zirka 2 oder 2 72 Liter Wein und war infolgedessen ziemlich
angeheitert. Im Gasthaus, in welchem er sich zuletzt befand, geriet
er mit ihm unbekannten Bauemburschen in Streit, erhielt von ihnen
Schläge und wurde endlich zur Tür der Wirtsstube hinausgeworfen,
bei welchem Anlaß er einige leichte Verletzungen im Gesicht davon-
trug. Der Wirt l)esori:tp eine Wiederholung der Rauferei und führte
deshalb den T., der ohnedies im Gasthaus zu übernachten gedachte,
in ein Zimmer des oberen Stockwerkes, iu welchem zwei Betten
standen. I ber die erlittenen Mißhandlungen aufgebracht, fügte er
sich nur widerwillig dieser Maliregel, beruhigte sich aber auf Zureden
des Wirtes, zog einen Teil der Kleider ab und legte sich zu Bett.
Als der Wirt etwa eine Viertelstunde später nachschaute, hatte T. das
Licht bereits gelöscht und war eingeschlafen.
Zwei Stunden nachher, etwa um 9 oder ' jlO Uhr wies mao
einen italienischen Arbeiter, der sich schon seit langen Jahren im
Orte aufhielt, dem T. aber ganz unbekannt war, in dasselbe Zimmer
1) ZusammenstelluBg der bezQglicben Gesetzestexte siebe Hocbe op.cit ShTSff.
I
Diyilizua by GoOgle
Ein Beitng znr Kuubtik der Soblaftmnkeoheit
165
zum Schlafen, doch wurde er nur bis zur Tür begleitet, weshalb
nicht feststeht, ob T. sein Kommen wahrnahm. Gewiß ist, daß der
Italiener sich nicht in der Wirtsstube befand, als der Streit mit T. vor
sich ging. Einige Minuten später führte dann die Wirtin einen anderen
Gast zu Bett und ging bei dieser Gelegenheit an der Kammer des T.
vorüber; hierbei will sie gehört haben, daß drinnen gesprochen wurde,
vermag aber sicheres nicht zu behaupten, weil sie darauf nicht achtete
und weil gerade damals in der Nachbarschaft gelärmt und gesungen
wurde. Kaum hatte sie sich wieder ins Erdgeschoß verfügt, als T,
vom Gange des ersten Stockwerkes um Hilfe schrie und den hinauf-
eilenden Leuten ganz verwirrt zurief, er müsse ein Unglück ange-
richtet haben und kenne sich nicht mehr aus. Im Zimmer und zwar
auf dem nicht benutzten Bett lag rücklings, halb angekleidet, der
Italiener; er war tot und die Leiche wies an der linken Briistseite
eine Stichwunde auf. Spuren eines Kampfes fanden sich nicht, nur
lag das Nachtgeschirr, das unter dem Bette T.'s gestanden war, um-
gestürzt auf dem Boden und sein Inhalt hatte sicli über die Dielen
ergossen. T. selbst zeigte sich ganz vernichtet ; er beteuerte, er wisse
nicht, was vorgefallen sei, wie sich das Unglück habe zutragen
können; er schlug immer wieder die Hände vor den Kopf, begann
za wemea, kmefe an der Leidid niedw und ließ sieh dum willig
abführen.
Die gerichtliche Obduktion der Leiche ergab, daß gegen den Ge-
töteten Yon Yom ein Stich mit großer Kraft geführt wurde, der das
Herz durchbohrte und den Tod beinahe sofort zur Folge gehabt haben
mußte. BerdtB am Tage nach der Tat Uad das erste gerichtliche Verhdr
T.^ statt Er erzählte die Vorgeschichte ganz analog mit der gegebenen)
durch Zeugen erwiesenen Darstellung und fügte bei, er habe, nach-
dem er ins Schla&immer gekommen, das Kaohtgesohirr bentttz^ sich
dann halb entkleidet ins Bett gel^ und sei sofort eingeschlafen.
Plötzlich, 80 lautete seine weitere Erzählung, schreckte er auf; ein ihm
Unbekannter stand Tor seinem Bett, sprach etwas vom Nachtgeschirr,
das er ihm aufsetzen wolle und von einem Stuhl, mit dem er ihn
«nBChlagen werde. Zugleich hörte er vor dem Zimmer lärmen und
schreien und glaubte, die Burschen, die ihn früher in der Wirtsstube
mißhandelten, wollten eindringen, um ihm ein Leid anzutun ; im selben
Augenblick griff der Unbekannte nach einem Stuhl und nun sprang
T., in der Meinung es gelte einen Angriff abzuwehren, aus dem Bett,
riß sein Tascbenmosser aus dem llosensack und stach es dem Fremden
mit aller Wucht in den Leib. Dieser taumelte ächzend zum zweiten
Bett, sank rücklings hinein und blieb, nachdem er sich selbst das
DiyiliZüa by GoOgle
166
IV. If Acxowns
Messer aus der Wunde pezopen, liefen. Jetzt kam T. — nach seiner
Erzülilung — erst zu sich; er sah ein, daß die ^befürchteten Burschen
g&.r iiiclit in der Nähe waren, dal^ er sich we^^en ihres Lämiens ge-
täuscht hatte, er hemcrkte aber aucli mit Entsetzen, daß der ihm völlig
unbekannte vermeintHcbe An^rreifer bereits tot im Bette lag. Er eilte
sofort auf den Oanj;, rief Leute lierbei und benahm sich, wie der an
dieser Stelle wieder einsetzende Zeugenbeweis dartut, gleich eineoi^
der sich plötzlich vor etwas ganz Unfaßbares gestellt sieht.
Sei es nun, dal) dem Krliebungsrichter und den Uindärzten, die
als Sachverständige bei der Obduktion intervenierten, die Schlaf-
tniukenheit als ein die Strafbarkeit ausschließender Umstand weniger
geläufig war, sei es, daß sie die Notwendigkeit niebt für gegeben er-
achteten, den Fall von dieaem GemehtBpnnkt ans sa betiBohten, Tat-
sache iai^ daß das ganze Untennchnngsmaterial die Frage gar nicht
bertthrt T. blieb bei seiner Verantwortung, die darin gii)felt, er k(bmo
sich fttr seme Tat sdhat keine Bechenschalt geben, mdiTieite aber
die behauptete üncnrechnnngslfthigkeit anr Zeit der Handlung mit
der Beiansehnng infolge Genusses von alkoholischen GetrSnkeo, Ton
der er sich erst aas Schrecken Aber den Erfolg seines Voigeheas er-
nüchtert habe; parallel hiermit läuft der Gang der gerichtlichen Er-
hebungen; es wurde die Menge der genossenen Getränke festgestellt,
die Zeugen über den Eindruck yemommen, den ihnen T. vor und
nach dem Unglfick bezüglich seiner Trunkenheit machte und das Er-
gebnis schloß im Satz, der Beschuldigte sei am kritischen Abend und
zwar zur Zeit, als er ins Schlafzimmer geführt wurde^ ziemlich stark
angeheitert, aber durchaus nicht vollberauscht gewesen, habe sich
jedoch nach der Tat derart ernüchtert gezeigt, daß man an semer
Znrechnungsfähigkeit nicht zweifeln könne.
Auf Grund dieser Beweise erhob die Staatsanwaltschaft Anklage
wegen Verbrechens des Totschlages (§ 140 österr. St. G.\ indem sie
von der Annahme ausging, zwischen dem Beschuldigten und dem Ge-
töteten sei ein Streit entstanden, in dessen Verlauf T. zum Messer
griff. Ein Hauptargument in der staatsanwaltlichen Begründung lieferte
die Zeugenaussage der Wirtin, welche, wie schon erwähnt, sich zu
erinnern glaubte, im Zimmer des T. unmittelbar vor Bekanntwerden
des Unglücks sprechen gehtirt zu haben. Die über diese Anklage
anberaumte Verhandlung vor dem Schwurgericht lieferte keine neuen
wichtigen Momente; die Geschworenen waren in ihrem dunklen Drange
sich zwar nicht des recliteii Wegs bcwulU, aber doch davon über-
zeugt, dali etwas zugunstin des Angeklagten geschehen müsse. So
tällteu sie eiu Verdikt, demzufolge T. wegen Überschreitung der Not-
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Ein Beitrag snr KasuiBtik der SchlaftraDkenheit
167
wehr zu einer kurzen Aneatstrafe verurteilt wurde (| 2 Schlußsatz
bezw. § 335 ö. StG.)
Versuchen wir es nun, den darfrelegten F«ill für die Kasuistik
der Schlaftrunkenheit in Ansprucli zu nehmen, so hegegnen wir vor
allem doni üindernis, dal) das Vorleben des Rescliuldigten zu wenig
klarirt'leiit wurde. Es erscheint nur konstatiert, daFi er in früheren
Jahren einmal wegen ^^'a(•hebeleidigung und einmal wegen Bettel ab-
gestraft worden war; sein Leumund ist sonst ungetrübt, insbesondere
wird er als gutmütig und zu Gewaltakten nicht hinneigend geschildert;
in früheren Zeiten scheint er dem Alkohol gehuldigt zu haben und
stand vor einigen Jahren wegen eines Anfalles von Delirium tremens
in Spitalsbehandlung, er hat sich aber nach seiner Behauptung seit
der Zeit das übemiül>ige Trinken abgewöhnt. Über allfällige erbliche
Belastung sowie über seine Familie stehen leider keine Daten znr
Verfügung, doch gab er selbst an, nie krank gewesen zn sein; auf
Grund dessen wird man bezflgliefar der Epilepsie als erwiesen hin-
nehmen können, daß er offenbare klassische AnfSlle nicht mitgemacht
hat, weil solche Znstinde in der Ulndlichen Beyölkemng wegen ihres
plötzlichen Auftretens und wegen des tiefen Eindmokes, den sie
aof die Umgebung des Kranken zurücklassen, sehr bekannt und ge-
ffirohtet sind.
Sieht man aber yon diesem Mangel snbjektiTer Feststellnngen
ab, so zeigt sich eine ganze Reihe Ton Umstindea, die ein gewich-
tiges Wort ffir die Annahme sprechen, daß T. im Znslande der Som-
nolenz gehandelt habe. Zweifellos liegt alles das vor, was als Be-
dingung für das Auftreten der Schlaftninkenheit bereits angefahrt
wurde. Der Schlaf T:s dürfte etwa l'/i — 2 Stunden gedauert haben,
hatte also bezüglich seiner Tiefe den Kulminationspunkt erreicht und
war außerdem durch den vorangegangenen Alkoholgenub gefestigt.
Da es sehr unwahrscheinlich ist, daß der Italiener den T. absichtlich
geweckt habe, kann man wohl annehmen, er sei infolge des Ge-
räusches, das der Eintretende und sich Entkleidende verursachte, plötz-
lich erwacht: er sah sich in fremder Umgebung, bemerkte, daß ein
ihm völlig Unbekannter vor ihm stand — alles dies Momente, die
einem, aus tiefstem Schlaf Auftauchenden, vom Wein noch Ualb-
berauschten, die Orientierung ungemein erschweren.
In hohem Grade über die Mißhandlungen erregt, die ihm in der
Gaststube zugefügt wurden, hatte sich T. über Zureden des Wirtes
zu Bett gelegt. Nun, plötzlich'* erwachend und für den Augenblick
aulter Stande, die Beziehungen zur Außenwelt nach Zeit und Kaum
zu finden, hört er das Lärmen und Lachen in der Nachbarschaft (das
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168
IV. y. MioKOwnz
durch die Angabe der Wirtin erwiesen ist» und lokalisiert es fälsch-
lich auf den Ilaus^ng vor seine Zinimertür. Das können — so
knüpft sein Denken an die letzte Erinnerung vor dem Einschlafen an
— nur die Burschen sein, die ihn früher gesehlagen, die ihm jetzt
neuerdings ein Leid antun wollen und der vor ihm stehende Unbe-
kannte ist einer von ihnen; es gilt also, sich gegen einen ernsten An-
griff zu verteidigen, sich zu retten, ehe es zu spät wird: so geschiebt
das Unglück.
Während aber der tödlich Getroffene aufs Bett sinkt und stirbt,
hat sich der Täter zurecht gefunden; die Bahnen des Überlegens, des
richtigen Yerarbeitens äußerer Eindrücke sind jetzt wieder eingeschaltet
und entsetzt steht er vor „dem ünCsßbaieii*', wdl ihm nicht zam Be-
wußtsein kommt, daß er im DSmmenostand der Schlaitnmkenheit
Islseb apperzipiät, aber anf Gmnd falscher Appeneption folgerichtig
gehandelt bat — Es erfibrigt noch| den Hanptänwand sn entkiifiien,
der dieser Deduktion entgegensteht und den die Staatsanwaltschaft als
Hanptargnment für die Anklage ins Feld führt: den angeblichen Streit
swischen T. nnd dem Italiener. Der letztere hielt sieh, wie oben be-
merkt, schon Tide Jahre hmg in der Gegend an^ hatte infolgedessen
seine Muttersprache beinahe ganz yergessen, vermochte sich aber auch
im Deutschen kaum auszudrucken; er hatte aufierdem einen starken
Sprachfehler, welcher es auch den Leuten, die tagtfiglich mit ihm ver-
kehrten, nur schwer mOglich machte, ihn zu verstehen. Ist es schon
aus diesem Grande kaum anzunehmen, daß sich zwischen den beiden
in der kurzen Zeit ihres Beieinanderseins ein Streit entwickelt hätte,
so wird dies um so unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, daß der
Italiener ein gutmütiger Mensch war, der von allen wohl gelitten, mit
seiner ganzen Umgebung in Frieden gelebt hat. Möglich ist, daß er
sich zum Bette T/s begab und sich um das darunterstehende Xaeht-
gesehirf bückte, viclleieht hat er hierbei dem Erwachenden etwas zuge-
rufen, — fast sicher aber konnte dieser die lallenden I^ute des ihm
ganz Unbekannten nicht verstehen, sondern glaubte nur das heraus-
zuhören, was er, wie früher erzählt, vernommen haben will. Fehlt also
die Voraussetzung zu einem ernsten Streit, weil T. mit dem Italiener
gar nicht sprechen konnte, so vermilU man vollkommen das Motiv
zur Tat. Der Besehuldigte ist ein robuster starker Mann, der seines
waffenlosen schwächlichen Gegners leicht auf andere Weise Herr
geworden wäre, als durch einen blind gcfiiiirten Stieb, selbst wenn
man annehmen wollte, dali er wirklich mit einem Stuhl bedroht
worden sei. Was die Wirtin beim Vorübergehen an der Zimmertür
hörte, läßt sich nicht aufklären ; vielleicht sprach der Italiener, Wel-
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Ein Beitrag rar KaMistlk der ScUaftnmkenbeit
169
leicht redeto T. im Erwaclien, vielleicht beruhte ihre WaUmehmuog
überhaupt nur auf Täusch unir.
Die zwei wichtigsten Tunkte aber für die Annahme einer nicht
zuzurechnenden Handlung sind (»sychologischer Natur und liegen iu
der Verantwortung des Beschuldigten.
Wäre die Behauptung des Staatsanwaltes begründet, hätte es sich
wirklich um einen Streit zwischen T. und dem Italiener gehandelt,
warum beruft sich der Beschuldigte nicht darauf ? Es ist doch jeder-
mann, auch dem weltal)geschiedensten Bauern geläufig, daß die Not-
wehr erlaubt, daß Notwehrüberschreitungen unter Uniständen straflos
bleiben, die ganze Bevölkerung der Gegend, in der sich das Faktum
abspielte, weiß, daß die Geschworenen fast jeden von Schuld und
Strafe loszählen, der in etwas angeheitertem Zustand seinem angrei-
fenden Gegner eine besonden sehweie Veddttxsng beibringt, oder ihn
im Banlbandel tötet! Und T. war ja mit dem Fremden allein; er
bitte keinen Zeogen za fOrcbten bianchen, der TOrtritt nnd seine Be-
hauptung widerlegt, kein objektiTes Indiz wire zu finden gewesen,
das die Erzählung von Streit, Kampf nnd Notwehr absohwieht oder
entkrSfiet! Die Art nnd Wdse, in der sich T. Terteidigte^ ist aber
ganz anders. Während er den Leuten, die ihn gleich nach dem ün-
glflck zn sehen bekamen, mit keinem Worte von einem aggressiTcn
Vorgehen oder Yon Drohungen des Italieners enfthlte^ sondern sieh
daraitf beschränkte, immer aufs nene zn verBichem, er verstehe den
VorflBll nicht, schleicht sich in die gerichtlichen Verhöre die Andeu-
tung von Drohungen, von Anstalten zu einem Überfall ein; sie ist
aber so wenig präzis, beschränkt siel) so sehr auf die Angabe: «mir
kam vor" oder „ich glaubte'^ und dergl., daß man sie, abgesehen von
ihrer objektiven Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit, wohl zn
gleichen Teilen als das Ergebnis der unbewußt suggerierenden Ver-
börstechnik und der lückenhaften, stückweise aufd&mmem'den Er-
innerung an die Traumvorstellungen deuten muß, die zur kritischen
Zeit die Handlungen des Beschuldigten bestimmten. Gerade der Um-
stand, dal^ T. das Hilfsmittel, einen ernsten Streit für sich zu ver-
werten, unlicniitzt läßt, zeigt zur Evidenz, daß er, wie er stets beteuerte,
nur die Wahrheit sagen wollte, dal\ also ein Streit überhaupt gar
nicht stattfand, daher auch jeder Grund für die Tat fehlte.
Es versteht sieh von selbst, dal) ein Mann vom Bildungsniveau
des Beschuldigten nicht in der Lage ist, den Zustand, in den» er die
inkriminierte Handlung beging, als Schlaftrunkenheit zu bezeichnen
und (laß er infolgedessen auch unmöglich einzelne Details hiefür
namhaft machen oder dagegen sprechende entkräften kann, wie dies
DiyiliZüa by GoOgle
170
IV. V. MAcxowm
ja aa liäufif? von Pfrsonen versucht wird, die volle Berauschung' als
StrafmiSRclilienf^rund für sich in Anspruch nehmen wollen. Man kann
also unhesorgt an die Würdi};ung der subjektiven Indizien heran-
treten, ohne Gefahr zu laufen, einer (geschickten biniulatiou zum Opfer
zu fallen.
Treffender aber, als es T. getan, ist der Zustand der Schlaftrunken-
heit von einem ungebildeten Laien gar nicht mehr zu scbildem. Unter
dem enten tiefen EHndraek, den der Erfolg seiner Handlnngsweite
anf ihn machte^ Inßert er sich nur, er habe ein ünglttck angerichtet,
er kenne sich nicht mehr ans: kein Wort von einem Streit, keine
Silhe der ErklSnmg, was ihn snr nnseligen Tat bewogen — er kann
sie eben nicht erklSren; beim gmcfatKchen VerhSr gibt er an, er sei
erst zn sich gekommen, als der Italiener gerade gestorben war: mm
suchen Bichter und Beschnldigter nach dem Gnind, der den hiemit
behaupteten Zustand der UnrorecbnnngsGUiigkeit venusacht haben
könnte nnd einigen sich, dem Alkoholeuefi die Schuld tu geben.
Der angetretene Beweis der Voiltrunkenheit, — die T. emstlich nie-
mals behauptet hat, — mißlingt, wie vorauszusehen war, der Richter
hat das seinige getan, die Folgen muß der Beschuldigte trag^ Und
er nimmt sie auf sich, resigniert und wohl in der dumpfen Überzeugung,
einer so schweren Tat mttsse die gerichtliche Sühne folgen; ror
semem Gewissen aber ist er schuldlos nnd diesem Gefühl verleiht er
ehrlichen aber unbeholfenen Ausdruck: seine sich im Grunde stets
gleichbleibende Verteidigung will, ins Hochdeutsche übersetzt, nur
besagen, er habe die Selbstbestinimunf^ erst im Augenblick wieder-
< riaiigt, als das Unglück bereits geschehen war, die Tat selbst also
im bewußtlosen Zustand begangen.
Ich verkenne durchaus nicht, daß mein Versuch, den Fall T.
für die spärliche Kasuistik der Somnolenz zu retten, gar manche
Lücke aufweist, deren empfindlichste in der unzulänglichen Erhebung
der persönlichen und Familienverhältnisse des Beüchuhligten besteht;
es ist daher nur auf das lebhafteste zu bedauern, daß nicht auf der
Höhe der modernen Wissenschaft stehende Sachverständige in die
Lage kamen, die gerichtlichen Erhebungen ergänzen zu hissen und
ihr Gutachten darüber abzugeben, ob die behauptete Bewulklosigkcit
überhaupt anzunehmen und bejahendenfalls ob sie als Symptom irgend
eines krankhaften Zustandes zu deuten sei.
Eine vollkommen sdiliefiende Beweiskette wird sieh aber in keinem
derartigen Fall finden lassen, da es die Natur der Sache mit sich
bringt^ daß Zeugen beinahe nie TOthanden sind und in viel ausge-
sprochenerem Maße als sonst die rein snbjektiTen Empfindungen des
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Ein Bdtng cur Kuuittik der Sohlaftnmkeiiheit 171
Täters und seine darauf geg:ründeten Aussagen für das jrerielitsärzt-
liche Parese und für das richterliche Urteil verwendet werden müssen.
Jedocli auch dieses Material wird stets ein schwankendes sein, da
die Erinneruni; an die im halbwachen Zustand ausirelüsten Vorstel-
lungen, welche zum Teil in die Traumwelt zurückreichen, zum Teil
durch falsch aufgefaßte, zeitlich und rilundich nicht lokalisierte äußere
Eindrücke bedingt sind, jedenfalls nur dämmerhaft und verschleiert,
häufig aber ganz verblaJit und rudimentär erhalten bleibt. Mit mehr
oder minder empfindlichen Lücken muii daher jedes Gutachten über
Schlaftrunkenheit rechnen und es bedarf nur eines Blickes in die
zitierte Literatur, um die i berzt'Ugung wachzurufen, daß auch die
in den stets erwähnten Fällen „Schmidnuuzig ' und „Gutsbesitzer
B.*^ I) abgegebenen, in wichtigen Stücken auf Vermutungen aufge-
baut sind. Dem Gerichtsarzt, der einen aolchen Sinifbll zn benitalen
hat, Hegt ja aneh nicht die Finge mush einer «sakten klinischen
Diagnose vor, sondern et ist mehr als sonst nnr Eeiater des Bichters^
weil die Somnolenz in ihrer praktisoh-forensisehen Bedentnng in das
Gelnet fiUl^ das zur Hälfte wobl dem Pqrchiater, znr HSlfte aber
dem psychologisch gebildeten Juristen gehOrt.
Die moderne Wissenschaft ist bis heute nicht imstande gewesen^
die Gehdmnisse des Schlafes und Traumes zu durchdringen, alle
Faktoren, die hierba im Spiele sind, klar herauszuschfilen. Solange
aber diese Sohleier nicht vollstündig gelüftet sind — und bis dorthin
hat es noch gute Wege — solange also für alle, die an der Straf-
justiz mitwirken, auch auf diesem Gebiet der Satz Geltung hat, dal»
im Zweifel das Mildere anzunehmen sei, wird sich kein Sachversttn*
diger und kein Bichter besinnen, im einzelnen so seltenen Fall über
Beweislücken hinwegzugehen, wenn große Wahrscheinlichkeit für die
Straflosigkeit unter der Voraussetzung vorhanden ist, daß man den
durch nichts widerlegten Angaben des Beschuldigten Glauben schenkt;
ein Parere, das im Fall T. Schlaftrunkenheit konstatiert hätte, wäre
vor dem Richterstuhl strenger Wissenschaft nicht schwerer zu verant-
worten gewesen, als die Gutachten, die in den bisher Iteobachteten
Fällen abp^ej^eben wurden und von diesem Gesieiitspunkt aus darf
ich wohl auch die dargestellte Strafsache für die forensische Kasuistik
der Somnolenz ansprechen, da als Folire eines Fehlschlusses für uns
höchstens die Möglichkeit in Betracht kommen könnte, daü ein Schul-
diger der sühnenden Gerechtigkeit entgangen wäre.
1) Krafft-Ebing, Gciichtlicfae Psychopathologie. Beobachtung IST o. 1S8.
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V.
Der Nachweis der Gewerbs- oder Gewohnheitßmäfsigkeit
als TatbeBtandsmerkmal und zur ÜberffUming insbesoii-
dere des gewerbsmlfBigeii Spiders.
Landrichter BanlteMv iu Zwickau.
Wer ah Staatsanwalt Anklage zu erheben nnd au yertreten hat^
weis, wie sehwer oft der Beweis der Gewerbe- od« Gewohnheba-
mftlUgkeit in allen den nUlen zn fahren ist, in denen sie als Tat-
beBtandemerkmal erfordert wird.
Ganz besondere Schwierigkeiten aber bietet die Dnrehfahnmg
einer wegen gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Hehlerei erhobenen
Anklage, weil hier die Gerichte, da mildernde UmstSade ana-
gesobloflsen sind, die unvermeidliche Zuchthausstrafe nur dann ver^
hängen, wenn der Nachweis der Gewerbs- oder Gewolinheitsmäßig-
keit in dem Maße erbracht ist» daß die Anwendung dee § 260 StGB,
ttberhaupt nicht zu umgehen ist.
Für den zum Nachweise der Gewerbs- oder Gewohnheitsmaßig-
keit der Hehlerei erforderlichen Beweis, daß der Beschuldigte eine
auf einen in Verm<>.2-onsvorteiIen bestehenden fortgesetzten Erwerb
gerichtete Tätigkeit entwickelt hat, ist aber wertvoll, wenn möglichst
eine Mehrzahl von Fällen erwiesen wird, iu denen der Verdacht der
Hehlerei hervorgetreten ist.
Dieser Nachweis ist recht oft schwer zu führen.
Gewöhnlich liegt nämlich der Fall so, daß in Verbindung mit
der die Ilaupttat meldenden Anzeige auch die Beschuldigung der
Hehlerei erhoben worden ist, daß aber die eingeleiteten Ermitte-
lungen zwar Verdacht, aber keinen zur Überführung ausreichenden
Beweis für die Hehlerei erbracht haben.
In solchen Fällen wird dann wegen der Hehleret eingestellt oder
freigesprochen«
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Der Nachweis d. Gewert»»- od. GewohnheitarnUigkeit als TatbeBtandBmerknuü. 173
Das kanu sich öfters wiederholen, ohne daß Uberhaupt, obschon
eine Mehrzahl von Anzeijs^en einfacher Hehlerei vorgelegen haben,
der Verdacht gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger Hehlerei zum Aus-
drucke gebracht wird.
Die einziehenden Anzeigen werden nämlich in der Regel bei den
Staatöimwaltschaften unter die einzelnen Staatsanwälte nach Art der
Beschuldigung oder nach Buchstaben, und zwar dem Anfangsbuch-
staben des Namens des an erster Stelle Beadiuldigten , das ist aber
gewfliinfieli der der Hanpttat Besudiligte nnd nicht der Hehler, ver-
teilt und es ist deshalb echon Znfiül, wenn mehrere Anzeigen mit
gegen denselben Heblw erhobenen Beschuldigungen an denselben
Staatsanwalt gelangen, so daB nun auf diesem Wege bei der Staats-
anwaltschaft sich die Übenengnng bildet^ der mitbeschuldigte Hehler
sei yerdüehtigy die Hehlerei auch gewerbs- oder gewohnheitBm&ßig
zu betraben.
Es dürfte sich deshalb wohl empfehlen, die Staatsanwaltschaften
aazuwdBen, in allen den EUlen, wo der Verdacht der Hehlerei oder
überhaupt eines Verbieohens, bei dem Gewerbs- oder Gewohnheits-
mäßigkeit Tatbestandsmerkmal ist, gegeben erscheint, wenn es Han-
gels hinreichenden Beweises zur Einstellung des Verfahrens oder zur
Freisprechung gekommen ist und im übrigen der Fall auch dazu
ajigetan crsdieint, für die Bildung der Überzeugung von der Ge-
werbe- oder Gewohnheitsmäßigkeit in der Zukunft von Nutzen zu
sein, unter Bezugnahme auf die Tatsache der Einstellung oder Frei-
sprechung und unter Mitteilung des Aktenzeichens einer Zentralstelle,
vielleicht der Slrafregisterbehürde oder dem von mir an anderer
Stelle vorgej<ebla<^enen Fahndungsanitc Xacbriclit zu geben, so daß,
(lafern das später erforderlich werden sollte, von dieser Zentralstelle
aus ohne weiteres m Erfahrung zu bringen ist, ob, weslialb und wo
der Beschuldigte bereits im Verdachte der Verübung des Erbrechens
gestanden hat, wegen dessen seine abermalige Verfolgung eingeleitet
worden ist.
Die Notwendip:keit der Schaffung einer solchen Zentralstelle zur
Sammlung solcher Tatsachen ist mir klar zum Bewulttsein gekommen
gelegentlich der Erörterungen, die ich als Staatsanwalt gegen ge-
werbsmäßige Spieler zu führen hatte und die mir wegen des Mangels
dner solchen Zentrale ganz unendliche Mühe und aulierordentliche
Zeit gekostet haben.
In der Anzeige war GewerbsmftÜigkeit des Spiels zwar nicht be-
hauptet
Die Vergleichnng der Per85nlichkdten der beim Spiele Betroffenen
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174
legte aber nahe, daß allem Aiuoheuie naoh keine anderen Besieliitiigeii
wie die des Spiels sie susammengebracht hatten. Das leobtfertigle
eine genauere Prfifong deijenigen Peisönliehkeiten, die nioht als
völlig einwandsfrei ohne weiteres zu erkennen waren.
Die nach Ermittelnng ihres Geburtstags und Geburtsorts herbei*
gezogene Strafliste ergab bei einigen bereits Vorsizalen wegen ge-
werb8niäl>i<ren Gltteksspiels.
Die hierüber ergangenen, aus der Straf liste erkennbaren Vor-
akten schafften weiteres Belastungsmaterial, insofern aus ihnen zu
ersehen war, von welchen Polizeibehörden die Ahp^abe der Anzei<^
an die Staatsanwaltschaft seinerzeit erfolgt war und wer früher die
Mitspieler f^ewescn waren.
Mit IlerlH'izit'liung der Anzeigen, die das frühere Verfahren ver-
anlaßt hatten, gewann man aber auch Einblick in die Polizeiakten,
die eine reiche Fundirnilx' für weiteres Behistungsniaterial boten.
Zahlreiche Anfra^^tii aiidtrer Polizei- und Strafverfolgungs-
behörden lielten erki-nnen, daÜ auch in ihrem Bezirke der Beschul-
digte sich aufgehalten hatte oder in Untersuchung gewesen war.
Die nach den auf den Ersuchen zu lesenden Aktenzeichen darauf
herbeigezogenen Akten jener Behörden ergaben regelmäliig, daü die
Beschuldigten auch anderwärts gespielt hatten und deshalb in Unter-
suchung gewesen waren.
Aus den herbeigezogenen Akten der Strafvcrfolgungsbehördea
war dabei in ganz anfEsUend zahlreichen Fällen zu ersehen, daß die
emgeleiteie Untersnehung — die sieh allerdings nur auf die ErSrtenmg
der in der Anzeige mitgeteilten Tatsachen besohiSnkt hatte — offen-
bar eben nur deshalb erfolglos gewesen nnd die Oberf&hrung des
Spiels nieht gelungen war.
Ganz anffiUlig war aneb die ans der Vefg^eiehnng von Aktes
sieh ergebende Tsisaehe, daß Peisonen, die des gewerbsmiftigen
Spiels Yerdäehtig, frtther mit anderen Spielern in Untersoehong siek
befunden und nach , deren Abschluß die Stfitte ihrer bisherigen
Wirksamkeit verlassen hatten, dann an ihrem nenen Wohnsitze die
Schlepper für ihre dort als Spieler unbekannten früheren Genossen
geniaebt hatten, sofern sie sie in Kreise, zu denen sie selber Be-
ziehungen erlangt hatten und in denen g^gen sie kein Mißtrauen ge-
hegt wurde, einführten und zum Spiele zuzogen, wobei dann die von
auswärts (lekommenen, deren Eigenschaft als gewerbsmäßige Spieler
nicht bekannt war, Gelegenheit bekamen, unter der Maske harm-
loser, nur zum ^VT^mügen spielender Leute wieder vertrauensselige
Opfer zu plündern, um sich selbst so den Lebensunterhalt zu schaffen.
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Der NacbweiBfil OewerbB- od. GewohnheitsndUtigfcelt akTatbettandMiierkmal. 176
Unschätzbaren Stoff zur l'berfüliruni,' ])oten die so mühsam her-
beif^ezogenen Akten femer auch dadurcli, dal\ sich aus ihnen regel-
mäßig ein klares Bild der Entwicklung des Spielers zu solchem und
seiner Vermögens- und Erwerbsverhältnisse gewinnen ließ.
Ganz offenbar nur zur Versehieierung ihrer im Spielgewinne be-
stehenden Erwerbsciuelle hatten Spieler, die wegen gewerbsmäßigen
Spiels schon früher in Untersuchung gewesen waren und dabei als-
tiald erkannt hatten, wieviel Gewicht in ihr darauf gelegt wurde,
ihneii den Mangel einer ehrbaren Erweibsquelle oder einer geschäft-
lichen Tätigkeit nachzaweisen, ffir die Zukunft einem fibten Ausgange
einer UntenniohuDg dadurch yorznbeugen gesucht, daß sie irgendein
Gewerbe, einen Handel mit Zigarren, Futter, Juweton, Pferden oder
dergleichen sich zulegten, der gar nicht dm bestimmt war, ihnen
die liittel fSr ihren oder ihrer Familie Unterhalt zu schaffen, sondern
lediglich dazu dienen sollte^ den aus dem Sjnele gezogenen Gewinn
erforderliohenlalls als Gewinn aus einem soldien Handel hinzustellen.
Die sehr mtthsame Untersuchung, daß die Einnahmen der Be-
schuldigten im wesentlichen im Spielgewinne bestanden hatten und
die Beschuldigten durchaus nicht, wie sie Glauben machen wollten,
nur zum Vergnügen gespielt hatten, war, wie die Akten ergaben,
gegen diesdben Hcsrhuldigten an den verschiedensten Stellm und
fast durchweg erfolglos geführt worden un<l doch hätte, wenn der
einen Untersuchung führenden Steile die Ergebnisse der Untersuchung
der anderen bekannt gewesen wlie, recht wohl der Nachweis er-
bracht werden können, daü das angeblich vom Beschuldigten be-
triebene Gewerbe nicht seine wahre Erwerbs^juelle sein könne.
So war an verschiedenen Stellen derselbe Beweis mit großem
Aufwände von Mühe und Kosten und noch dazu erfolglos versucht
worden, weil an der einen Stelle zwar gelungen war. das Vorbringen
des Besciiuldigten über seine Erwerbsverhältnisse zu widerlegen, aber
der einzelne, zur Kenntnis der die Untersuchung führenden Behörde
gelangte Fall des Spiels im Mangel weiterer belastender Tatsachen
doch nicht zum Nachweise der Gewerbsmäßigkeit ausreichend er-
schien, während der anderen Stelle zwar eine Mehrzahl von Fällen
bekannt war, in denen der Beschuldigte gespielt hatte, aber von ihr
nicht hatte widerlegt werden können, daß der Beschuldigte nur zum
Vergnügen gespielt habe, auch gewerbsmäßiges Spiel nicht brauche,
weil er dnen ihn ausreichend nährenden Handel habe.
Würde in den Fällen, wo zwar der Verdacht einer Tat, die als
gewerbs- oder gewohnheitsmäßige unter besonderer Strafe steht, ge-
geben ist^ aber zur Überführung des Beschuldigten nicht gelangt wer-
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176 V. Hacssiieb, Der ^'acbwett <L Qewerbt- od. Gewohnheitamä^igkeit usw.
den konnte, von der erfol^^ten Einstellung des Verfahrens oder der
Freisprechung unter Mitteilung des Aktenzeichens einer Zentralstelle
Naobricht gegeben, so könnte die Strafverfolgungsbehörde dorcb ein
emmaliges, etwa in Fonn der StrafHsto ra erledigendes Erenchen alle
die Akten kennen lernen, ans denen de Tateaehen und Zengen er-
mitteln könnte^ die für den BeweiB der GewerbBmifiigkeit Ton Bedeu-
tung sind.
Damit würde mit weniger Mühe nnd Zeit eine adir wirksame
Waffe gewonnen werden gegen alle geweibe- nnd gewofanbeitemäßigen
Verbreoher, nnd inabesondere g^gen die Spieler, die in sahlreiehea
Untenmohnngen nicht nnr nidit ansreiehend Überführt werden, sondern
anch noch in ihnen lemeni wie sie der geseizliefaen Strafe entgdien
können.
Anch wttrde^ wenn wirklich lioti allem der Scbuldbeweia in der
einen Untersuchung nicht erbracht werden könnte, das in ihr gesam-
melte Material doch nicht yergeblioh snsammen getragen sein, sondern
in der Zukunft noch nutzbar gemacht werden können.
Dazu aber wird es regelmfißig kommen, denn kaum ein Verbrecher
wird 80 leicht rückfällig, wie der gewerbsmäßige Spieler.
Das kann nicht Wunder nehmen, denn das Spiel schafft ihm rei-
chen, mühelosen Gewinn und angenehmes I-.eben, selten aber Strafe^
da seine I berführung gewöhnlich selir sdiwer ist.
Nicht unerwähnt mag schlielHieh l)k'ihen, daß die Mehrzahl der
gewerbsniäbigen Spieler auch Falschspieler ist oder doch sonst unter
anständigen Spielern verpönter Nachhilfen sich bedient, um sieb den
Erfolg zu sichern.
Diese Mittel niuli alier eine gründliche Untersuchung in Erfahrung
zu bringen suchen, denn gelingt ihr Nachweis, dann kann der als
Falschspieler erkannte gewerbsmäßige Spieler auch wegen Hetrugs und
gegebenenfalls auch wegen Kückfallsbetrugs mit erheblich härteren
Strafen belegt werden, als sie § 284 St.-G.H. zuläßt.
Solche Spielerkniffe und betrügerischen Handlungen sind oft schon
Gegenstand der Erörterung gewesen, und hat man sie aus den über
den Beschuldigten ergangenen Vorakten in Erfahrung gebracht, so
kann man bei der Untersuchung sie stets mit im Auge behalten.
Dadurch gewinnt man vielleicht auch die AufklXrung über die
ahnungslosen Mitspielern unerklSrüch gebliebene Tatsache, daß gerade
der Beschuldigte beim Spiele so vom Glück begünstigt war.
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Kleinere MitteUongen.
1.
Alkohol und Zeugenaussagen. Von Medizinalrat Dr. P. Nücke
in Hubertusburir In den -Ih-osdiier Nachrichten" vom 1. Juli d. .1. sind
in einem interesaaiitcu Leitartikel („ünwaiiriiaftigkcit gegen dieJustiz'j die
vendiiedeBen Momente hUbech zusunmengestellt, die ungünstig auf die Zeogan-
ansBageo wirken kOmen. Eb wM dann anfgefahrt» wie die Zeugen bis mm
Endbemen oft freie Zeit, eine Extraeinnahme haben, fflr die man sich etwas
zu gute tun kann. In der Nälie d«? Gerichtes gibt es mancherlei Hestau-
rationen und Schänken, wo man sich den üenul) aucii im voraus verscliaffen
kann. ,Da sitzt dann der klassische Zeage und trfibt sicti durch Aikohol-
gemiB seinen Geist, den er alle Unaehe, rieh klar an erlialten, hfttte . . .*
Dieser Punkt ist, glaube ich, nodi wenig hervorgehoben worden und ich
gestelie, dali er mir völlig neu war. I)a(} auch nur durch ein (-hxs Hier die
Klarheit des Kopfes sclion leiden kann — uicht muÜ — ist klar, zumal
dazu nocli fördernde Momente zutreten. Der Zeuge hat nicht selten eine
weitere Reise, wohl andi an FViß gemaeht, ist also «nigerroaßen abgespannt
Sehr viele werden auch seelisch affizimt, durch die unge\v(")linte Alteration,
in der sie sich befinden. Dann kommt im Gerichtssaale noch Tlitze, ein-
geschlossene Luft, der Eindnick der fremden Szenen liinzu und das alles
kann sehr wohl die Zeugenaussagen schädigen. ^lan wird dem freilich
kanm steuern kOnnen nnd der Rat, vor der Zeugen-Ablegung lieber Kaffee
usw. statt Alkohols zu sich zu ndUBen, ^^i^d stets ein frommer Wunsch
bleiben. In einer kleinen Stadt, wo nur eine Eisenbahnlinie verläuft, lieHc
sich durch Ansetzen des Termins gleich nach Eintreffen des Zuges viel er-
reichen. In einer grollen ötudt mit mehreien Eisenbahnen ist dies unmög-
licii. Nieht zu vergessen ist anefa, daß der Reisende das Bedürfnis haben
kann sich an stärken und dabei gieht ea <^e Getränk nieht gnt ab, wofür
aber leider gewölmlich Alkohnl genommen wird. Der gute Rat endlich,
sich diesen Genuli für später aufzubewahren , wurd in den Wind ge-
sprochen sein.
2.
Internationale Kongresse. Von Medizinalrat I>r. P. Nfteke in
IIul)crtiis1)urg. Ein willkommenes Zeugnis fllr das, was ich wiederholt über
das (' ti erf I üssigc internationaler Kongresse sagte, findet sich im
Korrespondenzbiatte der iirztliehen Kreis- nnd liezirkss ereine im K*>nigreich
Sacliäen vom 1. Juli 1UU3. Es hciiit dort nämlich folgeudermaiieu :
AiehlT nr XHodaalulbropologie. XUI. 12
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178
Kldnere Hitteilnngeii.
I>io iiitciiKitionalen meJizinisrlion K mi ^rresse. Rs wSre
nun l)aUl an der Zeit, die Ära der internationalen Kongi-esse zu
sciiiielien, schreibt daa „Korrespondenz-Blatt für Schweizer Ärzte'*, 1 1,
1903. Seit Jahren steUen dieselbeii nur noch eine ISdierliehe Parodie
der Wissenschaft dar. FUr die mediiinische Wissensehaft sind sie ohne
jeden Wert. Während die KonjJH'eöse von (Jenf, London und Kopen-
hajjen Marksteine in den Annaien der Medizin darstellen, sind seit
15 Jahren die intcrnatiunalen raedizinisclien Kongresse für die Wissen-
Schaft völlig belangloe gewesen. DafQr sind sie immer mehr m großen
Belostignngsreisen degeneriert; die Stidte nnd Re^mingen, welchen die
Ehre zufiel, den Konj^reO zu empfangen, überboten sich in jiraelitvollen
Festlichkeiten und (lewälirunfr \<tn aller Art Rei8eerleiclit<'niiii,'en, sodan
sdiliclUich die Ucisc die Hauptsache, der Kongrcii eine zu \ cruadilässigende
Nebensaehe wurde.
Was hier von den internationalen medlainisclien Kongressen gesagt
wird» hat auch von vielen andern zu gelten. Der Nutzen ist ein sehr
minimaler und das Wertvolle der ^'ol•tl•:■iLce wird meist auch oline Kon-
gresse veröffentlicht. Nur internatitmak' l\<»n^ne.s.se zur Besprechung resp.
Entsclieidung von ganz speziellen Frugeu, wie z. Ii. über gemeinsame Malie,
Mfinzoi, Kalender nsw. haben einen Zweek ond hier sind wuküch die maß-
gebenden Autoritäten auf den bebt^enden Speualgebieton mdst alle odvr
in der Mehrzahl gegenwärtig, w<is von den andern Kongressen ^'ewidinliili
nicht gilt. Auch spielt die Schwierigkeit der Sprachen dann eine ;:erinj^ere
lioUe, weil gewöhnlich Promemoria in den verscliiedenen Sprachen sdiou
vorher gedmdct den Kongreßmitgliedem vorliegen.
3.
Die Gepflogenheit als SehnldaaBsehliefinngsgrund. Von
Ernst Lohsing. Unter dem Titel „Einfluß irriger Rechtsanschauungen
bei der Begehung von Verbrechen" hatMothes im 12. Bd. dieses Archivs,
S. 229 ff. eine interessante Abhandlung veröffentlicht, in der er versdiiedene
Erscheinungen des tägliclien Lebens unter dem Gesichtspunkte des Reehts-
irrtnms bdiandelt
Da wir nicht in der Lage tSoA, den AnsfÜhioiigen von Hothes in
jeder Hinsicht zuzustimmen, seien uns einige Bemerkungen zu seinen Aus-
führungen gestattet. Motht s bringt eiin' Keiiif von Beispielen norniwitl-
riger Handlungen und falit sie alle als Folgen irriger Reclitsansdiauuugeu
anf. Bei einigen dieser FlHe tri^ dfo Ansicht von Mothes zu, so n. B.
hinsiclitli<-h der Abtreibung, die im Volke vielfach für nichts Unsittlidies gehalten
wird, Oller liinsiclitlirli der weitvfM'broiteten Ansicht, es könne eine Aulierung
innerliall» der cigriini \ ier Mauern niemals ein Verl»aldelikt (z. B. Majestäts-
beleidigung) begründen. Aber ganz anders liegen doch die Dinge bei den
von Mothes erwähnten Stein- nnd Pflaazensammlem, so wie bei den
Leuten, die in fremden Willdern ohne Zustimmung der Eügentfimer Pilze
«n<l Beeren sammeln. Mothes sucht d;is damit zu begrün<hMi, da(> in
n i ch t j u rist i sc Ii en Kn iscii dir Mciniiiijr weit v erbreitet sei. die Weg-
nalime einer wertlosen Sache sei kein Diebstahl. Zunächst sei die Beuier-
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Kleinere Mittdlnngen.
179
kung geiiiaelit, d;il> es auch Kriminalisten giljt. ilic dieser Ansicht sind,
vergl. z. B. Merkel in Iloltzeudorf fs ildb. d. Str.-il., 3. Bd., S. 634
(. . . ,aneh naeh dem R-St-G. Bchleehtfain wertlose Qegenstftnde hier ans-
geseUoflsen'^) und Lammasch, Grdr. d. St-R., S. S3 („Diebstahl ist
widerrechtliche, gewinnsüchtige Entziehung einer fremden bewognchen
nicht völlig wertlosen Sache aus dem Gewahi-sam eines andei en"j.
Aber selieu wir hiervuu ganz ab^ so liegen doch hier llaudluugeu
▼or, die auch Angehörige „juristischer Kreise' vornehmen, nnd
zwar ganz frank und frei, weil sie nichts Strafbares darin erblicken, da es
einmal Sitte ist, Pilze und Beoron zu sammeln. Dieser Gewohnlieit muf{
eine schuldaussehlieficnde Kraft zugeschrieben werden. Würde hier die Ge-
pflugeuhcit nicht schuldauäschlielieud wirken, so gäbe es fast nur Diebe
anf der Wdt Es gtbe im Amt nnr Amtsvenmtreoer; welcher Beamte bat
noeli nicht einen Privatbrief geschrieben und dazu Amtstinte verwendet?
Zur nekriiftigung dieser Ansicht sei auf eine mit dieser Frage sich
befassende Entscheidung des österreit Iiisehen Kassationshofes (F. 17403
vom 16. Dezember 1902, veröffeutlidit im laufenden Jahrgänge der ,,6e-
rioht8haIle<<, S. 326 in Nr. 32) verwiesen, deren aritnde hier wOrtßeh Fiats
finden mögen:
Mit dem Erkenntnisse des Bezirksgerichtes Spalato vom 12. September
1902 wurde Ante M. und Genossen der Übertretung des Diebstahls nach
171, 460 St-G. schuldig erkatmt, begangen dadurch, daU sie am
23. Juni 1902 aus dem Weingarten des Kari D. ohne dessen EhiwOligung
und nm ihres Vorteils vdüea eine QuantiOt Rebenreiser im Werte unter
10 K. entwendeten, und wurde über dieselben hierfür Arrest und Kosten-
ersatz verhängt. Die wider den Ausspruch über Schuld und Strafe einge-
brachte Berufung blieb erfolglos. Das Kreis- als Berufungsgericht Spalato
bestätigte mit Entscheidung vom 18. OIctober 1902 das erstrichterUche
Urteil ans dessen Grflnden. Die znerinnnte Strafe wurde von sSmtlichen
Verurteilten bereits abgebttßt. Die erwähnten Strafarteile können indes schon
^vegen der Reclitsfolgen nicht ohne weiteres aufrecht belassen werden. Aus
iler kargen Begründung des Urteils erster Instanz ergil)t sich, da(5 die An-
geklagten die Wegnahme der Rebenholzabfälle zugaben, zugleich jedoch
erklSrten, diesdben nicht nm des eigenen Vorteiles willen entwaldet sn
haben, SMidem nnr, um ein Brennmaterbd für das landesQbliche Johannis-
feuer zu beschaffen. Diese \'erteidigung überging das Bezirksgericht
Spalato ebenso mit Stillsciiweigea wie die weitere im Vorverfahren, und
nach den dürftigen Aufzeichnungen des Verhuudlungsprotokolls auch in der
Hanptrerfaandinng vom 12. September 1902 yorgebrachte Rechtfertigung
der Angeklagten, es sei Orts brauch, daß man für das Johannisfeuer
Rebenreiser nehme, wo man solche finde. Niemandem falle &s ein, deshalb
zu klagen, da doch die Feuer zu Ehren (rottes und des heiligen Johann
angezündet werden; vor der Entziehung der Kebenreiaer seien Übrigens die
Angelchigten tlb^ingekommen, dem Karl D. die R«ser sn bezahlen, wenn
«r Einsatz verlangen sollte. Diese Verantwortung liint immerhin die Deutung
zu. da() die Angekläfften die Zustimmung des D. zur Wegnahme der Reiser
voraussetzten und somit unter dem Einflüsse eines Irrtums handelten, welcher,
<la er ein Tatbcätaudsclemeut des Diebstahls betrifft, die Zurechnung nach
$ 26 St^G. auszuschließen geeignet ist Daß D. hinterher seine l^wÜligung
12*
Diyilizuü by GoOgle
180
we<ler zur onentgeltlichen nooli zur entgeltlichen Wpfmahnif der Rel>enreiser
erteilte, kommt selbstNertitändlich für die Frage dcö Dolus im Zeitpunkte der
Tfet BMit in Betradit. Es seigt M Bomit, bcMe nterinitenElidnii
Brk«DBtiii88e nach den §§ 2SL Z. 5, nnd 468, Z. 2, <Jer St-P.-O. nichtitr
sind, weil sie aidi ftber die Verantwortiuig der AngeUagten etiliBdiweigenil
hinwegsetztoi.
4.
Kriminelle ImitAtion. IGtgeteQt von E. Lohsing. Daß der
Kachahmiiogatrieb im meoBcblidieii Läien «ine gro0e BoUe spielt, ist eine
iSngst bekannte Tataadhe. In se'mer „Kriminalpsychologie" (S. 566 ff.) luit
Groß darauf hinfrewiesen, daß auch die Strafrechtspflege der .Imitatioii
der Fälle" nicht entliehre und der Ansicht Ausdnick f^efjeben, daI5 manches
Verbreclien oder die Art seiner Begehung nur unter Würdigung des Nach-
ahmiugilnebee eiUlrk werdeo kOnne. In IVag haben dcli in der letarteo
Zeit zwei FSIle ereignet^ von denen der meite in gewissem ffinne ab eine
Nachahmunp- des ersten gelten kann. Am 11. Mai l'io;^ wartete der
22 .lalire alte Sehüler der 5. Klasse einer Prapr ( tscliecliischen) Real-
schule, Alois V., auf eine 1 S Jahre alte Näherin. Als diese — um 9 Uhr
abenda — eradhien, spradi er sie an. Sie erwiderte niclite; da zog Alois V.
einen Revolver und feuerte aus diesem dreimal gegen das Miidcben, verietzte
es jedoch nur leicht am Halse. Sodann richtete er die Waffe gegen sidi,
ohne sicli jcdocli schwer zu verletzen. Da.s geschah, wie erwälint am
14. Mai lyua. Am 16. Hai 1903, abo kaum zwei Tage später, stach der
ISjlhrige BedaohlUer fVans K. (7. Klaase) die ihm bekannte 14 1/2 Jahre
alte Rüsabeth H. mit einem ZüM in den Rtloken, nadidem sie aof da»
liebeeerkttning des K. erwidert hatte, zu solchen Dingen noch zn jung
zu sein. K. nahm nach dem Angriffe auf die II. eine Antinionlösung in
selbstmörderischer Absicht zu sich. — Die Ähnüchkeit dieser Fälle tritt
klar zutage, die Annahme, Franz K. habe den Alois V. zu imitieren ge-
strebt, konnte eine Stütze in der Tatsaclie finden, daß K. nnd V. die>
selbe Kealsdmie (wenn auch verschiedene Klassen) beendto. Sonst frei-
lich sind K. und V. verschiedene Naturen. Während K. von seinen Lehroni
als ruhiger und ])ra\ er Schüler geschildert wird, ist V. alles andere eher
als dieses. Doch mag diese Erwägung nicht in dem Sinne aufgefai3t
werden, daß sie den Naehahmongsbieb ansgeschloesen erscheinen ließe.
Dieaer dfiifte vidmehr vorfiegen.
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Besprechaogen.
a) Büülierbespreohangen von Ernst Lubsing.
1.
Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Keich nebst dem Ein-
fülirunf,^};e8etz. Herauspjef^cben und erläutert von Dr. lU'inliard
Frank, Trufeasor der Rechtü in Tübingeo. 3. und 4. neubeaibei-
tete Auflage. Leipzig, Verlag ron C. iL Hinehfeld. 1903.
Eine Beq»rediung des Frankaehen 8tiii^;eietikommeiitan kt ^geat*
lieh eine überflfiasige Sache. Er hat die Theorie gefördert, in der Praxis
sieh bewährt und der Umstand, daß jetzt eine D o p p e 1 aufläge erscheint,
spricht für die Beliebtheit diesem ganz vonttgliohaa Werkes weit deutUohery
als es die wobiwoUeudste Kritik vermag.
la der Tut kl der Fraakidie Komnentar eins Barla dar kanmen-
tierendea literatar und kaan, selbst wenn wir davon abeehen, daß er Ter*
möge der eingehenden Berüeksiclitigung der Rechtsprechung und sorgfältiger
Auswahl in der Literatur auf der Höhe der Zeit stellt, entschieden al8 die
beste Ausgabe des Deutschen Strafgesetzbuches gelten. Eine Ausgabe des
Strafgesetzbuchs ! Das ist vorliegendes Buch. KriminaUustorik wie Krimi-
nelpolitik and ginzlicli gemiedea, aar äm gelteade Becht hat Berfldt-
sichtigung gefunden^ aber dafür \<)I1 und ganz. lasbesondere ist es dem
Verfa.s8er als ein Verdienst inn die Strafrechtspflege anzurechnen, dalJ die
monographische Literatur nicht nur mit der gröliten Vorsicht dargestellt,
sondern stets die Stelle der von Fall zu Fall herangezogeneu Schrift dentlidi
beseicfaBet wordea ist, wodnreh tatsBehüeh den Bedarfaissea der Praxis voUanf
lioclinung getragen erscheint. Damit sei aber nicht gesagt, daß das Frank-
sche Werk als Lehrbuch nicht in Rotrnoht käme. Auch mit der Doktrin
hat sicli Fr an k ein^'ohend hofalU uiul irisliesoiidero die vei-scliiedciien Theorien
über Kausalität, \' ersuch usw. klar zur Darstellung gebracht. Insbesondere
der Beaohtnng wert eneheiat aas die a. E. riditige Ansieht, die Frank
Ober den sogenannten untauglichea Venneh entwickelt, womit er die,sem
vielbestrittcni'n Kapitel neue Bahnen weist; nach seiner Ansicht ist der Ver-
such am uiitauu:li('licn (Mijekt straflos, der mit untauglichen Mitteln strafliar
und nur in dem Falle straflos, „wenn die Anwendung eines bestimmten
Mittete snm Tatbestände gehört*'
Aus dem Streben, der Praxis in jeder Beziehung dienlich zu sdn, er>
klärt sich die eingehende Behandlung auch solcher Materien, die sonst ver
hAltnismäßig dttrftig behandelt werden, wie z. B. das internationale Straf-
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182
Bespredmiigcii.
recht nnd flio Lelirp vfnii Strafvollziifr. DaH srino Aiisioliton durclnvofr oin-
^vaIulf^«•i sind, soll jreiado in bezn^ auf die Lehre vom Strafvollzug nicht
behauptet werden. Dali — de lege lata — ausländische Ämter, Würden,
Utel, Orden und Ehrenseidien nicht entsogen werden kOnncOi nM wohl
nicht jedem selbstveratändlicli vorkommen. Audi schdnt QBB die Ansicht,
daß der Auslrtmler auf lirM-li st cn s 5 Jahre MiBgewiesen werden könne,
im Widerspruch zu strhen mit l'ranks ei;;cnen Worten: ^DaH der Aus-
länder ohne weiteres ausgewiesen werden kann, ist schon völkerrechtlicher
GnindBatz*'.
Was die Abgrenzung von Notweiir und Notstand betrifft, steht Frank
auf dem Standpunkt, es gehöre (bei der Notwehr) zur Natur des Angriffs,
da(5 er von einem belebten Wesen ausgehe, während eine Uefälirdung
durch ein unbelebtes Wesen >«otstand begründe. Dieser Standpunkt hat
insofern sehr yiel fOr nthf als er der objektiven Notwdirtheorie Reeimang
trigt, welche bekanntlich nicht danach fragt, ob dem Angieifer in subjek-
tiver Hinsicht Verechulden zugerechnet werden kann, wie dies die subjektive
Theorie behauptet, derzufolge im i'alle eines Angiiffs von seiten eines Zu-
reclinuugsunfähigen oder eines Tieres niclit Notwehr, sondern Notstand vor-
li^. Wenn abo ein zuredinungsflUiiger Mensch jemandm angrdft, darf
jeder sn dessen Rettung Notwehr üben ; wenn aber ein Irrsiniger jemanden
überfällt, müßte derjenige, der dem .Angegriffenen beizustehen beal)sichtigt,
erst § 52 Abs. 2 R.St.d. sich vergegenwäi-tigen und, falls er zu dem Er-
gebnisse käme, daß der Angegriffeue kein , Angehöriger'^ ist, ihn seinem
Schicksal aberlaasen. Wenn Frank za dieser AnaiGlit sich nidit bekennen
will, tondeni objektive Reehtswidrigkelt annimmt, so hat er vollkommen
Recht. In dieser Hinaidit mOcfate ihm doch endlich einmal Theorie und
Praxis zustimmen.
Franks Buch ist entschieden das Werk eines Mannes von Erfahrung,
der den verschiedensten Situationen, vor die sich der Kriminalist gestellt
sehen kann, In prigmmter Weise Beebnnng trSgt nnd wohl nnr wenige
(z. B. Hypnotismns) nicht berOdoichtigt bat
2.
Beiträge zur Psychologie der Aussage. Mit fies >ndcrer Berück-
sichtigung von IVoblemen der Rechtspflege. Tädagugik. Psycliialrie
und Geschichtsforscliung. Unter Mitwirkung von E. liernheim,
Oreifewald, 6. Heimans, Groning«i, A. Meinen g, Graz, W.Rein,
Jena, Chr. Ufer, Altenburg; H. Groß, Prag; C. v. Lilienthal,
Heidelberg; F. v. Liszt, Berlin; A. Cr am er, Oöttingen ; A.Del-
brück, Bremen; K. Somniei-, (lieüen u.a. Herausgegeben von
L. William Stern. 1. Heft. Leipzig 1903. Verlag von Johann
Ambroehu Barth.
Dem in seiner Wichtigkeit für die Strafreditspflege, insbesondere von
der Kriminaiistik erkannten Tliema der Würdigimg der Aussage hat vor
Jahresfrist der bekannte Breslauer Psycholog L.William Stern eine inter-
essante Abhandlunjr gewidmet, deren Inhalt allerdings den psychologisch
gebildeten Krimijiaiisten nicht weiter überraschte, dennoch aber in der leider
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Beeprechungen.
183
nodi zum geringiBteii Teile psychologiscii erfahrcueu Juristen weit das (^rüüte
AnfB^en und Interesse erregte, wie die vtdea AbhaDdlnogen und Yorfarige
in juristisclicn Vereinen des In- und Attslands fibor die Sternsehe Schrift
,Zor r'sychologie der Aussage" genugsam dartun.
Wer sich jedoch mit Kriminalistik und nicht in letzter llinsiclit mit
Kriuiinalpsychologie — von Groß im , liaiitätenbetrog^' treffend „psychische
KrimmaUBtilc'' genannt — befaßt hat, hat allerdings in der erwähnten Ab-
handlung nicht ein nen ratdecktes Gebiet gefunden; sondern lediglidi ein
noch nicht zur Genüge erforschtes, trotldem an dessen Erfoi-schung schon
seit langen Jahren gearbeitet wird. Aber diejenigen, die zur Erf(»rschung
der Materie am meisten beitragen könnten, haben sich bis vor kurzem ziem-
lich passir verhatten, mit anderen Worten, die Männer der Rechtspflege
haben die Bedentong des in Rede stehenden Kapitels der I^yehologie fOr
ihre ureigenste Domäne unterschätzt, wenn nicht geradezu ignoriert. An
sie hat sieh nun Stern sunächst gewendet, sie bat er zur Mitarbeit ein-
geladen.
Nun ist Stern selbst einen bedeutsamen Schritt weitergegangen durch
Gründung der „BeitrSge sur Psychologie der Aussage^, eines zwanglos er-
schemenden Ardiivs, das laut Titdblatt und Prospekt den Problemen ver^
schiedener AVissensgebiete Rechnung su trairen vei-spnclit, unter denen —
wohl nicht zufällig ■ — an erster Stelle die Kcihfspflci^e genannt ist. In
diesen „Beiträgen" gelangen zur Veröffentlicliuug einschlägige Abhandlungen
und Gutachten, Eigenberichte von Autoren, die in anderen ZeitBchrifteii ein-
schlägigen Themeii Abhandlungen gewidmet haben, und Berichte und Mi^
teilungen.
Das ei-ste lieft, das eine Stärke vcm 129 Seiten hat, enthält zuniiclist
unter dem 'i'itel „Zur Einführung" eine kurze Darlegung der Zwecke und
Ziele der „Beitrftge'^ Daran reiben sich zwei Abhandlungen aus der Feder
ihres Herausgebei-s. nämlich „Angewandte l'sv« In logie", in welcher Stern
seinen Standpunkt, drsscii wissenscliaftlielier Witrctun«; seine „lieiträ^re"
dienen sollen, näher auseinandereetzt und insbesiMulerc auf die Wichtigkeit
der E.xpcrimentalpsychologie hinweist, und „Aussagestudium", worin in der
HauptMche die Ideen seiner Schrift „Zur Ps} chologie der Aussage** wieder
aufgenommen werden.
Einen gerade für den Kriminalisftii interessanfen, im Wege dn- Ex-
perimcntalpsychologie gewonnenen ik'iliag zur Wünli^^nin^'' der Aussage
bietet Jaffa mit seiner Abhandlung „Ein psychologisches Experiment im
kriminalistisdien Seminar der üniversitilt Berlin", einen abgekarteten krimi-
nellen Vorfall behandelnd, der von den verschiedenen Zeugen in verschie<
dener Weise dargestellt wird, die Jaffa zum Gegenstand kriminalpsyeho-
logiseher Untersuchung macht. Die Lektüre gerade dieses Schulfalles (in
mehrfaclier Hinsicht des Wortes) und die litlierzigung seiner hochinteree*
sauten ^gebnisse kann nidit warm genug empfohlen werden. Aus dem
sonstigen Inhalte des ersten Heftes sd nodi hervorgehoben äet Bericht von
Groß über seine im Kohlerschen Archiv erschienene Abhandlung „Das
Wahrnelmiungsproblem und der Zeuge im Strafprozeß'*, deren Wichtigkeit
auch für den Zivil))rozel) Kohl er in der Neoausgabe der v. Uoltzen-
dorffschen Enzyklopädie hervorhebt
Ein mit dem Kapitel der Flsydiologie der Aussage eng verwandtes,
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184
Besprechungen.
bis jetst amdidi ignoriertM TlieiBS fet die Psychologie der Vendiweignng
adtens Zeugen und Angeklagter ; wor halbwegs die VerliftItniBse kennt, wird
wissen, da(? manohos. was für die rechtliche Beurteilung des Falles von Be-
lang iät, verschwiegen wird, und gerade der Angeklagte Bchweigt oft, wo
flun das Reden niditi schaden, ja sogar nfltsen ktaote. "Wie oft mag es
vorkomnMii, daß ein AngeUagtor äeh idilnit» Mme VoBlniikeDheit idiii»
geben; Duellanten schießen manchmal absiditlich in die Luft, setzen also
einen Vorgang, der überhaupt als Zweikampf nicht strafbar ist, mangels
der gesetzlich erforderlichen Absicht; werden aber die beiden in öffentlicher
Verhandlung spontan oder auf diesbezOgliche Fragen hin dies zugeben?
Solche und ähnliche FWle mOgen 9fter Toricommeii, sind aber Ms heute
nioht nach OenOge gewürdigt worden. Vielleidit ftUt diese Anregung auf
fruchtbaren Bi><l(>n. und dio „Beitrüge'^ sobeinen uns in enter Linie bcmfettf
ancb dieser Erscheinung ihr Augenmerk zuzuwenden.
3.
Res iudicata und Justizirrtum. Von Trof. Dr. Kosenblatt iu
Krakan. Zeitschrifl fttr die gesamte Strafreofatewisseosehaft Drei-
nndswanzigBter Band. 1902.
Ein in llieorie und Praxis des Strafprozesses erfahrener Mann, wie
I'rnfessor Rosen blatt, vertritt in dieser kleinen, paj'chologisch fein lUirch
gefiilirtcn Arbeit den (Jodankon, os solle zur Entscheidung der Fra;;u der
Wiederaufnahme eines Strafverfahrens ein anderes Gericlit als dasjenige,
dessen Urteil angefochten wfad, znstlndig s^ und der Entscheidung dieser
FVage solle ebe mllndliehe Veriiandlnng vorangehen. Zur ßegrOndiuig
dieser Postulate verweist Rosenblatt auf etliche Fälle von .histizirrtümem.
in denen die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Schwierigkeiten seitens
des tieriülites, das das angefochtene Urteil gefällt und im Siune der be-
stehenden Oesetxgebnng über den Wiedera«fiiahiiieantrag zu entscheiden
hatte^ stieß. Die von Rosenblatt mitgeteilten Fdilnrteile, insbesondere
aus neuerer Zeit, sind geradezu klassische Dokumente für die Bedeutung
der Kriminalistik; denn bei Vertrautheit mit den Lehren der Kriminalistik
wäre vielleicht mancher Fall gleich das erstemal anders entschieden woixlcu.
Wie goreohtfertigt Rosenblatts Postulate smd, möge an einem nach
Erscheinen der in Rede stehendoi Abhandlung in Wiener Bltttem mitge-
teilten Falle ersehen wcnlen, den Referent jetzt aus dem Gedächtnis wieder-
gibt, weshalb auf Einzelheiten verziclitet weiden muß. Ein junges Mädchen
ist zu einer Kerkerstrafe verurteilt worden und liat sie bereits abgebüüt
Da stellt sie einen Wiederaufnahmeantrag durch einen Wiener Verteidige;
der Wiederaufnahmeantrag wird abgelehnt. Dagegen er|p!eift der Vertei-
diger Beschwerde und bewirkt, daß das Wiener Oberlandeegericht das an-
gefochtene Urteil aufbel»t nn<l d;is \f;i<l<heii freispricht. Ein Bedenken straf-
prozessualer Natur kann ich allenlings hierl)ei nicht unterdrücken. Wenn
auch § 360 der österr. St.P.O. dem (Jerichte, das einen Wiederaufnahme-
antrag zugunsten des Beschuldigten stattgibt, das Recht emrftumt^ bei Zu-
stimmung des Ankiftgers sofort mit Freispruch oder Anwendung eines mü-
■deren Strafgesetzes vorzugehen, so glaube idi, konnte dabei nur an das
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186
Gericht erster Instanz gedacht sein. Kiemais kann u. E. ein Geriehtsliof
swaiter Imtuw ein ürteil in Stniisadim ftllen. Oans abgwehen dayon,
daß, wie Mitterbacher ad § 360 StP.O. richtig hervorhebt, sieh dies
..aus dem nach dpin System des Strafprozesses dem Oeriohf.sliof zweiter In-
stanz aiifrowiesenen Wiikimjrskreise erp:iht*', scheint ein derartiger Vorgang
aucli im Widerspruch zu dem Schiulisatz des § 231 ötP.O. zu stellen, der
die nntaialiinsloee Norm anfiteUt: „Die Verkandnng dee ürteHes [aber]
muß jederzeit öffentlich godielien." Daß ein Gericiit öffentlich sein Urteil
verkündet, ist jedoch nur dann mr»glich, wenn Itei einem (Tcrichte öffent-
liche Verhandlungen stattfinden, mag auch in concreto die Öffentlichkeit aus-
geschlossen sein. Eine öffentliclie Verhandlung bei einem Gerichtshof zweiter
laetans in StraÜBaehen gibt es jedoeli nioht Aas dioeB Grande sdheint
der Voigang nicht im Sinne des Gesetzes zn sein. Scfaweriieh dOrfte diese
Auslegung auch der Absicht des Oesetzgeliers entsprechen. Denn den Fall,
daH die 1. Instanz einen Wietleraufnahmeantrag a limine abweist, wahrend
die 2. Instanz ihn so gerechtfertigt findet, daß sie ihm nicht nur stattgibt,
sondern aneh in merito mit FVeispmefa erledigt, dürfte iroU schweilioli 4er
Qcsetegeber tot Angen geliabt haben. Aber gerade das ist es, was dem
erwälmten Fall angesiclits der Abhandlung von Rosen Matt ein besonderes
Interesse verleiht und audereraeits auch seine Abhandlung aktuell erscheinen
läßt, trotzdem, wie bereits erwähnt, der Fall erst nach Erscheinen der
Rosenblattschen Arbeit sieh zugetragen hat.
4.
Über Annahmen. Von A. Meinong. Leipng 1902. Verlag von
Joliann Ambrodas Bartiu
Eine neue Schrift des berühmten Grazer Philosophen bedeutet unter
allen Umat.lnden eine Bereicherung einer Wissenschaft, die" der im ^ Archiv^
vertretenen Kichtung mehrfach nahesteht, weshalb eine Erwäliuung des
Werkes vollauf berechtigt ist, wenngleicli eine eingehendere Besprechung
isunertiin Sadie der Fachpresse bleibt
Annahmen nennt Meinong alle Tstsaeheo, die dem ZwiBohengebiete
zwischen UrteOen und Voi-stellen angehören, d. i.. wenn wir uns d<^
Sprachgebrauchs des tagiielien I^hens bedienen, alle Tatsachen, die sich
sprachUch formuUereu lassen in Sätze, denen sich ein „Angenommen, daß. . .'^
oder ^Gesetzt den FUl, es wire . . vorsnstellen lißt. KatSrfich soll
damit nicht gesagt sein, daß man bei aUen Tatsachen, die Meinong zn
den Annahmen rechnet, dies tun wird. Spri('!it ja Meinong selbst von
Annahmen, „die iliren ("harakter gleichsiun an der Stinie tiagen"; ernennt
Me explizite iVnnaluueu und ihr Gebiet ist die Matliematik. Jedoch auch
in Spiel und Knnst, im Lügen, in Fragen vnd Begehrnngen sowie in der
Suggestion sind Annalmien auf Schritt und Tritt anzutreffen.
Dieser interessanten Erscheinung widmet Meinong eingehende Er-
örterungen, die nicht nur in das (lebiet der Logik, sondern auch da.s der
Psychologie einscldagen und insofern auch das Interesse des Kriminaüsten
fai Aaspraeh an nehmen verdienen.
186
Bwpicdiaiigwi.
5.
Die Straf rechtsr rfo I UI in Deutschland und der Seliweiz. Ge-
danken und Krfalininfren von Dr. PlazidMoyor von Schauen-
ßee, 01>erritlit(M- in Luzern, gewesenes Mit;_'lieil der E\]>erten-
kommission fUr ein bchweizerisclieä Strafgesetz. Berlin 19u3. i'utt-
kammer & MttMbreebt, BncfahandliiDg fflr Stute- und ReohtBwissen-
eohaften.
Der Inhalt der Schrift entq>richt in mehrfacher Hinriclit ihrem Titel
niclit. Ganz abgesehen davon . da(> dentsciie Verhältniaae fast gar nicht
beßproclieii sind, tritt aueh der (ledaDke der Strafreclitsreforni sehr stark in
den liinter^Tuud gegenüber dem Bestreben, einer i'ulemik sicii zu befleiUigeu,
die viel sn Beiir den CSiarakter des PenOnlidien an sieh trägt Die
GninditUe den Schweizerisclten Strafgesetientwurfes haben vorwiegend
Billigung gefunden, ohne dal? freilich Gegner nielit ausgeblieben sind.
Dr. Meyer v o n S e Ii a u e n s e e jiolemisiert in ungemein heftiger Weise
gegen Stooß, Forel, Zürcher u.a., hauptsächlich, weil er in der Frage
der ZorechnonggfShigkeit anderer Anstellt ist als die Genannten* Er ver-
fällt dabei in einen Tun , den man für doi Ausdruck der Leidensdiafl
halten niAHte, wenn der Verf:tö«er nicht /.um Schluß selber sagen wUrde,
daß er ohne Leidenschaft geschrieben habe.
b) Bü eherbesurechungen
von Keclitspraktikant Hans Schueickert.
6.
Dr. Hans Fischer. Homosexnalitiit eine physiologische Erseheioiing?
J. Gnadenfeld Co. Berlin 11)03, 15 Seiten, 50 Bf.
Die Broschüre ist, wie so viel andere, dem Beweise der Berechtigung
des liomosexualismus und dem Kampfe gegen den wohlbekannten § 175
IL»8ftr^0.-B. gewidmet Ei sieht ja aneh der streng auf dem Stut^onlEt
des Strafgebttdies Stehmde, dafi in diesem $ 175 nicht alles in Ordnung
ist| daß er insbesondere zur Wahrung und Förderung der Sittlidikeit nichts
taugt, da 88 so und so viele andere Unsittlichkeiten, die nichts weniger als
„natürUch^ sind, nicht umfalit. Eigentlich verdienen Beweise der Beredi-
tlgung des Homosexualismus, die sich mehr oder weniger derselben Belege
bedienen, jetzt nidit mehr so sehr die Beaehtnng, die sie selbet erfaeisehen,
da ja niemand mit Gegen beweisen auftritt. Der einidge Hanptgegner ist
der § 175 selbst, und diejenigen ab dessen Vertreter nennen zu wollen,
die pfliclitiuäbig zu seiner Anwendung berufen sind, wäre widei"sinnig.
Solange der § 175 durcli eine Reform des Strafgesetzes noch nicht en^
fernt oder abgeändert ist, kann man dem Kditer doch keinen Vorwoff
machen, wie es Verfasser auf >^« ite 5 tut, indem er den im Volke nur zu
sehr eingebürgerten und liei jedem rnbequeiidichkeitsgefühle gegen Itestrhende
(iesotzesnornien ausge^procbenen Satz erwähnt. dal5 „der ge.'iuiuh' Mciiscben-
\ei-8tauil leider nur zu oft im grellsten Widerepruch zu den Anschauungen
der Juristen" stehe. Sobald ein Wort, das eigentlich der Reform einer mit
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BeBpredinngon.
187
dem VolksbowiiHtsein niclit mehr flbereinstimnienden rSosptzrsTKtnii gewidmet
jsein sollte, p'frfn die nnireMicli widersinnijre Anschauung der (his fJesetz
pf lichtmäliig anwendenden Juristen gewidmet ist, ist es am unrichtigen
Platse imd kann eine BeaebhiDg nieht beanaprachen.
Daa Nena, waa Veffaaser in seiner Schrift bringt, ist der Versuch, doD
Homosexnnlismns als Nntumotwendi^keit hinzustellen, als ein Korrektions-
mittcl der Natur i:(»;ren Übervölkerunfr. „Mir scheint," sa^ Verf.
auf Seite 12, „die Ilumosexualität eine Selbsthilfe der Natur gegen die Über-
TÖlkenug in solchen Oagenden, in denen die'IMciitigkeit der Ifensdien «ine
solche befürchten l&ßt/' Er nennt diesen Aussprooh aelbst eine Hypotheae
und muß bei der mangelhaften Statistik über die Häufigkeit des Homo-
sexualisnius auf einen exakten HeM cis verzichten. Daraus, das der TTomo-
sexualismus in staik bevölkerten Gegenden — namentlich in CiroUstädten —
hlofiger Toikommt ala in weniger berMkerim QegoideD, s. B. anf dem
platten Lande, wird man aber doch noch nieht aeUieliten dflrfen, daß flm
die Natur dort als Gegengewicht gegen die Übervölkerung schuf. Dieser
Auffassung widersjirecben schon die unbestrittenen Tat.saclien. daß ein homo-
sexuell veranlagter Mensch auch in einsamen Gegenden seinen Trieben
nachgehen, und dali in stark bevölkerten Gegenden der Homoeexualismus
\idladi aiieh dareh die Gelegenheit nnd nicht inm nundeaten durch ebe
libido variandi bedingt sein wird. Es wäre wohl beaew geweaen, wenn Ver*
fa.«iser seine versuchte He^Tnndun;r des Homosexualismus nur als neues
Beweismittel für die notwendige Straflosigkeit derselben erklärt und seine
Hjrpothesen vielleicht in den nicht schwer zu begründenden Satz gekleidet
hfttte: Der Homoaexnalinnna ist geeignet, <»ne sdildUch wirkende Über-
v51kenin<; v.w verfahidem; darum soll er nicht mit Strafe bedroht sein <)•
In der Tat erscheinen mir die Ausführungen des Verfassers, die er auf
Seite 13 und 14 zum lieweise der stetig zunehmenden und soziale
Schäden hervorrufenden Übervölkeiung in Mitteleuropa -) gibt, bemerkeus-
wort, nnd daß Betraebtnngen Uber die Bekimpfung dieses wachsenden
nationalen Übels recht zeitgemäß sind. Daß der Reform des Strafrechta
auch in mancher Heziehunp^ die Auf^'^abe der Bekftmpfong dieses Übels an-
kommt, dürfte nicht bezweifelt werden.
Mit Einwendungen, daß schon durch zeitweilige, aber sclireckiiche, die
Mensdihdt deomierende Regniierungsmittel, wie Krieg, Seuchen, Hnngera-
not, einer lästigen Übervölkerung vorgebeugt werde, kann man sich heute
emstlich nicht mehr zufrie<len geben. Man muß, wenn es in des Menschen
Gewalt liejrt. auch hier von zwei Übeln das kleinere wählen. Es sei hier
z. B. erinnert an den mit dem Volksbewußtsein nicht mehr Ubeinstiunneodeu
1) Der eigentliebe Grund der Straflosigkeit kann aber ^eichwohl nicht
hier gesoeht werden, da wir mit M. Hirschfeld annehmen mflssen, daß die
Homosexualität stets angeboren ist.
2) Es sei bei dieser (ielcgcuheit auf die Bevölkerungszunalmiu in Deutsch-
land während eines Menschenalters hingewiesen:
1816 24,8 Millionen Emwohner.
IS.'iS 38,1 • •
1^71 . » 41,1 » -
19UU 56,4 » *
DiyiliZüa by GoOgle
188
Bfliprodingw»
übertriebenen Scbutz des k eim enden Lebens dnrch den Staat.
Die Verbrechen und Verj^ehon ^egen das keimende Leben wurden in früherer
Zeit viel härter bestiaft als heutzutage. Unsca* Keickstrafsgesetzbucli von
1871 hat im Vergleich za dm frftherai StnfgeMteen der SSnsebtaatai fir
derartige Dehkte mildere Strafen eingeführt'). Bei einer Revision UBsereB
li.-St. (t.-B. wird eine weitere Mihlenni{; der heute als zu hart erkannteo
Strafen für solche Fälle von vei-schiedenen (lesichtspunkten aus bej^ründet
erscheinen. Die an vielen, namentlich stark bevölkei-teo Orten auftretende
grofie KinderBterhliehk^it, die erfahren gsgemtfi nidit immer
durch die Mutter Natnr all Nolhelferm verursacht wird, lehrt nur zu gut.
wie das Volk es versteht, ct»rri2:er la fortune! Um wie viel sclieuß-
licher ist dieser das Sti-afjjjesetz uni^?ehende Notbehelf gegenüber einer Al>-
treibung! Wie empdrt wird aber auch auderei^ts das Volksbewußtsein,
weon man mit HOfe des f 51 R.-8t.-a.-B. fflr gewisse Fille tümm
Notweg schafft, om die HSrte dee Gesetzes ansn^^leieheii! sei s. B.
an jenen Fall erinnert, in dem kürzlich' eine Baronesse in Deutschland von
einem Verbrechen der KindeetÖtung auf Grund des § 51 R.-St.-G.-B. frei-
gesprochen wurde. Wird man bei der künftigen Heform des Strafgeeetz-
biiflhes nlolit den Gnmdsata von dem Idemeren Übel hier befolgen, wohin
sollen dann sokhe Znstinde fühtea?
7.
Derselbe. Beitrag zum Kapitel der Erkennung der vw^chieilene Berufs-
arten in furo: Der Musiker. Separatal id rock SOS FViedreicbs BUUtoni
für gerichtlielie Medizin 1U02, 12 JSeiten.
Die durch den Beruf, insbesondere das Handwerk, entstehenden physi-
schen Veränderungen am meuschiichen Körper und dessen einzelnen Teilen
hat man in der KriminaUslik schon lange sJs wichtige Identifikationsbeheile
erkannt. Ich verweise hier auf Groß' Handbuch für Untersuchungsrichter
Seite 279. Der Verfjisser hat in n!)ij;('r Abhandlung eingehend die Ver-
änderungen namentlich an den Fingern von Musikern (Sch^^•^elen- und
liiaäcubüdungj besprochen unter Berücksiclitigung der einzelnen Musik-
instromente und damit einen anerkennenswerten Beitrag zur foransischeo
Identifisiemn^alehre geliefert
8.
Albert Behr. Ärztlich operativer Eingriff und Strafrecht Wflrshnrger
Dissertation 11)02, 78 Seiten.
Bd der schon vielfach unternommenen Yentüienmg dieser Frage ist
1) Vergleiche s. B. folgende Stnfbestimmungen: Strafgosetzboch für das
Königreich Bayern von IS 13: Geringste Strafe für die Abtreibung dnrch die
Mutter selbst: 4 Jahre Arbeitshaus (Art. 172). Strafgesetzbuch für das König-
reich Bayern von ISGl: Geringste Strafe für die Abtreibung durch die Mutter
selbst: 8 Jahre Geffingnis (Art 248, Abs. 1). StrafgcsetEbncfa fttr das Deatscfae
Beich von 1871: Geringste SCnfe für die Abtreihnng durch die Mutter selbst:
1 Jahr Zuchthaus, bei mildernden Umstanden, wie soldie heutsutsge hier regel-
mäßig angenonunen werden, '/> Jahr Gefängnis.
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B6ipveQliuDgw«
189
es eip^entlicli schwer, ihr nodi neue Seiten abzugewinnen. So mußte sich
der Verfasser auf eine Besprechung und Kritik der über diese Frage von
McdiwncBi und Jnristflii gBlnftHtai AiüMitctt bcsdirliikeii. Objektiv be-
tnefatot wird der instlIeii-o|MnliTe Enigriff als KOrparerieteang beurteilt
Ak Strafausschließungsgründe werden in der Wissenschaft hm-
gestellt: 1. das ärztliche Borufsrecht, 2. das Gewohnheitsrecht, 3. die Ein-
\NilUgung des Patienten, 4. der sittliche Zweck des Einj^ffes. Verfasser
glaubt als Strafauasdiließungsgnind die ^Urztliche Nonn'' annehmen zu
mflisen, unter der n TMstelieB sei, die Summe aller deijenigeii Begeh, wdehe
auf Grund medizinisch-wissenschaftlicher Überzeugung und Übung gewissen-
hafter und gebildeter Ai-zte die Itichtschnur für ein (»Itjektiv richti^^'c«
Handeln jedes Arztes bilden sollen/' Ob diese „ärztliclie 2s<>rm'' im einzelnen
Falle beobachtet wurde, wird allerdings eine von den gerichtlichen Sachver-
stibidigeii jeweils sa beantworteade Hiaptfnige Irildeo; ob sie aber in so
amsoldaggebender Weise als ,,der Sinifonssehließun^<nnind bei „Srztlidi-
operaüren Eingniffen", wie Verfasser meint, in Betracht kommt, ist zu be-
zweifeln. Der Strafansschließunfrsfrnind ist ein T^nistand . der, ohne den
Deüktscharakter der Handlung zu berühren, der Straf barkeit derjenigen
Peisoa entgegensteht, bei welker er gegeben ist ■). (Dem Wesen der Stotf-
snSiBllließunffljgrüade hat Verfiwscr sonderbarerweise keine weitere Beach-
tung geschenkt.) Ist die „ärztliche Norm** ein solcher l'mstand? Auf Seite 68
zitiert Verfasser einige Aussprüche uial'gebender Autoren , die Ilm zu der
liegriffsbiidung der ^^äiztiidien Norm" bewogen haben. So spriclit z. B.
Oppenheim^ (8. 23) von ,,medi2inisob-wiBBettsehaMicli6r Übeneugung*',
(S. 25) von „wissenschaftlicher Überiegnng'^ (S. 26) \ on „sweokentsprochen-
den Mitteln'*; Stool^^) von „kunstgemlißem Eingriff", von einer „Behand-
lung, die dem Zustand des Patienten angemessen ist''. ..die sein Zustand
erfordert", ,)die sachlich geboten ist". Der zutreffendste und alle anderen
genannten AnsdrQeke nmfsswnde Begriff ist „wissen sebaftliehe Ol»er-
zeagung^^ Auch nur dieser Begriff kann der „ärztlichen Nonn'' m-
grunde gelegt werden, ja, dieser neu gebilditf . alicr nirlit eng genu^ be-
grenzte Begriff kann durch den Begriff der „wiss^inscliaftliclirii l'berzeugung"
vollständig ersetzt werden. Übrigens ist dieser Begriff uns schon längst
geiinfig, und wir yewtehen darunter etwas gans Beetininrtas, ein Beirais
dafir, daß er gut nnd nicht ersatzbedarftig ist. Bei Abgabe eines Sacii-
verständigengutachtens spielt die wissenschaftliche Überzeugung bekanntlich
auch eine grosse liolle. Es kommt nicht selten vor. d.a(} ein Sachver-
ständiger unter Eid eine objektive Unwahrheit ^) sagt; bei widerspreclienden
Gntaehten nm0 ndndeslena daa efaie ob|ekfir Mseh eein. Eine Bestrafung
1) So z. B. Frank, Kommentar zum R-St-G.-B., Vorbemerkung zu § 5t.
2) Das äntlicbe Becht zu köipsriichen Ellgriffen an Kranken und Gesunden.
Basel 1892.
S) Operativer Eingriff und Körporvo^etzuug. Berlin 1693.
4) SelbetmstindHefa ist Uer die objektive Unwabriieit nkfat als eine
offenkundige Unwahrheit aufzufassen, da wir aus dem Widerspruche zweier
Urteile ja nur pdilifln-n können, dalJ das oini- Avabr und das an<b're falt^ch f^cin
niuLi, nicht aIxT, weicht.-!« falsch ist, und zwar wegen unseres in manchen Dingen
uuzureiclionden ErkcnnungtivermOgeus.
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190
Beeprechungea.
wegen Eidesverletzung erfulgt aber nicht, sobald der Sachverständige nach
seiner wissenschaftlichen Überzeugung begutachtet hat
Hier ist also im Hinbliek auf die unter 1^ aoegengte objektire Un-
wahrheit die »Wissens f Ii a f 1 1 i ( Ii e Überzeugung" der Strafaus-
ßclili( i;iin<,'8grund; iiiclit miuder auch bei ärztlichen Eingriffen. Wo
aber eine eigene wisaeubcliaftliche Überzeugung bezüglich der Behandlung
eines bestimmten Kranlüieitsfalles naclizuweiseu ist oder wenigstens deren
Vorhaadenaein g^bbaft erBchein^ iat die wiaaeoBehafHidie Überaengung und
Übung anderer Fachmänner guix gleiehgttltig, denn niemand lumn ange-
halten werden, von seiner Überzengting abzuweiclion nnd sich einer anderen
anzuschließen. Daher kann die „Übung gewissen liafter und gebildeter Ärzte**
wohl als ,,Uich tschn ur für ein objektiv richtiges Uandehi" eines Arztes
Bedeutung haben, nie aber kann sie ab eine aUgiraiidn anbnsteliende und
bmdende .,ärztliclie Nonn'' den alleinigen Strafausschließungsgrund
bei ärztlichen Eingriffen bilden. Daher ist der Begriff der „ärztlichen Norm"
zu reduzieren auf die „wissenschaftliche Überzeugung" des Handelnden.
Und diese mur> in der Tat als ein Strafausschlie^^ungsgrund auch bei
iratfichen Eingriffen anerkannt werden, niebt aber als der einzige; denn
der StrafausschließungBgmnd der „wissenschaftlieben Überzeugung'' ist nur
ein Notbelu'lf, er kann nnr dann in Betracht gezogen werden, wenn andere
konkrete Strafausschließungsgründe fehlen. Als solche sind hervorzuheben:
einmal die Einwilligung des Patienten, sodann die Amts- und BerufspfUcht
des eingreifenden Antea. Können diese Umstiade als StrafaossflhließungS'
grOnde niebt in Belradbt kommen, z. B. bd Unmöglichkeit der Ein-
holung einer Einwilligung, dann bedingt einzig und allein der
Nachweis der die ärztliche Handlungsweise begründenden ,,wissenschaftlichen
Überzeugung^^ die Straflosigkeit des Arztes. Verfasser zählt auf S. 26
drei bieAer gehörige fUle auf: 1) den Fall der Bewuflflosigkeit, verbundeo
mit der Notwendigkeit sofortigen ftrztüehen E^grofens; 2) den Fall der
Minderjährigkeit oder mangdnden Geistesffthigkeit, verbunden mit dem
Fehion eines Vertreters des Patienten; 3) den Fall schwerer Erkrankung
und damit verbundener Unmöglichkeit der Mitteilung möglicher schwerer
Folgen eines ärztlichen Eingriffes, wegen der dem Patienten dadurch ver^
unaditen sehidliehen Aufregung. Mit dem Oewohnheitsredit und drai
sittlichen Zweck als Strafausschlief^ungsgrUnde wird die Praxis wohl kaum
zu rechnen haben. Welcher der (hei konkreten Strafausschließungsgründe
jeweils die Straflosigkeit des eingreifenden Arztea bedingen, die EinwilU-
gung des Patienten, die Amts- und Bemfspflicht oder die wiaeenscliaftlidie
Uberaeogong des Arstes, muß der jeweitige Tatbestand ergeben; irrig aber
wäre es, einen einzigen denselben von Toinberein als den allein mafigebenden
hinstellen zu wollen.
'IVotz der Bezeichnung der „ärztlichen Xorra" als Grund der Straf-
losigkeit (S. 69) glaubte doch Verfasser im Schlußsatz seiner Beobachtungen
(S. 75), auch die Einwilligung des Patienten als sehr maBgebenden Faktor
bei der Beurteilung der Straflosigkeit Ärztlicher Eingriffe nicht aussef adit
liLssen zu dürfen, indem er sie der „ärztlichen Nonn*' gewissermaßen ko-
ordinierte mit den Worten: .Jeder nach Maßgabe der ärztlichen Norm
nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten vorge-
nommene Arztiiche ESngriff ist straflos.*'
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BoricbtigQng.
191
Eine stieug logiech durchgeführte KuDütiuktion der ,,urztlicl)eu Nunii"
ab Stntfansscfaließangsgnind Snttich-operativen Eingriffen ist dem Ver-
faaaer al^o niolit ^a^lungen. Abgesehen von mehreren bei der Untersuchuog
wissenschaftlicher Fragen sehr cnthehriiehen PbiMen verdteot die Dieeer«
tttiou als FleiÜarbeit Anerkennung.
Beriehttgnng.
KttfsBdi habe ieh die Memoiren einer Sftngecin besproohen. Am Ende
habe ich üi Fteenthese büizugefügt, daß dies Werk angeblieh von der
berühmten Oorona 8cfar5ter heirOhrt Ich werde nun von anawlrto daranf
anfmerinaiB gemacfal^ daß hier ein frtaler lapBos caUuni voiiiegt Und dem
ist in der Tat so. Ei handelt aieb nm eine andere berOhmte Singerin:
Wilhelmine Sehröder ^ die ipiter ab die Bittenreine nnd von all ihren
Zeü^enoflsen wegen ihrer trelEBehen menachHehen EigenBchaflen hochgeach-
teten CSorona SofarOter^ der Freondin von Goethe nnd Schiller, lebt«. Schon
daß die YeifasBerin jener Memohien Wagnern Opern kennt, spricht gegen
die Corona SehfOter.
Dr. P. NIeke.
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VERLAG VON F. C. W. VOGEL IN LEIPZIG
DIE ERSTE HILFE IN NOTFÄLLEN
FÜR ÄRZTE BEARBEITET
VON
PROF. DR. G. SULTAN
UND
PRIVATDOZENT DR. E. SCHREIBER
IN OÖTTINQEN
Mit 78 Textfiguren. Preis in elegantem Leinwandband 8 Mk.
r)as vorliegende Buch verdankt seine Entstehung lediglich dem Um-
stände, dass ein solches für Aerzte bisher nicht existierte und
weil tatsachlich ein Bedürfnis dafür vorhanden war. Die Herren
Herausgeber haben sich nicht auf das Gebiet
der Chirurgie und inneren Medizin beschränkt,
sondern durch Heranziehung von Mitarbeitern
möglichste Vollständigkeit auf allen Gebieten
der Medizin erstrebt, wie aus nachfolgender
Inhaltsangabe her\'orgeht: — G. Sultan, Die
erste cliirurgische Hilfe. — Hermann Palm, Die
Hilfeleistung bei plötzlich auftretenden Erkran-
kungen undKompiikatlonen auf geburtshilflich-
gynäkologischem Gebiet — Franz Schieck,
Die erste riilfe bei akuten Erkrankungen und
Verletzungen des Auges. — G. Heermann,
Die erste Hilfe bei Verletzungen
und plötzlichen Erkrankungen
des Ohres. — E. SCHREIBER, Erste
Hilfe bei plötzlichen inneren Er-
krankungen. — L. W.
WEBER.Die erste Hilfe-
leistung bei plötzlich
auftretendenOehimer-
krankungen, nament-
lich bei Geistesstörun-
gen und Krampfanfäl-
len. — E. Schreiber,
Die erste Hilfe bei
akuten Vergiftungen.
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VI.
Zar Psycbologie der ZeugenansBagen*
Betrag zur psychologiBchen Analyse der Stirn mang, insbeBonclere
der Suggestion in ihrer forensischen Bedentong.
Bmob 9tihnäklkmrt, BeehtspraktilEiiit fai Mflnehen.
„Stimmung^ deren Bedeutung in foro wir hier näher zn unter-
suchen uns Yorgenommeii haben, ist ein durcli besondere Umstände
hervorgerufener momentaner psychischer Zustand eines Menschen oder
einer ^lenschengruppe, dessen Erkennbarkeit unserer Aufmerksamkeit
unterliegt. Es scheiden mit dieser Begrenzung von vornherein alle
jene Fälle der Stimmung aus, die der Möglichkeit unserer Beobach-
tung und Heurteiiung entrückt sind, z. B. die psycliisehe Erregung
beim I>esen eines si>annenden Romans (insbesondere vor dein Nacht-
schlaf), dieSeelf iKiualm eines unrettbar dem Tode geweihten Mensehen;
in engerer Beziehung ai)er auch alle jene Fälle der Stimmung, die
der Erkennung und Beurteilung in foro entzogen sind.
Bei der Stimmung haben wir zunächst zwei ihrem Entsteliungs-
grund entsprechende Seiten zu unterscheiden: eine aktive und eine
passive Seite. Jene bedeutet das „Stimmung machen", diese
das „Gestimmt werden*^. Die Stimmung untersteht als Seelenzu-
stand dem Gefühl svermögen; je nach der Beschaffenheit eines
Objektes oder einer gegenstSndlichen TStigkeit werden angenehme
oder unangenehme Gefflhle in der menschlichen Seele geweckt
LetzterenfUls spricht man von ^Verstimmung'*. Beide Arten der Ge>
fühle kennen sich bis zu einem gewissen Grade einander nähern, ohne
sich aber zu berfihren und einen Gegensatz hierdurch erkennbar zu
machen; das inzwischen liegende, die beiden Gegensätze scheidende
Gebiet ist der indifferente Gefühlszustand, der sich andererseits
wieder unterscheidet von dem Zustand eines sogenannten gemischten
Gefühls. Dieser ist aber nicht als selbständiger, eigentlicher Seelen-
zustand aufzufassen, da er nur durch den unbewußten raschen
Wec hsel von angenehmen und unangenehmen Gefühlen ^eugt wird.
Arcbir fOr KriininalftnÜuopol<«ie. XUI. 13
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104
VL SüHJH EIÜRJEBT
I. Die passiTo Seite der Stimmnngr.
Die Stiinmunp:, dio durch die bewußte oder unbewulite Tiitig-
keit eines anderen verursacht wird, soll hei der Untersuchung der
aktiven Seite der Stininiun^^ ihre Beachtung finden. Iiier dagegen
soll ein Wort der Stinamung als einer unmittclbarea Folge des
Selbstdaseins gewidmet werden. Die Gefühle sind dem Grade
sowohl wie der Art naflh yenehieden; je naeli den mehr oder weniger
lebhaften Geftthlszuatänden nnteracheidet man hier wieder Anwand-
lungen und Affekte. Während die Anwandlungen kaom noch
ins Bewußtsein treten, sind die Affekte^ wie Frende^ Schmerz, I\irobt,
Angsti Schrecken, Äiger, Zorn auch der Außenwdt erkennbar. Diese
sind es daher anch, die uns mehr interessieren. Unser Forschen hat
sich weniger anf das Dasein als anC den Ursprung, die Ursache
der Affekte zu richten, um den Grad und die Wirkungen derselben
zu erkennen und richtig beurteilen zu können. Während die Grade
d e s G ef ü b 1 s , insbesondere die Affekte, eine unzweifelhafte Stimmung
im Menschen hervorznmfen TermSgen, ist dies keineswegs immer der
Fall bei der Empfindung, einer Art des Gefühls. Die Empfin-
dung, das Innewerden der mannigfaltigen, den leiblichen Lehenszustand
begründenden Ix-henstätigkeiten, ist in gesundem Zustande an die
Tätigkeit des Nervensystems gelmnden. He wüßt wird aber die
Empfindung nur dann, wenn die Ix'henstaligkeiten, die Funktionen
der Lei)ens()rgane gestiirt werden, in krankhaftem Zustande sind
oder überhaupt von der Kegel ahweielien. So kommt es, dab
nur die hewultten Emjif indungen geeignet sind, eine gewisse
Stimmung der Seele hervorzurufen. So beispielsweise Kopfweh, Zahn-
weh, Unregelmäbigkeiten in der Herztätigkeit, Menstruation, Klimak-
terium, Schwangerschaft Nicht minder als die Empfindung ist auch
noch eine andere Art der Gefllble, das sittliche Gefühl, das Ge-
wissen mit seinen Abarten des Ehr-, Rechts- nnd Pf lichtgef Ahls
stimmnngserzengend, zumal wenn seiner normalen Funktion Hinder-
nisse entgegentreten. Man denke z. B. an eine kriminelle VerdSoh-
tigung, den Vorwurf der Lfige, der Ungerechtigkeit^ der Fflichtver>
letzung. Wohnt dem Menschen ein sittliches Gefflhl inne, so wird
nicht bloß bei offenkundigem Abweichen von der Wahrheit, d. h. der
Übereinstimmung der Gedanken mit der Wirklichkeit, die Stimmung
des ertappten LOgners ge&ndert, sondern auch die Stimmung des
nie h t ertappten Lügners. Wir erkennen diese Änderung der Stimmung
in erster Linie durch ein zögerndes Anwortgeben, verbunden mit
lisycbologisch zu erklärenden Beflexbewegungen und -Wirkungen
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Zor Fqrohologie der Zeagetuniasageii.
196
(Angenniederschlagen, scheuer Blick, Erröten usw.l Ein solcher
Mensch muß, um Widersprüche zu vermeiden, jede Antwort zuerst
iib er legen, sie prüfen, ob sie den eingeschlagenen Weg dtT Lüge
nicht kreuzt; daher die auffallende, pitjtzlich eintretende Vorsicht
und Schüchternheit beim weiteren Verlauf des Verhörs.
Erwähnt mag hier noch werden, daß auch die Artung des
Temperaments einen unbewußten Wechsel der Stimmung bringen
kann, wie auch Witterung, schlechter Schlaf, Träume, Musik usw.
eine gewisse, aber für uns mehr bedeutungslose Stimmung im Menschen
herrufen können i)>
WSbrend die Erfonohung dieier stimmimgenEeagendeD ümBOiide
aohon lange als Aufgabe der KrimmalaiithrGpologie angesehen werden
kann nnd auch ndion zu bestimmten Besaltaten gefflhit bat, kann ee
nicht Aufgabe dieser Abbandlnng sein, im einzelnen näher auf sie
einzugehen. leb wende mich daher zu der zweiten Gruppe der
stimmungerregenden Umstünde, deren Erforschung in mancher Be-
ziehung recht iflckenhaft ist
IL Die aktive Seite der Stimmung.
Eine nicht geringere Bedeutung als jene hauptsSchlich durch die
innere Beschaffenheit des Menschen bedingte Art der Stimmung hat
die durch äußere Umstände verursachte Stimmung. Welches
sind nur diese äußeren Umstände?
1. Die Suggestion. Suggestion ist die bewußte oder unbe-
wußte Beeinflussung des Denkens oder Tuns eines Menschen seitens
dritter Personen. Da das Tun selbst eine stimmungerzeugende Kraft
in sieb tragt^n kann, wie alle die auf die Befriedigung eines sinnlichen
oder geistigen Ocnnssr-s gerichtete Betätigungen, z. B. Essen, Trinken,
Kauelien, Baden, »Singen. Pfeifen, Lesen, Musizieren usw., ist auch
die Suggerienmg einer solche Betätigungen begleitenden Stimmung,
sowie die Suggenerung einer solchen Betätigung selbst leicht denk-
1) V<;I. (I ni , Kriiiiiii.'ilpsv cliolui^io, S. .")li)f.; fornor Niickf. Archiv XII,
S. 269 Weun zwischen der Wahnielituun^; und der Vernehmung de» Zeugen ein
Zeitraum von mehreren Tfegon oder gar Wochen liegt, dürfte eine Erforachnng
der Stimorang am Tage der Wahmehmimg durch Befragen des Zeugen, ob er
in I i vorausgegangenen Nacht gut oder schlecht geschlafen habe, vrieNKcke
a. :i. < >. \ orschlägt, keineswegs an/.umten sein, ila man nur zu leicht eine netie
Fehlerquelle so schaffen konnte. Wenn wir nicht üelb&t in der Lage sind, die
Unache nnd Wirktrag dnea Stimmung erzeugenden Fakton nnmittelbar an er>
foiachen besw.aa bedbaditen, so hat das Urteil ehiea Laien hiecfiber Ittr uns
gar keinen Wert, im GegeDteii, es Itann fOr nna selbst eine Fehlerquelle werden.
13*
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196
/ VL ScraiBIGKEBT
bar. Doch niclir als diese Art der Heeinflussunp: niiili uns in krimi-
neller Hinsicht die Beeinflussung des Denkens eines Menschen
interessieren, besonders wenn wir die psychologische Zergliederung
der Zeugenaussagen im Auge behalten sollen'). Von der sugge-
stiven Beeinflussung der Rieliter und Geschworenen durch Staatsanwalt
und Verteidiger, von den an Zeugen und Angeklagte gerichteten
Suggestivfragen haben wir schon viel gehört und brauchen uns
hier auch nicht mehr nfther darauf ebzulassen, da dieser Art der —
größtent^b bewußten und gar aggreesiT«! — Suggestion eine andere
Bedeutung zukommt als der Suggestion einer Stimmung, mit der
wir nns hier ToniebmUeh beeehlftigen wollen.
Zun ersten Haie bat die iVage der Suggestion in foro eine grofie
fiolle gespielt in dem bekannten Osynski-Piosesse^) im Jahre 1894,
noch me viel bedeutendere Bolle aber in dem zw« Jahre darauf in
Mttnchen durchgeführten B erch toi d -Prozesse'). Ohne die in den
erwähnten beiden Arbeiten besprochenen Einzelheiten dieser Prozesse
zu berüliren, Avollen wir uns die Frage vorlegen: was hat uns der
Befchtold-Prozel^ in Beziehung auf die Suggestion gelehrt? Die zu-
sammenfassende Antwort lautet: Je sensationeller die Verbrechertat
und deren Folgen sind, desto vorsichtiger muli die Vorunter-
such ung^) geführt worden, um die Beweise zu sicliern, inbesondere
die heillose Wirkung der Suggestion und Erinnerungsfälsehung mög-
lichst zu verhindern. Tatsächlich sind in diesem Prozesse viele Be-
weise — und zwar die wichtigsten — durch die unvorsiclitig geführte
Voruntersuchung wenigstens verdunkelt worden''). Als Gründe
dieser Verdunkelung der Beweise und zwar durch Suggestion wurden
1) Trotzdem f^twAie ich auf die kriminelle Bedentung der Saggeriernng
einer Tätigkeit hinweisen zu mQ^i^eu, indem ich an die volkstümlich aus-
gedrückt — „ansteckenden Beispiele" berülmit «tcwomUih i Vt ihrcclior erinnere:
Jack, der Aufschlitzer; Verrohung der Jugend durcli die Lektüre der Indianer-
geschichten, die unsere jugendlichen Raobmörder vorbildete; KnciN, der aweite
bayerische Ilicsl, u. a.
2) Vf;l. die diesen l'rozeP hchandelnde Schrift TOn W.Preyer, Ein meric-
wflrdif?cr Fall von l-'aszination. Stiittirait IVi'».
ü) Vgl. diu diesen I'rozui> kriiibch behandelnde Arbeit von Dr. v. Sehrenck-
Notzing, Über 8it^ge»tion and EMnneningaflUacfaang fan Bercfatold-Pltwef.
Leipdg 1S97.
4^ Wie Iclinvicli ist der Rrrclitold-ProzcP für die Gegner der VoiWlIer-
Buchung! (1 her letztere FrajLH' vjrl. (irol^, Archiv Xll. S. Ktlff.l
5) Der Verteidiger, Rechten »alt Dr. v. l'annwiiz, erhob in einer Kede
— a. a. 0. B. 78 n. W — den Vorwurf, daß die Yorantersnchung gevadeKn
öffentlich geführt wortlen sei und zwar unter den Aiiq>iden nnd inaognriect
durch die kdnigl. Poliaeidirektion München.
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Zur Psychologie der Zeugenaussagen.
197
von Seiten des Verteidigers wie des psychiatrischen Sachverständigen
V. Schrenck-Kotzing hervorgehoben:
a) Die Beeinflimanng der Zeagen durch die Preese nnd Polizei-
berichte 9«
b) Die Anshändignng zweier PortrSts des be8chiildi|;;teii Hörden
durch die Polizeibehörde an die Presse und die Ansatelluig derselben
sowie Verbreitiing von schlechten Beprodnktionen durch Tages-
zeitongen^).
c) Die Äußerung des Ministers des Innern gelegentlich einer
Interpellation in der Kammer der Abgeordneten *).
d) Die zu spät erfolgte Aussetzung einer Prämie von 1000 Mark
für die Überführung des Mörders*).
c) Die Art der Konfrontation der auf die Auff<»r(lenin^en in dw
Presse hin sich meidenden Zeugen mit dem Beschuldigten -'j.
Zu all diesen Suggestivfaktoren kam dann noch die Sensation
des lalles, die aulierordentliclie Erregung und Beängstigung des
Publikums, die durch die Tatsache, daß von den in der letzten Zeit
in Bayern vorgekommenen Mordtaten nur die wenigsten — der Ver-
teidiger sprach sogar von 100 Prozent! — aufgedeckt worden sind,
recht erklärlich ist').
Zur Kritik dieser als Suggestivfaktoren erkannten Umstände noch
einige Worte. Daß die soeben aufgezShlten Faktoren geeignet sind,
dem Publikum, insbesondere den als Zeugen etwa in Betracht kom-
1) Vp^. die AofflUmmgai von Schrenck-Notzing a.a. 0. & 14£f.» 61,
105, 107 und die Rede des Verteidigers ebcndort. S5 u. 86.
2) a. a. 0. P. 21. "I, '^i, S6, 97 ff. Auch der Staatsanwalt niiiJH» rage-
stehen, dal' die Photographie ^emiDent suggostiv* sei (a. a. 0. S. 89).
b) A. a. 0. S. 67, 86, 89, 90.
4) A. 1. 0. S. 19, 89, 86, 89, 96. Der dielbche Mord wurde am 14. Febratr
1896 aasgeführt, die amtüche AiUHcfareibimg der Plinde erfolgte am 28. Febmar
1896 in der Presse.
5) A. a. 0. S. 74, SO, 84, 86, 77. Nicht mit Unrecht tadelten Verteidiger und
Sachverständiger v.Schrenck-Notzing den bei derVonintersachung begangenen
Fehler, dal mtm den obwaltenden ümetindeo den Zeagen nicht mehrere
Mannapenimen vorgeführt, nicht mehrere Photographien vendriedencr Manns-
personen und nicht mehrere Kleidungsstucke zur Itekognosziernng vorgelegt
wurden, da doch ein ganz wichtiger Teil des Schuldbeweiscs auf dem psycho-
logischen Problem des Wie dererken neos berabte.
6) A. a. 0. 8. 93, 62, 68, TS, 84, 85, lOT. Es lassen aich , wie v. Schrenck-
N otzing a. a. 0. S 107 meint, auch Zustände von Angst, Schrecken, sensationeller
Aufrefriinir. poIkiIiI sie dai» Puldikum oder auch nur einen Teil desselben ergreifen,
recht wohl als psychische Epidemien auffassen. Vgl. auch die hier ein-
schlägigen Auslassungen des Verteidigers a. a. 0. 8. 85.
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198
VL ÖcjiNxaclUBT
menden Penonen eine yerhängnisvoUe Stimmung zu saggeneven,
braucht biet nicht erst bewiesen zu weiden, der Berehtoldprozeß hat
dies ja schon getan. Soll nun, fragt t. Schrenck-Notsing & a. 0.
S. 106, „angeeichte der brutalen Logik solcher Tatsachen die Beohta-
pflege ihre alten Wege weiter wandeba, ohne sudi um die ürrnngen-
Schäften der neueren Psychologie zu kümmern? Wenn irgendetwaa
die RecbtBBicberheit gefährdet hat oder gefährden kann, dann ist es
das konservative Beharren an veralteten Einrichtungen und der Wider-
stand gegen die fortschreitende Erkenntnis, dagegen ganz gewiß nicht
eine praktische Nutzbarmachung der Suggestionslehre !"
Nun darf man aber ja nicht denken, daß der Berchtold-Prozeli
oder der ihm vorausgehende Czynski-l'rozcl'» vom Jahre 1894 die Ge-
burtsstätte der „Suggestion"^ uns enthüllte. Man sollte es aber geradezu
meinen, wenn man einige Aulterungen von Medizinern und Juristen!
aus jener Zeit sich vergegenwärtigt So sagt z. B. Prof. Dr. Moritz '),
daß mit dem Schlagworte „Suggestion" ein unnötiger Terminus in
den Gerichtssaal gebracht werde, der den Geschworenen — (warum
denn nur diesen?!) — nicht geläufig sei, hinter dem sie etwas Un-
bekannteSi in seiner Wirkung nicht Abschätzbares vermuten, wodurch
die Klarheit ihres Urteils beeintrfichtigt werden könne. Fast unglaub-
lich ist die dnreh folgende Ävßemng eines Jnnsteii über die Sug-
gestion bezeugte Unwissenheit in diesem Punkte.
„ . . . Die neue Bescich&Qng mit dem Yomehm klingenden Fremd-
wort ,Sagge8tion* Ist aber geOhrlieh; de erweckt die VorBteUang von
etwas Pathologischem (!) an der Person, die der 8ii^;<i8tion unterlegen sdn
soll; nun mag es ja sein, daß in 50 oder 100 Jahren der Psychiater mit
Hilfe von Böntgenstrableo (!) oder anderen Mitteln unserm Auge den Vor>
gang der Beeinfimsung durdi andere dehtbar (!) macht Zur Zeit aber ist
die FlByehiatiie noch nicht bo weit''2) (!)
Es scheint feal^ als wollte t. Sehrenck-KotEing selbst die Sug-
gestion als ein Produkt der Keuzdt anttsssen, wenn er a. a. 0. S. 104
sagt: „ . . . Mit der Einbürgerung des Ausdrucks («Sug^
gestion**) selbst folgt, wenn auch langsamer, doch schliefilieh auch
der richtige Begriff, das richtige Verstindnis des damit beseichneten
Vorganges'^.
Glaubt man etwa, daß unser Strafprozeßrecht vor 100 Jahren
nichts von Suggestion gewußt hat? Oder sind es nicht vielmehr die
nen auftauchenden, aber verkannten Suggestionsfaktoren
unseres modernen Verkebrslebens, welche Leute das Wesen der Sug-
t) Die SiifTfirestion im ProzeC Bcrchtold. Münchner med. Woch. 1896. Nr, 43.
2) .Mitgeteilt von Schrenck-Notzing, a. a. 0. S. 103. Note 1.
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Zur Psychologie der Zcugenauasageu.
199
gestion so vielen unverständlich macht? Die Suggestivkraft der Presse
konnte unseren Vorfahren freilich nicht bekannt sein, da jene in alten
Zdten gewiß nieht den Änspmdi auf ^Mithilfe* bei der Yoninter-
Baohung erhoben haben wird. Die Photographie iBt auch erst dureb
die Erfindung Daguerres im Jahre 1839 praktisch verwertbar ge-
worden. Kurz, die ganze Art nnsereB fr&beren StrafproseBses war der
aus der Öffentlichkeit herrührenden Beeinflnssnng Ton
Zeugen dnrch Suggestion hinderlich. Aber gleichwohl wußte man
schon damals, was Suggestion ist, und daß sie eine Tcrderbliche Wir-
kung bei den Zeugenaussagen haben muß; daher war sie auch den
richlerlichen und Untersuchungsheamten verboten. Als Beweis für
mdne Behauptungen brauche ich nur dnige Vorschriften des Straf-
gesetzbuches für das Königreich Bayern aus dem Jahre 1813, das ja
in der Entwicklung unseres heutigen Strafreclites bekanntlich eine
nicht unbedeutende Bolle gespielt hat, hier wörtlich zu zitieren.
Zweiter Teil. Von dem Prozeß in Strafsaehcs.
I. Bneh, 2. Titel, 2. Kapitel: Artikel 213.
Die einem Zeugen vorzulegenden beBondcren Fragen niiisson:
1. rticksichtlicli aller näher zu erörternden Umstände erschöpfend,
2. bestinunt und deutlich abgefaßt,
3. nar auf einen elnzigmi Tstnmstend geriditi t, ftborhanpt
4. unverfänglich sein, und
5. keine bestimmte Vorhaltung des fraglichen Unistandes selbst
(Suggestiun), zumal keines Hauptumstandes der Ta^ in sich
enthalten.
Was die Vernehmung des Angeschuldigten anlangt,
kouuiien fuigende sehr bezeichnende Artikel in Betracht.
Zweiter TeiL Unerlaubte Mittel zur Erlangung eines
Geständnisses.
I. Bach, Ii. ütel, I . Kapitel, Ziff. V.
1. Betrügliche Versprechungen Art. 181.
Der Unteraucliungsrichter, welcher durch daa Verspreclien der Unge-
Btrafthdt, oder anderen Betrog, eb Bekenntnis der Scfanld za erlangen mSki,
ist von dem Obergericht m Strsfe zn ziehen. Aneh ist ein dadurch
veranlaßtes Bekenntnis unwirksam.
2. Verfängliche Fragen: Art. 1S2.
Desgleichen soll sich der Untersudiungsrichter aller verfänglichen
Fragen enthalten.
Dahin gehören alle nnheethnmten, vieldeutigen, verBehiedene Umstinde
zuL'^leich umfassenden Artikel, wie andb solche FVagSD, wobei voransgesetzt
wird, :ils liabe der Inijuisit bereits etwas anderes gestanden, w.is von ihm
entweder geleugnet o<ler weniirstens noch nicht eingestanden worden isL
3. Unerlaubte Suggestionen: Art. 183.
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200
VL SciLNLICKEUT
Abs. I. Fragen, weldie dem Inqnisiten den besonderen Umibuid, deo
man von ihm (ungeetanden haben will, zur bloßen Bejahung oder Vemei-
nong bestimmt v<»i"safrpn, sind in der K<^gel verboten.
Aus dem Nachlasse dieses bayerischen Strafgesetzbuches wwdra
leider derartige ßestimmunpren nicht anerkannt and übernommen, so
daß es scheint, daß der Begriff der Su^^gestion im Laufe der Zeit
ganz in Vergessenheit g:eraten ist, bis ihm die beiden Sensationspro-
zesse der 90 er Jahre als unverständliches, „gefährliciies" Neu^ebilde
wieder zum Vorschein Itrachtt-. Unsere StrafprozelJordnung j::laubte
das rii'iiti^a' Mali anzuwendender List und psychischen Zwaup s dem
Taktgefühl der mit der Vernehmung von Zeugen und Heschuldigten
betrauten Personen überlassen zu kiJnnen. Ein sonderbarer Fortscliritt!
Ob man bei der Reform unseres Strafprozelireelits auf die überaus
seliädlielien Wirkungen der Suggestion wird Rücksicht nehmen, ist nach
unseren heutigen Erfahrungen gewiß keine überflüssige Frage mehr!
Wir wollen uns hier nicht weiter in den Untiefen unserer heii>
tigen SiP.O. yerlieren, sondern wieder zurückkehren zur Kritik der
modernen SuggestionsmitteL
Die VoninterBiiehung ist nach unserer StP.O. geheim zu führen.
Selbstycrständlich kann dies nicht geschehen, ohne daß die Außen-
welt etwas dayon erfährt; denn die Polizeiorgane haben als Gehilfen
der Staatsanwaltschaft Recherchen zn pflegen, es werden einzelne
Personen aus dem Publikum zeugenschaftlich vernommen, und so
kommt es, daß die Verbrechenstat mit ihren Einzelheiten zum Tisch-
gesprSch, zum täglichen Unterhaltungsstoff dient DagegM Ifißt sich
auch nichts Bedenkliches einwenden; denn wenn man von verderb-
licher Suggestion redet, müssen immer einflußreiche Faktoren die
^Stimme führen^. Der Gescheitere beeinflußt den weniger Gescheiten,
der Kräftigere den Schwächeren, sagte mit Recht der Sachverständige
l*rof. Dr. Grashey'). Es wurde in erster Linie die Presse als
mächtiger Suggestivfaktor bezoiclinet. Dali sie Einzelheiten einer Ver-
brechenstat berichtet, soweit sie von jedermann zu erfahren sind, ist
ein unbestreitbares Rt.clit der Presse. In dieser Richtung dient sie
der Allgemeinheit, dem öffcntlieben Verlangen. Scharf zu tadeln ist
es dagegen, wenn sie in einer ihr durchaus nicht zukommenden Weise
in den Gang der Voruntersuchung eingreift und sich eine Mithilfe
hierbei anmaßt, von der sie anch noch glaubt, „daß sie von maß-
gebender Seite gern anerkannt" werdet, die aber, wie die Erfahrong
heute schon lehrt, von einer recht verderblichen Wirkung ist. Es ist
1) Vgl. ächrenck-Nut7.ings mchi-fach zitierte Abhaudluug. $.61.
2^ Ebenda, S. IS.
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Zur PBydiologie der Zeugenannagen.
201
ein höclist merkwürdiges Gebaren einer Presse, wenn sie, wie es in
neuerer Zeit zur Mode geworden ist, Reporter aussendet, die zu
„recherchieren", insbesondere die Hauptzeugen einer Verbrechenstat zu
„verhören" haben, nm so täglich ihren liCsern interessante Mitteilungen
erzählen zu können. Und erst die Konkurrenz der zahlreichen Tages-
blfttter, von denen jedes eub erkttilidiein Interene auf dk FrioritSt
deB BericbteB bedacht iatl Wenn man im allgemdnen wie auch im
besonderen die mit der Yoronteraachnng beauftragten Beamten
jeweiJs zur Vorsicht zn mahnen Gelegenheit nimmt*)» damit sie
ja nicht bei den Vernehmungen und den sonstigen das Haöptyerfiahren
Torbereitenden Handlungen die Beweise verdunkebiy zu was milOte
man dann erst die bezüglich ihrer kriminalistischen Kenntnisse und
ZuTerlSssigkeit durchaue unkontrollierbaren Reporter ermahnoi? Hier
kann nur ein unnachsichtiges hands off! da^^ richtige Mabnwort sein!
Bedenkt man aber, daß eine solche Mithilfe" der Presse vor der
Vomntersnchnng von maßgebender Seite keinen oieigiscben Protest
erfährt, vielmehr stillschweigend mit angesehen wird, so kann man
sich die Schlußfolgerung der Presse auf die „Anerkennung ihrer Mit-
hilfe'' durch die „maßgebenden'' Personen eigentlich leicht erklären.
Der Tagespresse wurde bezüglich ihrer irt^'nauesten Informierung
des Publikums ül)er Verbrecliertaten von kriniinalistischer Seite noch
nichts Gutes nachgerühmt, dagegen nannte man sie schon mit Recht
den ^.Katechismus des Verbrechertinns ' '). Welclien Nutzen soll es
andererseits für die \'oruntersuchung bringen, Leute, die irgendwelche
Anhaltspunkte zu der Verbrechenstat geben können, aus eigener
Initiative aufzufordern, der Redaktion einer Tageszeitung
hienron Hittdiung zu machen bei Zusicherung strengster Dis-
kretion?! Dazu kommt dann noch die jedes Haß fibeisteigende
Kritik und Beurteilung der erhobenen Tatsachen und Zeugenaus-
sagen! Was muß es auf die Zeugen ffir einen Einfluß ausüben, wenn
sich eine Tageszeitung, die 16 Tage lang seit der Verbrechertat ohne
jede Beanstandung seitens der üntersuchungsbehdrde täg-
lich das Ergebnis ihrer Nachforschungen den Lesern berichtet, auf
einmal die „Kette der Indizienbeweise'* für geschlossen erklärt und
geradezu apodiktisch behauptet: „Es dürfte nunmehr jeder Zweifel
ausgeschlossen sein , daß Bercbtold der Mörder isf" *), Die in Be-
tracht kommenden Hauptzeugen konnten nun nichts Besseres tun, als,
1) Vgl. Hans OroB, Handbndi f . Untenochnngsrichter. 3. Aufl. S. 281ff.
2) T. Schrenck'NotsingB ziti«ite AbhaBdlimg. & T6, 105, 106.
.'!) Ebenda, S. IS, 19.
4) Ebenda, S. 20.
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202
VL SCHXEICILEBT
sich auf die Haoptvetbandlnog vor dem impoflanten Schwnigerieht
vorbereitend, ihre so oft wiederholten, aber bisher noch durch manche
Zweifd getrabten Aussagen zu «»prSzisieren**, am nidit dnrch un-
bestimmte und widenpruchsTone Depositionen den Qang der Verhand-
lung zu stören, und um andererseitB dem positiven Ergebnisse der
Vomntersuchung, das ja nach der Ansicht der allwissenden Presse
zweifellos war, gerecht zu werden. —
Am t4. April, also etwa am 58. Tage der Voruntersuchung, hat
die Polizei endlich selbst diesem Treiben der Presse Einhalt getan,
indem sie ein Schreiben an die Tagesblätter richtete, sie möchten Ein-
halt tun '). Daß dies jetzt schon zu spät war, ist selbstverständlich,
wie CS auch nicht von Belang ist, daß einige kleinere Tagesblätter
schon vor diesem Termine Gegenansichten brachten; denn ^der Ge-
scheitere bceinflunt den weniger Gescheiten, der Kräftigere den
Schw^ächeren", daher wird sich der suggestible Mensch auch gewili
nicht mehr von einer weniger verbreitt ten, „weniger gut unterrichteten**
Tagespresse nachträglich beeinflussen lassen. Je verbreiteter, je besser
unterrichtet, je intensiver die ^ Mithilfe*^ einer Tagespresse ist, um so
mehr behält sie als Soggestivpresse die Oberband.
Wie wXre hier Abhilfe zu schaffeii? Der Verteidiger Xnßerte die
Meinung*), daß der Gesetzgeber nach diesem Prozesse die Pflicht
habe, hier anzugreifen, und begründete dies damit: Wenn es yer-
boten sei, vor der Hanptrerhandlung aus der Anklageschrift Notizen
in die (yffentlichkeit zu bringen >), dann kSnne man auch TerbieleD,
daß Aber die Voruntersuchung etwas yerSffendicht werde. Es ver-
bietet der | 17 B.-P.-G. allerdings nur die voiseitige VeiOffenttichung
von amtlichen Schriftstücken eines Strafprozesses. Die Presse um-
geht nun aber dieses Verbot, indem sie sich den Inhalt dieser
Schriftstücke auf privatem Wege aneignet, nämlich durch
die Vernehmung der Zeugen mit Hilfe der Reporter, bezw.
durch die Aufforderung der Zeugen, über ihre Wahrneh-
mungen ih r Mittei hing zu machen. Dagegen mub freilich energisch
Stellung genommen werden, wenn niclit jener § 17 iranz illusorisch
gemacht werden soll^). So lange aber auf dem Wege des Gesetzes
1) A. a. U. S. Sü.
2) Ebenda, S. 85.
8) Vgl. hiecm § 17 de« ReiehtpreKgeBetses.
i) Awh V. Schrcnck-Notzing ffihJt, daP hier etwas geschehen müsse,
indem er sagt Ca. a. 0. lO.'i): . . Eine sorirfHltiiro Wünlifriing der Sacho niüPte
ächliel>lieb die gc»ctzgcbemlen Faktoren und Sicherheitsorgene \ erajilasscn, den
allerdings in seiner gefährlichen Wirkung noch immer weit unterschätzten £in-
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Zur Psychologe der Zeagensouagen.
203
eine Abhilfe nicht fjeschaffen wird, muß es den mit der Vorunter-
suchung betrautun Heliörden überlassen bleiben, einer eigenmächtigen
Mithilfe der Presse rechtzeitig Einhalt zu gebieten.
Die Presse war es auch, welche die amtliche Aussetzung einer
hohen Belohnmig fQr die ÜberfQhnmg des Mdiden in Anarieiit
stellte 0* Drei Tage später wiude dne solehe in der Tat aneh amt-
lieh bekannt gegeben; ob aneh hier eine Suggestion dnroh die Presse
stattgefunden hat^ kam im Prozesse zwar nieht znm Ansdniek, wohl
aber mnfite aneh diese erfolgreiohe ,Mitiiilfe^ der Presse anf das
Pnbliknm einen gewissen Einfluß ausflben.
Was die amtliehe Anssetznng einer Primie für die Ergreifung
oder Überf&brung eines Deliqnentea anlangt, so dürften noch folgende
Betrachtungen hierüber am Platze sein. Jedenfalls ist dieses Institut
schon sehr alt, auch das bayerische Stiafigesetzbuch (von 1813 II. Teil
Art. 87) kennt es bereits. Man kann aber auch überzeugt sein, daß
es heute ein veraltetes Institut ist Wer für die Eruierung eines
Deliquenten eine CJcldbelohnung aussetzt, bekennt gleichzeitifr, dalS
er nicht selbst in der I^e oder allein zu schwach ist, die Spuren
einer Untjü bis zur Erfxreifunfj ihres Verursachers zu verful{?en. Es
ist ein bei Privatpersonen sehr beliebtes Mittel, auch andere I>eute
für ihr Miligeschick zu interessieren und sie zur Ausfindigmachung
des Missetäters zu ermuntern. In sehr vielen Fällen aber ist die Aus-
setzung einer Prämie der einzige Schritt, den eine Privatperson zur
Eruierung eines Deliquenten unternimmt. Je nach der Höhe der aus-
gesetzten Prämie werden sich stets mehr oder weniger Personen zur
Erlangung derselben reizen lassen. Doch werden die „Konkurrenten''
nie außerhalb eines gewissen Millens zu finden sein. Es wird daher
nieht schwer sein, die Ehrliehkeit und Gewissenhafligkeit dieser Speku-
lanten richtig £n beurteUen. Der Staat, der es in der Hand hat, seine
Eriminalorgane tüchtig zu schulen, wie es die fortschreitende Zeit
erheischt^ sollte' sich also dieses Hilfemittels von recht zweifelbaftem
Werte nicht bedioien. Auob der Berchtold-ProaeB hat uns wieder ge-
zeigt, daß die Aussetzung einer Prämie viel mehr schlimme als gute
Wirkungen im Gefolge bat v. Schrenck-Notzing hat es nicht
unterlassen, darauf hinzuweisen, indem er, a a. 0. S. 19, bei seiner
trefflichen Registrierung der so unerwartete Wirkunpren ausübenden
Zeitungsberichte^ sagt: „Von diesem Moment (sciL der Piämienaus-
flnff d«r PrasM auf ^ Kriminalität dnzuBchrlnkai, wie das auch bereits auf
dm letsten interaatloDaleii EongieB fOr Krimiiialaothropologie rorgt&MMfem
und bofflrwortct ist*
1) A. a. 0. S. 17.
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204
VL SCHKUCKSitT
Betzongj an fließen die Nachrieb ten (seil, an die Presee) roicblicher'^,
wie dies anoh die Prewe eeibet bestfitigte. Eb ist Mer aneh il a. auf
eioige sehr bezeichneDde Änßernngen der Zeugen hinzaweisea (a. a. O.
S. 59) 83), die auf den Oewinn der 1000 Mark epeknlierten, wenn
sie nur «was Gewisses** sagen kSnnten! Kann es dann ausbleiben,
daD in einem Prozesse Zengen auftreten, die trotz aller ünwahrsehdn-
liehkeit ihrer Wahrnehmung „etwas Gewisses** aussagen? Welchen
Aufwand an Zeugen kostet es dann wieder, das pro et oontra dieser
Unwahrscheinlicbkeit an nnteisnchen! Es ist andererseits aber aneb
noch in Betracht zu ziehen, wie wenig: eine Prämienaussetznng Fon
positiver Wirkung ist^ indem vielfach gerade diejenigen, die etwa^
Gewisses aussagen könnten, sich zum Schweigen verpflichtet
f i^hlen ! Teils scheuen sie sich, als Zeugen vor Gericht zu erscheinen,
weil sie leicht in den Verdacht der Mittäterschaft oder Begünstigung:
kommen könnten, teils werden sie durch psychischen Zwang (Be-
stechung, Bedroliung) direkt abgehalten, Zeugnis zu geben; man ver-
gegenwärtige sich nur einmal die Kneililaffäre in Bayern (1901)! In
solchen Fällen hat die Aussetzung einer noch so hoben Belohnung
gar keine positive Wirkung.
Unter solchen Verhältnissen bleiben nur ganz wenige Fälle übrig,
in denen die Präniienaussctzung durcli den Staat eine günstige AVir-
kung haben kann, die aber keineswegs zu einer Verteidigung dieses
veralteten Instituts hinreichen.
Steht es mit der Ausstellung des Deliqnentenporträts
viel besser? Wenn das bei grOßeran Polizeibehörden zu führende
Verbrecheralbum VoizQge hat, wollen wur sie nicht verkennen.
Es ist ja vielfach nicht zu umgehen, einen Zeugen mit dem Deli-
quenten zu konfrontieren, bezw. jenem ein Portiit des veidiefatigten
Deliquenien zum Zwecke des Wiedeierkennens vorzulegen. Bs ist
abi» in zweifdbaften Fällen ein großer Fehler, dem Zeugen nur eine
Person gegenüberzustellen, nur eine Photographie vorzulegen^ was
oben S. 197, Note 5 schon erwähnt wurde» Wer kann emsthaft be-
haupten bezw. glaubhaft machen, daß er eine Person, die er vor
Tagen, Wochen oder gar Monaten einmal flüchtig gesehen hat,
durch \ orzeigen in persona oder en portrait wieder erkennt' y Doch
höchstens derjenige, der ein gutes Physiognomiegedäcbtnis
hat. Nun findet sich dieser Vorzug dt s Gedächtnisses weit seltener,
als man gemeinhin beliaujtten hört, da doch unbestreitbar nur der-
jenige längere Zeit ein Mensehenhildnis im Geiste festhalten kann,
der es aufmerksam beobachtet hat. Wie lückenhaft aber die
Bcobachtuug selbst gebildeter Leute ist, wissen wir erst sicher
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Zar P^diologie der ZeagciumsBagen.
206
dorob an L'-pstellte Experimente nach dieser Richtung >). Aus den hier-
bei erlangten Erfahrungen läßt sieh feststellen, daß neben einer ge-
wissen Beobachtung^sgabe eine fleißige Übung zu einer niög-
Hclist richtigen \N'ahmehmung erforderlich ist. Was Ki)eziell das
Pbysiognoniiegedäehtnis anbetrifft, so bin ich der Meinuiiir, dal) es
am sielitrslen und vorzüglichsten bei denjenigen zu finden ist, die
den Menschen als ein Problem der Natur ansehen, das sind in
erster Linie die Psychologen, deren Hauptaufgabe es ja ist, sich
eine unifassende M enschenkenntnis anzueignen. Diesen ist jeder
Mensch von Interesse; wenn sie ihn betrachten, tun sie es stets aufmerk-
sam, sie wissen Nebensächliches vom Wichtigen zu unterscheiden und
werden nie mit Bestimmtheit behaupten, einen If^uehen wiederzu-
erkennen, wenn rie nicht dessen Oesiehtszttge ans der Nähe
gesehen haben. Was tiant man nnn alles dem gewöhnlichen Men-
schen ans dem Pnbliknm zn, wenn er bezeugen soll, ob er eine
Person «wiedererkeline'', die er nnr ganz flflohtig, yon hinten
oder von oben, gesehen haben will, wie dies im Berchtold^Prozesse
wiederholt vorkam.
Wenn man an eine zuverlässige Beobachtung dnes Menschen sei-
tens einer Person ans dem Volke glauben kann, so muß mindestens
eine gewisse Vorbedingung gegeben sein, nämlich das Interesse an
jenem Mensche, das durch mancherlei Umstände geweckt werden
kann, z. B. durch auffallende Häßlichkeit oder Schönheit, durch sicht-
f)are Mißbildungen des Körpers, durcli auffnllondes Benehmen (Auf-
dringlichkeit, Schimpfen usw.i, kurz, durch äußerliche, leicht erkenn-
bare Umstände, die eine gewisse, die Beobachtung tördcrnde
Stimmung erzeugen. Tm übrigen dürfen wir aber den eine Wieder-
erkennung bezeugenden Aussagen kein zu großes Vertrauen schenken.
Es ist daher g:anz unzweckmäßig, einem schleclit beobachtenden Zeugen
Photographien und Kleidungsstücke des verdächtigten Deliquen-
ten zum Zwecke der Rekognoszierung vorzulegen, ganz abgesehen
von der Gefahr der Suggestion. Will man aber prüfen, ob der
Zeuge genau beobachtet hat, so kann man dies dodi höchstens da^
aus schließen, daß er unter verschiedenen Portrüts und verschie-
denen Kleidungsst&cken die richtigen mit Bestimmtheit her-
ausfindet Dies wäre aber auch dann wieder unzuveilSssig, wenn
das Portrftt des verdächtigten Deliqnenten öffentlich ausgestellt oder
in der Presse verbreitet und die Kleidungsstficke desselben in der
1) Nahen» hierüber bei QtoÜ, Krimintipsychologie. S. 286ff. n. Handbuch
fflr L'ntcrsndiiiiigBrichtor. 8. Aufl. 8. 225.
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806
Presse genau beschrieben wurden. Daher sind solche Hilfsmittel zur
Unterstützung des Rekogno8zierung:8 Vermögens nicht nur zweck-
widrig, sondern wegen ihrer großen Suggestionsfähigkeit
durchaus verwerflich, und nie sollte sich eine Untersuchnngs-
behörde solclier verfänglicher Hilfsmittel bedienen oder deren Ge-
brauch dureh andere, ganz Unberufene, z.B. die Presse, gestatten, bezw.
unbeanstandet lassen.
Zn aUedem tiitt noch die Gefahr der Suggestion bei mehrfach
wiederholten Vernehmungen eines Zengen hinzn. Seiles da
etwa anders san als im tSgfiehen Leben, wo viele KQche den Brei
▼erdeihen? EinZenge, der bei der ersten Vemehmnng doch noch am
ehesten ein aemlich nnverfiUsehtes Bild seiner Wahrnehmung repro-
duzieren kdnnte^ wird durch die hiafigen Wiederholungen seiner Ver-
nehmung, bei denen die Suggestion eine nicht leicht kontrollierbare
aber traurige Rolle spielt, so trainiert, daß er oft Vorgesagtes und
Nachgesagtes bald selbst glaubt und am Schlosse, wenn er, der
schon durch die Presse — als Hauptzenge — ganz populär geworden
ist, im Verhandlungstermin vor dem mit eigenartigem Nimbus um-
gebenen Schwurgerichtshof öffentlich auftritt und seine „Rede" zu
halten hat, bei der Hauptprobe seine ^Rolle genau kennt**, wie sich
V. Schrenck-Notzing so treffend ausdrückt'). Und er wird sie
auch genau kennen, da er ja oft genug „vor seiner Tochter und den
Richtern'' die Geschichte hat wiederholen müssen; hier hat v. Schrenck-
Notzing leider die Reporter noch zu nennen vergessen!'*).
Für eine sensationsbegierige Person ist es außerordentlich ver-
lockend, in einem größeren Prozeß als Zeuge zu fungieren. „Der Trieb
zum Lügen äußert sich bei ihnen bald mehr in Form harmloser Re-
nommisterd, bald kommt er gerade in der eigentlichen BemfstStigkeit
derselben zum Ausdruck. Sie erregen Aufsehen; es gelingt ihnen, eine
Menge Menschen zn täuschen, weil sie nicht nur andere^ sondern sich
auch selbst betrOgea. Es handelt sich dabd nicht um wohlflberiegten
Betrug oder Heuchelei, sondern um den wirklichen Olauben an jene
Schemwahrh^ten. Oder auch man ertappt solche Personen auf einem
Gemisch von Lflge, Selbstftberhebung und Irrtum. Audi im Affekte,
bei besonderer Erregung, lügen manche Personen').
Welchen Wwt eine richtig geleitete und durchgeführte
Voruntersuchung fttr einen I^ozeß hat, wurde erst neuerdings wie-
1) A. «. 0. S. 101
2) A. a. 0. S. 102.
S) Dolbrack, Die pathologiaobe Lflge. S. I22. Zit. nach v. Schrenck-
Notzing, vgl auch deason fibereinstiininende Ansicht auf S. 7S lu a. 0.
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Zar Psychologie der ZengeoMMBagen.
207
der von Prof. Groß '/ in überzeuirender Weise dargeleg:t. Insbesondere
verweise ich hier auf seine Ausführungen über die Art und den Wert
der Zeugenvernehmungen durch den Untersuchungsrichter in der Amts-
stube und durch den Vorsitzenden im Gerichtssaal' (a. a. 0. S. 10.') l)is
lOS). Aus diesen und den obigen Erwiigungen erfjfibt sicli. «lali der
von der Tolizei „eruierte"' Zeuge sü!)ahl als mr»glich vom Untersucliungs-
richter zu vernelimen ist. Allerdings hängt der Wert und die Treue
einer Zengenaussiige nicht in letzter Linie von der Tüchtigkeit und
Geschicklichkeit des Untersuchungsrichters selbst ab. Groü hat auch
hier wieder die Gelegenheit ergriffen, ein maßloses Selbstvertrauen des
UnterBachungsrichters auf seine als Minimniii verlangten Kenntnisse
ohne Beachtung der mit der Zeit fortschreitenden Wissenschafl scharf
zu yerarteilen^). Ehe nicht die otfensichttichsten Fehler bei demVor^
untersnchungsTerfahren vermieden werden, kann man die Befolgung
von VorsichtBmafiregdn subtilerer Art kaum erwarten.
Im Jahre 1896, das ans einen Blick in das ganae Triebwerk eines
modenien Kriminalproseeses werfen ließ» sahen wir» dafi manches gefilhi^
liehe Schwungrad aufsichtslos arbeitete. Ob beute dieAufsicht eine zuver-
lässigere ist? Ich möchte es bezweifeln. Und was die Suggestion
in foro anlangt, SO glaube ich, das, was v. Sohrenck-Notzing im
Jalir*' l'^9('> hierüber gesagt hat, auch heute noch als zeitgemäß
wiederholen zu können: ^Leider hat gerade dieser Prozeß bewiesen,
wie wenig Verständnis bis jetzt die Richter und die Polizei für das
Wesen d«'r Suggestion, für die Gefahr der absichtlosen ."^ii.irirerierung
besitzen I- (a. a. 0. »S. KM) Nur unrichfiL^es; Verständnis und einsei-
tige Deutung des Wesens der Suggestion könnte in praxi Nachteile zur
Folge haben. Dagegen kann nach der Meinung aller kompetenten
Beurteiler die Keclitssicherheit nur gewinnen durch richtige Er-
kenntnis der strafrechtlichen Bedeutung der Suggestion. Die Zahl der
Justizirrtümer würde sich vermindern, wenn der Richter in der Lage
ist^ das Produkt der Suggestionswirkung in einer Zeugenaussage^) von
dm wirklichen Talsachenkem an unterscheiden, er wflide nicht Ge-
fahr laufen, die suggerierte ErinnerungsfiUscbung und Phantasidfig-
nerei mit dem Meineid in einen Topf an werfen, er würde sich in
dem VerhQr von Zeugen größere Zurückhaltung auferlegen, um keine
1) Archiv XII. S. 191 ff.
2) A. a. O. .S. u. 211.
3) Aber uuch bei i5ach ver^tändigcngutachteu kauii dies vurkutnuien
(vgl. auch Dr. Berzes Aniidit im Archiv XII, S. Uitt.}. Dtber ist darauf zu
aditcn, daß die SadtvorBtindigen nicht geuelnsehaf tlieh ihre üntenacfaniigen
anitelleii, londem nnabbingig voneinandw ihr GutachtMi vorbereiten.
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208
VL ScamcKBBT
Details liineinziiexaminieren, und viel eher die Wahrheit von einem
Phantaäie|)rodukt unterscheiden können" (a, a. 0. S. 105)... ..Die Kennt-
nis der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit unseres Gedächtnisses,
Mine im täglichen Leben sich äußernden Fehlerquellen, sowie die
Psychologie der Suggestion sollten aUeidings zn dem geistigen Inetru-
mentarinm des Biehte» gehören!'^ (a. a. 0. S. 107)
2. Nachdem wir nns mit der SoggCBtion ab hSnfigsten und ge-
filhrlichsten Stimmungeerreger eingehend be&tfit haben, sei dn weiterer
stimmnngeneugender Faktor Gegenstand nnaerer Bettachtong. Ich
meine die Pflicht znr Zengenanssage. DarUber sind wir nns^
ja klar, daß die Mehrheit des Volkes „nichts mit dem Gerichte zn tan
haben mag**. Niemand macht gern einen Zeugen, weil er oft p^enug
schon gehört nnd gesehen hat, ^wie man bei Gericht behandelt wird"^.
Wie oft kommt es vor, daß der Bicbter vom Sachverständigen eine
Begutachtung des Geisteszustandes eines Zeugen verlangt, oder daß
er eine Reihe Zeugen über die Glaubwürdigkeit bezw. Unf::laub-
würdigkeit jenes Zeuiren vernimmt. Daß diese Tatsachen von keinem
guten Einfluli auf die Zeugnispflicht sein können, ist wohl sehr er-
klärlich ; und welchen Eindnick werden sie auf den betreffenden
Ziiigt-n selbst machen? Wenn er einigerinar>en ein Bewußtsein von
>eineni Dasein hat — Stolz oder Erregbarkeit brauchen gar nicht
einmal in Hetracht zu kommen — , so wird er zum wenigsten inner-
lich aufgebracht sein über den vom Gericht deutlich genug ausge-
drückten Zweifel über die Zuverlässigkeit seiner Aussagen. Er
kommt in eine sehr schlechte Stimmung, wird trotzig und verstockt,
seine weheren Aussagen weiden kaum mehr der sachlichen Anf-
klirung dienen; er wird sdne Aussagen erheblich einschriinken, zn-
rückhaltend sein nnd stereotyp aatwortoi: «Ich weiß mcht" ; — »ich
kann mich nicht mehr darauf erinnern'^. Um hat auch im Befchtold»
Prozeß erkannt, daß die Begutachtung des Geisteszustandes eines
Zeugen sicher eine „unbequeme Belästigung** involTiere^ daß sie ins-
besondere ^die Zeugnispflicht erschwere*^ Wodurch könnte man
die erhebliche Wirkung eines solchen Vertabrens hemmen? Wenn
sich die Richter den Besitz der notwendigen psycholo-
gischen Kriterien aneigneten, sa^^t mit Recht v. Schrenck-
Xotzing"*). Oder glaubt man, daß der psychologische Sachverstän-
dige, der auch nur wählend der regelmäßig kurzen Vernehmung den
Zeugen beobachten kann, in einer besseren Lage sei als der Richter,
sich ein Urteil über die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu bilden? Ein
1) A. a. Ü. lUb. 2) Ebenda, iS. 109.
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Zur Psychologie der ZettgeoauMagen.
209
Richter aber, der bei zweifelhafter Glaubwürdigkeit von Zeugen erst
vom Sachverständigen zu erfahren wünscht, ob man ihnen glauben
könne, bekennt seine Unwissenheit oder zum wenip-sten seine Un-
selbständigkeit im psychologischen Urteilen. Die persönliche Erfahrung
kann die hier noch bestehenden Lücken nicht ausfüllen; denn auch
die Ps3'chologie bat ihr System, das nicht a priori erkannt und erfaßt
werden kann!
Kommen wir wieder zurück auf die Zeugnispflicht. Um die
jeweilige Stimmung eines zu vernehmenden Zeugen zu erkennen, ist
€8 erforderlich, zu erforschen, welche Holle er bei der Sache spielt,
ob er Aber indiffeieiite oder ftber hdkk^ für ihn selbst unangenehme
Punkte zn vernebmen ist, ob er Freunden oder Femden gegenüber-
steht, femer ob er sich freiwillig als Zeuge gemeldet hat'), ob er
zum ersten Male als Zeuge vor Gericht steht^ ob der Eid fttr ihn one
beilige oder bloß eine formale, leere Sache ist, ob sdion Zwang g^gen
ihn als Zeugen angewendet werden mnfite^, n. a. m. Unsere Straf-
prozeßordnung hat zum Teil auf solche Umstände Bftoksicht ge-
nommen; ich verweise besonders auf die §$ 51 und 52 (Zeugnisver-
weigemngsrecht), auf § 54 (Auskunftsverweigerungsrecht), auf §§ 56, 57
(Unzulässigkeit der Beeidigung), auf § 64 (Gebrauch gewisser, durch
die Verschiedenheit der Konfessionen bedingter Beteueruogsformeln
an Stelle des Eides; der Zeuge der darauf Oewidit legt, wird die
Beeidigung nicht für gleichgültig halten!), ferner auf ij 07 fRcziehungen
des Zeugen zu dem Beschuldigten oder \'erletztenj, endlich auf § 6s,
Abs. 2 (Erforschung des Grundes, auf welchem die Wissenschaft des
Zeugen beruht;. Rein j)sychologi.sclie Bedeutung hat der letztgenannte
Paragraph sowie § 26 1, der die zeitweise Entfernung des Angeklagten
anrät, wenn zu befürchten ist, dal) ein Mitangeklagter oder ein Zeuge
bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit
nicht sagen werde. Es sollte sich der Kichter nicht bloß die Beach-
tung der streng formellen Gesetzesvorschriften Qber das Verfahren bei
der Zeogenvemehmnng zur Pflidit machen, sondern auch in gleichem
Maße die Beachtung der flbrigen mehr eine psychologisch-richtige
Behandlung der. Zeugen bezweckenden Gesetzesvorschriften.
1) Die Sen^iatioMbefifferdo spielt nicht selten hier mit, wie oben edion er'
Wihnt, nicht minder al)or auch <lic Spekulation auf Zeiifreng^ebnhron.
2i Man denkt- z. B. auch an jenen l all, iu dem ein Zeuge ein eigenes £ut-
sthuldiguiigssclireibeii vor dem Üericlitsgebäudo emem Dienstmanno flboiigab, da-
mit dieser es dem Vorsitssenden bei der Geriehtsveriiaiidlaiig anshXndig«, wonuif
aber der Zeuge sofort sistieit wiinlo. In welcher Gemui!*8timmuu;? wird er
ankommen? Wie wird die Zuredestoliung durch den Vorsitzeaden wirkent
Arahlr lOr JCilniiiuilaiithiopologi«. Xill. 14
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210
VL SCHKSICKEn
Es kann aber auch vorkonmien, daß die Go<::en\v{irt eines bereits
vernoninienen Zeugen einen andern erst zu vornelnnenden Zeug:en
befanjsen niaclit, oder dal» dieser durcli jenen in irgendwelclier Weise
direkt sug:geriert wird (z. B. durcii Blicke, Winke, Dazwischen-
reden usw.). liier ist also eine besondere X'orsicht geboten. Auch
gibt der § 247 St.-P.-O. dem Richter Gelegenheit, den etira in I^age
kommenden verdächtigen Zeugen w&brend der Vemehninng des
anderan ans dem Geriobtasaal abtraten zu lassen, nm jede Beein- *
flnssnng von selten des verdächtigen Zeugen hintanzuhalten. Die
vorübergehende Entfernung eines Zeugen, über dessen Geisteszustand
oder Glaubwttidigkeit Sachverständige oder Zeugen zu vernehmen
sind, wird nur vorteilhaft sein können im Hinblick auf unsere
firfiher schon erwähnten Bedenken über die Iksehwerung der Zeugnis-
pflicht
Dali die Art des richterlichen \' erhörs sehr stimmun^-
erzeugend sein kann, hat ein Fall im Berchtold>Prozeß geh hrt. Ein
Zeuge wurde auf seinen Eid gefragt, ob er nicht etwa durch die
Zeitung beeinflußt sei in seinen Aussagen, worauf er in g:r die Ver-
legenheit j?eriet, so dab der Sachverständijre v. Sehrenek-
Xotzin^r den Eindruck gewann, der Mann würde anders aus^'esatjt
und die Widers))rüche in seinen Angaben auf^ekhirt hal)en, wenn ihn
nicht die Furclit vor dem Meineid abgehalten hätte, seine unter Eid
abge^'^ebenen Angaben noch einmal zu modifizieren. Es war dies
einer jener Momente im Prozesse, wie der genannte Saeh verständigte
sagt'), in welehem die suggestive Gewalt, des richterlichen
Verhörs zur Geltung kam.
Der § 252, Abs. 2 St.-P. O. bietet dem Richter die Gelegenheit,
Widersprüche in den Aussagen der Zeugen festzustellen. Wenn dies
geschieht, dann darf die dadurch erzeugte Wirkung (Stimmung) nidit
Übersehen werden; es mu0 in zurückhaltender Weise die Ursache des
Widerspmdies erforscht werden, wenn derselbe gehoben werden soll
Denn leicht kann es vorkommen, daß dem Zeugen das Gespenst
einea Meineidsverfahrens vor Augen tritt, ohne daß ihm dies — und zwar
meistens unnötigerweise — auch noch in schwarzen IMen ausgemalt
wurd. Der Zeuge wird dadurch seine ruhige Gemütsstimmung ver-
lieren, was dem weiteren Verliür, insbesondere der Aufklärung des
Widerspruches, gewiß nicht föiderlicb ist. Man ertappt ihn vielleicht
auf einer unbewußten Erinnerungsfälschung und macht ihm
dann ungerechte Vorwürfe, die in dem Zeugen eine heillose Ver-
1) A. a. 0. S. 100.
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Zar Pftydiologie der Zeugenannagen.
211
wirrung anrichten. Daher ist hier, wenn überhaupt nur eine psycho-
logische Erforschung des Widerspruches ratsam.
3, Schließlich können auch noch andere, mehr unvorher^a'sehone
Umstände nachteilig auf die Stimmung eines Zeugen einwirken, z. B.
ein ordnungswidriges Verhalten eines Zuhörers, eines Zeugen, des An-
* geklagten , Angriffe desselben auf die Richter, Fesselung des Ange-
klagten, aufregende Auseinandersetzungen zwischen Verteidiger und
Staatsanwalt und zwischen anderen l>eteil igten, sofortige Verhaftung
eines Zeugen wegen Eidesverletzung u. a. m. Solche aufregende
Szenen im Gericbtssaal dürfen bei der nachträglichen Vernehmung
▼OB hierbei anwesend gewesenen Zeugen nicht unbeachtet bleiben.
Die bewußte nnd unbewußte Beeinflussung Ton Zeugen im und
außerhalb des Gerichtflsaalea ist, man kann fsat sagen ebenso mSchtig
als Terkannt Es sind kerne theoretischen BatschJäge, die hier zu
geben versucht wurden; es ist alles vorhanden, nur sieht man es
nicht, es ist anf vieles schon aufmerksam gemacht worden, nur be-
achtet man es nicfat^ wenn es nOtig würe^ nur schwer will man sich
belehren lassen. Wenn auch filtere Jurisfeen anf ihrem ans Erfahrungen
gebildeten ^System" der Zeugenvernehmung beharren zu mfissen
glauben, so soll das keineswegs die jüngeren Juristen abhalten, durch
das Studium der Kriminalpaychologie rechtzeitig dafür Sorge zu
tragen, daß sie wenigstens von den ihnen drohenden schlimmejn
Erfahrungen möglichst verschont bleiben. Der Vorwurf der Ver-
nachlässigung psychologischer Studien geschieht in wohlmeinender
Absicht.
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VII.
Internationale kriminaliBtische Vereinignng.
Berieht Aber die 9. LandesTersammlung der Landes-
grnppe Dentsehes Beioh.
StutMUlwalt Dr. WolAm In Dresden.
Die Landesgrappe Deutsches Reiob der Intemationaleii krimina-
lisHschen Vereinigung bat in den Tagen vom 4. bis 6. Juni 1903 sa
Dresden ihre neunte Landesversammlnng abgebalten. In dem groO^
Saale des städtischen Ausstellungspalastes, in dessen Käunien gleich-
zeitig die große deutsche Städteausstellung stattfand, erfolgte am
5. Juni unter dem Vorsitze des Unterstaatssekretärs z. D. Professor
Dr. von Mayr- München die offizielle Eröffnung. Zur Versamm-
iungsleitunjj: wurden auf Antrag Dr. von Liszts gewählt die Herren
ünterstaatssckritär Professor Dr. von Mayr als Vorsitzender, Ge-
heimer Eat (leneralstaatsanwalt Ge Ii 1er- Dresden als stellvertretender
Vorsitzender, Oberjustizrat Oberlandesgerichtsrat Bau mbach- Dresden
als Beisitzer, Professor Dr. Ileim berger- Bonn, Landgerichts-
direktor Dr. Beoker-Diesden und Steatoanwalt Dr. Dilrb ig- Dres-
den alB Scbriftftthrer. Als offizielle Vertreter hatten am VorBtanda-
tische Platz genommen die Herren Staatsminister Dr. Otto, £ue|leas
(königlich aSohBisohes Jnetizministieiinm), Geheimer Oberregiemngsnt
Dr. von Tischen dorf (Beiehegnstizamt), AdminditStsrat Professor
Dr. Edbner nnd Oberrichter Ziegler (Answfirtiges Amt, Kolonialab-
teilnng), Wirklicher AdmiralitStsrat Dr. Feilsch (Reich smarineamtji,
Ministerialrat Zindel (wttrttemb^rgisches Justizministerium) , Be-
gieningsrat Dr. von Engelberg (badisches Justizministerium),
Ministerialrat Stadler (Landesverwaltung von Elsaß -Lothringen)»
Senator Hertz (Hamburg) und Bürgermeister Hetschel (Dresden).
Nach einleitenden Begrüßungsworten seitens des Vorsitzenden,
welche insbesondere auch den ausländischen, den österreichischen und
russischen Freunden galten, hielt der sächsische Justizminister Dr. Otto
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Intenuttloiiale loiiiinaliBtiBdie Verdnigniig.
218
eine warm empfundene, allseitig mit freudigem Dank aufgenommene
Ansprache. Der Minister hieß die Versammelten im Namen der
königlich sächsisclion Regierung von Herzen willkoniraen, hob her\ or
daß Se. Majestät König Georg von Sachsen die Verhandlungen mit
lebhaftem Interesse verfolge und es sich nicht versagen werde, einige
Herren des Vorstandes in Person zu empfangen, und gab dt^ni Wunsclie
Ausdruck, daß die diesmalige Tagung eine reiche und innige Ver-
bindung und Verschmelzung auch mit den kriminalistischen Praktikern
Sachsens zur Folge haben möchte. „Klar vor aller Augen — fuhr
der Minister fort — li^;^ Ihre Bestrebungen. Sie sind eminent
praktischer Ait| sU sind die edelttoiii die besten, die es
geben kann. Sie woUea nieht nur die Yeibreeheriaelie Tat sOhnen
nnd das Vobreehen und den Verbreeber bek&mpfen, Sie wdleo den
Verbieeber in seiner nieig«iiatai PeisOnliehkeit Terstaadea nnd dem*
naeh bebandelt wissen, Sie wollen ibn sngleieh wmhhsltigeg nnd
siebeier als bisher bessern nnd snreebt lenken nnd Sie wollen mit
verstSikten Mitteln TOiben^d wirken znr Bekimpfang des Ver-
breohenSk'^ Und die SchluBworte des Ministers lauteten: ^Ihren
Tagungen bleibt es vorbehalten, immer mehr die festen Konturen und
die allgemein gefälligen Linien heraassuaibeiteny die wir bnoohen,
um die Herzen Ittr Ihre Bestrebnngoi zu gewinneUi denn es ist in
Wahrheit eine Herzenssache, für die Sie arbeiten. Auch
Hire Tagung in Dresden — davon bin ich überzeugt — wird einen
bedeutsamen Schritt darstellen auf der Bahn, die Sie sich gesteckt
haben, und ich wiinsohe Ihnen im voraus dazu Glück. Möge die
Tagung von dem Insten (it-lingen begleitet sein zum Segen für die
gute Sache, für die Sie kämpfen, zugleich zum Heile für unser ge-
feiertes deutsches Vaterland." Der Geheime Oberregierungsrat Dr. von
Tisch endorf überbrachte die (iriilk^ und Wünsche des Reichsjustiz-
amtes, welches den Bestrebungen der Kriminalistischen Vereinigung,
vor allen den aktuellen Fragen des Strafrechts, des Strafprozesses
nnd Strafvollzugs, das größte Interesse entgegenbringe. Er kOnne mit-
teDen, daß dank der freiwilligen Mitarbeit der Wissensohaft, nament-
lieh anf den Kongressen der Kriminalistiseben Veieinigang, es mOg-
Heb .gewesen sei, die TorwSitssehreitenden Vorarbeiten für eine
Eeform des Stialgesetses anf dne mOgliehst breite Basis zn stellen.
Deshalb wünsche er andi den diesmaligen Verbandhmgen des Kon-
gresses den gltteklichsten Yeriaaf t
Nachdem aaeh die übrigm offiziellen Vertreter sich ihrer Anf-
trSge nnd Wünsche entledigt hatten, warde in die Verhandlungen ein-
getreten. Zn dem eisten Thema „Die Beform der Vornnter-
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2U
Vn, WCLFPBir
suchung"' erfrriff zunächst Hof rat Trofcssor Dr. Zucker aus
Prap das Wort und führte im wt-suntliclien folgendes aus:
Das Straf \ erfahren bedarf einer dem Stadium des Erkenntnisver-
fahrens vorangehenden, vorliereitenden Prozelitätigkeit, welche sich
ihrem Wesen nacli j^tets anders zu gestaUen haben wird als das der
Urteilsfällung unmittelbar zugrunde liegende Verfahren. In letzterem
wird das kontentiöse Moment hervortreten, in ersterem dagegen der
einseitigeii Pürtdtätigkeit ein giOßerar Spielraiim zu gewähren sein.
Dieser genügt die WahnefaeiDlichkett des kllDftigeii Erfolges, sie be-
darf einee lascheii eneigiBcheD VorgeheDB, ihr dfirfen nicht jene
HinderaiBse in den Weg gelegt werden, wie sie in der kontentiOsen
Gestaltung des Verfahrens von Nainr ans liegen mfissoi. Wir
kennen daher nur jenes Proseßsystem billigen, das die
vorbereitende Sammlung des ProzeOmaterials Yollstftndig
in die Hände des öffentlichen Anklägers legt
Die Notwendigkeit der gericbtlichen Voruntersuchung wird in der
Hanptsacbe aus folgenden Gründen verteidigt. Dem Gerichte soll die
Sammlung des Prozeßstoffes Uberantwortet bleiben, nm eine zuYer-
ISssige Grundlage für die Ilauptverhandlung zu gewinnen. Aber je
gründlicher und ausführlicher das Vorverfahren durch irefiihrt wird,
desto natürlicher ist es, daß sich der die Hauptverhandlung leitende
Richter über den Straffall informiert und sich schon vor der Haupt-
verhandlung seine Meinung über die Entscheidung aus den Akten
bildet. Die Findung eines gerechten Urteils wird unter der Leitung
eines solchergestalt beeinflußten N'orsitzenden erfahrungsgemäl) nicht
verbürgt. Auch dadurch w^rd die Objektivität des erkennenden Ge-
richtes gefährdet, daß es eine ^richterliche" Untersuchung ist, über
deren Ergebnisse es zu befinden hat Sobald die üntersuchung von
der AnklagebebSrde durchgeführt würde, wird das Gericht seine volle
Freiheit der Beurteilung sn wahren wissen.
Weiter behauptet man, daß die durch den Bichter geführte Unte^
sudiung die Berüeksichtignng der den Beschuldigten entlastraden
Momente rerbfirge, während eine solche Bedaehtnahme ?on der
parteimäßigen, untersuchenden Tätigkeit des Staatsanwaltes nicht zu
erwarten aeL Hierbei veigilH man aber, daß der Untersuchungsrichter
nur den Namen des Richters trägt, vielleicht die hierarchische Stellung
eines solchen bat, aber seiner Wirksamkeit nach kein Bichter ist, weil
das Suchen und Sammeln des Prozeßstoffes in einem natürlichen und
offenen Gegensatze zur Entscheidung über eine Strafsache steht. Der
Untersuchungsrichter als solcher ist ein Organ der staatlichen Ver-
folgung. Er wird oft sogar minder geneigt sein, den entlastenden
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Int^nationale krlminalistiaehe Vereinigniig.
215
Momenten nachzufrehen, als der Staatsanwalt, weil zwar diesen), nicht
aber jt nem das schließliche Schicksal der Anklajre am Herzen liep^n
null». Zu dem Irrtum, dal» im vorbereitenden \'erfahren nur die i;e-
richtliche Voruntersucliuiiir das Gleich*:;ewielit zwischen Verfolj^un;;-
und Verteidifrunir her/.ustellen vermajs:, hat (»ffenliar eine verfehlte An-
schauung' des en^'lischen Rechtes nicht unwesentlich bei^elraj^en.
Das Hauptgewicht legen die Verteidiger der gerichtlichen ,Vor-
untersucliung auf den durch dieselbe dem liesehuldigten zu gewähren-
den Schutz vor Zwangsmaßregeln, wie der Verhaftiing, der Personal-
md Hausdofchmichiing, der Beschlagnahme vsw. Aber ans der Not.
wendigkeit eines angemessenen Schutzes des Beschuldigten gegen den
Mißbrauch der erwähnten Zwangsmaßregeln folgt nicht, daß die
Unterauchung selbst in die Hand des Bichters gelegt werden mttsse.
Der üntereuchungsrichter ist ja selbst Organ der staatlichen Yer-
f olgongy er erlXßt den Haftbefehl und ordnet Zwangsmaßregeln in dieser
Eigenschafti also als Partei, an. Im Uotereuchungsrichter geht der
„Richter"^ allzumeist im nÜntersuchenden*^ auf. Die verfehlte An-
schauung, daß zur Verhängung einer längeren Untersuchungshaft der
Regel nach nur der Untersuchungsrichter berufen sein könnCi hat
einen Zusanjmenhang zwischen gerichtlicher Untersuchungf und unge-
bührlicher Ausdehnung der Untersuchungshaft gesch.affen. Eine
richterliche Untersuchung begründet übrigens nach der Volksmeinung
im Gegensatze zu dem Parteivorgehen des Staatsanwaltos allzuleicht
einen bleibenden Makel für dm Beschuldigten, der oft auch durch
eine spätere Freisprechung nicht v<"»llig getilgt zu werden vermag.
Man ist geneigt, eine derartige richterliche Untersuchung als einen
bereits erbrachten ScIuiUilteweis anzusehen.
Endlich wird zugunsten der gerichtlichen Voruntersuchung
geltend gemacht, dal) man derselben bei verwickelten Straffällen be-
nötigt, um das Geschehene hinreichend und geordnet au&uklfiren.
Es seheint uns aber, als ob bloße Rttcksichten auf die Bequemlichkeit,
auf den Hangel geeigneter HiUskiSfte usw. den Staatsanwalt in solchen
FSllen zu bestimmen pflegen, Vomntefsncbung zu beantrsgen. Aus
derartigen OpportnnitSlsrQcksichten kann aber du Qmnd für die Anf-
rechterhaltnng der gerichtlichen Voruntersuchung nicht hergeleitet
werden.
Wir treten also für vollständige Beseitigung der gerichtlichen Vor-
untersuchung ein, weil sie im Widerspruch zu der bereits sonst so
vielfach sanktionierten Anklagefonn des Strafverfahrens steht, fUr die
Zwecke desselben vollkommen entbehrlich und der weiteren rationdien
Entwicklung des modernen Strafprozesses hinderlich ist. In diesem
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216
VIL Wuimn
Sinne entwickilt sich auch, besondere in Österrcicli und in Deutscii-
land, die l'raxis. Die Zahl der {gerichtlichen Vorumersuchun<j;en geht
nach der Statistik rasch und entschieden zurück. Diese Tendenz
wild auch im Königreiche Sttobaen von der JuBtizverwaltang gefördert,
welche in der Geeehälksordnnng fOr ihze Behöiden ansfilhrt, der
Staatsanwalt habe grundsätzlich davon ausKugehen, dafi eine Vo^
untenuchnng sn vermeideni vielmehr der Beweuiatol{ von ihm selbst
zu sammeln sei. Mit der allmählichen Verdrängung der gerichtlichen
VoronterBttchnng in der Prazia kann man sich aber nicht lofkieden
geben. Es bedarf einer neuen Regelung des vorbereitenden VerfabrenSi
das sich nach Ansicht des fieferenten folgendennaßen zn gestalten
hätte.
Zunächst haben die Polizei- und Sicherheitsbehörden in Tätigkeit
zu treten. Die strafprozessualen Befugnisse dieser Or^ne müssen
zum Schutze des Beschuldi'rten und zur Wahnmg der Interessen der
.Strafverfolgung^ im Prozeligesetze selbst ausgestaltet und normiert
werden. Bei der Sammlung der Beweis«' ist die Sicherheitspolizei
iiaturgemäi) bei Jedwedem N orfalle allen übrigen Organen voran zu-
nüelist zur Hand. Unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehenen
ist der Verdächtige am ehesten geneigt, freiwillige (Jeständnisse abzu-
legen. Solange der Zeuge vou der Wahrnehmung anderer nicht
unterrichtet ist, wird er seine Aussagen unbefangen erstatten. Auch
die Einnahme des Augenscheins, die nicht zeitig genug erfolgen kann,
sollte den Polizeibebörden gestattet werden. Die Verpflichtung, der
nachforschenden Sicherheitil)eh8rde wahrheitsgemäße Anakflnfle zu
erteilen, muß strafrechtliche Hegelung erfohren. Die AuMchnungen
der Polizei sollen aber nicht als beweiswirkcod gdten, sondern nur
den Zweck haben, den Staatsanwalt zu informieren.
In kleineren und sich einfach gestaltenden StraffiUlen wird man
«ch hinsichtlich der Entscheidung, ob die Einstellnng des Verfahrens
oder die Erbebung der Anklage zn erfolgen habe, mit den von der
Sicherbeitsbehöide gesammelten Beweisen beschdden können. In
schwereren und verwickeiteren BUlen wird der Staatsanwalt eintreten,
•der natürlich jede üntersachung sofort an sich ziehen kann. Audi
seinen Aufzeiclinungen kann keine Beweiskraft beigemessen werden.
Will er sich einen Beweis für das Haupt verfahren sichern, so wird er
um dessen Erhebung den örtlich zuständigen Richter ersuchen Der
^ersuchte" Kicliter ist ohjcktiver als der „untersuchende" Richter, weil
ar nicht, wie dieser, Partei ist. Ob die Verfolgung einzustellen oder
Anklage zu erbeben st i, s(»ll der Staatsanwalt nur auf (Irund von ihm
.selbst gewonueuer Anschauung und Überzeugung vou der Sacblage,
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Internationale krinrinaUstisclie Vereiniganff.
217
nicht aber, wie gerade bei schwereren Delikten in dem gegenwärtigen
Verfahren, nach den von anderen Organen vorgenommenen Aufzeich-
nungen entscheiden. Deshalb legen wir 'auch die Anwendung der
prozessuaKn Znani^sinittel, wie der Durchsuchung, Beschlagnahme
und der Verhaftung, unliedenklich in die Hand des Staatsanwalts.
Wir wünschen aber, daß jede solche Zwangsmulkegel einer unbe-
fangenen richterlichen Prüfung, die auf Verlangen des Betroffenen
sofort zu erfolgen liat, unterworfen werde. Endlich wird die gesetz-
lich festzulegende stautliche Entschädigungspflicht bei Mißgriffen dem
Staatsanwait ziffemmäijig nahelegen, nicht über das Ziel zu schießen,
ohne daß die Besoignis anfimtanobea braucht» die Steatokaaae werde
auf dieaem Wege zu sehr in Anspruch genommen werden.
Oegenttber dieser freieren Stellung des Staatsanwalts mflssen aber
auch die Rechte des VerleidigenB im Vorrerfahien neu normiert
werden. Für ein staatliches Verteidigungsamt und eine Kooperation
des Verteidigers in kontradiktorischer Vomntersuchang können wir
nicht l intreten. Aber dem Beschuldigten muß freistehen, sofort einen
Verteidiger anzunehmen, der zu seiner Information den Besohnldigten,
Zeugen und Sachventftndige hören und einen Augenschein einnehmeD,
auch die Erhebung von Beweisen für die Ilauptverhandlung bean-
tragen darf. Hierbei müssen sich allerdings die Verteidiger ihres
wahren Berufes bewußt sein und unlauterer Machenschaften streng
enthalten. Endlich gebührt dem Staatsanwalt auch das Dispositions-
recht über die eingeleitete Verfolgung und die Befugnis zur Erhebung
der Anklage. Das heutige Verfahren ist in sich widerspruchsvoll
und nicht zweckniiilug. Weiß der Staatsanwalt, daß seine Anklage
noch vor der IIauj)tverhuiullung eine ricliterliche Bestätigung zu finden
hat, so wird er dieselbe unbedenklich erheben, und andererseits nimmt
wieder erfahrungsgemäl) auch das Gericht raeist keinen Anstand,
einem solchen Antrag des Staatsanwalts Folge zu geben. Bei einer
solchen wechselseitigen Zusdhiebnng der Verantwortung ist l&r das
Interesse des Beschuldigten nicht gut gesorgt. Gegen die Anklage
des Staatsanwaltes könnte ja auch ein Bechtsmiltel für zulfissig er-
klärt werden.
Professor W. Hittermaier-Giefien, welcher fOr den ur-
sprunglich in Aussicht genommenen Plofessor Rosenfeld-Mfinster
als zweiter Referent eintrat, wttnscht die gerichtliche Voruntersuchung
in der Hauptsache aus den nämlichen Gründen wie sein Vorredner
beseitigt zu sehen. Er ergänzt in dieser Beziehung die Ausführungen
desselben in einzelnen Punkten. Auch hinsichtlich der übrigen Postu-
late, Disposition des Staatsanwalts Uber die AnkhigCi freie Stellung
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218
VU. WULFFEK
der Verteidiger, Mitwirkung der Polizeibehörde im vorbereitenden Ver-
fahren, stimmen beide Referenten überein. Bei der praktischen Aus«
gestaltung des künftigen Verfahrens befOrwortet Mittermaiery daß
möglichst bald das Yerfabien vor dem urteileaden Gerichte erOfbiet
werde. Eb nicht nötig, daß wir stets eine ununterbrochene Haupt-
Verhandlung haben. Er halte eine unterbrochene Hauptrerhandluog
mit frischem Beweismaterial vor dem erkennenden Gerichte für wert-
Yoller als eine schdn sugerOstete, nach langer Dauer mit wohl yor-
bereiteteni Zeugennmterial ununterbrochen abgehaltene. Stelle sich
vor Gericht herauSi daß langwierige Untersuchungen nötig seien, sowie
immer dann, wenn der Bosohuldigte damit einverstaiiden sei, könne
ein Voruntersucbungsrichter eingesetzt werden, vor dem eine kontra«
diktorische Verhandlung stattfinde, aber nicht im Sinne des
heutigen französischen Hechts, sondern derart, dah die Parteien die Be-
weismittel beibringen und nur vor dem Untersuchungsrichter, ähnlich
wie bei ih m vorbereitenden Verfahrrn im Zivilprozesse, zusammen-
tragen. Unsere Ilauptverhandlung müsse <|tMi iiiodt-nu/ii (irundsätzen
der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und rarteienmitvvirkuni,' melir, als
dies bisher der Fall sei, angepaßt werden, dann könne das Vorver-
fahren ohne Schwierigkeit seine natürliche Gestaltung erhalten. Nicht
ganz eiufaeh sei die Sache, soweit in der liauptverhandlung Nicht-
Berufsrichtcr mitwirken. Führe man überall Schöffengerichte ein, so
werde es wohl möglich sein, dieselben Schöffen auch ffir eine zweite
und dritte Sitzung zu gewinnen. Hinsichtlich cter TOr die Geschwo-
renen zu bringenden StraffUle schlage er selbst eine eingehende Vor-
bereitung unter Gerichtsmitwirkung vor.
Professor Mittermaier stellt zum Schluß folgende Thesen auf:
1. Die Sammlung des Prozeßmaterials und die Erhebung der An-
klage sind dem Ankläger selbständig zu überlassen; die Mitwirkung
des Bichters hat sich im Laufe des Vorverfahrens auf die Feststellung
jener Beweise, die in der Hauptverhandluiiii; nicht wiederholt werden
können, auf die Bestätigung der Zwangsmaliregeln, sowie nach Antrag
des Beschuldigten auf die Prüfung der etwa erhobenen Anklage zu
beschränken.
2. Eine gerichtliche Vonintersuchung kann in Fällen ndt be-
sonders ausgedehnten Feststellungen vom Staatsanwalt oder dem Be-
schuldigten beantragt werden. Hier ist der Verteidigung volles Mit-
wirkungsrecht zu sichern.
3. Die Mündlichkeit der Sorge für die Verteidigung muli in erster
Linie dem Beschuldigten selbst zugesichert und bei seiner Verhaftung
voll gewährleistet werden.
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Internationale krimlnalfotiacfae Verdnlgung. 219
4. Der Verteidi^^un^^ ist im Vorverfahren zur BeweiBsammlun^
polizeiliche und ricliterliche Hilfe zur Verfügung zu stellen. Die Fälle
der notwendigen Verteidigung sind bedeutend auszudehnen; ihr Ein-
tritt ist sclion für das Vorverfuhren zu sichern.
Der Korreferent LandgerichtsratKulemann-Rr annschweig
stellte sich zu den Referenten folgendermaßen. Die Keforin der Vor-
untersuchung, führte er aus, ist schon im vorigen Jahr in Barmen
(iegenstand unserer Beratungen gewesen; wir hahen uns aber über-
zeugt, daß der Stoff in mehrere Teile zerlegt werden müsse. Deshalb
ist das Thema nochmals auf die Tiigesordnung gesetzt worden.
Zucker will die zu beseitigende Voruntersuchung mit dem Yorbe-
reitenden Verfiahren Tersehmelzen, Hitter maier schlfigt vot, ihre
Aufgaben anf das Hauptverfabren zu übemehmeD. Idi billige die
Tendenz anf Abkflrznng des YerfabrenB. halte aber an der Kontinuität
der Hauptverhandlnng fest Bd der Uberlastnng des Staatsanwalts
mit zum Teil minderwertigen GesebSften ist es richtiger, die Unter-
suehnngen, die wegen ihrer Schwierigkeit die konzentrierte Arbeit eines
nur für sie yerantwortUchen Mannes fordern, einem besonderen ünter-
suchungsbearoten zu überweisen. Die Hauptfrage, ob die Vorunter-
suchung beizubehalten oder aufzuheben sei, kann meiner Meinung
nach nicht eher beantwortet werden, als bis man sich über die Ge-
stalty die man ihr eventuell geben will, geeinigt hat Die gerichtliche
Voruntersuchung, dies macht man ihr zum Vorwurf, sei von den drei
großen Grundsätzen des modernen Verfahrens: Öffentlichkeit, Münd-
lichkeit und Anklageform unberührt geblieben. Die Frage, ob man
diese Prinzipien auch auf die Voruntersuchung übertragen solle, scheint
mir deshalb zunächst gelöst werden zu müssen, und deshalb schlage
ich vor, sich heute auf sie zu beschränken. I ber Öffentlichkeit,
Mündlichkeit und Anklageprinzip in Anwendung auf die Vorunter-
suchung beziehe ich mich auf meinen Banner Vortrag. Heute be-
schränke ich mich darauf, den Hauptinhalt meiner Ausführungen in
einigen Leitsätzen niederzulegen.
L Öffentlichkeit
1. Von der Mitwirkung der Berölkerung an der Entdeckung einer
Straftat ist im allgemenien eme Förderung des Untersuchungszweckes
zu erwarten. Deshalb ist die Beschritnkung anf die bloße Partei-
Qffentlichkeit zu verwerfen.
2. Das onzige gegen die Öffentlichkeit zu erhebende Bedenken
besteht in der Kenntnisnahme des Untersnchungsmaterials durch den
Angeklagten und die ihm nahestehenden Personen. Dieses Bedenken
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290 VU. Womic
i.st über nicht ausreichend, um die Vorteile der Ölfentlichkeit aufza-
wiegen.
3. Die Rücksicht auf die \'erteidi^;un{^ des Anjrekla^'ten erfordert,
dali das gesamte Belastungsuiaterial vor der Haujitverliandlung zn
seiner Keimtnis gebracht wird. Dies geschieht am beetea durch die
Öffentlichkeit der X'oruntersuchung.
4. Uicroach iät die Üffeutlichkeit der Voruatersuchung als Regel
2« fordem.
II. Mündliclik.'ir.
1. Di r Orundsatz der Unmittelbarkeit, der das Ilauptverfahren
beherrsclit, ist auch für die Voruntersuchung als inaHgeljend anzuer-
kennen, indem alle Tcrsonen, die auf sie als Erkenntnisquelle ange-
wiesen sind, an ihr unmitlL'Jbar beteiligt werden.
2. Protokolle sind nur da zu führen, wo die Beweiserhebung in
der Ilauptverhandlung nicht vorgenommen wrnien kann. Im übrigen
ist das Reweisergebnis in kurzen Xotizin niederzulegen, deren Haupt-
zweck darin besteht, einerseits dem Vorsitzenden für «he Leitung der
Hauptverhandlung einen Anhaltspunkt zu bieten und andererseits eine
Unterlage für die Beurteilung darfiber zu gewähren, ob der Zeuge zu
der Hanptrerbandlnng zn laden ist
3. Der ErtSffnnngsbeseblnß ist zn beseitigen. Die Entscheidung
über die Eröffnung des Hauptverfohrens ist dem Untersnchnngsiichter
zu UbertrageD.
III. Anklageverfahren.
Für die Voruntersuchung ist ebenso, wie es für die Ilauptverhandlung
gilt, das Anklageprinzip zu verwerfen, aber die Anklageform einzuführen.
In der Debatte trat Justizrat Amtsgerichtsrat Dr. Wein-
gart-Dresden für Beibehaltung der Voruntersuchung ein. Wer
Änderung gesetzlicher Einrichtungen verlange, müsse den Beweis or-
bringen, nicht nnr daß Müngel vorliegeni sonden aneh, daß diese im
Gesetze und nioht bloß in seiner unzweekmäßigen Handhabung ihren
Omnd haben. Man werfe dem Institut der Untersuohungsriohter vor,
daß es das Tezfobren verlangsame. Aber auch der Untersuchungs-
riefater könne, wenn er das nOtige Gesehiek habe, die EKMerongen
schnell zum Abschluß bringen, wenn er gleich bei Beginn aeiaer
Titigkeift sich einen Plan maohe^ was aUee zu tun sei, und sofort m
allen Bichtungen gleichzeitig vorgehe, wenn er wdter möglichst am
Tatorte selbst seine Erhebungen vornehme und seine Protokolle kurz
fasse. Man erhebe weiter den Vorwurf, dali die Voruntersuchung das
Interesse des Angeschuldigten nicht hinreichend wahre, daß d» Unter-
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fotemationale kriminaUttudio Venmignng.
821
suchungsrichter auch sctilier»lich nur ein Gep^ner den Angeschuldigten
sei. Aber der Untersuchungsricliter, welcher kein Interesse am Sach-
ausgange habe, werde die Untersuchung am unbefangenston führen.
So werde auch seine Stellung im Volke allgemein aufgefalU In
schwierigen und verwickelten Fällen biete die Voruntersuchung das
beste und oft einzige Mittel, den Verbrecher zu überführen. Der Tag,
an dem das Institut der Voruntersuchung abgeschafft werde, würde
ein Freudentag für raffinierte Verbrecher sein.
Kammergerichtsrat Kronecker-Berlin bittet von etner
BesehlvßfeflBiiog füm den BfiatmigsgegeiiBtind abzmeheDi da er nicbt
genügend geklAit sei. Dem BchÜefit sich Professor Dr. tob Lilien*
thal-Heidelberg mit dem Antrage an, eine Kommission zn e^
nennen, die einen Oesetientwirf Aber die Umgestahnng des yor7e^
Cahrens innerbalb des Bahmens der Stralpreseßordnnng fttr die nicbsle
VeEsammhmg voriegen solK Diesen Antrsge gemi0 beschloß die
Versanimhmg die Einsetsang einer Kommission, in welche folgende
Herren gewählt wurden: Professor Dr. von Lilientbal, Justizrat
Dr. Weingart, Landgerichtsrat Kulemann, Staatsanwalt Res en-
berg>StraI5burg; Kechtsanwalt Heine mann- Berlin. Hiermit schloß
der erste Verhandlungstag.
Am r>. Juni referierte zunächst Oberlandesgerichtsrat Pro-
fessor Dr. Harburger-München über das Thema: „Behand-
lung der Teilnahme am Verbrechen'^, und führte im wesent-
lichen ans:
Auszugehen sei davon, dal» der Und'ang des Begriffes ..Teilnahme",
wie er dem deutschen Reichsstrafgesetzbuehe zugrunde liege, nändich
einerseits neben Anstiftung und Beihilfe auch die Mittäterschaft um-
fassend, und andererseits auf vorsätzliche Mitwirkung beschränkt, bei-
zubehalten sei. Es sei aber trotz vieler Versnehe seit Jahrhunderten
noch niemandem auf dem Gebiete der Oesetzgebnng oder der Wissen-
schaft gelnngen, die Grenzlinie swisehen Mittätersobaft nnd Beihilfe
in einer Weise festzusetzen, die sich des B^fUls weiterer Kreise za
eifreoen gehabt bStte. In der neueren Zeit ließen sich drei Haupt-
richtnngen untersoheiden. Nach der sogenannten objektiven An-
schanungsweise setse der Gehilfe nnr eine Bedmgnng, der Titer die
oder eine Ursache dee rechtswidrigen Erfolges; der Gehilfe beteilige
sich in minderwertiger, der Mittäter in gleichwertiger Weise an der
Tat Diese Anschauung leide daran, daii sich eine feste Grenze zwi-
schen Gehilfentätigkeit und Urhehertätigkeit sowohl allgemein als
namentlich in den einzelnen praktischen Fällen nicht finden lasse, und
daß ihre Anwendung ouüberwindlidien Schwierigkeiten beg^poiei wenn
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222
VIL WvUfTBS
die beabsichtigte Slrultat im Vcrsucbsstadium ßtccken geblieben sei
oder wenn zwei Personen mit einem bestimmten Plane Uber die Aus*
ftthrung sich zur Verttbung eines Verbreebens au^emaebt, es aber den
VerhSltnissen des Oites und des AngeiibliekeB der Tat flberiaaseii
baben, die Bollen nnter siob an TeitotteD. Naeb der zweiten, der so-
genannten subjektiven Ansebannngsweise, die in den Motiven zum
Beiebsstrafgeselibncbe mm Ansdnicke komme, wolle der Oebille
lediglicb die fremde Absiebl des Täten fSrdem, dieser aber seme eigene
Absiebt verwiiklioben. Die DnrchfUhrung dieser Anschauung sei ins-
besondere dann erschwert, wenn einer der Beteiligten in der Absicht,
nnr fördernd einzugreifen, in Wirklichkeit dne Ausführungshandlung
betäti^'e, so dal) dein jenigen, der als Täter auftreten woll^ niohts mehr
zu tun fibrig bleibe. Und wer mit Urheberabsicht nur unwesentliche
Handlungen vornehme, also weniger zum Zustandekommen des Ver-
brecliens leiste als derjenige, der mit Gehilfenabsicht Ausführungs-
handlungen vornelune, wer<le gleichwohl härter bestraft als der letz-
tere. Nach den dritten, vermittelnden Ansichten beteilige sich der Oe-
hilfe an der VerÜbung der Tat lediglich in einem nach subjektiver
und objektiver Kielitung geringerem Malie, und lasse so wiederum die
Grenze zwiselien Mittäterschaft und Beihilfe unbestimmt. Da so die
Vielgestalti^'kcit des realen I^'bens es einfach als unmöglich erscheinen
lasse, Mittäterseli;ift und Beihilfe in klarer Weise auseinanderzuhalten,
da beide eben nicht absolut feststehende, sondern nnr relative Begriffe
seien nnd ibrai Inbalt und ibre Bedeutung jeweils erst aus den Um-
ständen des einzdnen Falles erbidten, da endlieb aueb die Grenze
zwiscboi Anstiftung nnd inteUektneller Beibilfe flüssig sei, so erflbrige
niebts als die Ldne von der Teilnahme durob eine mSgliebst allge-
mein gehaltene Formel zu regeln, die es offen balte, im einzelnen
Falle die Beteiligten je nach dem Mafie ibrer Schuld mit Strafe zu
belegen.
Hierauf teilte Referent seine noch zu erwähnenden Thesen mit
und erläuterte dieselben kurz.
Der Korreferent Professor Dr. Heimberger-Bonn gab nach-
stehende Ausführungen.
Für die Stellungnahme in der Teilnahmelehre ist unmittelbare
Voraussetzung die Auffassung in der Frage des Ursachenbegriffs. Im
wesentlichen scheiden sich zwei Kausalitätstlieorien. Die eine hebt
ans den \ crscliiedenen Bedingungen des Erfolires eine heraus und
bezeichnet sie als die Ursache des Erfolges. Welches di(^se eine Be-
dingung sei. darüber ist man nicht einig. Die andere Theorie macht
unter den verschiedenen Bedingungen des Erfolges keinen Unterschied,
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Inteniatioiiale krimioaliatiache Veiebigang.
828
stellt sie vielmehr eiiian<l('r i:\v\ch und fol<rert: Jede Handlung? ist ür-
saclie des Erfol^^e.s, wenn der Krfoli: oline die Ilandliiiifr niclit einge-
treten wäre. Jeder also, der eine liedingun»; de.s Erfolges gesetzt liat,
verursacht den Erfolg, wenn ohne die von ihm gesetzte Bedingung der
Erfolg ausgeblieben wäre. Bedingung ist also gleich Ursache. Wer
nun Ursache und Bedingung für etwas Veracbiedenes andebt, wer
unter Terschiedenen Bedingungen des Erfolges eine, zum Beispiel
mit Birkmeyer die wirksamste, heransgreift und als Ursache bezeidi*
net, die anderen nur als Bedingungen gelten läßt, der hat damit eine
ofajektiYe Grundlage fOr die Untersobddnng von MittiteiBchaft und
Beihilfe. Wer die Ursache setzt, bezw. mitselzt, ist ihm Tftter bezw.
Mittitter; wer bloß Bedingungen setzt, ist Gehilfe. Wer dagegen einen
Unterschied zwischen Ursache und Bedingung nicht anerkennt, wer
also in der wirklichen Bedingung des Erfolges auch eine Ursache des-
selben sieht, der kann den Unterschied zwischen Mittäter und Gehilfen
nicht in der stärkeren oder schwächeren Beteiligung an der Vollbrin-
gung der Tat finden und sieht sich, weil der Gesetzgeber einmal durch
die verschiedene Strafandrohung ge^en Mittäter und Gehilfen zu deren
Unterscheidung zwingt, unniiltelbar dazu gedrängt, sie in dem Willen,
in dem subjektiven Interesse der Beteiligten zu suchen. Meines Er-
achtens muli von der letzteren Kausalitätstheorie ausgegangen werden.
Ein Erfolg kann nicht eintreten, wenn nicht alle Bedingungen des-
selben vorliegen. Der Täter, der Mittäter, der Gehilfe und der An-
.stifter, sie alle setzen Bedingungen, sie alle sind demgemüli Ursachen
des Erfolges. Deshalb soll mir der Gesetzgeber das Recht einräumen,
auf sie alle als Beteiligte an der gleichen Tat die gleiche Straf-
androhung anzuwenden, und mich nicht zwmgen zn unterscheiden,
wo mir das UnterscheidnngsyermOgen fehlt. Weil aber nicht alle Be>
dingungen gleichwertig sind, mnfi ich die yersehiedenen an der Tat
Beteiligten innerhalb des gleichen Strafrahmens Terschieden bebanp
dein, ja sogar unter den gewöhnlichen Stralkahmen bis zn einem ge-
wöhnlichen Mindestmaße heruntergehen können. Ich empfehle die
Annahme der drei Thesen.
Nach einer lebhaften Debatte, in welcher die Herren Professor
Dr. Finger-Halle, Landgerichtsrat Kulemann, Professor
Dr. V. Liszt-Berlin und Privatdozent Dr. Mayer-Straßburg
hervortraten, wurden die Thesen des Referenten in nachstehender
Fassung mit großer Mehrheit angenommen: 1. Wenn zur VerÜbung
einer strafbaren Handlung mehrere Personen vorsätzlich zusammen-
wirken, so trifft die auf die Handlung angedrohte Straft- jeden Teil-
nehmer (Täter, Mittäter, iVnstifter, Gehilfen). 2. Die Gerichte sind je-
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884
VII. Yfwmi
doch zu erniäcIitijLren, die Strafe derjenijj^en Teilnehnior, deren Schuld
sich als eine geringere herausstellt, in einem fresetzlich zu hestininicn-
den Malte herabzusetzen. 3. Mißlinf::t die An.stiftunir oder kommt es
«dine Zutun desjenijren, der die Anstiftung: unternonimen hat, nicht
zur Ausführung der Tat, zu der angestiftet wurde, so tritt Strafe nur
in den gesetzlich vorgesehenen Fällen ein; es ist jedoch zu wünschen,
daB eine Bolehe Bestimmung in Aiuebang aller schweren Verbrechen
getroffen wefde.
Den nlohsten Beratangagegemland bildete das Kolonialstraf-
recht Als erster Referent sprach Admiralitttsrat Professor
Dr. KSbn er* Berlin*
Er ging Ton dem Gmndgedanken der Internationalen krimina-
listischen Yerebiigung ans, dafi die Ktiminafitit eines Volkes im Zu-
sammenhang mit seiner Rulturentwicklung beurteilt werden müsse.
Dieser Znsammenhang seige sich nirgends so charakteristisch als in
den modernen Kolonien, wo die europaische Zivilisation mit den ginz.
lieh verschiedenen Recbtskulturen der einheimischen Rassen zusammen-
stoße, und gerade auf strafrechtlichem Gebiete die Rechtsgewohniieiten
der Eingeborenen vielfach mit uralten religiösen und verwandten An-
schauuniren veniuickt seien. Dem Kolonialstia£recbte sei also der
Entwicklunp:Rirang vorpreselirieben.
Für die deutsche und die sonstige weiße Bevölkerung in den Ko-
lonien richte sich die Strafrechtspflege im wesentlichen nacli den
Normen des Gesetzes über die Konsulargerichtsluirkeit. Die koloniale
Gerichtsbarkeit habe aber im K-uife der letzten Jahre in zahlreichen
wicliti.i^en Einzelheiten reichere und ausgebildetere Formen gefunden,
als die konsulare. Diese Entwicklungstendenz sei weiter zu verfolgen,
weil es für die Rechtsordnung der Schutzgebiete darauf ankommOi die
AbhSngigkeit von dem Konsnlargerichtsbarkeitsgesetze mehr und mehr
abzustreifen und ein selbstindiges, in sich geschlossenes deutsches Ko-
loniahrecht ffir die Euiopäerbeydlkemng daselbst sn schaffen.
Bei Besprechung des in den Kolonien geltenden materiellen Bechtes
hebt Referent henror» daß der Gouverneur der Sehutsgebiete dasSteaf-
yerordnnngsrecht besitzci während es mit Redit, um die richterliche
Funktion von der gesetzgebenden zu trennen, seit 1901 dem Richter
genommen sei. Als Korrelat sei aber zu forderui daß der Gouverneur
seinerseits aus der Keehtsprechnng gänzlich ausscheide. In den mei-
sten Kolonien sei dies bereits durchgeführt. Eigene richterliche Be-
amte als Oberrichter besitzen Ostafrika, Südwestafrika, Kamerun und
Togo gemeinsam. In Neuguinea einschließlich der Karolinen, in
Samoa und auf den Marschallinseln nebmeu noch die Gouverneure
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Intmwtioiialo kriminiHiktiMdie Verdnlgiiog. 235
die Geschäfte der Oberricliter wahr. Nur für das KiautsoUougebiet
bestehe noch kein besonderes Ober^ericht.
Referent ging zum SchluH auf die Rechtsordnung für die einhei-
mische Bevölkerung in Kiautscliou besonders ein. In China sei die
Rechtskultur gerade auf dem Gebiete des Strafrechts erstaunlich ent-
wickelt. Kriminalistische Fragen, mit denen sich die modernste euro-
päische Stra&echtswissenschaft beschäftige, zum Beispiel Aber Versuch,
Taifaiabme am Teflmebi»i| Behandliug jugendlicher Verbreeher und
anderes mehr, aeien im ehineeiaoheii Sbalkeohte bereita mit größter
kaanialiBober Znapitsmig behandelt Dieaer hohen theoretiBchen Ana*
bildnng entapreehe fralich die arg ?errottete Frazia der emheimiaohen
chineaiiehen Geriehte aehr wenig.
Bedner beepiaeh dann die dgemutige Geriehlaorganiaation fOr die
eittheimiaehe BeTOlkerang im KiantBohongehieley nnd aefaloß aeine
ÄQsfUhniDgen mit dem Hinweis auf die mannigfachen Aufgaben, die •
für die FortbÜdnng des jungen dentaehen KokmiaJreefata noeh zu lOaen
bleiben.
Der zweite Referent, Kaiserlicher Oberrichter von Deutsch-
Ostafrika Dr. Ziegler, sprach über die Eingeborenenrechtspflege in
den afrikanischen und Südscesclmtzgebieten. Er gab einen kurzen
l'berblick über die für die verscliiedenen Kolonien bestehenden Be-
stimmungen der Eingeborenen-Strafreclitspflege und entwarf dann ein
Bild von dem Rechtszustande in Ostiifrika. Die Kolonial Verwaltung
habe durch die Reichakanzlerverfügun-r vom 22. April deren In-
halt Referent kurz anführte, zunächst nur dem ersten praktischen Be-
dürfnis abhelfen und in Rücksicht auf die unentwickelten und unge-
klärten Verhältnisse einer freien Entfaltung der Praxis vollen Spiel-
raum lassen wollen. Diesea Verfahren entspreche dem Bedtlrfnis am
besten. Von Zeit za Zeit würden generelle Anwebnngen eriaaaen, in
denen die gemachten Ertabmngen verwertet werden. Daa Gonveme-
ment sammle ala AnfsiehtsbehOrde daa Material (Or eine spfttere Kodi-
fikation. Vor einer Übereilten Kodifikation könne er aber nieht genug
warnen; daan mttsae eist genOgend Material geliefert werden und erat
▼Ollige Kburhmt über die den Kolonien au gehende Gestaltung nnd die
den Eingeborenen zu gewährende Bechtsstellung bestehen. Als Richt-
sehnur für die Beurteilung der Straffälle dienen die Begriffsbestim-
mungen des Beioh8trafgesetz})uch8, die landesüblichen Gewohnheiten
und Überlieferungen sowie Anweiaungen des Gouverneurs. Der hei-
mische Grundsatz: nnlla poena sine lege und das Legalitätsprinzip
hätten keine zwingende Geltung. Rücksiciiten der Btrafpolitik und der
allgemeinen Politik seien für das Einschreiten von Bedeutung. Die
AichiT lOi Kriinin«Uotluopolo||^9. XIII. 15
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226 VIL Wüurm
Strafrechtspflej^e müsse zur Zeit noch von dem obersten Gesichts-
punkte beherrscht werden, dal^ die Einp:eborenen, welche nach Abstam-
mung:, Sitten und Religion voneinander sehr verschieden seien, erst zu
einer höheren Kultur erzogen werden müIHen.
Über den letzten Beratungsgegenstand , „Die verminderte
Ziireobnungafähigkeit^ spxsch znenait Dr. Delbrttok, Direktor
der Irrenanstalt in Bremen. Er hat bereits anf der voijShrigea Yer
sammlnng der Internationalen kriminaUstisohen Vereinigung in Bremen
einen Vortrag Aber „Die vermindert ZnreehnnngBfähigen nnd deren
Verpflegnng in besonderen Anstalten* gehalten. Daranfbin ist das
Thema anf der die^iSbrigen Versammlnng znr Diskussion gestellt wor-
den. Delbrfilek stellt drei prinzipielle Forderongen anf. Erstens ver-
langt er eine Abänderung des Paragraphen 5t des Strafgesetzbuchs
in dem Sinne, daß neben der völligen Unzurechnungsfähigkeit auch
eine verminderte Zureohnungsfäbigkeit im Gesetze Berttcksicbtignog
finde für alle diejenigen Individuen, die auf der Grenze zwischen
^eistijrer Krankheit und Gesundheit stehen. Delbrück fordert weiter
^^^esetzliche Bestimmungen darüber, was mit den vermindert Zurecli-
nungsfiilji^rn zu geschehen habe. Sie sollen in der Hauptsache anders
behandelt werden, als die zurechnungsfähigen Verbrecher. Die Mög-
lichkeit einer Umwandlung der Strafe in andere Maßnahmen, der Ge-
fängnisstrafe in Zwan^jserziehung, in Lnterbringuns^ in ein Trinker-
asyl oder in eine andere ])assende Anstalt, ja sogar die Füglichkeit.
Gemeingefährliche über die ihnen zuerkannte Freiheitsstrafe hinaus in
den betreffenden Anstalten festzuhalten, mäßten dem Richter durch das
(besetz gegeben werden. Drittens fordert Referent, daß die Bestim-
mungen Aber die vermindert Znrecbnnngsfftbigen mSgliobst allgemein
gehalten werden, nnd betont deren groOe Verschiedenartigkdt Viele
seien milder zu bestrafeni andere in Trinkerbeilanstalten sn kurieren»
dritte in Anstalten für Epileptisehe oder in Irrenanstalten zu versorgen.
. für einen großen, kriminell wichtigen Best aber, die moralisch De-
fekten, seien besondere Anstalten zn fordern, weil sie wegen ihrer spe-
zifisch verbrecherischen Neigungen nicht in die gewöhnlichen Irren-
anstalten und wegen ihrer spezifisch pathologischen fiigenschaften nicht
in die Zuchtliäuser und Gefängnisse paßten.
Professor Dr. v. Liszt als zweiter Eeferent erklärte sich mit
den Leitsätzen Delbrücks im wesentlichen einverstanden und stellte
seinerseits nachstehende Thesen auf, die sich an die von der Dresdner
forensisch -psychiatrischen Vereinigung im Jahre 1898 gefaßten Be-
schlüsse anschließen.
1. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die Verantwortlichkeit für
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Interoatioiiale IcrlminaHgtfache Vereinigung. S27
begangene strafbare Handlungen zwar nicht ausgesolilosson, aber doch
wesentlich vermindert ist. Es ist wünscliensvvert, dali diese Fälle so-
wie die in diesem Zustande am häufigsten begangenen Verbreclien
möglichst vollständig gesammelt und systematisch dargestellt werden.
Die ErluiluDg dieser Aufgabe muU der Jurist dem Mediziner über-
lassen.
2. Der vermindert Zurechnungsfähige ist mit einer nnlderen Strafe
zu belegen; die Vollstreckung der Freiheitsstrafe erfolgt in besonderen
Anstalten oder Räumen und unter Berücksichtigung der medizinischen
Grundsätze.
3. Eraoliemt der Tannindert ZarechnimgBfiUiige nach dem Gnt-
ftobtai der SaehverBtändigen als gemeingefiUiriieh, so hat der Straf-
richter auf Verwabrang des Verorleilteii in einer Heil- oder Pflege-
anstalt zu erkennen. Die Dnrebfilhmng dieser Anordnung ist An^;abe
der zustiindigen Verwaltungsbehörde.
4. Ist der Veroiteilte straf tthig» so tritt die Verwahmng nach Yet-
bfißnng der Strafe ein. Andemfalls gilt der Aufenthalt in der Ver-
wahrungsanstalt als Strafverbfißung.
5. Die Verwahrung bat so lange zu dauern, als der Zustand der
Gemdngefährlichkeit es erfordert Die Entlassung aus der Vwwah-
mng wird auf Grund des Qutacbtens der Sachverständigen von dem
Strafrichter ausgesproclien.
An der Debatte beteiligten sich die Herren Landgerichtsdircktor
Becker, der über das Zustandekommen der Dresdner Beschlüsse be-
richtete, von iimi seit ',\ Jahren über gemindert Zureehnungsfähige ge-
sammtUvs statistisebes Material mitteilte und auf Saunnlung amtlichen
Materials hinzuwirken beantragte, <1 eheimer Rat Dr. Weber il'irna-
Sonnenstein), Justizrut Dr. Weingart, der die Entschlieliung über
Unterbringung der gemindert Zurechnungsfähigen und die Dauer der
Unterbringung nicht dem Strafrichter, sondern dem Vormundschafts-
riehter zu ttbertragen empfahl, Hedizinalrat Dr. Leppmann
(Berlin), Professor Asehaffenburg (Halle) und Beehtsanwait
Freund (Berlin).
Die Thesen von Delbrfiok und Liszt wurden angenommen.
Im unmittelbaren Anscbiusee hieran ergriff Qe heim er Justis-
rat Professor Dr. v. Liszt das Wort zu seinem Thema, Die Be-
form des Strafgesetzbuchs. In einem einstündigen fesselnden
Vortrag führte er aus:
Das Ziel, naeh dem die Internationale kriminalistische Vereinigung
und speziell unsere deutsche Landesgruppe Jahre hindurch gerungen
hat} ist in absehbare Nähe gerückt, und der Schulstreit zwischen den
15»
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828
VIL WuLrrsN
Kriminalisten der verschiedenen Richtungen haben einem Friedens-
schlusse Platz j?eniacht. Männer, welche der klassischen und welche
der modernen Schule an^jcehören, haben sich zusammenfj^efunden , um
in gemeinsamer Arheit die rechtsvergleichende Grundlage zu legen, auf
der seineraeit der Entwurf des neuen deutschen Stnifgesetzbuchs wird
aufgebaut werden können. Da liegt die Frage nahe, ob denn unsere
Vereinigung, speziell die deutsche Landesgruppe mit Erreichung dieses
Zieles ihre Eiialensbereehtigang verioren hüte? Aber dem ist nidit so.
Nachdem Ton den Dietdener Freonden ttber die gesamten Beslre*
bungen der fariminalistiaehenVereiiug^g und mdne eigeaen Ziele ein
eingehender Aoftatz (von Staatsanwalt Dr. Wulffen- Dresden) an
die Teihiehmer nnserer Venammlnng im Druck Tertedt worden ist^
auf welchen ich im allgemeinen Besug nehmen kann, mOchte ich ein-
zelne wichtige Daten ans nnsererer EntMrieklnng und einige der wieh-
tigsten unserer Forderungen hervorheben.
In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts war auf einen langen
Ruhezustand ein Stadium leidenschaftlichen Kampfes um das Straf*
recht gefolgt £s erschien Lombrosos Buch über den Verbrecher
mit der Lehre vom delinquento nato, dem „geborenen** Verbrecher;
es erschien die Streitschrift des Reich sircrichtsrats Mittelstadt wider
die Freiheitsstrafe, und dann die Schrift Kräpelins, der die Abschaf-
fun<r des Strafmaßes forderte. In den SO er Jahren entlirannti' der
Kampf auf der «ranzen Linie. In diesem Streite eine Saiimilnn«^
Gleichdenkender zu bilden, entstand im Januar 1889 die Internationale
kriminalistische Vereinigung. Es waren nicht bloß radikale Reformer,
die sich da zusammenfanden; unter unseren ersten Mitirliedern waren
Männer wie Tessendorf, Olshausen, Vierhaus, lioltzendorff.
In unserem Programm wurde ausgesprochen, daß die Vereinigung
ausgehe von der Oberzeugung, daß Verbrechen nnd Strafe ebensosehr
vom sosiologisehen wie vom juristischen Standpunkte ans ins Ange
gefafit werden müßten; die Vereinigung stellte sich znrAnfgabey diese
Ansicht in Wissenschaft nnd Gesetzgebung zur Anerkennung zu brin-
gen. Wir leugnen selbstverstündlich nicht die Notwendigkeit juristi-
scber Dogroatik; wir behaupten aber, daß daneben das Vearbrechen
als soziale Eischänung, die Strafe als soziale Reaktion ins Auge ge-
faßt werden müsse. Wir stellen uns die Aufgabe, eine Ätiologie des
Verbrechens zu schaffen als einzig mögliche wissenschaftliche Grund*
läge fOr eine zweckentsprechende Kriminalpolitik.
Im ersten Anfang sind es zwei Grundfragen gewesen, von denen
wir ausgegangen sind: die Kriminalität der Jugendlichen und die der
Bückfälligen. Die Tatsache, daß die Kriminalstatistik hinsichtlich beider
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Intenuitl<male krimimlirttoche Verdnignng.
339
die bedenklichsten Züg^e aufweist, führte uns zur Kritik des herrschen-
den Straf rnsystenis. Hier kamen wir vor allem zu dem Resultat: es
unterliegt keinem Zweifel, daß unsere kurz/XMtige Freiheitsstrafe nicht
abschreckt, nicht bessert, die Gesellschaft in keiner Weise sichert und
keine Sühne ist für das Verbrechen. Im weiteren Verlaufe dieser Ge-
danken gelangten wir zur Frage der Behandlung der Jugendlichen,
und es gehört zu unseran stoheaten ErinneruDgen, dal^ wir auf diesem
Gebiete neaea Gedanken die Bahn gebrochen haben. Ich nenne die
Worte: bedingte Verurteilnng!
Was haben wir nnn wdter ni tan? Vor allem ist nnsere ente
Aufgabe, die Untersnehnng der Unachen des Verbrechens^ noch nicht
gelöst, wenn wir ancb ein gutes Stück Yorwiits gekommen smd. Mit
einem Standpunkt MUch, der die absolnte Herrschaft der Denkform
der Kausalität leugnet und demgemflß lehrt» daß das Verbrechen als
ans ireter Willensentschließung hervorwacbsend niemals in seinen Ur-
sachen erkannt werden könne, ist keine Aaseinandersetzung möglich.
Wenn sich das Verbrechen jeder Berechnung entzieht, dann ist jede
psychologische Einwirkung; einfach unmöglich. Wir hoffen aber zuver-
sichtlich, daß auch hinsichtlich dieses Punktes überzeugte Anhäng:er,
insbesondere aucli aus den Kreisen dvr ))raktischeu Kriminalisten, immer
mehr in unser [jx^gt herübertreten werden.
Weiter müssen wir es aber klar aussprechen, daß wir von dem
künftifjen Reichsf^esetzireber verlan^ren, unseren Mindestforderunfren zu
entsprechen. Wir arbeiten gern mit und sind auch zu Opfern an un-
seren Überzeugungen bereit, aber wir stehen nur auf ganz bestimmter
Grundlage zur Verfügung. Wir werden mit Entschiedenheit gegen den
Entwurf ankämpfen, wenn er diesen Grundlagen nicht entspricht
Unseie Mindestforderungen sind nnn folgende. In ersler Linie ver-
langen wir die reichsiechtliehe Einffthrang der bedingten Yemiteihing
im Sinne des belgisch-feansOsiBebenBechts. Zwar darf ich gerade hier
in Dresden die Gelegenheit ergreifen, vns alle daran sn erinnern, daß
die Königlich Sächsische Justisrerwaltang als eiste ror allen andern
deotsohen, auch ror der preußischen, es gewesen ist, welche nnser
Hauptziel, die bedingte Verurteilung, als berechtigt anerkannt und in
einer modifizierten Form eingef&brt hat. Dafür gebührt der säch>
sischen Justizverwaltung unser aufrichtigster Dank. Denn die bedingte
Begnadigung durch Strafaufschub ist eine Vorstufe der richterlichen
bedingten Verurteilung. Aber ebenso aufrichtig müssen \y'\t bekennen,
daß wir auf der Vorstufe nicht stehen bleiben können, sondern weiter
emporsteigen wollen. Nicht bedingte Gnade, sondern einen bedingten
Bichterspruch erstreben wir!
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280
VIL Wcxmn
Unsere zweite Ilauptfoidcrun^r betrifft die Ileraufsetzunj;: des
Mindestalters der Zureclinun^^bfäiiigkeit vom 12. auf das 14. Lebens-
jabr. £8 niuU endlich auch im Gesetze anerkannt werden, daß Kinder
nicht auf die Anklagebank gehören.
Wir verlangen, daß auf jeden Fall diese Forderongen im kflnftigen
Straf geaetsbnche berlldmhtigt werden. Wir fordern, da0 nnaere
etbiflohen AnBobannngen, yon denen wir behaupten, dafi sie die An-
Bchannngen des dentsohen Volkes Ton hente sind, hineinkommen in
nnser nenes dentsehesSlzafgesetsbneh; nnd darin sind wir auch einig
mit denVerMem der klassisehen Sehnle. Wir leben im Zeitalter der
Sozialpolitik. Die zw^te Hälfte dee 19. Jahrhunderts ist das Zeitakert
wo die Individualethik ersetzt worden ist durch die Sozialethik^ die
dem einzelnen sagt: Du sollst der Gesamtheit dienen, nicht dir. Die
Bedeutung von Friedrich Nietzsche ruht gerade darauf, daß er uns
die Reaktion darstellt gegen diese Gedanken und das Individuum wieder
sich seihst erretten will. Jedes Zeitalter mit ausgesprochenen ethischen
Anschauun<ren bat auch seine besondere Strafgesetzgebung.
Unser lieiebBstrufgesetzbuch hängt noch zum Teil an der veralte-
ten Anschauung; die moderne Anschauung hat in unsere Paragraphen
noch nicht eindringen können. Ihr dazu zu verhelfen, sind wir ge-
rüstet. Der ganze Schulstreit um die Gnindgedanken des Strafrechts
interessiert uns wenig. Wir lehnen die Vergeltung ab als einen alt-
testamenthcben Gedanken, der sieb mit dem Ohristentume nicht ver-
trägt Wir begreifen den Streit über Vergeltung und Gerechtigkeit gar
nicht Wir sagen: aoiiale Pfliobt der Geseilwdia^ soiiale Fftioht des
einzelnen ist es, seinem Nebenmenichen die rottende Hand zn reichen,
so lange es irgend geht; alle Maßregeln anssnarbeiten, dmch die der
£tnzelne, der anf die Bahn des Veibreohens gekommen ist, wieder
zum nützlichen GKede der Gesellscfaaft wird; und soziale Pflicht ist
es andererseüs dort, wo wir Bettang nicht mehr sehen, sehflikend nnd
sichernd einzugreifen. Ich glanbe, es wird unser künftiges Straf-
gesetzbuch nicht ans den Theorien der Professoren geboren werden,
sondern es wird seinen Inhalt aus den Bedürfnissen und den sittlichen
Anschauungen unseres deutschen Volkes empfangen!
Lebhafter allseitiger Beifall lohnte den Ausführungen des glän-
zenden Redners, dessen Worte zugleich einen würdigen Absobluli der
Beratungen und Vorträge l>ildeten.
Den geschäftlichen Bcsclihili der Tairung bildeten die Wahlen.
Auf Antrag des Admiralitätsrates l'rof. Dr. Kühner wird der bisherige
Vorstand (Vorsitzender Prof. Dr. v. Mayr) in corpore durch Akkla-
mation wiedergewäldt. Als neues Mitglied wird auf Vorschlag des
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Intenuitloiiale kiiminallsdsdie Vereinigiing.
281
Vorsitzenden noch Geheimer Rat Generalstaatsanwalt Gel'tler in den
\'orstand aufirenonimen. Mit Worten des Dankes an alle, die zum
(ielin^^en der Tagung; beigetragen haben, schlieIH darauf der Vor-
sitzende, welchem Geheimer Kat (JelHer für die vorzügliche Leitung
des Kongresses den Dank tler Versammlung zum Ausdruck bringt
die diesjährige Umdesversammlung.
Wenn an dieser Stelle Booh ein Nachwort an der hinter ua»
liegenden Tagung am Platze ist, so darf folgendes gesagt werden.
Man mag Uber den Wert der bei wisaensobaftliohen Kongressen nn-
mittelbar an Ort nnd Stelle- gewonnenen Ergebnisse für die Wissen-
Bcbalt mteilen wie man will. Es trifft zu nnd liegt wobl in der Nator
solcher Sitzongea, daß es sich bei ihnen in der Hauptsache um all-
sätigen Woiiiäg zu Hause, am Studiertisoh oder in der Amtsstnbey
gefundener Ansichten und Sätze und um gegenseitigen Meinungsaus-
tausch darüber handeln wird, daß dagegen der Abstimmung Uber die
Thesen und ihrer hierdurch znm Beschlüsse erhobenen Fassung nicht
zu viel Bedeutung beigelegt werden kann. Aber eben in dem unmittel-
baren, mündlichen Austausch der Gedanken, der im Wege der Schrift
keineswegs ersetzt werden kann, ergibt sich der holie Wert der wissen-
schaftlichen Kongresse. Ihm gleich steht endlich die große Anregung,
welche solche jedes Jahr an einem anderen Orte tagende Versamm-
lungen den riiumlich getrennten Kreisen der Herufsgenossen geben.
Und gerade von dieser fachlichen Anregung darf hinsichtlich der
Dresdener Tagung das günstigste berichtet werden. Wie der Herr
Justizminister in seiner Begrübungsansprache betonte, gehörten bislang
zu den Mitgliedern der internationalen kriminalistischen Vereinigung
ganz wenige sichsuMhe Juristen. Das nSdiste Mitgliederreizeiclims
wird nun answeisen, daß sich durch die Dresdener Versammlung eine
recht erfreuliche Zahl sächsischer Kriminalisten zum Beitritte hat
W6rt>en lassen. Es kann nicht gesagt werden, daß bisher die Ge-
danken der Internationalen Vereinigung, die Gedanken der Eriminal-
pdittk, der Kriminalantfaropologie^ der Kriminalstatistik und der Beform
des Strafen^ystems mit ihren Ersatzmittfifai für die kurze Freiheits-
stmfe, bei den sächsischen Praktikern auf fruchtbaren Boden gefallen
wären. Wenn wir auch als die ersten den bedingten Strafanfsohnb
hatten, so wurde diesem Institute doch zunächst von Alten und Jungen
mit Mißtrauen begegnet, welches sich auch im Laufe der Jahre noch
nicht ganz verloren hat. Wir stecken noch tief in der alleinselig-
machenden juristischen Dogmatik. Wir fühlen uns beglückt im Auf-
bauen kühnster Konstruktionen von Tatbeständen und beten die Judi-
katur der hüchäten Gerichtshöfe an. Es war sozusagen hohe Zeit,
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2S2 ViL Wumsv, iBtenutioMle krimiiuUiatüohe Veieinigoag.
dal» die Internationale kriminalistische Vereinifrunp unmittelbar ihre
Gedanken in das Herz unseres Hundesstaates trug und in ihm über-
zeugte Anhänger und Freunde suchte. Und es darf mit Freuden be-
kannt weiden, daß sie wiche gefunden hat! Gerade jetzt, wo einige
Monate Uber die VoiMge nnd Debatten dahingegangen sind nnd
eine gewisse BeCremdnng gegenflber den gans neuen Gedanken nnd
Bestrebungen einer ruhigeren ErwUgung und Kttrung derselben in
dem Einzelnen Plati gemacht hat, kOnnen wir yersiohen, daß aueh
wir unseni Haan stellen werdai in dem Bingen um die ümgeetsltnng
des Btiafrechtes. Wenn man uns Sachsen auch auf der «neu Seite
eine gewisse Schwerfälligkeit in der Entschließung nachsagt, so werden
doch auf der andern Seite die Gründlichkeit und Innerlichkeit ane^
kannty mit der wir alles, was wir billigen, alsbald erfassen und er
füllen. Und da es sich, wie der Herr Justizminister sa^te, im vor-
liegenden Falle fremde um eine Herzenssache handelt, so zweifeln wir
nicht, (lall wir als ebenbürtige Mitkiiiiipfer unter den übrigen Befor-
mem erscheinen werden* Daa möge die Zukunft erweisen!
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vm.
Zar Selbstmordfrage.
Dr. BoMlutt in Stettin.
en Sei bstmord in den Vereinigten Staaten Ameri-
kas hat William B. Bailey in der Mainummer der Yale Review
interessante Erhehnnfrfn vorflffentliclit, die allerdings nicht ererado der
Exaktlieit entapreclien. aber immcrliin doch imstande sind, ein unge-
fähres Bild von der Verbreitung desselben und den Motiven dazu zu
geben. Eine Erhebung auf Grund offizieller Angaben anzustellen
war nicht miiglich, da die ainerikanische Regierung der verschiedenen
Staaten keine exakten Aufzeichnungen vornehmen lälH, Verf. durch-
zog daher in Ermangelung einer besseren Quelle 30 größere Tages-
blätter des Uindes einer eingehenden Durchsicht Von 10 000 Selbst-
morden in den Jahren 1897—1901 betrafen 7781 Männer und 2219
Waber; das männliche Geschlecht stellte also ein 3 Vi mal größeres
Kontingent als das weibliche. In den meisten Staaten begehen ye^
heiiatete häufiger Suioid als Ledige; andererseits wieder alleinstehende,
geschieden und verwitwete Weiber häufiger als Minner in derselben
Lebenslage. Von den Methoden wird Tod durch Erschießen be▼o^
zngty demnächst geschieht die Entleibung mittelst Giftes. Erhängen
und Ertrinken sind nicht so sehr Terlneitet wie in andern Ländern,
z. B. in Nordeuropa. Herabspringen, Vergiftung und Tod durch
Kohlenoxyd ist nur auf die Städte beschränkt Für das männliche
Geschlecht ist die beliebteste Art sich das Loben zu nehmen das Er-
schießen; Herabspringen hingegen wird am seltensten geübt; Frauen
hingegen bevorzugen Gift und schneiden sich am seltensten die Adern auf.
Was die Motive zum Selbstmord betrifft, so steht Verzweiflung
an der Spitze: 20 Proz. aller Selbstmörder haben dieses als Gnind
angegeben. p]s folgen sodann geschäftlielie \ erluste, körperliche Krank-
heit und Geisteskrankheit mit ungefähr 13 Proz. An letzter ►^it He
ziemlich kommt getäuschte Liebe. Alkoboliauius spricht bei Männern
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i
284 YIIL BüacuA», Zai Seibstmordlnge.
oft mit. Weiber tüten sich seihst häufiger aus Gram, denn Männer;
auch schlechte Gesundheit erfordert bei ihnen mehr Opfer. Zwischen
20 und 30 Jabrai werden die meisten Sellmtmorde ans Kummer, Ärger
und getäuschter liebe begangen; zwischen 20 nnd 30 iBUtanoh das
Maximum infolge TonAlkoholismiiByGeisteBlaankeit,yenEweiflnng,bins-
lichem liger and Forcht vor Schande. Zwischen 30 und 40 Jahren
werden die meisten Selbstmorde wegen Gescbäflsrerinste und mangel-
hafter Gesundheit begangen. Im allgemeinen begehen lYanen Suidd
in früheren Leben^ahien, als Männer. Auf den Montag USkm die
meisten Selbstmorde^ die demnächstige Zahl auf Sonntag. Von Montag
gebt der Prozentsatz herab bis Donnerstag (inklus.); Freitag tritt ein
pUStzliches Ansteigen ein und Sonnabend wiederum ein Rückgang auf
die gleiche Zahl wie am Donnerstag, Sonntag nimmt die Zahl der
Selbstmorde dann wieder l)edeutend zu. Die Männer ziehen Montag,
die Frauen Sonntag im allgemeinen vor. Die meisten Selbstmorde
werden in den ersten zwölf Stunden des Tages begangen. Beginnend
bei Mittemacht steigt die Kurve bis ungefähr 6 Uhr Morgens be-
ständig an. Selbstmorde wegen Krankheit körperlicher Leiden und aus
Geisteskrankheit werden in den frühen Morgenstunden begangen, aus
Alkoholismus und Kummer später am Vormittag, aus Verzweiflung
am Nachuiittag und aus unglücklicher Liebe und Familienzwisügkeitea
spät am Abend.
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\
IX.
•Des Churfürsten zu Sadismen etc. Vnd Landgrauen zu Hessen etc.
Offen Ausschreiben,
Der Mordbrenner 0 ynd Yorgiffter halben:
Die vom Anti Christ, dem Babst zu Born abgefertiget, Deudsch Land
mit MordÜ>randt vnd vorgifftting znbeschedigen.
Item
HertJiog Johans Wilhelmen au Bachseen etc. Sonderlich au»»chrL>il)eii, mit
cinoorleibtcr ur^cbt vnd bekcutiüs, eins, der obbcriutcu bcsdicdigcr, so zu
Wejrmar gefooglidi einbracht, vnd «rfaalteii wirdet
Von Gotts gnaden, Wir Johans Fridrich, Ilertzog zu Sachssen,
des Heiligen Römischen Reichs Erzmarscbalh, vnd Churfürst, Uand-
fjraff inn Düringen, Margjjrraff zu Meissen, vnd Burggraff zu Magde-
burg, Vnd von dessolhon genaden Wir Philipps, Landgraff zu Hessen,
Graff zu Calzen Elnlio^^en, zu Dietz, Ciegenhain, vnd Nidda. Em-
pieten allen vnd jeden, Clmrfürsten, Fürsten, Grauen, Herrn, Ritter-
ßchafft, vnd Steten, so vnser Aujrs]nir<2:ischen Confession, Auch vnser
Christlichen einunge verwandt sein, Desgleichen allen vnd jeden vnsem
1) Anmerkung des Herausgebers. Icli bringe die Abselirift dieser
hochiucrkwurdigen Enunziatiun, su wie sie Herr Juliauucs Jübling (Drcsdcn-
Löbtav) eingesendet hat Daß diese und iOinllelie Veriaatbarangen exiatiertea,
haben wir schon lange gewußt (vgi. mein Handbuch für Untersuchungsrichter,
H. Aufl., S. 2C>\). es fehlten aber genauere Angaben hierüber gänzlich, so daß ich
den Fund de» lierm Einsenders als sehr wichtig bezeichnen nmchtc. Die Be-
deutung dieser Schrift liegt darin, daß sie uns Angaben über die borüchtigsten
Mordbranneixeiefaeo, die Vwtlnfer der eigentUeheD Oannerrinken, ma«dit, daS aie
echte Steckbriefe enthält und uns Aber die damalige Auffassung strafprozessualer
Sicherheit unterrichtet Erwiesen ist, daß ein Mann (wohl auf der Folter) zu-
gegeben hat: einer seiner Genossen habe irgendwo etwas in einen Brunneu
geworfen, was Gift sein soll. Gefolgert wird daraus, daß der Papst ganze
Banden von Mordbrenneni und Bnmnenveigifteni nach Deotachland sendet, um
«der Aogapnigischen Konfeealon'' BeediSdigiuigen zaxafllgeii, damit sie „ge-
schwedit* werdol Hans Groß.
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236
Der Mordbrannor vnd Voigiffter halben.
VDterthanen vnd Vorwandten, vnser freundlich dienst, vnd was wir
liebes vnd gutes vermögen, Auch gras, goad vnd alles ^tes znaorao,
Ehrwiidigsten, Ebrwirdigen in Gott^ Hoehgebome FBnten, Wolge-
bonen, Edle» yeste, Enameii weifleii Heben besonden Bethe vnd ge-
trewen, Kaeh deme EL Im vnd Ir wüsen, welcher geetalt der Anti
Ohrist zn Rom der Babet, on sweinel durch dogebaiige des bSeen
Geistes, ah seins werckgecengesi fnr etlichen Jaien, inn Dendsohe
Land, yerordennnge ynd yorBehnnge gela% Das die ObnrfiUsten,
FBisten, Stende vnd Stete, sonderlich aber die jhenigen, so gemelter
ynser Angspnrgiscben Confeasion, ynd Christlichen Beligion vnd ein-
nnge zugethan, mit fewer vnd mordtbrand, soHen angef^riffen, be-
schediget vnd damit gcscinvecht werden. Wie dann auch daraoff
erfolget, vnd grosser trefflicher schade hin vnd wider bescheben.
Wiewol nu auch gedachter Bähst, nicht die geringste vrsache ist, das
sich der Kavscr itzo vntcrstehet, Gettos Wort vnd die wäre Cliristliche
Religion, mit seiner des Babsts stattliclien vnd trefflichen hülff, die
vor Miifren, vnd nicht kan verneinet werden, mit dem Schvverd zu
denipffen vnd auszureuten. So ist er doch daran, seiner nnirderisehen
vnd blutdürstigen art nach, nicht gesettiget noch zufriden. Sondern
hat daneben, wie wir des von hohen Fürstlichen personen, aus son-
dern trewbertzigen voluieinenden bedencken, gegen vns, vnsere Reli-
gioosverwandte, vnd der gantzen Deudschen Nation, glaub vvirdigen
beficht empfangen, ettlich yiel, ynd geschwinde gifft inn Dwidsohe
Land yetordnet, welche gifft auch an ein benanten ort ankommen
sein sol. Der meinnng ynd mit diesem befehl, f&memlich die Bmnneii,
Teiche^ ynd andere stehende Wasser, ynd wie es sonsten snwegen
bnusht werden mag, Inn E. L. ynd ewem Landen, Gra&cba^en
ynd Herrschafften, Steten ynd Gebieten, auch inn ynsem Landen ynd
Fftrstensthnmen, damit znuorgifften. Anch, das also neben des Eaysen
fnmemen, des Babsts ynd Teuffels mord^ an menschen vnd vihe,
auch rnJirlit ins werck, gestelt vnd gefUrdert werden. Wie sich dann
das Welsch Kriegsvolck, so der ßabst dem Kayser zugeschickt, offoit»
lieh vornemen lest, das er, der Babst, vns, vnd alle vnsere Religions-
Verwandten, jnen habe zu preis geben. Aus welchen handlungen,
E. L. vnd jr, ancli nieniglich leichtlich vnn gnugsam zuuorstehen,
das der Kaiser \n(i Habst einmal entschlossen, E. L. vns, auch der-
selbigt n vnd vnsero vntertlianen vnd Vorwandten, allein vnib Gottes
Worts, vnd w.arer Cbristliebrn Religion willen. Naeb dem wir alle
one das mit dem Bai)st ni<-lit zulliun haben, gentzlich zuuortilgen, vnd
wüü der Keyser mit dem Sehwert nicht allenthalben vermag, das wil
der Babst mit gifft ausrichten. Als haben wir freundlicher gnediger
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Der Mordbrenner vnd Vorgittter halben.
387
trewer wolmeinung, auch Christlicher lieb vnd vorwandtmis nach,
nit vnterlassen wollen, E. L. vnd euch, solches durch dieses vnser
offen ausschreiben, also bald kund zuthuen, vnd des zuuorwarnen.
Auff da.s durch flottes verloihuni,', meniglich sich dis fals, so viel mehr
vor zusehen, vnd zuhtiten haben niüe:e. Und zweiueln nicht E. L.
vnd Ir, werden in jren landen, Graffschafften, Herrschafften, Steten
vnd Gebieten, liarauff fürderliche vnd vnuorzügliche Verschaffung; vnd
verfü<^ung thun. Damit des Babsts verordent vergifften, der Brunnen
vnd Wasser, vnd wie er es sonsten möchte ins werck richten wollen,
durch Göttficbe gnedige verleibunge, vorhütet vnd vorkommen. Vnd
in Bonderheit danmff aehtung geben lassen, das die abgefertigten per-
sonen mügen begriffen, eingezogen, gefraget, ynd als denn jrem ver-
dienst nacb, ynnaehlessig gestiaffk werden. Do auch einer oder mehr
betretten, vnd jr bericht gehSit^ So werden £. L. vnd Ir, denselben
fOrdeTi vns vnd den andern, anoh wol snerkennen zugeben wisseD.
Damit wir, vnd sie^ vns darnach auch mttgen haben znricbteo, rad
diesem Tnerbam vorreterlichem des Bahstes fümemen dester bas be-
gegnen. So wöllen wir auch den nnsem solches hiemit in gleichnns
ernstlich auch beuohlen haben. Das weiten wir E. L. vnd Euch,
freundlicher vnd gnediger meinung, nit vnorOffnet lassen, vnd sind
£. L. freundlich zudienen, auch Euch genade vnd alles i^uts zuer-
zeigen geneigt, vnd erbötig, vnd die vnsern thun daran vnser f^entz
liehe nieinunj;. Zu vrkund mit vnsern hicrauffjredruckten Secreten
besigelt, vnd geben in vnserm Feldleger bey Erichessem, den XXX.
tag Augusti. M. D. X. Lvj.
Dieweil anff obberodte ausschreiben inn Hochgedachter Ohnr
vnd Fürsten, FQrstentbumen vnd landen, auffmercken geschehen,
auff vordechtige Wandersieute, vnd inn einem Gehültze, nahend vor
der Stadt Weymar, das grosse Wcbicht genant, einer itetroffen, der
inn Pilgrams gestalt geg^ungen, auch kein deudscb reden können. Ist
derselbe zu jrefengnis eingezogen, seins gewerbs, wandels, wesens,
vnd gescheffts befraget. Vnd hat seine aussage gethan, wie aus fol-
gendem, üertzog Johans Wilhelmen zu Sacbssen etc. schreiben, zu-
bef inden :
Von Gotts gnaden, Johans Wilhelm üertzog zu Öachssen etc.
Lieben getrewen, Nach dem die Hochgebomen Fttrsten, Herr
Johans Fridrich Hertzog zu Sachssen, Churfürst etc. vnd Burggraff
zu Magdeburg, Vnd Herr Philips, Landgraff zu Hessen, vnsere gnediger
lieber Herr vnd Vater, vnd freundlicher lieber Vetter, kurtz vorschiener
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238
Der Mordbrenner vnd VoiigiCfter halben.
zeit aus jlirer j^naden, vnd liebden, Feltlafjer. Ein öffentlich Aus-
schreiben vns anhero ^esand, darinnen angezeigt, Welcher gestalt der
Babtst \ iid Antichrist zu Rom, vorgifftung aus zu sprengen, bestellung
gethan, die dann nuiuehr publicirt worden seind.
Als wollen wir euob femer, gnediger meinung nicht ynangezeigt
lasBen, du duroh Bondeiliche gnedige aohieknng des AUmechtigen,
Am negat ▼orachienen Frey tag zn abend, allhier im grofiea Webiehi
ein Wabl| so in eins Pilgröms gestalti rnd bOsen kleidem gegangen^
ergriffen, eingezogen, ynd wie Tolgti ausgesagt
Das er Jakob JnUan heisse, sej von Leon ans lYanekidoh
Bfirtig, l>es Babtte Hanptman, ein langer Edelman, so zn Born wonef,
hab jn nebst andern viem zn Rom, ror zwmen Monaten, inn sonem
Hause, inn des Babstes Namen, bestellet md abgefertigt, vnd jme
fUnff Kronen <2:egeben die Strassen, inn diesen Landen, abzusehen (ynd
des BabfltB Volck wttrde bald hernach komen) vnd darinnen zn
brennen, vnd die Brunnen zuuorgifften, mit Verwendung, sie theten
ein gut werck daran, vordieneten vorgebung-, aller jrer Sünden, wann
sie nur viel Schadens damit ausrichteten, Dann die Deudschen weren
gar wider den Heiligen Stul zu Rom, Seine Gesellen betten die Gifft
bei jnen gehabt, inn einer hültzerne Büchssen, die zehen zwerjr finjrer
hoch, vnd eine Me8sing:en, darinnen sie andere Speties gehabt, so
auch Gifft gewesen, welchs er ijesehen. Solche zwu Büchssen,
trügen sie alle beide inn einem Li (lerne Seckiein, Er habe keine Gifft
gehabt, könne sie auch nicht machen, Die Gifft aber were weiss vnd
schwartz, durch ein ander gepüluert.
Sein erster Geselle heiße Peter Juliam, Ein Italianer von Rom,
der habe xiiij Kronen empfangen, Was aber den andern gegeben,
weis er nieht, Dieser habe einen grawen sohwaifzen Bard, sey alt, vnd
ein Schuster, habe an Spanische Gappen Botter färben, Ein Wambs
von Rotem tnche, Braune Hosen, ein Rot Bared, welohs nicht gros.
Der ander Geselle, heisse Johann Latran, sey ein Florentiner,
vnd schwartzer stareker Geselle, vnd ein WOlIeweber, habe einen
schwartzen vmbneme Rock, mit Ermein, eui schwartz wttllen Wambs,
vnd Hosen so nicht gar braun, sondern etwas Leberfaibe mit smn,
Ein kleines grawes Bared.
Der dritte heilie Xicolaus, auch von Florentz, sey ein alter Man, sol
ein Seiler sein, sey durchaus kleidet, wie Johann Latran, Derselbige
habe sampt andern seinen Gesellen, vier Laruen geliabt, die weren zu
Rom gemacht, do het er sie gesehen, weren alle auff Bertigte man-
Htomit i^t schafft zuirericht, Seine Gesellen betten die Laruen auch vorgetban,
8tadiw«u» hei einer btad, die vfC einem Berge ligt
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Der MordbnniMr vnd Voigiffter halbeD. 289
Der Vierde heisset Lu(lwip:k, auch von Florentz, soy ein •^^^"t^^''^ j'^^j^'^''*"^^'
starcker Man, ein Schuster, hal)e ein leherfarben Mantel vff Neapolo-gonerndiei-
tonisch, ein weis parchond Wamhs, Braune Hosen, ein eravv liaredt,»® o«««u*a
, Ton eiiuuidsr
Dieselbige seine fresellen tnigen Schefflin und Rapir, könne al)er jhre gegangen,
Zunamen nicht wissen, Vnter denen könnten die zween, Xicolaus vnd ^« Wgeod«
Ludewick Deudsch, die hetten die andern herein gefiirt, weren zuuor meidet wüd.
auch iuD Deudsch Land gewesen, vnd wüsten bescheid, auch Inn
Behemeo.
Zu Halle im Innthal, hetten seine Gesellen, mit Gifft» die einer
welsehen Kos i^ros gewesen, einen Brennen vorgifftet, Solehe seine vier
Gesellen weren yngeferlicb sieben Meil weges Ton binnen, am negst
Toigangen Dinstage acht tage, bey einer Stad, da ein Sohlos rtt dem
Beige ligt, yon jme gegangen.
Und jnen allen, wy za Rom dieser hesehdd gegeben, das sie nach
ansrichtnng jhrer gesoheffte^ widder zum Babst oder seinem Kriegsvolck,
wn das an zutreffen sein würd^ beim Gebirge kernen selten.
Der Gefangene, habe auch 7on seinen Gesellen gehört, das der
Babst an andere orter, jhrer mehr, zu solcher bescbedignng, abgefertigt
habe. Seine Grsellon aber hetten eine Stad, dahin er widder zu ihnen
koinen solte, S. Andre, zwelff nieilen von hinnen, benennet, er wQste genen b»-*
sie aber nicht zu nennen, noch zu finden. »ioheooa
TontuidM
Vff (las nun vnsers ^rnedigen liel)en Herrn vnd Vaters, I^ind vnd mögen wer-
Leute schaden vnd vorterbe, Mit der bestalten P'i'wer vnd Gifft einie^nin;:, ^'"-g^^ ®'
Durch hiilffe des Allmechtigen vorhiitet. vnd solche abp:efertif!:te Vor- Amwbwg
terbere, eingebracht vnd gestrafft werden ni<>gen. So begern an stad
vnsers gnedigen lieben Herrn und Vaters, wir, jlir wollet, in Ewerm nicht neht
Kreise, Grauen, Herrn, denen von der Ritterschafft, Haupt vnd Arap- "JJJJJJJ*
lenten, Sebossem nnd Sehnitheisen, den Bethen der Stedte, vnd andern
gemeinden, solchs auch anzeigen lassen, domit man vff die Abg^ertig*
ten Mordbrenner vnd Vorgiffter, gut achtnng gebe, sie gefenglicb vnd
zu gebfirlicher straff, einbrenge^ vff das durch Gottes hlllff, Solch Vor-
gifftang, vnd Ifordtbrandt vorkommen, vnd Land vnd Lente, vor
solchem schaden vorhQtet bleiben.
Vnd dieweil dann solche besteilte Wahlen, Handweieks Leute,
Schuster, Wiilleweber, vnd Seiler seind, Vnter denen zween, Deudsch
können sollen, So wollet sonderlich inn den Steten, durch die Hand-
wergs Meister vnd Wirte^ vff sie gut achtung, geben lassen, vnd so einer
odder mehr ergriffen, von denselben als balde, was bey jme befunden,
noiin'ii, vnd do er Deudsch kan, mit ernst befragen, wu, vnd an
weK lieni ort, er die Brunnen oder Wasser vorgifftet, oddcr Fcwcr an-
gelegt habe, vnd wo sein Gesellen anzutreffen sein möchteU| da er aber
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240
Der Mordbreoner vnd VorgUftcr halben.
nicht Deudsch können möchte, aolchs bey tag vnd nacht anher zuer-
kennen geben, wollen wir, zubefehlen wissen, das er auff seine Sprach
durch jemand derseU)en kündig?, befragrt werde, vnd sie mitler zeit^
wol verwarlich im (iefengnus enthalten, thimit sie nicht entwerden,
odder jhnen selbst schaden tbun möchten , Daran geschieht an stad
YBseiB gnedigen lieben Herrn ynd Yatecs, Vnsere geffellige meinung,
Datom Weymar vnter 8. G. Badtnegd, Hitwocba nach Matthej Apostoli,
Anno M.DXLvj.'.
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X.
Zur frage des BerulsgeiieiiiLnisses.
Trotzdem in dieser, allerdings außerordentlieli wichtigen Frage
eine reiclilialtige Literatur 'j entstanden ist, sclieint es mir doch, als ob
zu wenig erwogen worden wäre, ob wir nicht mit den bestehenden
Gesetzen auslangen und befriedigende I^sung finden könnten. Aller-
dings nicht mit der Bestimmung der österr. St.-G., welches, altfränkisch
nach Form und Inhalt im 498 erklärt: ,,Ein Heil- oder Wundarzt,
Geburtshelfer oder eine Wehmutter, welche die Geheimnisse der ihrer
Pflege anvertrauten Personen jemand anderem, als der amtlich an-
fragenden BehSrde entdecken, sollen . . Das iet so streng und deut-
lich aDQgedrfickty daß ein Zweifel darüber, gegen wen das Geheimnis
gewählt werden muß, nicht snfkommen kann. Nicht so Uar gelöst ist
allerdings die Frage, unter welchen Bedingungen fOr den betrefitenden
Arzt nsw. die Verschwiegenheitspflicht schon beginnt; wenn jemand
ein einziges Mal bei einem Arzt war, nm ihn z. B. lediglich etwas
zn folgen, so kann man, dem Sprachgebranche gemftß, wohl kaum
sagen, daß er sich ^der Pflege des Arztes anvertrauf" bat Gerade
in dieser Dichtung können aber die schwierigsten hierha gehöligen
Fälle zu Erledigung kommen: ein Mann kommt zum Arzt und fragt,
ob er wegen Nervosität oder eines längst geheilten Geschlechtsieidens
heiraten darf, und der Arzt erkennt, daß der Mann an beginnender
Paralysis j)rogressiva leidet, daii seine Syphilis noch nicht geheilt ist.
Wenn sich nun der Betreffende nicht überzeugen läßt und es fragt
sich, ob der Arzt die Eltern der liraut warnen darf, so krmnte man
allerdings betonen, daß dieser Mann zwar eine Konsultation ver-
1) S. diese nameDttich bd Fromm e, Die rechtliche StaUmig des Antee and
8^e Pflicht zur Verschwiegcuhcit im Berufe. Berliner Klinik. 165. Heft; oder:
B i b 0 r f f I •! , Die Schwcigepflic-ht des Afztee. Zeitechr. L Med.<Beunte. Nr. 18. 1902.
Aiohir für KiimiaaluiUinpologi«. XUI. 16
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242 X. Gbobs
lan^'te, aliir »ich nicht „der Pflege eines Heil- oder Wundarztes an-
vertraut" liat.
Mit solchen Schwierigkeiten hefalit man sich jedoch nicht gerne,
das österr. St.-G. ist im Sterben begriffen und es lohnt sich nicht der
Mühe zu erforschen, welchen Sinn diese Worte vor 100 Jahren ")
gehabt haben.
Anden «lebt es mit der Frasang der eEtspreefaenden Stelle dee
D. B.^t-G^ welche so beecfaaffen ist, daß man gegen ihre Aufnahme
in dn neues Gesetz nidits einwenden kann, wenn die vom Gesetzgeber
gewShlten Worte richtig ventanden werden; ich halta dieselben für
wohl überlegt und dner modernen Auffassung entsprechend. 300:
„BechtsauwSlte, Advokaten, Notare, Verteidiger in ^rafsachen, lizte,
Wundäizte^ Hebammen, Apotheker, sowie die Gehilfen dieser Personen,
werden, wenn sie unbefugt Privatgeheiranisse offenbaren, die ihnen
kraft ihres Amtes, Standes , Gewerbes anvertraut sind ... mit ... be-
straft** Fassen wir diesen Text mit Rücksicht auf unsere Frage ins
Auge, so müssen wir zuerst feststellen, daß uns im Punkte der Aus-
legung nur zwei Worte Schwierigkeit bereiten können: was heißt
„Frivatgeheimnis" und was heißt ,,unl)efugt"?
Was das erste Wort anlangt, so möchte es vor allem ht'dünkt n,
daß es genügt hätte, wenn es hieße „Oeheinmis^ — welcher Unterschied
zwischen lieidcn Worten (im liirr ireniointen Sinne) bestehen sollte, ist
schwer zu sagen. Von Staatsgelieiuinissen, Amtsgeheiinnisspn kann
doch nicht die Rede sein, und von sogenannten „öffentlichen (Geheim-
nissen'" pflegt man nur formell zu sprechen; was jemand im Berufe
geheim erfährt, ist entweder Geheimnis schlechtweg, oder Amtsgeheim-
nis — für letzteres bestehen besondere Bestimmungen und ersteres
kann nur Privatgebdmnis sein, es hStte also nieht bloß genügt, wenn
der Gesetzgeber „Geheimnis'^ gesagt hätte, sondern es wäre manche
Schwierigkeit vermieden worden. Daß man aber das ^Gebeimnis*^
in den Text des Gesetzes aufgenommen hat, war sehr zweckmäßig,
da es zu Unzukömmlichkeiten geführt hätte, wenn das WeitererzShlen
von allem verboten worden wäre, was man im Berufe wahrgenommen
bat Ein vorsichtiger Arzt oder Advokat wird allerdings überhaupt
nichts wiedergeben, was er als solche erfahren hat, aber man kann
doch nicht etwa einen Arzt strafen, wenn er teilnehmenden JB^eonden
eines Verletzten z. B. erzählt, daß das Bein nicht gebrochen sondern
bloß arg gequetscht wurde. Deshalb bat der Gesetzgeber nicht ge-
1) Der Text des, cUeeem § 498 entapreehendttn $ 24S det 8t-G. von 1808 ist
wortlich gleiclilnutciul , imr steht statt des „Heil- oder Wimdant;" vom 185S im
üesotz von IbOS viel moderner bloü: „Ein Arzt".
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Zar Frage des Berafigebeimnisaes.
248
m^t: y,wenn sie unhefui^t das im Berufe Erfahrene offenbaren"* —
sondern „Privatgeheimnisse", d. h. das Gesetz hat hier iinbedincrt
auf den Takt des Arztes usw. appelliert, und hat es ihm, allerdinj^s
auch ^gegebenenfalls dem erkennenden Richter, zu erwä^^en überlassen,
ob das in Erfahrung Gebrachte als Geheimnis zu betrachten ist oder
nicht; im letzteren Falle darf er es weiter erzählen, im ersteren nicht.
SeibstverBtändlicb braucht der Klient oder Patient den Advokaten oder
Ant nidht erat aoBdraekUeh um Geheunhaltmig zu bitten, dieser ist
hienn durch das Geeels gebunden, nnd hnt nach eigenem, Teiaatwort*
liebem Ermessen za entsefaeideBi ob das Wabigenommene als Piivat-
gebeimnis aaznseben ist oder nicht Allerdings dttifle der Klient oder
Patient ancfa eine gewisse deUarsAiTe Macht besitsen nnd wenn er dem
Advokaten oder Aizt sagt: „anch diese nnbedeniende Kleinigkeit
wünsche ich als Geheimnis betiaobtet zn sehen**! ^ Privat-
gebeimnis in Sinne des Gesetzes, der Aizt usw. hat nicht mehr zu
erwägen, sondern zn schweigen, er darf also, nm das frUhere Beispiel
nochmals heranzuziehen, auch den teilnehmenden Freunden nicht sagen
ob es sich um einen Beinbruch oder eine Muskelquetschung handelt. —
Wie nun der Advokat usw. erwägt, ob es sich um ein Privatgeheim-
nis im Sinne des Gesetzes handelt oder nicht, das ist seine Sache,
jedenfalls wird er aber veri)fliclitet sein, diese Frage nieiit bloß sach-
lich zu erwägen (aho etwa blol» dann zu schweigen, wenn es sich
mn Geschlechtskrankheiten, Wahnsinn und Schwangerschaft handelt),
sondern er wird alle begleitenden Umstünde in f]rwägung ziehen und
nach ihnen entscheiden müssen, ob ein (ieheininis vorliegt, er wird
auch im Zweifel, auch im eutferutcäteu Zweifel, eher die Frage be-
jahend erledigen.
Jedenfalls darf aber angenommen werden, und das ist fQr die
weitere Erörterung von Wichtigkeit, daß das Gesetz im vorliegenden
FsUe wenigstens bei der Auslegung des Wortes „Privatgeheimnis'' auf
die versntwortliche Überlegung und den Takt des Arztes, Advo-
katen usw. ^>pelliert hat
Schwieriger und weitaus wichtiger ist die Auslegung des Wortes
„unbefugt**, und es scheint als ob hierauf bisher zu wenig Gewicht
gelegt wuide; es ist vielleieht anzunehmen, daß alle Schwierigkeiten
und Konflikte, die diese Gesetzesstelle gebracht hat, zu beseitigen sind,
wenn die Bedeutung dieses Wortes gefunden ^^ er(len kann.
Nach dem gemeinen Sprachgebrauche haben die Worte befugen,
Befugnis, befugt und unbefugt eine transitive und intransitive Be-
deutung: „ich befuge jemanden" ist transitiv, aktiv, objektiv aus-
drückend — „ich bin befugt^ aber iutrauaitiv, paäsivi subjektiv. Hierin
16 •
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244
2L Ghom
liegt aber ein anderer Unterschied als in dem grammatischen Aktiv
und Passiv („ich sehe" und „ich werde gesehen"^), denn in unserem
Falle handelt es sich um die Frage, ob zum Begriffe der Befugnis
stets eine zweite Person notwendig ist, von weleher dieselbe ausgeht
Sehen wir zu, was diesseits idn spmchlioh Msielit Die einzige, abr
flolnt yerllUUiche Quelle fflr solche Fragen ist bekanntlich das Denteohe
Wörterbuch von Jac. und WOh. Grimm, in wdohem sieh (im 4. Bd^
I. Abt, I. HSlfte) pag. 871 Torent die Wund unseres Weites gfug^
findet Sdbstrentftndlich hat dasselbe TCfscfaiedene Bedeutungeo, von
denen snb 2 genannt ist: „paßlichkeit, angemessenheit, besonders
nach ort, zeit oder umstlnden.'^ Dann sub 3) , . . „das was ge-
ziemt^; sub 4: „das was paßt und zu^eioh zum vorteil gereicht^ das
was Yorteilbringend paßt"
Bei dem Worte „befugen, befügen" (^fast nur im Part, prät
übrig, also befugt, unbefugt") heißt es zwar allerdings: „ermächtigen*
es wird aber namentlich ein Beispiel aus Wieland angeführt: „die
einzige Belohnunir, wdclie er sich befugt halte, für seine Dienste zu
verlangen"' — wornacli „befugt'' nicht blofi ermächtigt, sondern
auch berech ti;rt heilieu muli. Es ist also luich Grimm sowohl die
transitive als auch die intransitive Bedeutung des Wortes festgestellt,
d. h.: wenn wir das Wort „befugf* sehen, so können wir sowohl (hus
Vorhandensein einer zweiten Person, von welcher die Befugnis aus-
geht, annehmen, als auch diese Existenz ausfichlielien, und die Befug-
nis im Uberlegen des Subjektes liegend annehmen. Also, wenn ich
befugt bin, etwas zu tun, so kann eine zweite Person bestehen, die
nüeh befugt hat, sie muß abor nicht «zistierett, und mein Befugtsein
kann lediglich auf allgemeinen Grundsätzen, auf gesetzlichen Bestim-
mungen, auf meinen Überlegungen, auf meinem Gewissen beruhen.
Ob das dne oder das andere yoili^ hSngt vom Ealle ab: wenn ich
befugt bin, in einem Beyier zu jagen, so muß jemand existieren, der
mir die Befugnis erteilt hat Wenn ich aber befugt bin, zu essen, zu
trinken, zu arbeiten, mich zu erholen, mich Ober erlittoie ünbill zu
beklagen, mir jene Handwerker zu wählen, die ich beschiftigen will,
so existiert niemand, der mir die Befugnis ertdlt hat: im ersten Falle
heißt Befuirnis die erteilte Ermächtigung, im zweiten die be-
stehende Berechtigung. Dieser Unterschied ist aber für unsere
Frage von Bedeutung, und wir wollen zusehen, in welcher Bedeutung
im 300 D.R.St.G. das Wort unbefugt zu verstehen sein kann. Hierbei
wollen wir der Kürze halber die [eine Bedeutung der Befugnis als
^Kruiiic litigung", die andere als ,.Berechtigung" bezeichnen;
und auch nicht mehr vom Anwalt, Arzt, Hebamme usw., sondern bloU
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Zur Füge des BenifsK«hdiniune0.
245
vom Arzt sprechen, zumal sich gerade in seiner Person diesfalls die
größten Schwierijjkeiten finden; auf die anderen, im § 300 fr*'nannt<'n
Personen findet das rrC8af::te sinngemäße Anwendung;. Fragen wir
also zuerst, ob hier unten „unbefugt'' bezw. Befugnis eine (transitive)
Ermächtigung, besser gesagt: eine Erteilung einer Ermächtigung zu
verstehen ist, so muß sich unmittelbar daran die Frage knüpfen:
„von wem?" — mit anderen Worten: wenn wir behaupten: ,,unbe-
fugt" heißt hier: ohne erteilte Ermächtigung, so muß unbedingt
festgestellt werden, wer die Ermächtigung geben muß, damit der
Arzt, der „otfeidMurIf*, stialM Ueibt
Die flAehfldiQgeiide Antwort wSre: „nur der Patrant, oder aeme
Angehörige oder der, der den Ant gerufen hat''. Hiermit ist nicfats
gesagt; vor allem kann niemand sagen, was man unter „Angehdrigen"
zn yerstehen hal^ nnd selbst wenn man diese auf das engste ein-
schränken wollte^ so kann man sieh genug FUle denken, in wdehen
gerade die nSchsten Angehörigen nichts erfahren sollen (Eltern oder
Gatten bei Geschlechtskrankheiten, Kinder, die mit den Eltern in Feind-
Bchaft) Geschwister, die miteinander in Zwietracht leben). Daß der-
jenige, welcher den Arzt gerufen hat, hierdurch allein keine diesfälligen
Bechte erwirbti braucht nicht besprochen zu werdra, aein Verhältnis
zur Sache kann ein ganz äußerliches und zufälliges sein. Es bliebe
also nur der Patient übrig, der aber in vielen Fällen außer Betracht
kommen muß, da Kinder, Schwerkranke, Irrsinniire usw. eine Er-
mächtigung nicht geben können. Aulk-rdem sind genug Fälle denk-
bar, in welclien der Arzt mit Umgehung des Kranken mit anderen
sprechen mult: niemand wird von „unbefugtem" Handeln spreclien,
wenn der Arzt auch ohne Bewilligung des Kranken z. B. die Ange-
hörigen auf die gefährliche l^ige aufmerksam niaclit, dem AVärter
eingehende Verhaltungsmaßregeln gibt oder mit einem erfahrenen Kol-
legen den schwierigen Fall zu seiner Information bespricht Wann
er dies tun darf, wie viel gesagt werden kann und wem er die Mit-
teilungen zn machen hat, ohne stnffiUtig zn worden, das kann unmög-
lich, weder im allgemeinen, noch im besonderen fÜle gesagt werden,
wir haben auch hier wieder eine Sachlage^ in welcher man dem Arzt
sein Vorgehen zur eigenen Überlegung g^en muß.
Wir kommen also zur Erkenntnis, daß die Auslegung des Wortes
Befugnis (also hier „unbefugt*^) als Ermächtigung in dem Sinne
unzulässig ist, daß dne bestimmte Person die Befugnis erteilt haben
müßte. Der Kranke selbst kann es nicht sein, weil zu viele Fälle
denkbar sind, in ^vele}lem von ihm aus eine Befugnis nicht erteilt
werden kann, die Augehörigen können es nicht sein, weil niemand
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246
X. Gbom
zu sajien vemiafr, welclic von ihnen gemeint sein sollen, weil eigent-
lich für jeden Fall mit Erwägung der besonderen Umstände eine be-
sondere Bestimmung gdroffen werden niiilite. Hiernach ist von der
Auffassung im JSinne eines ^Ermäohtigungerteilens'' unbedingt abzu-
sehen, und es erübrigt bloß die Auslegung im Sinne subjektiver
Berechtigung, nach welcher wir annehmen, der Ar/t usw. handle
dann befugt, wenn er nach reiflicher Erwägung aller, im besonderu
Falle maltgebenden Umstünde, nach Wissenschaft und Gewissen zur
Überzeugung kommt: er sei befugt, das ihm (als Privatgeheimnis)
ABTertnute jemand anderem mitntteUen. Dieae Befogois wird er
aelbBtreratändficb dann empfinden, wenn er einen weaentlich größeren
Sehaden yerlitttet^ als es der ul, den er dnreh den Bmeh des Ge-
hemmiflees ▼eronaeht
Wir sagen daher: statt Avfsteilnng engheniger Schwierigkeiten
und Ungerechtigkett mengender Begebi schieben wir die Bntschei-
dnng des einielnen Falles der dgenen Yecantwcdüang des Arsfees ra,
und kommt es zu gerichtlicher Verhandlung, so hat der Richter ledig*
lieh den Vorgang im Innern des Arztes zu überprüfen. In einem
solchen Falle hätte der Arzt dem Richter seine Beweggründe darza-
legal nnd dieser hätte zu überprüfen, ob dieselben als maßgebend za
erachten sind oder nicht. Hiermit ist der Richter nicht mehr nnd
anders über den Arzt gestellt, als dies überhaupt heim Richter gegen
die Partei der Fall ist, es handelt sich um die Beurteilung ehren-
liaitrn Vorgehens, wie sie der Richter in unzähligen anderen Fällen
ebenfalls vorzunehmen hat.
Kommt IS zu dieser Auslegung, so kann diiä Gesetz bestehen
bleiben, wie es ist, wir kommen nur zu einem Grundsatz, wie er über-
haupt in unserer ganzen Gesetzgebung gröbere Verbreitung finden muß.
Es ist eine eigentümliche Erscheinung unserer Zeit, dali mehr w ie früher,
niemand Veranlwurtung übernehmen, niemaud Verantwortung erteilen
will, obwohl es gerade mit vorschreitender Kultur und größerer Ötlb>
Btindigkeit des Einzdnen dazn kommen soll; da0 eben verantwortet
werden maß. Es will sellsam bedttnken, wenn man in nnseran heu*
tigen Strafgesetz enge, fest an Beweiszwang mahnende Bestimmnngen
findet: die vielen Altenbeatimmnngen, die Vorschriften, wann und genau
in welchem Verwandtschaftsgrade sich ein Zeoge der Anssage en^
schlagen darf, die fixen Bestimmnngenüber gewisse Verbreohensgrenaen)
Aber VeijShmng nsw. — sie alle schränken freie, ehrliehe und ent-
sprechende Beurteilung eines Verbrechen ein, weil sie dem Riditer
Verantwortung abnehmen und angeblich seine Willkür beschränken.
Man überlege, welche große Oewidt man dem Richter gibt nnd geben
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Zur Flage des Berofsgefaeuiuiiaaes.
247
muß — ob man es ilini dann noch iibcrläl^t, z. B. zu erwäj^en, oh
ein Verwandter im so und so vielstem Grade die Rechtswob Itat der
Zeiignisentschlagun^ genieben soll, das vermehrt seine Verantwortung
nar unwesentlich und läßt das so notwendige Individualisieren doch zu.
Ebenso wie aber unsere gesetzfiehen Bestimmungen freier und
weiter werden mttasen, ebenso wie man die vom Richter verlangte
Vefantwortnng auf Umstünde ausdehnen mnß^ die im Vergleiche zu
der ohnehin ertöten Gewalt doch nnr minimal sind, ebenso muß man
auch mit dem Arste voigehen. Man stelle es sich einmal Idar, w^he
ungeheure Gewalt jeder Arzt, am Ende anch der nnzivilisierter lündar,
besitzen muß: seine Medikamente sind oft Gifte^ die töten können,
wenn er folsch gegriffen oder zu viel verordnet hat — trotzdem nimmt
man sie unbedenklieh ; seine Vor^^chriften ü))er das Verhalten des
Paüenten diktieren oft Leben oder Tod und doch geliorcht man ihm;
er entscheidet über die gefährlichsten Operationen und Tausende sind
jährlich seinem rettenden oder tötenden Messer überantwortet; er ver-
fügt über Tötung des Kindes im Mutterleibe, er gebietet und verbietet
die folgenscinversten Handlungen — kurz die Gewalt über Leben
und Tod, Krankheit und Gesundheit, die der Arzt besitzen mub, ist
eine so groPte, dab man ihm auch die Verantwortung über die Wah-
rung eines Geheimnisses noch dazu geben kann — es ist in der Tat
nach dem matliematischen Satze gehandelt: Eins plus unendlich ist
wieder unendlich. Wir verfügen heute, Gottlob, über einen hochge-
bildeten, intelligenten und gewissenhaften Arztestand, der das ihm ent-
gegengebrachte Vertrauen auch verdient, er wird nur noch gehoben,
wenn wir seiner Verantwortung und seinem Gewissen die Wahrung
von Geheimnissen nnd die Entscheidung darüber zuschieben, ob er in
bestimmten, ohnehin ja nicht hfinfigen Fftllen, Tiellacht namenloses
Unheil Terbtttet, indem er von dem ihm Gesagten klagen Gebranch
macht Ehrenhaftes und ernstes Überlegen führt anch in schwierigen
Lagen zum rechten Ziel, warum bringen wir heute den Aizt so oft
in Pflichtenkollisioni ind^ wir ihm zu schweigen gebieten, obwohl
ihn seine wissenschaflliche Oberzengnng nnd sein ehrliches Gewissen
znm Reden zwingt?
Das Credo lautet: der Arzt handelt dann nicht „unbefugt*^ im
Sinne des Gesetzes, wenn er nach bestem Wissen ijnd Gewissen ein
ihm als Arzt anvertrautes „Privatgeheimnis'^ im Interesse eines höheren
Zweckes unter eigener Verantwortung der richtigen Person offenbart
— er hat lediglich zu erwägen, ob er nach ehrlicher Uberzeugung
befugt ist zu s])rechen, oder ob es unbefugt wäre, so daß er scbweigeu
muii. Die Verantwortung darüber steht ihm zu.
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Wettbareaus and Winkelbuckmaciier in Deatschland.
Hana Xkntoaflld, Kfinigl KrimiiiBl-EoDiiniaBar in BeiUn.
Den fort.selirt'itenden Rückganfj; des Totalisatürums<atzes der Renn-
bahnen in Deutschland können neben den im b. Bande dieses Arehivs
von mir veröffentlichten Daten noch folgende Zahlen verdeutlichen.
Im Jahre 18S9 betrug die Gesamtcinnahnie des Totalis^Uors sumtlicher
fiennbahnen bei Berlin an 60 Renntagen bei nur bechs Rennen für
den Tag ungefähr 27000000 Mk.; im Jahre 1899 bei der gleichen
Anssahl Tim Beamtagen und 8i^>en Bennen für den Tag 5 400 OOO Mk. ;
im Jahre 1901 nnr 4 820 472 und im Jahre 1902 nnr noch 4 205 376 mk.
und zwar bei einer grdfieren Zahl von Renntagen nnd Bennen. Eine
weitere Yennindernng der TotaiisatommBfitze nnd demgemäße Ver-
ringemng der Einnahmen ans der VerBtenorang dieser Wetleinlagen
ist nnaosbleiblich bei der gegenwirtigen Lage der Dinge;
Demgegenüber enchdnt erwähnenswert, daß in einem Verfahren
gegßa die Inhaber eines Wettbureaus wegen gewerbsmäßigen Glücks-
spieles und Stempelhinterziehung sich herausstellt^ daß allein in einer
dnzigen Wettannahmestelle dieses Unternehmens und zwar in der Zeit
von noch nicht vier Monaten nur an Wetteinlagen für ausländische
Rennen 82 04-1 Mk. und zwar unversteuert angenommen worden sind.
Die Steni]Klsteuer hätte etwa 27 3S0Mk. (33' :i Proz.) betragen. Nun
sind aber im Jahre 1902 von allen Wetthiireaus Berlins zusammen
nur 8270 Mk. mit -2704 Mk. und im Jjilirr 1901 nur 2<)3o7 Mk. mit
8760,50 Mk. und 1900 nur 52822 Mk. mit 17 590 Mk. nach Mitteilung
der Steuerbehörde versteuert.
Hieraus ergibt sieh deutlich das Mißverhältnis, in welchem die
tatsächlich von solchen Bureaus unversteuert augeuuunuem'n Wetten
zu den versteuerten stehen. £b wird nämlich nur ein ganz geringer
Teil der gemachten Wetten wiiUich versteuert Bs ergibt sich aber
auch unmittelbar aus diesen Zahlen, daß die Vorschriften zur Eon-
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WeUboreans und Tnnkelbncliiitteher in Deatadiland. 249
trolle dieser AVettanstalten durch die Ori^ane der Steuerbeliörden zwar
einen wesentlichen Rückgang? an lliiljc der zu Versteuerunf? von seiten
solcher Wettuntemehnier angemeldeten Wetteinlagen, nicht aber eine
VerniindtTung der unversteuert angenommenen Wetten bewirkt hat.
Hierzu kommt, dal^ mir meine jahrelange, fast ausschlielilich
diesem Gebiete gewidmete Erfalirung sowie die Beratung mit Inter-
essenten der beteiligten Kreise gezeigt bat, daß es Überhaupt kfime
nur irgendwie erdenkbaren Yorsdiriften und Maßnahmen gibt, die
eine wirkaame^ d. h. nicht m nnigdhaide Eontrolle dieser Wettbnreaas
gewährleisten*, insbesondere eine Überwaehnng sSmtlieher von den-
selben angenommener Wetteinlagen erzielen vnd kleineroi die Wett-
leidenschaft der nnbegttterten Massen befördernde EinsStze Terhindem
könnten. Es li^gt die volle Unmöglichkeit vor, alle für einen Benn-
tag irgendwo außerhalb des Tottiisators von irgend jemandem ge-
werbsmäßig angenommenen Wetten zu überwachen und bezüglich
ihrer Anlegung am Totalisator zu kontrollieren. Die zur Zeit be-
stehenden Vorscb rif ten haben bezüglich der Kontrolle der W^ettbureaus
versagt. Uierüber kann niemand im Zweifel sein, der den Betrieb
solcher Wettanstalten aus Erfahrung kennt.
Nach Lage der Sache würde auch eine Konzessionierung einzelner
solcher Untemehnier nur die staatliche Genebmignng des von ein-
zelnen betriebenen gewerljsmäliigen Glücksspieles bedeuten, olino dem
gleichartigen Betriebe anderer nicht konzessionierter Unternehmer ein
Ziel setzen zu können.
Charakteristisch für die Art der in den sogenannten ,.Sportkom-
missions-Bureaus** abgeschlossenen (Geschäfte ist unter anderen aucli
die Tatsache, (lab in der überwiegenden Melirzabl der Fülle der Wetter
einen Auftrag, den gezahlten Betrag am Totalisator im Inlande an-
zolegen oder emer Wettannahmeslelle im Ansbnde zor Annahme event
Anlegung dortselbBt zn flbennitteln, flberiianpft nicht ertdlt Da auch
irgendwelche KommissionsgebÜhren zor Decknng der erheblichen, mit
Erledigung eines derartigen Anftrages verbundenen Unkosten des-
gleichen nicht gezahlt werden, so müssen die Wetter rieh eig^tlioh
selbst sagen, daß ihre Wetten von den ünternehmem gar nicht weiter
gegeben werden können. So erklSrt es rieh auch, daß man in diesen
Kreisen wohl von Wetten und Buchmachern, nicht aber von Aufträgen
und Kommissionären s) »rieht und keinerlei Sorge um rechtzeitige Writar-
gaV>o der Wetten und W etteinlagen an den Tag legt, vielmehr augen-
scheinlich nur an dem richtigen Auszahlen etwaiger Wettgewinne von
Seiten der Wettannehmer ein Interesse hat. Xur in der Besorgnis
von dem „Buchmacher'^, der vielleicht nicht zahlungsfähig ist, nicht
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260
XL MimmimL
nur um die erwarteten Oewinne, sondern auch xim die eing'czahlten
Wetteinlagen (stakes) gebracht zu werden, liegt der ausreichende Grund
für die jetzt fast allgemein von seilen der Inhaber der Annaimiestellen,
als Filialieten und Beauftragten der Bncbmacher geübten Praxis, die
Wetteinlagen der Wetter meht vor Beginn der Bennen u den eigent-
liehen Weitimteniehmer abiraffibieii, sondern erst naefa Beendigung
derselben mit dem letzteren zu yetreehnen. Der Wetter n&niieh,
welcher in den meisten Füllen den üntemefamer selbst gar nicht in
Gesicht bekommt und anch sonst kanm von ihm h9rt» hält sich bei
Ansprüchen auf Zahlung yon Geirinnea nnd Bflcksahinng von Wett-
geldem in erster Linie natOrÜch an den ihm bekannten Wettannehmer.
Andererseits bilden die von letzterem vereinnahmten Wetteinlagen der
Wetter überhaupt die einzige sichere Einnahmequelle eines solchen
Geschäftes; ans derselben werden auch die Provisionen gezahlt, die
der Wettuntemehmer seinem Filialisten in Höhe von 5 bis 10 Proz.
der Ein1a«:en auf gelaufene Pferde, d. h. von solchen Wettgeldem,
die nicht an die Wetter zurückgezahlt werden, gewährt. So liegt es
im eigenen Interesse des Filialisten und mag mangels ausreichender
Garantien für Einhaltung der Zahlungsverbindlichkeiten von aeiten
der Unternehmer wie der Wetter auch berechtigt sein, daß der In-
haber der Wettannaliinestelle die Wettgelder bis zur Abreclinung mit
dem Unternehmer und den Wettern nicht aus den Händen läßt; der
Anlegung von Wetteinlagen am Totalisator oder der Weitergabe der
Wetten an eine Wettannahmestelle im Auslande dient eine solche Ge-
schäftsführung nicht Am Totalisator gibt es keine nnbaren Wetten,
und die Wettannehmer im Auslande siehon sieh thieiseits, indem sie
Überweisung eines Depots an Wertpapieren oder an barem Oelde
▼erlangen und Wetten nur bis zur Höhe desselben ansf&hren. Die
Eänbehaltnng der Wettgdder tou selten der Fifialisten wfiide nur
dann eine §^UUte Biledigung der Wetten am Totalisator resp. eine Über-
mittelung deraelben nach dem Auslande nieht stfiren» wenn der ünter-
nehmer durch ein ihm zur VeifQgnng stehendes Depot in der HOhe
der zu wettenden Summen für seine Ansprüche unter allen ümstSnden
gedeckt wire. In keinem der zu meiner Kenntnis gelangten Fälle ist
bisher von einer solchen Vereinbarung die Bede gewesen. In der
Mehizahl der Fälle würden die Filialisten gar nicht in der I^e ge-
wesen sein, dem Unternehmer eine solche Sicherheit zu bieten. Viel-
fach läßt sich auch nachweisen, daß die Unternehmer selbst gar nicht
aus eigenen Mitteln die erforderlichen Beträge zur Weitergabe der
Wetten verauslagen und den Filialisten kreditieren können.
Hat nun der Inhaber des Wettgescbäftes nicht nur die seinen
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Wettbaictnt und WlnkelbodiiDaeher in Deatscbland. 261
W^tennehuRin gewährten Verg^ütigunp:cn, sondern auch alle anderen
Unkosten, wie /. ß. das Abonnement für eine resp. mehrere Sport-
zeitungen für jede Annainnestelle, Auslagen für Anschaffung der Ab-
reiübücher mit Formularen für Aufnahme der Wetten und Abrechnung
über solche, Kosten für Einsammlung der Wetten durch Boten, Briefe,
Depeschen, Telephongespräche, kurz alle Ausgaben für Einrichtung
und Erhaltung der Filialen wie des Hauptbureaus, darunter vorkom-
mendenfalls auch noeh Haname für Angeetellte sowie etwaige Un-.
kosten für Beenoh yon BennpÜtzen, ebenfells ans den Wetteinlagen
der Wetter sn zahlen, so begreift man, daß er sieb gegen jede weitere
erkeUiebe Verminderung dieser Einnahme zn siohem snoht Für ge-
wdbnlieh sohlUzt nnn die H5he der anf dem Totalisatonimsatee
ruhenden Steuer von 20 Pros, der Gesamteinlagen in erster Unie die
Wettbureans ror erhebheheren Verinsten, die sie durch Anssahhmg
von hohen Gewinnen aus eigener Tasche treffen könntoi. Infolge
der hohen Abzüge sind nämlieh die am Totalisator auf die am meisten
gewetteten Pferde ausgezahlten Gewinnquoten im Durohsobnitt so
mftßig^ daß der Wettnnternehmer sie meist unschwer und zwar viel*
fach noch mit einem erheblichen Überschusse ans dm ihm zur Ver-
fügung stehenden Wetteinlagen seiner Wetter decken kann. Von Ein-
geweihten wird sogar behauptet, daü die Wettbureau-Inhaber leicht
und ohne dabei zu Schaden zu kommen, die Verpflichtung eingehen
könnten, ihren Wettern noch zwei Proz. mehr, als die Totalisatorquote
beträgt, im Grw innfall auszuzahlen. Spart doch der Wettunterm-limer
von vornlitTciii die 20 Proz. Steuern, die V(m sämtlichen Totali.sator-
einlagen erliulun werden. Diese hohe Steuer, die das Wetten am
Tötalisator unrentabel und damit unbeliebt gemacht hat — kann es
doch vorkommen, dali ein Wetter, wenn die Totalisator- Verwaltung
nicht aus eigener Tasche zulegt, im Gewinnfalle kaum seinen Einsatz
▼oU wieder zurttekerhSlt ^ hat unter anderem weeenttieh mk zur
Frequenz und Blttte dieser unter der Gunst des Augenbliekes und des
wettenden Publikums Überall bis in den entferntesten Winkel des Bdehes
öffentlieh ihr Unwesen treibenden Wetlanstdten beigetmgen. Wer
BetiSge unter & Mark wetten will, und die große Masse der Wetter
befindet sieh in dieser Lage, kann überhaupt nicht am Totalisator
wetten. Dagegen stehen in allen Städten und hier in Berlin in fast
jedem Zigarrenladen und Scbankgeschäfte dem Wetter unzählige, völlig
unkontrollierbare Wettannahmestellen offen, wo er jeden beliebigen
Betrag, fast zu jeder Tageszeit bis zum Beginn, oft sogar noch nach
dem programmäßigen Anfang der Rennen wetten kann, ohne Auslagen
für den Besuch einer Kennbahn zu haben und ohne daß man öteuem
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262
XI. Makteujffei.
oder sonstige Gebühren von ihm verlan^rt. Es ist iloch gar keine
Frage, daß der Totalisator bei einer solchen Konkurrenz auf die Dauer
nicht beaieheii kami. Dam kommt aber nodii daß^ wer hQliere Bo*
tiSge wettet, meut schon ein bestimmtes Interesse daian bat, daß seine
Wetteinlage nicht am Totalisator angeleg;t wird. Wie jeder Enndige
weiß, wird mit der YergrOßenmg der Einzahlongen am Totalisator
anf den yoranisichtlichen Sieger im Verhältnisse sn den naehher event
für den Gewinner zur Anssahlung znr VerfOgnng stehenden sonstigen
Einlagen anf andope Pferde, die demnächst resultierende Gewinnquote
vermindert, oder wie man sich in jenen Kreisen ausdruckt „ge-
drückt". Xun hat aber jeder Wetter ein natürliches Interesse daran,
eine möglichst hohe Gewinn(|uote zu emelen. £b ist dies ein wesent-
licher Grund, wamm erhebliche Wetteinlagen meist nicht am Totali-
sator anprelegt werden, sondern ihren We^ in die Taschen von Buch-
niachem und Wettbureau- Inluibcrn finden. Ilierbei haben die Wetter,
vorausgesetzt, dal) die Wettunternehmer auch zahlen, den Vorteil, dal»
sie unabhängig: vom Zufall und der Laune der üi)rij;en Wetter, die
am Totalisator selilieAlicli bestimmend für die auszuzahlende Gewinn-
quote sind, mit einem festen, vorher bestimmten Gewinne für den Ge-
winnfall rechnen können. Man nennt es eine Wette zu festem Kurse,
wenn der Wettannehnier dem Wetter von vorneherein einen bestimmten,
nach vielfachen des Einsatzes normierten Gewinn verspricht Unter
Odds yersteht man die in Vielfachen des Einsatzes ausgedrückte Quote,
welche im GewinafoHe dem Wetter, den Einsatz nicht gerechnet, ge-
zahlt wird, z. B. bedeuten 3 Odds — auch 3: 1 geschrieben — , daß
der Buchmacher das dreifache des Emsatzee als Gewinn zu zahlen
yenprochen hat Dagegen haßt 1:3 oder 3 au^ daß der Wetter
drdfach zahlen muß, um das ein&che des Satzes zu gewinnen, mit
anderen Worten, daß er z. B^ für 300 Hk. beim Buchmacher im Ge-
winnfalle nur 100 Mk. ausschließlich des Einsatzes erhält Sonst bei
Buch mach er wetten gebräuchliche Bezeichnungen sind unter anderen
z. B. double-event, triple-event und gekoppelt Von dieser b( sagen
double-event resp. triple^vent eine Doppel- tesg, eine dreifache Wette
für zwei resp. drei verschiedene Rennen auf ein und dasselbe oder
auf zwei und bei triple-event aueli auf drei verschiedene Pferde, und
zwar auf je eins in den betreffenden Hennen unter der Voraussetzung,
daii die AVolte für den Wetter gewonnen ist, wenn die sänitliclicn
frewetteten l'ferde siej;en. Da die Gewinnchance für den Wetter keine
erhebliche ist, kann der Buehniaeher solche Wetten mit hohen Odds
legen, d. h. im Gewinnfalk' hohe vielfache des Einsatzes als Gewinn
zahlen. Anders ist es, wenn der Wetter gekopi)eU wettet, d. h. für
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Wettbnreaos und WinkelbtichiiiMher in Deutschland
868
ein und dasselbe Rennen mehrerer Pferde wettet; in diesem Falle vt r-
rinfrert der Wetter mit Erhöhung seiner Gewinnchance auch ent-
sprechend die beim BuciimaclH r erhältlichen Odds. Solche und ähn-
liche zu festen, vorher vereinbarten Gewinnciuoten abgeschlossenen
Wetten etwa am Totalisator auszuführen, ist nach der Einrichtung
desselben völlig ausgeschlossen. Diese Tatsache an dieser Stelle be-
8(Niiden herronolielien, enebeint erf<nderiiob. Wiid doch immer wieder
in ErmittelTingsverfabren gegen Inhaber von Wettboieans von selten
dieser geltend gemadit, daß eine aolefae Ansfnhrong nicht nur denk-
bar, Bondeni auch in der Praxis dnrohfabibar sei. Die Totalisator-
▼erwaltang kann aber, bevor die tolzte ISnzahlnng an ihren Eaasen
gemacht nnd die Pferde vom Stut abgelanfen sind, denn eiBt in
diesem Momente erfolgt die SchlieBung sämtlicher Kassen für Wett-
einlagen, absolut keine Übersicht über die totalen, anf s&mtliohe am
Bennen beteiligte Pferde gemachten £inzahlangen und die demgemäß
nach Abrechnung der Steuern und sonstigen Abzüge für alle Ein-
lagen auf das eine oder andere Pferd zur eventuellen Gewinnaus-
zahlung zur Verfügung stehenden Wettbeträge geben. Während die
Totalisatormaschine erst auf dem Rennplätze kurz vor dem programm-
raäliigen Beginn der Kennen und zwar für jedes Rennen abgesondert
für sich in Tätigkeit gesetzt wird, unterliegt die Tätigkeit des Huch-
machers keinen derartigen Beschränkungen. Monate, Wochen, Tage
vur dem betreffenden sj)ortlichen EreijJrnisse und viUlig uiiabbiingig
vom lvennj)latze, sowie an dem Iragliehen Renntage selbst und auf
der Rennbahn nimmt er von jedermann auf alle genannten resp. in
den Rennen laufenden Pferde ohne andere Grenze als das Wettbe-
dttrfnis der Wetter und die eigene ZahlnngsfiUiigkeit oder den Egonen
Kredit Wetten an.
Die ersten Bncbmacher sind vermutlich in den Anfangszeiten
der Bennen nur als Mittelspersonen zwischen den wettenden Sports-
leuten aufgetreten und haben Buch geführt — daher offenbar der
Name! — Aber die ihnen von einzelnen aufgetragenen und späterer
Realisierung durch Aufnahme von Gegenwetten anderer vorbehaltenen
Wetten. S[)äter erst haben sich aus diesen Vermittlem fremder Wetten
zwischen den Wettinteressenten und aus P>u('hfährem der wettenden
Parteien, als nach und nach im Laufe der Zeiten an Stelle der an
der rferdeztt<^t mit ihrer Person und ihrem Vermögen interessierten
Sportsleute eine nur an miihlelosem (Jewinne interessierte Masse trat,
die heute in England und < Österreich zugelassen, in den Salons der Klubs
wie aul)erhalb derselben ihre Wetten offerierenden und realisierenden
Buchmacher entwickelt. So sind die Buchmacher, die zunächst nichts
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XL MAHTKTTrFSL
weiter als Wcttkonimissionäre waren, sehlielilicli tlazii über^'e^'aniren,
die ihnen aufgetragenen Wetten selbst zu halten und einen Ausgleich
in anderweitig von ihnen kontrahierten Wetten zu suchen. Dieser
Entwicklungsprozeß, auf den ich vielleicht noch später eingehender an
anderer St^e zarückkommen werde, ist aneh fflr ans von Interesse.
Zwar liaben wir bei uns keine Bnohmaeber im Sinne der in England
und ÖBtereich zngelaasenen, aber wir baben mit ibnlidien ErBobeinnngen
SQ tan nnd das VeiBtibidnis derselben wird dnrcb Anfdeoknng des
ideellen Znsammenbanges sowie des Untersebiedes beider Phasen des
Bachmaebertnms siober erleicbtert
Wir haben hier anf den BennpUUaen dne besondero Klasse von
Leuten, die, ohne selbst Buchmacher zu sein, das Gewerbe derselben
wesentlich fördern. Diese Wettkoramissionäre leben von dem Profite,
den sie als Vermittler zwischen den Huchmachem und dem wettlnstigaii
Tublikam erzielen. Von den Bachmachern, zu deren Anhang und
Helfern sie gehören, erhalten sie sowohl als Vergütigung wie auch
als Aufmunterung 5 bis 1 ü Prozente der durch sie vermittelten Wett-
einla^en; von den W<'ttern bekommen sie kein bestimmtes Entirold
vielmehr nur ab und zu bei Gewinnfällen Ijesondere beliel)ifre Gratifi-
kationen. AußerdiMii sollen einzelne dieser Kommissionäre noch dadurch
ein Erhebliches venlienen, <lal> sie zu höheren Kursen von den Buch-
machern erhaltenen Wetten zu niedriircren Kursen und zwar natürlich
als zu läniTSt erhältlichen Odds an ihre Kunden weiteri^eben. Das
ist im wesentlichen auch dieselbe Rolle wie sie von Wettannahmesteilen-
Inhabern der Wettunternebinern in der btadt beliebt wird; ihre Auf-
gabe läuft darauf hinaus, möglichst viel Wetten für ihre üintermänner
za bekommoL Diesem Zwecke dient nach das Halten der Sport-
zdtungen nnd der Benntelegramme mit Bennberiehten. SpAter kommen
dann solche Wettrermittler ancb daan sich selbslSndig zn machen, d. b.
auf dgene Beohnang nnd GeCahr Bach sa machen, wobei ihnen die
im Verkehre mit Bnchmachern nnd Wettern erworbene Erfsbrang nnd
Gewandthdt nnd andererseits der nach nnd nach erworbene Wett^
knndenkreis zu statten kommt Wie Viktor Silberer, Eigentümer nnd
Chef-Redaktenr der „Allgemeinen Sportzeitang*^ in Wien in seinem von
ihm lieraosgegebenen Turf-I^xikon erklSzt, l)edeutet Bachmachen:
^Wetten auf alle in einem Rennen engagierte Pferde annehmen, nm
durch das Endresultat dieser Manipulation, bei keinem oder geringem
Risiko, einen sicheren Gewinn zu erzielen, wie immer das Rennen aus-
fällt, z. B. es laufen in einem Rennen 10 Pferde, und es leert der Buch-
macher ^e;;en jedes dersellien 7:1. Angenommen nun, es finden sich
10 Personen, deren jede eins dieser 10 Pferde mit 100 fi. besetzt, so
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Wettbnreans and ^Hnkelbiiohiiiacher in DentsdiJtnd. 256
erg:ibt sich — welches Pferd auch p^ewinnen mag — fol^jentles End-
resuhat: ^Der Buchmacher erhält von 9 Personen, deren Pferde nicht
gewonnen haben, je luü fl. gibt in Summa *.>*»<» fl.. Dagegen liat er
an den Zehnt»>n, der den Sieger erriet, 700 fl. zu bezahlen. Es bleiben
ihm sonach auf alle Fälle "200 fl. aus diesem Kennen''. Wie der Ver-
fasser fortführt, ist dies zwar die Theorie des Bucbmacbenä, in der
Praxis stellt sich die Sache aber etwas anders, weil die Pfeide wegen
ihrer verschiedenen Gewinoaitssiditoi anch Tenohieden und zwar ein-
zelne mehr oder weniger sterk, andere erheblich weniger und das eine
oder andere anch gamicht gewettet werden. Es liegt in der Natnr
der Sache, daß der Bnchmacher der mehr oder weniger großen Nach-
frage durch die yon ihm verheißaien Gewinnquoten, das sind die
Enrsey die er legt, Bechnnng trügt, und daß er die auf die meist ge-
wetteten Pferde, fayorits, eingegangenen Wettengagements durch ander-
weitige auf die anderen Pferde eingegangenen Wetten möglichst aus-
zngldcben sucht, so daß er, wenn angängig, ohne Risiko arbeitet und,
wie man sagt, sein Buch „voll macht*^. Ein derartiges Buch machen
ist natürlich nur unter der Voraussetzung möglich, dali der Buch-
macher öffentlich frei und unbehindert seinem Geschäfte nachgehen
kann. Für die Rennen in England gibt es für die Wetten eine reguläre
Wettbörse, bei welcher die Kurse der Pferde je nach Angebot und
Nachfrage bis zum Momente des Startens der Pferde fortwährenden
Schwanknn.irt'ii unterwürfen sind. Die in deutschen Sportzeitungen
ver"if fentlieliieii Wettkurse sind, wie behauptet wird - das Gegenteil
läbt sich nicht naebwei>en — die von den Buehmaebern im Auslande
zugesicherten GewiiuKiuoten. Kine Eigentümliehkeit der Wetten zu
festem Kurse ist auch, dal», abgesehen von solchen Wetten, die nur
für den Fall gelten sollen, dal) das gewettete Pferd auch startet, d. b.
im Rennen läuft, die Wetten auf Pferde, die nachträglich aus der Liste
der Konkurrenten gestrichen werden, für den Buchmaeber „laufen*,
d. h. ffir den Wetter verloren sind. Da der Buchmacher für eine ge-
wisse Situation und ffir ein bestimmtes Rennen auf Grund sftmtlicher
bei ihm für diesen Fall eingegangenen Wettrerbindlichkeiten seine
Kuisberechnung macht, so muß er auch auf die seinem Kalkül zu-
grunde gelegten Wettemhigen sicher rechnen k9nnen.
Am besten wird eine solche Rechnung vielleicht durch nachfol-
gende Aufstellung verdeutlicht Voraus ^ f/ung derselben ist, daß der
Buchmacher, auch ..Leger** genannt^ auf das bei ihm am meisten ge-
wettete Pferd lö(M) Mark zum Kurse von 3 : 1 angenommen, d. h. als
Gewinn 4500 Mark und einschlielilich der Wetteinlagen 6000 Mark
Auszuzahlen und im Übrigen unter Abschätzung der Gewinnchancen
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256
XL MAKTEDFrEl.
der zur Zeit konknrrieiendeii Pferde Bein Bneh toU gemacht, d. h.
Einnahme und eventaeUe Ausgabe so bakndert hai, daß er in jedem
Falle mit einem gewissen Oberschnsse heranskommt. Die gewetteten
Pferde sind der Kfine w^gen mit A bis K beieiehnet, der Fa?orit
darunter ist A.
OddB { Wettelnlaire |
Gewetteces Pferd
B.
C.
D.
E.
F.
G.
H.
L
K.
1 501) Mk.
1 200 *
860 '
670 '
550 *
460 '
40O «
400 =
SoO '
280 «
Sa.: 0 620 Mk.
Gewinn
4 5ÜU Mk.
4 800 •
5 160 '
360 «
5 500 '
5 520 >
6 600 •
5 6U0 «
5 600 •
5 750 •
mm Mk.
6 000 •
r, 020
6 030
i; 0.W
5 980
6 000
6 000
5 950
5980
i ^
•
I
Hiorauä ist leicht ersichtlich, daß der I>eger, welehesder 10 Pferde
ancb gewinnt, inimer ca. 6000 Mk. zu zahlen, aber 6620 Mark ein-
genommen, mithin einen Nntzpii von 620 Mk., d. ti. 10 Pros. hat. Es
ergil)t sich auch ohne weiteres daraus, daß der Leger, wean er auf den
Favorit eine bestimmte Samme zu einem bestimmten Kurse angenommen
und die Gewinneliancen der anderen Pferde abj^eschätzt hat, nicht
jede beliebip:e Summe auf die anderen Pferde annehmen kann, viehnehr,
wenn er ohne Risiko „lehren" und einen gewissen Gewinn erzielen
will, nur f^nz bcstiniintc Suinnien zur Koniiiietierunp; seines Buches
brauchen kann. Sclilieltlicli hestäti^rt auch die Keclinun;^', daP» er, um
einen Verdienst zu erzielen, niclit auf irgendeine Wetteinlage, z, B.
weil das Pferd nachber im Reniu n nicht gestartet ist oder aus irgend-
welcben (iründeu aus der Liste der Konkurreuteu schon vor dem
Renntage gestrichen ist, verzichten kann.
Etwas anders gestaltet sieh die Sache, wenn der Leger auf dem
Bennplatze selbst auf die am Rennen beteiligten Pferde Wetten an-
nimmt In diesem Falle wird der erklftrte Favorit meist so itaik ge-
wettet^ daß der Buchmaeher ihn fflr den Kehmer, d. h. Wetter in
der Regel nur mit „odds auf" legen kann. Ein Beispiel soll die
Rechnung auch in dnem solchen Falle erläutern.
GewettetoiPferdI Odds j Wetcoinlagen 1 Gewinn
Bäri'iiliäuter
Legcntle . .
Iclithyol . .
Wuiirhaftig.
Olly
Zwickel . . .
1 '/sauf,
6/1 I
S'l i
•••1 I
12/1 I
12/1
ba.:
3UUÜ Mk.
715 *
555 «
500 *
3S5 <
38.") ^
5 540 Mk.
2 000
4 290
4 440
4 500
4 t;2o
4 020
Mk.
5 000 Mk.
5 005 '
4 995 '
5 005 '
ö 005 *
5 005 '
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Wettbareaiis nnd Winkelbuclmiachcr in DeutscfalaiMl. • 267
Natürlich ist auch liit r Voraussetzunfr, dal*» der iiiiclimacht r frei
und offen Wetten lehren und ufforieren und hierdurch sein Jhich voll
machen kann. Au« der Aufstellung ergibt sich, dali der Le^^^er dann
bei Wetteinlagen in Hohe von 5540 Mk. für jedes Pferd im Gewinn-
folle ea. 5000 Hk. zu zahlen, also einen Übenchnß yoa ea. 540 Mk^
d. b. von rand 10 ^/i Proz. hat Da5 die obige Bechniing siob dnroh-
aii8 im Rahmen dessen hält, was ein Bnohmacber für ein Bennen ver-
Annahmen und demgemäß anazahlen kann, wird jedem Wissenden
ohne weiteres dnlenobten. Ich will nur noeh bemerken, daß diese
Daten tatsächliehen Informationen ans Bnehmaoberkreisen entnommen
sind. Hält man dem gegenüber was der Totalisator in dem gleichen
Falle für den Gewinner zahlen kann, so ist der Unterschied und der
Vorteil der Buchmacherwette in die Augen springend. Obige Daten
betreffen nämlich das am 14. Oktober 1901 zu Hoppegarten gelaufene
III. Tagesrennen um einen mit 60(»0 Mk. dotierten Staatspreis Der
Totahsator zahlte für Sioijwetten auf den Ttewinner „Ichthyol" 22:10,
d. h. den Einsatz al)^H'rcchnet 1 '/i- Odds. Beim Buchmacher iiiiilUen
Wetten auf den Stall Graditz, d. Ii. auf die l'ferde Lotsende und Ich-
thyol, jj^ekoppelt, die nach vorstellender Kechnun<r 0 1 und 8 1 iiu Kurse
standen, 3 1 — irenau teerechnet 2' Vi« Odds — pMe-^t werden; der
Wetter hiitti' ahsi» bt iiiahe das Dreifache von dem erhalten, was der
Ti»tulisut()r zahlen konnte. Noch deutlicher wird die Eigenartigkeit
und der Unterschied von Totalisator und Buchwette, wenn man beide
nnter der Voraussetzung gleicher Einsätze miteinander vergleicht Zn
diesem Zwecke gebe tdi nadistehend eine Übenicht der bd Totali-
sator-Rechniug für das letzterwähnte Bennen resultierenden Gewinn-
quoten unter der Annahme, daß an den Totalisatorkassen dieselben
Einsätse wie bei den Buchwetten in der vorigen Aufteilung eingezahlt
worden wären. Es hätten dann an Einsätzen ebenfalls 5540 Ifk. zur
Verfügung gestanden. Von diesen sind aber ca. 20 Proz. für die
Steuer mit 1108 Mk. und etwa 8 Proz. fär den Eennverein mit 443 Mk.
in Abzug zu bringen, so daß im ganzen nur 3989 Mk. für Gewinne
zur Verteilung übrig lileiben. An vierter Stelle ist berechnet, was der
Totalisntor für 10 Mk. Einsatz im Gewinnfalle zahlen würde und an
letzter Stelle, welche Odds demgemäß gezahlt werden können, d. h. ein
wievielfaches des£inaatzes der Gewinn in jedem Falle vorstellen würde.
«^wettete« Pfenl Wetteinsiltzcl stäSr?S;."i'l^"ätzo Totali«tor,uüto Odds
I?;iiviili:iiitri .... y IHM) .Mk.
Legcude, Ichthyol > 1 270 *
Wahrhaftig .... 500 •
Oliv 3^5 >
Iwkkv] a>:> '
9&9 Mk. I 10 3 auf
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Archiv (tir KiimüialanUiropologie. XIII. 17
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XL MAKT£UFF£Lr
Wfihrand bei den Badunacherwetten im gaasea ca. 5000 Mk.
und abzfiglich der WetteiDUigea 2000 bis 4020 Mk. in jedem einselnen
FaUe ate Gewinn ansgezahlt werden kOnnen, stellen sieh die Gewinne
fOr den Wetter nach der TotaÜsator-Beehnnng infolge der hohen Ab-
züge wesentlich ungOnstiger.
Es wäre nun irrig, anzunehmen, daß der Buchmacher in jedem
Falle eine Mehrzahl Ton Wetten nnd eine besonders komplizierte
Rechnung nöti^ hätte, ura Einnahme und Ausgabe m. seinen Gunsten
' al)zuwägen. Zwei Pferde werden z. B. bei ihm gewettet, das eine ist
Favorit und wird von ihm bei lOOl» Mk. Einsatz l \U „auf" gelegt, er hätte
also im Ciewinnfalle ohne den Einsatz dem Wetter 800 Mk. zu zahlen.
Auf das andere hat er IMio Mk. angenüninu n nnd die Wette .^pari" gelegt,
d. h. im (lewinnfalle, den Einsatz nicht gerechnet, 900 Mk. zu zahlen.
Gewinnt nun das erste Pferd, so mul» er 800 Mk, hergeben und hat aus
der zweiten Wette 900 Mk. gewonnen, während er im andern Falle
900 Mk. auszuzahlen und lOüO Mk. aus der ersten Wette gewonnen hat
Würden die Buchmacher sich nun lediglich darauf beschränken,
ohne jedes Risiko feste Wetten mit einem gewissen Überschasse zu legen,
so könnte von einem Glücksspiele im eigentliohen Sinne des Wortes höch-
stens für die Wetter die Bede sein, das Bnohmaohen wäre eine dnreh-
ans sichere Sache nnd es könnte gar nicht yorkommen, daß Bnchmacher
„niederbrechen'', d. h. völlig ihre Zahlungen einstellen müssen. Tatsäch-
lich aber gehören solche Eragnisse keineswegs zn den Seltenheiten. Der
Grund für solche Vorkommnisse Ußgl darin, daß die Bnchmacher, wie
der von mir schon genannte Viktor Silberer in mnem lesenswerten,
„Die Bnchmacher*^ betitelten Artikel der von ihm heranagegebenen und
redigierten „Allgemeinen Sport-Zeitnng'' (Wien, am 10. April 18S7)
ausführt, „entweder selber spielen anstatt vorsichtig Buch zu machen,
weil sie sich, gestützt auf eine vorgefaßte Meinung, gegen ein Pferd
zu sehr engagieren, oder weil sie nicht die nötigen Mittel besitzen
und sich im Vertrauen auf das Glück über iiire Kräfte einlassen." Ein
solches Spiel erfüllt natiirlicli die Voraussetzungen, welche die in
meiner Vorarbeit schon erwähnten Pieiclisg<'riehtsentscheidungen vom
29. April und 30. Juni 11382 als p'worbsinäriiges 01ückssi)iel aus
§ 284 St.-G.-B. kennzeichnen. Ich habe keinen Zweifel, dalt die l^e-
troffcnen, wie sich aus den (Iründrn dw Erkenntnisse ergibt, tatsäch-
lich nichts anderes als gewerbsmübiges <Ilücksspiel betriel)en haben.
Von eiueiu Buchmacher nach bestimmter Buchrechnung und ohne
eigenes Risiko ist dort nicht die Bede. Ich möchte an dieser Stelle
noch hinzufügen, was Viktor Silberer in dem vorerwähnten Artikel
zur Charakterisierung solcher Buchmacher-Existenzen sagt.
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Wettbafeam und Winkelbucbmacher in Deatschland. 2&9
^In Deutschland wurde in dieser Hinsicht, ehe die liuchniacherei
ganz eingestellt wurde, viel Unfug getrieben. Leute mit kaum tausend
Mark stellten sich als Buchmacher hin, rafften an Wetten zusammen,
was nur erhältlich war und ließen dann phlegmatisch den Dingen ihren
IßnL Ging das Bennen ffir sie glücUidi ab, so war aUes gat Endete
es achlechti so bezahlten sie einfach gar nichtBi sie waren eben —
niedergebrochen. Ja es gab znm Schlnaae schon Herren, wie das ja
auch in England nnd Frankreich schon oft vorkam, welche Gelder zn
Barwetten zu allen Preisen annahmen, den Ausgang des Rennens
aber überhaupt gar nicht mehr abwarteten, sondern w&hrend die Wetter
voU Aufmerksamkeit dem Verlaufe des Rennens folgten, sich gleich
ohne weiteres mit ihrem Raube aus dem Staube machten.** Wer wie
der Verfasser jenes Artikels kein Laie in solchen Dingen ist, vielmelir
trotz sdner reiferen Erfahninp^en auf dem Gebiete im übrigen unter
gewissen Kautelen für die Buch macherei eintritt, wird schwerlich in
den Verdacht kommen, zu schwarz geschildert zu haben. Ich kann
aus meiner Praxis bestätifren, da(^ das von ihm entworfene Bild auch
heute noch für die überwie^a-nde Masse der Winkelbuchmacher und
Wettunternc'linier durchaus zutreffend ist. Ein weiterer durchaus un-
verdäelitiirer Zen<?e, der als Verteidiger in gegen Inhaber von Wett-
bureaus an<;('strt'ngten Prozessen sich einen gewissen Ruf erworben
hat, der Kcchtsanwalt Dr. Jaroczy nski, äuliert sich in „einem
offenen Worte zu den deutschen Wettverhültuissen ■ i Deutscher Sport
vom 16. Januar 1903) wie folgt zur Sache: „Es genügt, wenn ich
auf Grund meiner Erfahrungen die Ansicht ausspreche, daß bei '
100 Wettbureaus höchstens bei 10 dn einigermaßen erheblicher Ge-
winn seitens des Wetters überhaupt zu erlangen ist und daß von diesen
10 Tielleidit 5 anstandslos zahlen, ohne zunächst Schwierigkeiten zu
machen. Die Entstehung nnd GesohSflspraxis der großen Mehrheit
jener Bureaus wird deutlicher als durch lange Beschreibungen durch
folgendes Beispiel charakterisiert. Als ein gut situierter Wetter eines
Tages zu seinem Barbier kam, jannnorte dieser, dali das Geschäft
nicht mehr gehe und er mit seiner Familie vor dem Ruin stehe, es
bleibe ihm nun nichts anderes übrig, als ein Wettbureau aufzuniaclien.
Er bat den Kunden, ihm hierzu 40 Mark zu borgen. Der Jvunde
willfahrte der Bitte, und Herr X hat noch heute ein Wettbureau mit
allem Komfort und allen Chikanen."
Schon die eine Tatsache, dal» die Mehrzahl solcher Wettunter-
nelinier, wenn die Wetter nun wirklich einmal gewonnen haben, Ge-
winne nicht auszaliU n, ist ein Beweis dafür, dal» jene Bureaus nichts
anderes als Filialen von Winkelbuchmacheru sind. Wären jene Leute
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260
XI. Makteotel
nur Wettkommissionäre, so könnten sie ohne weiteres die am Tutali-
sator oder die Yon im Auslände zugelassenen Wettannabmestellen ge-
zahlten Gewinne ebne jedes Biako ihrereeito ibfen Kunden sablen.
Werden nun von Wettannabmestellen soleber Leute Wetten mit
def Veieinbanmg der Gewinnanszablnng naeb Maßgabe der am Totsli*
eator asn zahlenden Gewinnquote angenommen, so heifit das nicht
etwa, daß die Wettdnsilze wirklich am Totalisator angelegt werden
sollen — es fehlt ja hiensn, wie ich im Anfange anseinandergeselzt
habe, an den wesentlichsten Voraussetzungen eines solchen Auftrags-
geschäftes — ; vielmehr hat eine solche Abmachung lediglich den-
selben Sinn wie die von VVinkelbuchmachem auf Rennplätzen mit
ihren Wettern getroffene Aljrede nach den) „Totalisatorkurse", d. h.
nach Maßgabe des Totalisators auf eigene Rechnung und Gefahr im
Gewinnfalle au?izuzalilen. Nun kann es allerdin<rs passieren, daß am
Totalisator auf irpMidein wenijr gewettetes rfenl im (lewinnfalle eine
unverbältniäl'tig hohe Gewinnijiiote entfällt. Vorsichtige Wettimter-
nehnicr verfolgen daher eifrig die am Totalisator vom Publikum ge-
machten und in ilirer Höhe dort (Tsichtlichen Wetteinlagen. So sind
sie in der Uagc, wenn die voraussichtlichen Gewinnzuhiungen für
stark bei ihnen gewettete sogenannte „Außenseiter" allzusehr in die
Höhe schnellen sollten, sich noch rechtzeitig mit Einsätzen auf dieselben
gegen zu große Verluste zu „decken". Solche Rücksichten machen
also auch Winkelbndimaeher nnd Wettbnnaiiflnhaber zn eifrigen Renn-
bahnbesnchem nnd Gfisten des Totalisators. Andererseits suchen
Wettannefamer ihr Bisiko ba Eingehung solcher Wetten dadurch zu
yeiringem, daß sie dn „limit^, d. h. eine Grenze für die Ildhe der
etwaigen Gewinnzablungen, machen. Vidbcb ist es so gebrSnchlich,
nur bis znm zwanzigfachen des Einsatzes für Sieg- und bis zum sechs-
fochen des ISnsatzes für Platz-Wetten auszuzahlen. Dieselbe Bedeutung
hat es, wenn bei Wetten für Rennen im Auslände solche „limits^ au8>
bedungen werden. In Frankreich arbeitet der Totalisator z. B. nur
mit 7 Prra» an Abzügen und kann daher wesentUch höh^ Gewinn-
quote zahlen. Aber auch sonst können die hiesigen kleinen Wett-
annehmer und Winkelbnchmacher mit ihren Wetten natürlich nicht
mit dem gr(»l'ien Weltmarkte im Auslande konkurrieren und sind daher
liestrebt, ilir Kisiko gegenüber alizugroüen Kursschwankungen in
engeren Grenzen zu halten.
Grundsäl/liclie Voraussetzung einer jeden Wette ist, dal» der Mög-
lichkeit eines Verlustes auch (Iii- Mrii^liclikeit eines Gewinnes gegen-
übersteht. Nun setzt sich das Winkt lltucliniachertum und das Unter-
nehmertum solcher Wettanstalten meist aus Leuten zusammen, die
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Wettbnreans and WUikellradimadier in Deutschland.
261
entweder in ihrer frülieren Existenz Schiffbnich gelitten oder aber ein
ehrliches Gewebe vorher überhaupt nicht gehabt haben nnd schon
anderweitig!: mit Eecht und Gesetz in Konflikt geraten sind. Diesen
Personen fehlt vor allem meist die Möglichkeit^ in irgendwie erheb-
lichem Umfanj^e Wetten ehrlicherweise eingehen zu können — sie
sind gar nicht im Besitze von Mittehi, um die eingegangenen Wetter
realisieren, d. Ii. event. Wettgewinne auszahlen zu können und speku-
lieren denigeniäl) nur auf den Leichtsmn und die Unerfahrenheit des
wettenden Publikums, um sieli auf die hilligste Art und Weise mit
fremdem (Jelde die Taschen füllen zu kruim n. Daher auch die Taktik,
w^omöglich nur durch die lnljai)er der Annahmestellen mit den Wettern
zu verkehren, selbst aber im Verborgenen zu bleiben, Namen und
Adresse nicht mehr unter die Wettscbeine zu setzen und schließlich
im TaJÜe des Gewinnens der Wetter alle möglichen nnr erdenklichen
VorwSnde zn gebranohenf nm sich den eingegangenen Verfomdlich-
keiten zn entziehen. Da diese Leute bei kleineren Gewinnen, soweit
dieselben mit ÜbeischOssen ans den Betr&gen der anderen Wetten zn
decken sind, meist zahlen, der Um£ang an Wetten sich aber selten
ermitteln 1äßt| und im flbrigen nnr vereinzelte Ffille znr Anzeige ge-
langen, l&ßt sich nnr unter besonders günstigen Umständen das Vor-
liegen eines Betruges im Sinne des $263StG.B. nachweisen. Es
ist erstaunlich, mit welchem Ilaffiaement diese Sorte von Wettaa-
nehmem ihrem unsauberen Gewebe nachgehen, wie sie jahrelang
allen irgendwie erheblichen Gewinnansprüchen der Wetter wie auch
den Xachforsehungen der Behörden zu entgehen wissen. Soweit ich
mit sitleh» n Ermittelungen in letzter Zeit befalk war, sind fast stets
Vernichtungen der eigentlichen Wettscheine und Anfertigung willkür-
lich hergestellter, zum Teil auf (irund von auf den Tvennbahnen auf-
gelesener Totalisator Tickets, wie Fälschungen der der Kontrolle der
Stt'ui'rbehrirde dienenden Bücher vurgt'kommen. In einem solchen
Kattenkönig von Betrug und Fälschungen kann sich natürlich nur
ein durch reiche Erfahrungen auf dem Gebiete geschulter Sachver-
ständiger zurecht finden. Dies ist auch der Grund, warum in der
weitaus überwiegenden Mehrzahl der BEIle, soweit es an «nem solchen
SachTerstSndigen fehlt, das Treiben und GesehitfiBgebaren dieser
Geschäftsleute nicht nach GebQhr gewtlrdigt werden kann. Im
schlimmsten Falle weehsehi die Wettfirmen ihre Namen, andere In-
haber erscheinen plötzfich, die früheren Fcrschwinden, nm bald hier,
bald dort nnd schließlich im Auslande — HoUand ist als Buen retiro
besonders beliebt — aufeutaaeben und frisch und fröhlich das Ge-
schäft weiter zn betreiben, Filialen im Inlande zu suchen, Offerten
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XL Hamtbcfvxl
mit Preisverzeichnissen ihrer Wetten vom Auslande ans zn Teroaideii
nnd öffentlich in den Sportzeitungen zu annonzieren.
In vorstehendeiii habe ich mich bemüht, im Zusammenhange
nachzutragen, was mir nodi ziiiii Vorsitändnis des Wesens und der
Bedeutung der sogenannten Wettbunaus erforderhch erschien. Das
Material dazu habe ich mir selbst in fast zehnjähriger Beobachtunfj^
sammeln müssen. Daß ich von Seiten derjenigen, denen diese Studien
gewidmet waren, auf ein Entgegenkommen geschweige denn auf eine
Unterstützung nicht zu rechnen hatte, bedarf wohl kaum der Aus-
führung. Aber auch sonst habe ich an Literatur über den Fall außer
den an Ort und Stdle erwähnten zeistreuten Anmerkungen nichts von
Bedentong finden k^Snnen. Das wei^eliende Intcfeaee^ wdehes meine
ente Arbeit Aber diesen Gegenstand im Ym. Bande des Arebivs ge-
funden — fast sSmtliche gröfieren Zdtangen Dentsebiands baben die-
selbe z. T. in extenso^ z. T. sogar veibotenas gebroobt — Ififit mich
hoffen, daß die fortschreitende Erkenntnis der Schftdliobkeit nnd 6e-
meingefiUirlichkeit dieses modernen Anabentertnms aneh einmal dabin
führen werde, den einaig mOglioben Weg anr radikalen Beseitigiing
desselben dnroh Heibeif&hrung eines gesetaliehen Verbotes der ge-
werbsmäßigen sogenanntoi Wettvemiittelung zu betreten.
In Frankreich, wo man mit ähnlichen Mißständen zu kämpfen
halte, regelt das Gesetz und Dekret vom Jahre 1891 (loi du 2 juin
et d^cret du 7. juillet reglementant l'autorisation et le functionnement
des courses de cheveaux en France et loi modifiant le paragraphe
2 de Vartide 4 de la loi du 2 juin 1S^>1) nicht nur die Befugnis, einen
Totalisator auf Rennliahnen aufzustellen, sondern verbietet unter an-
derem die Wettvenoitthing, das Halten von Wettbureaus, sowie das
Verkaufen sogenannter „Tipps", d. h. Vorhersagungen der Sieger in
Rennen zu Wettzwecken und jede Art der Annonzierung dieses Ge-
werbes, sei es, daß das Unternehmen oder der Unternehmer seinen Sitz
in Frankreieh oder im Auslande hat. Der Untenstaatsanwalt Herr M.
J. Ilurel zu Cherbourg ist ao liebenswürdig gewesen, mir neben
anderen Informationen, wofür ieh ihm anoh an dieser Stelle meinen
Dank ansspreehe^ aneb naebfolgende Obersiehtstabelle ans einer Sohrift
des Herrn Bnffard (doctenr en droit et direotear de la France cbe-
valine) znr YeifQgnng zn stellen. Ans derselben ergibt sich unmittel-
bar der infolge jener gesetzlichen Bestimmungen von Jahr zn Jahr
steigende Totalisatommsatz in lYankreich, der' in den letzten 5 Jahren
die enorme H0he Ton einer Milliarde 118 Millionen Franks — hiervon
die Hennen von Paris allein eine Milliarde sechzig Millionen — nnd
die Abgaben faienron die respektable Höhe von 78260000 1'canks —
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Wettbnranu und Winkelbachmaclior In DetrtBchlaiid. 268
die Pariser Bennen sind an dieser Abgabe mit 74 2ü()i)0ü Franks be-
teiligt — erreicht haben. Diese Zahlen sprechen auch ohne weiteren
Kommentar eine deiitlielie Sprache. Es muß hervorjrchohen werden,
daß in Frankreich von den Totalisatoreinlairen nur 7 Proz. an Ab-
gaben und zwar 2 Proz. für lokale Wohllätij;keit, 1 Proz. zugunsten
der Pferdezucht erhoben werden und der liest von 4 Proz. den Kenn-
gesellschaften verbleiht. Gegen eine solche Steuer kann nicht ein-
gewendet werden, daß der Staat auä dem Spiele einen Vorteil zöge.
ÜberaGht der Umsätze am Totalisator von 1891—1899 in Frankreidi.
Jahre
Totabnmaie
1 Prt». ffir PMenieht
2 Proz.
für Wohltätii^kcit
1891
5 823 6S3 Pres.
5S 236
Frcs. 83
116 473 FXC8.66
1S92
169 799 779
1 697 997
e
79
3 899 995
« 58
lS!t 19^ S77
1 S<».l «JSiS
77
3 7S9 977
^ 54
18d4
183 473 m
1 834 730
*
61
3 669 461
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1S95
168 018 41S
1 680 184
s
IS
8 260 S68
* 26
ism)
197 295 477
1972 954
7 (
8 945 909
^ 54
1897
213 197 ti92
S
2 181 976
s
92
4 263 953
^ 84
1898
221400799
2 214007
99
442S 015
* 98
1899
255678 08«
2 556780
*
85
5 113 561
• 70
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XU.
£me bewandernswürdlge LeiBtang-
Dr. OdnPM, Beehtsanwalfc in Kaibnihe.
Der Pro7» l) Tlumbert ist zu Ende. Er hat mehrere Wochen
hing j;edauert und eine erdrückende Fülle von Material zutage
j^ofürdert. Es handelte sich utii gfschäftliclie Transaktionen wäh-
rend einer Zeit von 15 .laliren im lietra^'^e von annähernd sieben-
hundert Millionen Francs. Der Staatsanwalt hat acht Stunden, die
Verteidiger haben mehrere Tage zu ihren Plaidoyers bedurft. Am
22. August HHi;? nachmittags 2 ',2 Uhr wurden den Geschworenen
258 Fragen^ über die Taten der vier Angeklagten vorgelegt. L m
6V2 Uhr, nach vier Stunden, stixnd der Wahrspruch fest, waren Bämt-
lieheB^ra^en beantwortet. Eine bewunderungswürdige Leistung! Be-
traohten wir sie etwas näher. In 4 Stunden — 240 Minuten waren
258 fragen zu erledigen, es traf also auf Behandlung je einer lYage
nicht ganz eine HinutCi etwa 55 Sekunden. Die Hauptfrage beginnt
mit den Worten: Paccnse est-il conpable d'avoir commis td crime?
(Art 337 Code dinstr.). Sie umfaßt allerdings nur die tatsSohliche^ nicht
die rechtliche Seite des Delikts. Bis der Obmann die Frage veileaen,
jeder einzelne Geschworene sich auch nur 3 Sekunden besonnen und
seine Stiranie abgegeben hatte, etwaige Zweifel und Mißverständnisse
beseitigt, das Stimmenverhältnis festgestellt und zu Papier gebracht
war, yeigingen ganz gewiß 55 Sekund( n und mehr. Ein Zeitverlust
konnte, wenn alles gut ging, vielleicht bei den P^ragen nach mildernden
Umständen fcireonstances attenuantes). bei denen die Geschworenen
wahrscheinlich kurz bosonncn warm und meist einstimmig::: bejahtt n,
ein<;oho!t worden. llal)t'ii also dir (ifschwor» nen, wie in obi^^er Auf-
machun^' an^cnoiiiiiicn ist, {»fliclitiremärt üijer jt'd»' ciTizelne Fra^'^e nach
der ßeihenfülge abgestimmt, so muüten sie, wollten sie wie geschehen,
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Bine bewnndernswOccUge Ldstnng.
265
in 4 Stunden fertig; werden, im Stuniischritt alle Fraj^en ohne jedes
Zaudern sofort beantworten, eine Deliatte war bei keiner tinzi-en
FrajLre niöf::licb. Erwüjxt man, dali die liauptfra^ren meist nicht ein-
stinunii;, sondern mit Mehrheiten beantwortet wurden, so ist klar, daß
von tMHcr communis oi)inio zu einem alle überzeugenden, einleuch-
tenden Tatbeweise keine Kt'de sein konnte. Vielmehr handelte es
sicli liei vielen dieser Fragen um die Würdigung von Beweisstücken,
Zi'ugenaussagcn, ScLriftverstiindigcii- (lutaehten und sonstigen ver-
wickelten Tatbeständen, welche 14 Tage und länger zurück lagen. Die
Geschworenen halten allerdings eine fabelhafte Gescbicklichk^ im
Behalten und Yorwerten all dieser TaAbestSnde entfaltet» wenn die
Sache so ging, wie de nach dem Gesetze gehen sollte.
Aher es ist vollstftndig aosgeschlossen, daß die Abstimmung in
dieser Weise erfolgt wiie. Kdn KoUeginm der Welt and bestände
es statt ans zwölf nnr ans drei KOpfen, bringt es fertig, Uber 258
strittige Fragen in einer Zeit von je 55 Sekunden abzustimmen, wenn
das Material, über welches sich diese Fragen verbreiten, einem Pro-
zesse entstammt, der wochenlang dau^e und Hunderte von sich
widersprechenden Beweisstücken zum Vorschein brachte. Gleichwohl:
die Ant^^ orten liegen vor, ^ wie sind sie zustande gekommen?
Ich denke mir den Vorgang folgendermaßen:
Der Obmann begann zuerst mit der Erörteruiiir der Fragen in
der Keilienfolge, wie der Präsident sie übergeben hatte. Sehr bald
iinilUt' t r walirnclimen, daß in einer Anzahl von Fällen die (n'schwo-
n ni n von ilireiii <u'(liielitnisse verlassen wurden und deshalb die Frage
verufintt n. oder sieh in eine lange und hitzige Debatte verwickelten,
wodurch man nicht vom Fleeke rückte. Man niuPtte sich sagen, dal»
auf diese Weise vielleicht noch eine Woi-lif hing am Verdikte beraten
worden wäre. So entschlossen sich die Oesehworenen zu einem an-
deren Arbeitsmodus. Die eklatantesten, die gravierendsten, die in
der Erinnerung der SchwurmSimer am bestmi haltenden Fälle griff
man bei jedem Angeklagten heraus, stellte sie zur Diskussion, und
nachdem die Mehrheit die diesbezüglichen Fragen bejaht hatte, war
man der beruhigten Oberzengung, daß die Schuldigen ihre Strafe
schon finden wttrden, griff deshalb sSmtliche fibiiggebliebenen Fragen
zusammen, beantwortete sie mit „Nein'' und die Sache war erledigt
Genial, aber gesetzwidrig. Hierzu konnte man um so eher kommen,
als die SchwurmJinner nach französischem Rechte nach ihrer über
dem Gesetze stehenden conviction intime richten. Wozu also
die zahllosen Fragen noch des T.:iniren und Breiten prüfen, wenn die
Geschworenen bereits zum Ausdrucke gebracht haben, daß die An-
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266 XXTT. G5uBn, Eine bmnuidenswflidige Leiatan; .
geklagten in der Hauptsache schuldig sind und wenn lestatoht, daii
sie der Stmfe dafür niclit entrinnen werden?
Im deutschen Verfahren würde man die Zahl der Fragen wesent-
lich verringert hahen durch Stellung einer Frage nach fortgesetzter
Tat. Das durfte der französische Richter nicht wagen: es stand zu
viel auf einer Karte. Deshalb strickte er ein Netz mit zahllosen
Maschen in der Annahme, daß wenigstens in einigen derselben —
wenn andi nur in den wenigateD die Angeklagten hängen blieben.
Und 80 geschah es. Aul 193 Fngen lautete die Antwort Neb; nnr
auf 65 Fragen lautete sie Ja!
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XIII.
Das Geständnis des Yerbreclieis.
Landriditer Himlhmiir in Zuickan.
Nur eine f;enaue Kenntnis der zum Tatbestande des Verbrechens
^ehörifren Tatsachen verbürgt eine gerechte Strafe des Täters. Bei
jeder Straftat gehört zu solchen Tatsachen die Willensrichtung des
Täters und bei vielen Straftaten ist sie ausschlaggebend für die recht-
liche Ik'urteilung der Tat. Das beste Beispiel hierfür sind wohl die
FaUef in denen die verbrecherische Handlung den Tod eines Menschen
venmadit bat, denn lediglich von der WiUensrichtung des Täters
hängt es bei ihnen ab, ob sie als Köipenrerletznng mit tödlichem Aus-
gange, Totschlag oder Mord zn beorteilen ist, oder ob im Naogel
ilberhanpt dnes gewollten schlimmen Erfolges der Tod nnr als durch
eine fahrlässige Behandlung Teraisacht ansosehen ist
Abgesehen yon der WiUensiichtong des Täters ist aber aach eine
mSf^ichst genane Kenntnis der die Tat begieitenden Umstiinde oder
derer, die sie veranlaßt haben, wichtig für die Beurteilung des Grades
der Verschuldung des Täters nnd damit der Höhe der von ihm ver-
wirkten Strafe, ganz abgesehen davon, daß sie möglicherweise, wie
zum Beispiele bei gegebener Notwehr, seine völlige Straffreiheit be-
gründen können. Die Willensricbtung des Täters und die seine Tat
begleitenden Umstände können nun in vielen Fällen zwar aus Zeugen-
aussagen oder anderen licweisniittt hi in dem Maße entnommen werden,
daß über sie ausreichende Klarheit gewonnen wird.
In vielen Fällen und nicht zum mindesten bei den schwersten
Verl)rechen werden aber diese Hilfsmittel zur Erforschung der Wahr-
heit nicht genügen und wird der Richter im Mangel ihrer sicheren
Kenntnis entweder die Freispri chinig des Täters verfügen oder eine
ihm günstigere Straf besiiuimuug zur Auwendung bringen müssen und
1) Vgl. H. Groß, Handbuch für rntorauchunpsricbter. 3. Aufl. S. 101 ff. o,
deeaenKrimiiialpsycbologie. S.88, 41, 42, 112, 133, 136, 137, 141, 173, 396, 457 usw.
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268
XUL ÜAiTBinnai
ausfjcsclilo.ssen werden niolit die Fälle ])leil)eii, in denen der Richter
auf Grund der ihm durch diese lieweisinittel bekannt ^a'wordenen
TatBacben auch zu einer dem Täter uDf^üDstigeren Ännabuie gelangt,
indem er ein flcbwererai Venclinlden «nnimml^ als wie ea tatsSehlicb
ihm zur Last fiUlt» wenn nämiieh die ihm bekannt gewordenen Tat-
sachen ihn zu dieser Annahme zwingen, wfthrend in Wirklichkeit ihm
unbekannt gebliebene Tatsachen Torliegen, die die Schuld des Tftters
aasschließen oder ein erheblich geringeres Verschulden des Titers er-
kennen lassen. Deiigleiehen FftUe sind nicht allzuselten, weil nur zu
oft der schuldige Titer in dem Bestreben, der Strafe' zu entgehen,
nicht nur über seine Willcnsrichtung und ÖIh r die die 1^ beglei-
tenden Umstände unwahre Angaben macht, um die Tat zu verschleiern.
Wird ihm nun durch die erhobenen Beweise die Unwahrheit seiner
Darstellung nachgewiesen, so scheut er sich leicht aus Scham, die
Unwahrheit des bisher von ihm Erzählten einzugestehen, die Tat-
sachen vurziiljrinj^en, (he ihm günstig sein könnten, auch weil er
deren Wiehtiukeit für die Beurteilung des Pralles l)ei seiner regelmäßig
unzulänglichen Kcuutnifi der Strafgesetze nicht ausreichend zu er-
messen wein.
Es sei nur des Falles gedacht, daß dem Täter, trotzdem er
jede Beziehung zur Tat geleugnet iiat, gleichwohl die Verursachung
des Todes eines Anderen cinwandsfrei nachgewiesen worden ist,
und daß durch die Beweisaufnahme zugleich auch Umstände dar-
getan worden sind, die auf eine vom Täter auch gewollte Tötung
hinweisen.
In diesem Falle kann es ihm geschehen, da0 ez des Totachhigs
für schuldig befunden wird, obschon er talsächlich yieUdcht nur der
KOiperrerietzung mit tödlichem Ausgange schuldig ist, daß also seine
Strafe statt nach S 226 St.G.B. innerhalb des Bahmens von 3 bis
15 Jahren Zuchthaus nach § 212 dieses Gesetzes innerhalb der Bah-
mens von 5 bis zu 15 Jahren Zuchäiaus gesucht werden muß. Diesen
Nachts, der, da im letzteren Falle die geringste zulässige ordentliche
Strafe zwei Jahre höher ist, bei der Strafausmessung sich zu seinen
Ungunsten sehr füldbar machen muß, erleidet er unter Umständai
lediglich deshalb, weil er über die Tat und ihre begleitenden Um-
stände, besonders aber über seine AVilb-nsrichtung und die sie dar-
tuenden Tatsachen gesehwiegen ddcr unwahre Angaben gemacht bat|
in dem Bestreben, überhaupt der Strafe /u entgehen.
Abgesehen davon ist aber das < i«'>t;indnis des Täters in jedem
Falle auch noch um deswillen von Wert, weil es trotz aller anderen
Beweise doch immer die Quelle sein wird, aus der am zuverläääigsteu
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Das GestSndnis d«B Verbrechen.
269
die inneren Vor^^äni^e beim Täter während der Tat, wie vor ihr und
nach ihr, erforselit werden kimnen.
Jeder, der eine Untersueliun^' zu führen hat, sollte deshalh mit
allen ihm zu (lebote stehenden Mitteln bestrebt sein, die Tat durcli
Ckständnis des Täters zu eiforscben. Die Polizeibehörden bennihen
«cb ja in dieser Riohtong naeh Kifften. Andere mit üntersncbungen
bebßte Stellen besehifinken deb in dieser TBtigkdt aber oft anf das
Änßeiste zum Nachteil für die Untersnehnng. Abgesehen davon, daß
bei einem Teistockten Verbreeher die Ermittelnng eines Gestfindnisses
oft viel Zeit kostet^ die den zumeist mit Arbeit überlasteten Staats-
anwälten nnd Untersnchnngsriehtem fehlt, mag viele von ihnen anefa
die Sehen abhalten, sie machten beschuldigt werden oder in den Ver-
dacht kommen, mit nnznlissigen Mitteln das GestSndnis eilangt zu
haben.
Falls aber der die Untersuehung Führende nur jederzeit nnd
auch dem schwersten Verbrecher gegenüber nicht vergißt, daß auch
der Verbrecher ein Mensch ist und daß wir alle Sünder sind, und
wenn weiter er ilini L-eirenüber sieb niemals eine verletzende oder
unpassende liehandlun^; erlauht, ihm auch, sofern es mit der Unter-
suchung vereinbar ist. in P>fUlluni: von Wünschen, die seine häus-
lichen oder wirtsehaftlieben Verbältnisse betreffen, ent^'e<ienkommt,
kurz stets sich als ein ^'erecbt denkender und wohlwollend ^resinnter
Beamter zeigt, wird kaum jemals ein bei ihm in Untersuehung Be-
findlicher es unternehmen, ihn zu verdächtigen. Der Anwendung ge-
setzlich verbotener oder sittlich nicht einwandfreier Mittel wird ja ein
rechtlich denkender Mann so wie so sich auch nicht schuldig machen.
Die Wichtigkeit des Geständnisses für die Ezfonachung der Wahrhat
muß meines Erachtens aber auch trotz etwaiger Seheu vor etwaigen
unbegründeten Verdächtigungen jeden, der eine Untersuehung zu
führen hat, veranlassen, es zu erlangen zu suchen.
Schwer ist es ja nun gewiß für den Täter, dne womüglich wohl-
erwogene und in aller Heimlichkeit ausgeführte, nur ihm allein be-
kannte Tat in ihren Einzelheiten einem anderen, der noch dazu ihret-
wegen gegen ilin die Untersuchung führt, zu offenbaren.
Gleichwohl zeigt die Erfahninu. dal» \ iele Verbrecher CS tun und
daß selbst die schwersten Verbrechen gebeichtet werden, wenn dem
Täter richtig begegnet wird.
Im folgenden will ich den Weg zeigen, auf dem ich in lang-
jähriger Tätigkeit viele und oft unerwartete (Jeständnisse erzielt habe.
Zunächst ist es unbedingt erforderlich, den Beschuldigten kennen zu
lernen.
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270 Xm. liAL&SMSB
Dasa dienen außer der Sfteren pcraOnliohea Untenrediing mit ihm,
wobei man sich insbeBondeie Aber seine VerhUtnisse und seine Yer-
^genheit zu unterrichten sucht, Yomehmlich die über ihn etwa er-
gangenen VoEBikten des Gerichts und namentlioh der Poliieibehdrdeny .
aus denen man sich du Bild fiber den Besohuldigten in machen
sucht Sehr oft geben sie ein klares Bild seiner häuslichen Yerhält^
nisse, sein« wirtschaftlichen Lage und seines moralischen Sinkens,
wie, was sdir wichtig ist, seiner Glaubwürdigkeit oder seines Ge-
Bchickee oder Ungeschickes im Erzählen von Unwahrheit^ Oft
stößt man in den Polizeiakten dabei aber auch auf Anzeigen gleich-
artiger Straftaten, die zwar zu Ermittelungen, aber nicht zur l'ber-
fiihrunfj: g:eführt haben und nicht selten macht man in den Vorakten
gar die überraschende Entdeckung, dal') früher der Täter sich ganz
in der gloiclien Weise verteidigt bat wie in der nun wieder gegen
ihn anhängitren Untersuchung.
Zwei Beispiele dafür, die mir gerade gegenwärtig sind und die
ich selbst erlebt habe, will ich hier berichten.
In dem einen Falle hatte nach der Anzeige der Beschuldigte
einen alten über siebzigjährigen alleinstehenden Mann, der Trinker
war, in einer Schankwirtsohaft kennen gelernt und den dort wieder
trunken Gewordmen schließlich heimgeschafft Der Greis hatte nun
behauptet, er sei daheim alsbald in Schlaf TCifallen. Als er erwacht sei,
habe er entdedct» daß sein Sopha, zwischen dessen'Polstem er in einem
Strumpfe Terstedst einen größeren Geldbetrag verwahrt habe, durch-
wühlt gewesen s^ und daß ihm aus dem Strumpfe ftber 100 Hk. Geld
fehlten. Niemand anders wie sein Begleiter, der b^ seinem Erwachen
fort gewesen sei, könne ihm das Geld gestohlen haben. Der Tiker leug-
nete. Seine Überführung erschien aussichtslos, denn das Gericht hätte
schwerlich bei di* sf r Sachlage auf das Zeugnis des trunkenen Greises hin
den leugnenden Beschuldigten Terurteilt, zumal doch auch die Möglich-
keit nicht ausgeschlossen schien, dalj der alte ^fann seine Beschuldigung
auf Grund einer Wahnvorstellung erhoben hatte, die bei seiner Schlaf-
trunkenheit, seiner Trunksucht und seinem Alter immerhin möglich
war. Ich zog zunächst die Strafliste des Beschuldigten herbei. Sie
ergab unter anderen luicli zwei Vorstrafen wegen Diebstahls, die aber
den Küekfiill niciit l»egründeten. weil inzwischen seit der letzten Be-
strafung z<'lin .lalire verflossen waren. Da nun annehmbar l)ei den
Vorstrafen des Beschuldigten aber Polizeiakten vorhanden waren, zog
ich die herbei. In ihnen fand ich zu meiner 1 bernischung wohl
sechs, teilweise schon vor Jahren erstattete Anzeigen, in denen stets
fast die gleiche Beschuldigung erhoben worden war. Oer Beschuldigte
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Das G«atindiii8 dea Verbrecheis.
271
hatte sich mit Betrunkenen befreundet und die hatten nach ihrer
Trennuni; von ihm stets Geld verniilH und diesen Verhist sich nicht
anders als wie durch eiuen Diebstahl des Beschuldigten zu erklären
yenuocht
Kerne «nzige der anf dien Anzeigen eingeleiteten Untenrochnngeii
hatte die Überfllhnuig dee Beeohnldigteii zur Folge gehabt Ein glttck-
licher ZnbJl wollte es, daß alle in diesen Anseigen benannten Zeugen
noeh m erimngen waren. Ein dem BeBchnldigten nngifieklicher Zu-
fall wollte es, daß mehrere der ihm anr ImA gelegten Handinngen
noch innerhalb der anf die letste Vemrteilnng folgenden zehn Jahre
lagen, so daß sie im Rückfalle begangen waren, nnd daß bei denen,
auf die die Rückfallsbestimmangen nicht mehr anwendbar waren,*
VeQähmng noch nicht eingetreten war.
Der in der Anklage angebotene Beweis gelanj^ vollständig. Die
von den vielen Zeugen geschilderten, stets gleichartigen Vorkommnisse
überzeugten das Gericht. Er wurde zu vier Jaliren Zuchthaus ver-
urteilt. Nach der Verurteilung legte er ein umfassendes Geständnis
ab, in dem er auch über den Verbleib der dem Greise gestohlenen
über 100 Mk. Auskunft gab.
Der andere mir auch begegnete Fall ist der folgende:
Ein Mann, der des Diebstahl beschuldigt war und bei dem die
Voraussetzungen des Rückfalls gegeben waren, wollte die Sache, deren
Diebstahl ihm zur Last gelegt wurde nnd die ihm abgenommen
worden war, irgendwo gefunden haben. Er gab den Platz des Fundes
genau an, eine Strafienkienzung der Landstraße swisehen awei be>
lebten Orten.
Eine durebans sichere Widerlegung dieser Behauptung war naeh
der Lage des Falls nieht su erwarten. HerbeigeBOgene Vorakten et-
gaben nuu, daß der Beschuldigte bereits frtther emmal genau an der»
selben Stelle eine Pferdedecke gefunden haben wollte. Als ich ihm
das Torhielt, gal) er — sichtlich betroffen über diesen ihm völlig un-
erwarteten Vorhalt — unter dreistem Ischen den Diebstahl zu.
Die ans Vorakten zn schöpfende Kenntnis der häuslichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten ist aber deshalb von
Wert, weil sie in vielen Fällen Aufschluß über den etwaigen Beweg-
grund zur Tat geben kann. Gelingt es doni die I^ntersueliunir Führen-
den den Beweggrund zur Tat nur einii:ernial)cn zutreffend zu er-
gründen, so ist es vom groltem Werte. Denn nicht selten pbt der
Täter, wenn er gewahr wird, dali sein Gedankengang erraten worden
ist, sein Leuirnen auf.
Auch dulur kann ich einen selbsterlebten Fall als Beispiel anführen.
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272
Ein Kutscher, der einer ,-enngcn Übertretung angt-kla^'t war, er
hatte seinen Wagen ohne Aufsicht in der Straße stehen lassen, ohne,
wie es PolizeiyofBebrift gebot, die Pferde auszusträngen, war vom
SehS^ngerichte freigesproohen worden* Obschon der SohtUzinaiiii,
der die Anzeige erstattet hatte, eidlich die darin behauptete Be-
Bcbnldigong als anf eigener Wahmehmnng beroheod veniehert hatte,
halte eine andere Person beeohworen, die Pferde seien ansgestringt
gewesen. Wer von diesen beiden Zeugen fiJseh gesehworen hatte,
war in der Hauptverhandlnng nieht lestziisteUen gewesen, deshalb
wnrde der Kutscher freigesprochen. Eme dem sicheren Auftreten des
anderen Zeugen gegenüber vom Schutzmann in der Hauptrerband-
lung gezeigte Unsicherheit war der Anlal^, dafi die Akten zur Ein-
leitung der Untersuchung wegen Meineids gegen den Schutzmann an
die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden.
Rei den an Ort und Stelle vorirenommenen En^rteningen wurde
ich bald inne, dali der Entlastiin^s/eufre eine wenig Vertrauen «ge-
nießende l'er^^önliehkeit war, die en^en und vertrauten Uni^'Hn^ mit
dem freigesprochi'nen Kutscher hatte, während der Schutzmann als
einwandfreier, zuverlässiger Beamter von seineu Vorgesetzten geschildert
wurde.
Diese Tatsachen verscliafften mir bald die volle Überzeugung,
daB der Entlastungszeuge der Meineidige gewesen sei und er dem
Kutscher mit seiner fidscSien Aussage einen Frpundsehafisdienst er-
wiesen habe. War das der FaU, dann hatte der Kutscher aber das
falsche Zeugnis vom M^eidigen aller Wahrseheinlichkeit nach erst
gefordert und annehmbar auch ihm Versprediungen gemacht oder
sonst rieh für den ihm zu leistmden Dienst erlienntlich gezeigt, da
so ohne weiteres schwerlich sich der fVennd zum Meineide yenstanden
hatte. Die Versprechung konnte hoch nicht gewesen sein, da der
Kutscher nicht viel zu vergeben hatte.
Als ich nun dem Entlastungszeugen den Widerspruch zwischen
seiner Aussagt' und der des Schutzmanns T<^hielt und ihm zu er-
kennen gab, dal) er allem Anscheine nach um ganz geringen Vorteils
willen dem Freunde in so strafbarer Weise zu Diensten gewesen sei,
daR er annehmbar um ein paar Oroschen oder ein paar Glas Bier
meineidig geworden sei, h\^'te er alsi>ald unter Tränen das Geständ-
nis ab, daf) er auf ZiirtMli ii des Kutschers für drei Glas Bier wissent-
lich falsch geschwonn habt*.
Die Kenntnis der sittlichen Ilntwieklung des Verl>rccliers aber ist
von Wert, weil sie mit gutem Erfolge sich verwerten lälH, um dem
Täter ins Gewissen zu reden. Es ist auftallend, wie es auf den Ver-
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DaB Uestäadnia des YorbrocIierB.
278
brecher wirkt, wenn man ihm unter Mittciiun^^ dvr juls den Voiakten
bekannt ^'ewordcneu Tatsachen vurhäh, wie er vom ersten geringen
Diebstahle, den er vielleicht schoa als Scbulknabc begangen hat, von
Stnfe zu Stufe gesunken ist und wenn man im Anschlüsse daran
damaeh forscht, welche ümslftnde ihn soweit gebracht haben. In den
weitaus meisten Füllen folgen langatmige Schilderungen, aus denen zu
entnehmen ist, daß schon in frfiher Jugend der Verbrecher ohne Auf-
sicht war, daß er im LAufe der Jahie seelisch vereinsamt ist und
allmählich sich mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, daß er
außerhalb der menschliehen Gesellschaft stehe.
Bei der Erzählung der Tatsachen, die nach seiner Meinung auf
seine sittliche Entwicklung eingewirkt haben und für sie bestimmend
gewesen sind, brechen nur zu oft auch alte GewolmlK-itsverbrecher in
Tränen aus. Die während dieser Schilderung vielleicht aufsteigende
Anwandlung von Reue über das verfehlte Treben, die Erinnerung an
die schuldlose Jugendzeit und wohl auch der Gedanke, daß manches
anders gekommen wäre, wenn die Mitwelt mehr Anteil an seinem
Schicksale genommen hätte, verwandeln nicht selten selbst arg ^'er-
stockte in reumütig ihre Schuld Bekennende. Wenn man den Ver-
brecher in diesem Seelenzustande fragt, ob er schuldig sei, wenn man
ihm dabei vorliiiit, dali er eine einmal auf sich genommene Schuld
doch auch sühnen müsse und ihm zuspricht, dal) es damit aber nun
wohl das letztemal gewesen sein werde, daß er die Strafgesetze ver-
letzt habe, bekommt man in vielen Fällen ein umfassendes Geständ-
nis selbst schwerer Verbrechen.
Man darf aber nun nicht verlangen, daß eine schwere Schuld
sofort in allen Einzelheiten gebeichtet wird. Man muß sich zunächst
mit dem Nötigsten begnßgen. Bei späteren Vemehmungen, bei denen
man Be^g nimmt auf die (r&heren Zugeständnisse^ erfährt man dann
schon noch, was man sonst noch wissen will. Nur muß man unter
allen Umständen bei solchen Anlässen Klarheit wenigstens über den
Beweggrund zur Tat zu erlangen und mögliclist Tatsachen zu erfahren
suchen, die eine objektive Feststellung der Richtigkeit des Geständ-
nisses ermöglichen, damit, wenn etwa der Verbrecher s|)äter sein Ge-
ständnis widerrufen sollte, durch jene Tatsachen der Beweis geführt
werden kann.
So hielt ich beispielsweise für geboten, als mir ein Brandstifter,
der auf meine Frage, ob er .schuldig sei, bejahend nur mit dem
Kopfe nickte, bei der Geh-geniieit wenigstt-iis nucli in Erfahrung zu
bringen, wie er zu dem verschlossen gewesenen Brandherde gekommen
sei. Er gab au, er habe durch Zufall den ordnungsmäßigen Schlüssel
AioUv Ol Kriininabnthiuiiologi«. XIIL 18
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274
XIIL HAII88KBB
gehabt und NcrsiclRTtc auf weiteres Befragen, er liai>e ihn nacli der
Tat in den Aliurt seiner Jieliausunp: jjeworfen. Dort wurde er auch
gefunden und damit ausgeachlossen, dal^ nacliträg-lich die früher ab-
gegebenen, im Geständnis enthaltenden Erklärungen mit Erfolg wider-
rufen werden konnten.
Der Widermf eines Micben, im Zustande völliger seelisoher Zer-
knirschnng abgelegten Gestilndnisses ist verhältnisniäDig sehr selten.
leb glaube den Grund dafür im Scbamgeffible des Verbreohero
suchen zu müssen. Er schämt sich, dem, dem er einen so tiefen Ein-
blick in sdne Seele gestattet hat, wieder als Verstockter sich au zeigen.
Das mag auffiUlig und unwahrscheinlich klingen. Ich halte mich aber
zu dieser Behauptung doch für berechtigt, auf Grund ungezShlter
Aussprachen, die ich mit zaidreichen und schweren Verbrechern ge-
habt habe und bei denen ich WahriiebTiiungen gemacht habe, die mich
anfangs überrascht haben, mir später aber durchaus nicht mehr auf-
fiUlig gewesen sind.
Solche Wahrnehmungen sind die folgenden :
Es ist nicht selten, dal» der Verbrecher, und unter ihnen besondere
jugendliclie und naniontüch auch weililiche l*ersonen. nach abgelegtem
Oeständnisse ihrer Befriedigung darüber, dali sie es al)gelegt haben,
unverliolden und ganz, offenbar niclit gelieuchelt Ausdruck gegeben
haben mit der Begründung, es sei ilinen nun, wo sie sidi ausgesprochen
hatten, wiecier leieliter uins Herz, es habe sie vorher „richtig gedrückt^^
Erwachsene Männer, namentlich gediente Soldaten äuliern ihre Be-
friedigung in anderer Weise. Sie strecken einem zuweilen ihre Hand
entgegen mit der Bitte, sie nicht zu verachten und ihnen gnädig zu
sein, sie nicht zu hart strafen zu lassen. Andere, namentlich solche,
die zum ersten tfale^ aber schwer sich strafbar gemacht haben, sprechen
die frohe Erwartung aus, daß sie nun wieder hofften. Schlaf za
finden und daß sie nun hoffentlich wieder würden essen können.
Damit komme ich gleich auf eine andere Tatsache, die für die
Erzielung eines Geständnisses nicht unwichtig ist.
Das schlechte Gewissen, das den drückt, der zum ersten Male
gegen die Strafgesetze erheblicher gefehlt hat, macht selbst dem an-
scheinend gewissenlosen Verbrecher offenbar arge Pein, die sich in
Schlaflosigkeit, schreckhaften Träumen, angstvollem Erschrecken und
unter Umständen auch der nicht weichen wollenden Vorstellung des
durch die Tat geschaffenen Bildes äußert. Diese Pein muß zuweilen
furchtbar sein. Icli erinnere mich einer Szene, die ich mein I^ebtag
nicht vergessen werde. Zu einer M<»rderin, die lange und hartnäckig
geleugnet hatte, äußerte ich gelegentlich, die schwerste Strafe müsse
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Das GflBtSndnis des Verbrechers.
275
doch leichter sein, wie das qualvolle Leben, das der führe, den Tag
und Nacht das Bild des von ihm ums Leben Gebrachten verfolge.
Kaum hatte ich diese Worte g;esprochon, brach die bis dahin dreiste,
offenbare Unwahrheiten erzählende Frau sichtlich zusaninien und
unter liefti<^em Zucken ihres Leibes in bittere Tränen aus. Nach-
dem diese seelische Erschütterung:, die ausreichend schon die Schuld
der schon Verdächtigen erkennen ließ, etwas sich gelegt hatte, folgte
alsbald ein Geständnis der Tat.
Man könnte nun vielleicht einwenden, es sei keine Arbeit für
den Juristen, sondern schicke sich für den Seelsorger, in die Seele des
Verbrechers zu dringen. Dem gegenüber bemfe ich mich jedoch auf
das im Eingange Gesagte, das meinfis BiBehtens aosroieheBd daitat,
wie nützlich und sogar notwendig auch für den Juristen das Ge-
ständnis des TSters ist als taisSchliohe Unterlage für Anwendung des
rechten Strafgesetzes und für Bemessung einer der Schuld des Ver-
brechers angemessenen Strafe. Das GestSndnis des Verbrechers bringt
aber auch den die Untersuchung Fahrenden, dem es abgelegt wird,
als Menschen niher dem Menschen im Verbrecher. Indem der die
Untersuchung Führende dem Verbrecher in die geheimsten Falten
seines Herzens blickt, seine Not und seine Seelenqualen kennen lernt,
wird auch er im Herzen von all dem nicht unberührt beÜM ii und
müde ixp'jen den Beschuldigten denken und handeln. Der Verbrecher
aber, der das bald gewahr werden wird, wird die über ihn verhängte
Strafe, auch wenn sie hart ist, ohne Groll und uiit der Enipfindun^^
hinnehmen, daH er nur die notwendige Folp» seiner Tat erleide und
sie (lureli sie sühne. Enipfindef er aber die Strafe als eine Sühne
seiner Tat, dann besteht auch nu'lir Aussicht, dal» er seelisch gereini;;!
und i^eläutert nach ihrer N'erbülkini,'- ein vorwurfsfreies Leben führen
werde, als wenn er mit Groll im Herzen gegen seine Richter die
Strafe als unbillig und zu hart empfindet, weil er glaubt, dal» sie
ihm kalt gegenüber gestiinden, seine Not und C^ualen nicht gekannt
und deshalb sie bei der Bemessung der Strafe nicht berücksichtigt
baben.
Stand er schon im Begriffe, als Gewohnheitsverbrecher grund-
sätzlich der menschlichen Gesellschaft als Feind sich gegenüberzu-
stellen, so wird er es dann wahrscheinlich tun. Ist er aber in der
Untersuchung gewahr geworden, daß man Mitgefühl mit ihm hat, dann
wird er auch geneigt sein, versöhnlicher zu denken und nochmals sich
prüfen, ob es nicht richtiger und besser für ihn sei, ein nützliche^
Glied der Gesellschaft zu werden. Wird so nur einer von denen, die
auf dem Wege zum Gewohnheitsverbrecher sind, zur Umkehr be-
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S76
XITT. HAVMHBt
wojLcen, 80 ist dieser Gewinn meines Erachtens schon groß genug, um
die aufp:ewaii(lte Zeit und Mühe reichlich 7.11 lolinen.
Leider erfährt (Ut Unter!suchung:&fiihren(ie von einem tatsächlichen
Erfolge dieser Art im Lehen kaum etwas, denn nach I^c der Dinge
trifft in der Kec^^el der gehesserte ^ erl)recher nicht wieder mit ihm
zuaamiiieii. Zuweilen erlebt er aber doch wenigstens die Freude, daß
nach gesprochenem Urteile, auch wenn es schwere Strafe verhangen
bat, der Verurteilte die Gelegenheit benutzt und freiwillig daa Wort
«1 einer Änfierung des Dankes dafür nimmt, daß man in der Unter-
sucliiuig ohne Hirte und wohlwoHend geweBen vA und daß man an
ihm, seiner Not und seinem Lebensgeschicke Anteil genommen haL
Solcher freiwiUig geänfierte Dank ist meines Eiachtens ein siemlioh
xayeriässiges Anzeichen dafür, daß der Vemrieilte snm mindesten
den Vorsatz gefaßt hat, mit der Yeigangeaheit m brechen.
Außer den im ESngange schon erwßhnten Grfinden, die das Ge-
Bündnis einer Straftat als Ziel ihrer Untersuchung durchaus wünaoheaa-
wert erscheinen lassen, scheinen mir aber, nm das noch zu be-
merken, auch noch folgende Erwägungen es zu rechtfertigen, da&
mit allen zu Gebote stehenden zulässigen Mitteln in der Untezanohnngp
darauf hingewirkt wird, ein Geständnis der Tat zu erlangen.
Kegelniäßigc Ursache des Verbrechens ist meines Erachtens ein
Wunsch des Täters. Ohschon er nun regelmäßig weili, daß er durch
die Erfüllung dieses Wunsches oder die Mittel, durch die er sich seine
Erfüllung verschafft, mit der Rechtsordnung in Widersjiruch gerät,
wird bei der Wahl, entweder auf die Erfüllung des W unsches zu ver-
zichten oder aber das in der Iiechtsordnung für ihre Verletzung an-
gedrohte l'bel zu erleiden, in vielen Fällen für ihn ausschlaggebend
sein der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit dem er seiner Ansicht nach
das in der Rechtsordnung für ihre Verletzung in Form der Strafe
angedrohte Übel zu gewärtigen haben wird.
Kann er seiner Meinung nach mit Sicherheit danuif rechnen, daß
seine Tat nnentdeekt oder er nidit fiberführt, also straflos bleiben
wird, so wird es ihm Idchter fallen, sich für die ErffiUnng seiaea
Wnnsehes und znr Verietznng der Bechtsordnnng zu entsdiUeßen, da
er ja dann das Obel der Strafe annehmbar gar nicht zu erleiden
haben wird. Bechnet er aber mit Sicherheit auf die Entdeckung der
Tal^ nnd weiß er, daß er die Strafe für seine Tat sieher erleiden wird,
dann wird er sicherlich es sich reiflich überlegen, ob denn die ihm
sichere Strafe in dnem Verhältnisse zu dem Vorteile steht, den ihm
die ErfOllnng seines Wunsches gewährt und er wird gewiß in vielen
Fällen wegen des auch von ihm erkannten Mißverhältnisses zwischen
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Du Gfwtindnte des Veiiiredieni.
277
Vorteil und Strafe von der Tat absehen. Das ist meines Eraclitens
bei der Milirzaiil der Straftaten die einzige, aber aiuli für ihre Be-
gehiin*2r entscheidende Erwii^unpr, die der Täter anstillt. Je öfter
nun dem Täter bereits gelungen ist, ungestraft die iStrafj^esctze zu
verletzen, desto leichter wird er jreneigt sein, die (iefalir der Ent-
deckung der Tat zu unterschätzen und bei der Abwäi^un^'' der Vor-
teile der Tat und der in der Strafe ihm drohenden Nachteile sich
für erstere zu entscheiden.
Zu einer ünterBcbätzung der Gefahr der Entdeekung und seiner
ÜberfQhning wird der Tüer aber doch gewiß ieiebter kommen, wemi
er gar sciion einmal in Unteimhung war und dmeh sie trotz der
▼erliegenden Verdaelitegrfinde Beine Überfttbrang niebt gelungen iet
Der Yerineeber wird in aolobem fUle nnr sn leiebt geneigt werden,
atefa eiazabildem, es sei für ibn niebt sobwer, dae Genebt zn tinaeben,
der Strafe zu entrinnen.
Zu Boleber Meinnng kann er aber und wird er niebt kommen,
wenn mögliohBt in jeder Untersuchung ihm zum Bewußtsein gebraebt
wird, daß es sehr schwer ist, als Schuldiger der Strafe zn entgehen.
Daß es schwer ist, muß ihm aber bewußt werden, wenn er gewabr
wird, wie der die Untersuchung Führende seinen Lebensgang nnd
seine B^iehnngen zur Mitwelt zu ermitteln sich bestrebt, wie er sich
bemüht, seinen Oedankengang und den Grund zur Tat zu erforschen,
und wenn er schließlich unter der Wucht der ilini vorgehaltenen, ihn
belastenden Tatsachen oder weil der rntersuchungsführende ihm
richtig und mit Erfolg ins (iewissen geredet hat, zur Ahlegung eines
Geständnisses sich hat bequemen müssen. Wer in einer Untersuchung
einmal ein (ieständnis abgelegt liat, der wird jedenfalls bei einem
neuen Anreize zu verbrecherischer Tat das ( bei der Strafe für ihn
drohender ansehen und (ItMiient.sprechend bei der Abwägung die Vor-
teile der Tat mehr berückbichtigen als wie der, der ihr schon einmal
oder mehrere Haie durch mit Erfolg durchgeführtes Leugnen ent-
ronnen igt
Für die Ißebtigkeit dieser meiner Annahme spriebt meines £r-
aebtens die dem Kriminalisten wohlbekannte Tatsaebe^ daß in maneben
Bezirken Brandstiftangen, die offenbar voisStslieh nnd Yon Tersohie-
denen TXtem reninaeht sind, namentlieb die TOisStdiehen Inbrand-
seCznngen gegen Feneisgefabr yersioberter Saeben, fortgesetzt nnd in
geradezu ersebreekender Weise zuweilen zunehmen und dann auf
einmal aufhören, nachdem einen oder mehrm der Brandstifter die
gerechte Strafe ereilt hat
Diese ganz bekannte anfßUUge Tatsache läßt sich kaum anden
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278 XUL Uau88ke8, Das GestiodiiiB des Verbrechen.
erklären, als daß die straflos gebliebene Tat des Einen auch die An-
deren ermutigt bat, auf die gleiche Weise sich Vorteil zu yersebaffen,
weil sie sich gesagt haben, so gut wie dessen Tat nicht entdedLt
worden und er straflos geblieben sei, wttiden auch sie es hieben.
Erst die sebließlich doch erfolgte Ventrteilvng eines Biandstifte»
bringt dann denen, die Lost zn gleiofaer Tat hatten, zum BewnfitsMn,
daß doch die Aussicht, straflos zn bleiben, kdne gar so aioheie ist
Eine Antwort, die mir nicht einmal, sondern Öfters von Gewohnheils*
Verbrechern gegeben worden ist, möchte ich auch zur Begrfindnng
der Kichtigkeit meiner Ansicht hier anführen. Wiedertiolt haben nftm-
hßh rückfällige Diebe, die geringwertige Sachen gestohlen hatten,
wenn ich ihnen vorhielt, daß der geringe Vorteil, den sie durch die
Tat erlangt hätten, doch in einem schreienden Mißverhältnisse zn der
für die Tat ihnen, wie sie wüßten, drohenden mindestens einjährig:en
Zuchthausstrafe stehe, zur Antwort gegeben: „Mau denkt doch nich^
daß man erwischt wirdl**
Der außerordentliche Wert, den das Geständnis nicht nur zur
Klarstellung der Tat und der Schwere der Schuld des Täters wie
auch für seine Uiuterun^ hat, wird meines Erachtens vom geltenden
Reclite zu wenif; berüek.sichti^'t. Meines Dafürhaltens wäre es durch-
aus zweckmäßig, wenn iu den allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs
eine ausdrückliche Vorschrift des Inhalts aufgenommen würde, daß
im Falle eines GestSndniflaes der Biohter Terpflichtet ist, milder zu
strafen, ihnlich wie der Gesetzgeber das fttr das veiBiiehte Veiforedien
YOfgesdirieben hat Von emer solchen Vorschrift erwarte ieh ans
den schon angeftihrten Grfinden eine Verminderung der Zahl der Ge-
wohnheitsTerbrecher. Feiner eradite ioh sie ftlr ein Gebot der Billig-
keit dem Gestfindigen gegenüber, den infolge seines Gestindnisses
siehere Strafe trifft und der durch sem Gestlndnis viel Arbeit und
Kosten erspart hat, während der dreist Leugnende naeh Befinden nicht
nur unendliche Mühe und Kosten yerursacht, sondern schließlieh auch
noch der Strafe durch sein Leugnen mit Erfolg sich entzogen hat
Eine sichere Folge solcher Vorschrift würde endlich aber auch
sein, daß die erhebliche Arbeitslast der Strafverfolfrunfj^sbehörden ge-
mindert würde und daß die ganz außerordentliche Kostenlast, die der
Staat jetzt an Zeu.c:enir*'hnhren für die während einer Untersuchung
re;;elmiil)ij; zweimal zu hefra^andeii Zeugen aufzuwenden hat, ^r^spart
und das dadurch gewonnene Geld für andere öffentliche Zwecke ver-
fügbar würde.
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XIV,
Teeheclioslawisches in der GaanerspraciLO.
Yoo
Brust Iioliaiiig in Prag.
Im Anschlüsse an die überaus interessanten Ausführungen von
Caci«- ') hat der IIerausj;eber dieses Archivs der Erwartung' Ausdruck
geg^eben, es mitclittn Kenner fremder Idiome deren He/iebun^;en zur
Gaunersj)rache darlegen, so wie ea ».ai'ic bezüglich der kroatischen
Sprache ^a'taii liat.
Dieser Anrc^un^^ suche ich im fo!f:;enden insofern nachzukommen,
als ich darzulegen suche, was von der Gaunersprache tschecho-
slawiscben Ursprungs ist, wobei zunächst der Gebrauch des Ausdrucks
„tsohecboslawisoh'* anstatt des sonst gebitnehliehen «böhmiaeli*' oder
„tschechisch'' aufgeklart sei „Böhmisch** und „tschechisch** müssen
scharf auseinandeigebalten weiden; „böhmisch** bezeichnet dieAnge-
hOrigkeit znm Osterrdchischen Kronlande Böhmen, „tschechisch'' die
Inbesugsetzung snm tschechischen Volksstamme. Nicht aUes, was
böhmisch ist, ist tschechisch; nicht jeder Böhme ist ein Tscheche, da
Böhmen ca. 36 Proz. Angehörige der deutschen Nation hat Aber
auch nicht jeder Tscheche ist ein Böhme, da Tschechen in ge-
schlossenen Massen auch aulkrhalb Böhmens, nämlich in Mähren,
Österreichisch-Schlesien und Niederösterreich wohnen. Diese Unter-
scheidung zwischen „böhmiscir und „tschechisch*" ist eine Folge des
hümischen Nationalitätenstreites und wurde früher nicht gemacht.
Daher erklärt sich die Anwendung von „böhmisch" im Sinne von
jjtselieehiseh'', die noch immer häufig ist, deren sich u. a. auch die
östirreieliische Gesetzgebung und daher auch namhafte österreichische
1) Kruatischü Wörter im „Vocabularc der üuuuer^prache", des (jirolSscheu
Handbuches fOr Unterancbanguiohter, von Dr. Vlsdimir (^aM^, k. Besdrka-
richtcr im Sekretariat der k. knNit-8iay.-dalm. Septemviraltafel in Agram. Dieses
Archiv, 9. Bd. ».29811.
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280
XIV. LORBIKO
Juristen, wio z. B. Ii. Pfaff, v. TTalhan, Siejrol. v. II errnr i 1 1 ' )
u, a. bedicnon ; tsclit'cliisclierseits wird dt-r Ausdruck .jtüclieeliisch"
lieflijj^t an<rf'focli(en, doch scheint hierin eine Änderung einzutreten.
Wenif^stens |)räscntierten sich die Tscheclien in Paris 1900 bereits als
„1a nation tch^que" und gegenwärtig erscheinen in der „Österr.-
oDgar. Be?ue'' Bteys über tsobecbisebe LitenUnr ans der Feder des
tscheehiscben Literaten KarAsek, in denen das Wort „tscbecluBch''
gebranebt wird. Es btiebe cigentUcb somit nur zu erOrtem, was der
ünterBcbied zwisoben „tscbecbiscb^ und „tscbecboelawiscb'* ist Eigent-
licb gar kemer. Aber dnreb den Qebfancb des Wortes ^fscbecho-
slawiseb'* anstatt des dnfacben ,|tBcbecbiseb'' werden die B^ebnngen
des tschecbiscben Idioms zur großen slawischen Völkergroppe zam
Ansdmck gebracht und gerade für die Torii^nden Ausfübrnngai
erscheint mir das angezigt. Denn unter den von ('atir angeführten
Wörtern der Gaunerspracbei welche er als kroatisch bezeichnet, gibt
es einige, die ebenso sieh aus dem Tschechischen erklären lassen.
Oemeinsam ist ihnen nur der slawische Ursprung; manclunal über-
wiegt die Ähnlichkeit mit dem Kroatischen, ein andermal die mit dem
Tschechischen; doch dürfte in Anbetracht der Modulationsfähigkeit
der Gaunersprache es nicht immer gelingen, festzustellen welcher
slawischen Sprache eine Vokabel entstammt. Diese Worte siud '^):
1. Bika, Stier. Im Tscheclnschen heißt Stier „byk". I anstatt y
kommt bei ^ner Sprache, die nicht Schriftsprache ist (und die
Gaunersprache ist nicbt Schriftsprache) nicht weiter in Betracht ^).
4. Caklo, Glas, Fenster. Die Stammverwandtschaft mit dem tsche-
chischen „sklo" ist unleugbar; doch ist die Ähnlichkeit mit dem
kroatischen „staklo" grolier; das gleiche gilt von dem Worte
„steklo'' der Gaunersprache.
7. Cudasina, Wunder; im Tsciiechischen heißt Wunder „tud".
2t. I^ko, leicht; tschechisch: .Jehko" dasselbe.
24. Me, ich; wohl eher romaniselien als slawischen Ursprungs, wenn
aber des letzteren, dann ist ein Anklang au das tschechische
1) L. Pfaff, Allgem. Ssterr. Ger.-Ztg., ib, Jahrgmg, S. 353, Note 2 a. E,
Ualban In OrOnhntB ZeitBchr., 24. Bd., & TIS. Z. 8 Siegel, Dentsehe
Rechtsgeschichtc, 3. Aafl. S. 190, v. Herrn ritt, Nationalit.1t und Recht (Wien
1S90), S. 26ff. : vt;!. hingegen Ladislaus Gumpl owicz . Nationalismus und
InteniatioDali&mus iiu 19. Jahrh. (Ucrlin 1902), Rauuhberg in ,.DcuCsche A^beit^
Oktoberbeft 1902, und Sperl, Syst. Grdr. nsv. (Wim 1903), 8. lU.
2) üm eine Yergldehnng mit den AoBfOhmogon von CaiK «. «. 0. zn er^
Mehtcm, gebrauche ich seine Oninungr^zahlen.
8) Vgl. dar&bcr Groß, llandb. f. Unterftucbungaricbtor. 8. Aufl. S. 291.
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TfldiechoslawiMbee in der Oannenpnehe.
281
„mich — m«'" ebenso möglich wie an das kroatische „me". Das
wahischeinliobste dürfte jedooh die AbleKaog aus dem Sgeimeri-
sehen sein.
26. Nikana, nikda, nie; nie heißt im Tschechischen „nikdy".
27. Niko, niemand; im TschocliiBchen l)edeutet .,nikdo" niemand.
29. Ostro, der Scharfe; im Tschechischen heilH „ostrV" scharf, das Neu-
trum davon .,o.stro*', so daß also dieses Wort eher aus dem Tsche-
chisdien als dem Kroatischen (ostro) den Weg ins GaaDeridioni
g^enommen haben dürfte.
30. Patyka, Apotlirke; das hiezu von <:acic bemerkte gilt mutatis
mutandis auch für das Tschechische.
31. Peta, Ofen, Hand; tschechisch: „pec (picka)" Bratofen.
32. polifka, Sup[)e; das taeheehisehe Wort „polfvka (auch pol^vka)'*
bedeutet Snppe, nod zwar jede Suppe, nicht nur, wie im Kroar
tiscben, eine gewisse Snppe.
33. per, Feder; Feder heifit im Tsoheebisehea „pöro^
34. Praho, AscÄie; tsoheehisch: Mpraoh**, Stanb.
35. Banne;)', Wnnde; erweiterte Fora des taeheebiscben Wortes i,nna**,
Wunde.
37. Stana, Stall; das tschechische „stan'^ heißt Zelt
39. Straza, Wache; tschechisch: „sträz", Wache.
40. Sulum. Stroh; tschechisch: „slilma", Stroh.
41. Tamlo, finster; im Tschechischen «tma'', Finsternis; doch hat die
Ableitung aus dem Kroatischen mehr für sich als die aus dem
Tschechischen.
47. Zuto, der Gelbe, zutoi, gelb; tsoheehisch: „^luto^* (adv.) gelb.
Das ist eine verhältnismäßig nicht gerin«j^e Anzahl von Worten,
die sich mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit auf das
tschechische wie das kroatische Idiom zurückfülm n lassen; hei einigen
— im vorstehenden ist es ad hoc bemerkt worden — spricht die Ver-
mutung für die eine oder die andere Abstammung, bei anderen läßt
sich das nioht feststellen. Sie kOnnen ^mbso kroatlsoben wie tsche-
ohischen Ursprungs seb, sie Icönnen aber auch einem anderen Zweig
des Blawiaehen Sprachenbanmes entsprießen und insbesondere sei auf
das Polnische verwiesen, dem das Tschechische viel näher steht (nicht
in letzter Linie ans geographischen Rficksichten) als dem Kroatischen.
Das Gesagte gilt nicht nnr von den bereits angeführten, sondern
auch Yon den noch anzuführenden Worten. Wenn nun letztere in
der Gaunersprache in veränderter Gestalt und mit manchmal ver-
änderter fiedentnng Aufnahme gefunden haben, so ist das nicht ledig-
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282
XIV. LousiKo
lieh aus der Natur der Gaunersprache ') zu erklären, sondern es mag-
ancb der Entwicklungsgang des Tsohechischen mit im Spiele seiD,
wo der G^nsalz swisehen Sehrifkspiaehe und Umgangsspiaehe noch
kein ttberwundener Standpankt ist Noch um die Mitte des 19. Jahr-
handerts achrieb maD im TBcbeehiseben das W; die gegeawfirtige
Schriftsprache keuit diesen Bnohstaben nicht mehr. Dafür hat die
tschechische Umgangssprache eine Erscheinung, die lebhaft an das
griechische / (Digamma) erinnert, das im klassischem Griechisch g«-
scb wunden ist, dennoch aber lange Zeit gesprochen worden sein soll '^).
£& gibt nämlich auch im Tschechischen Wörter, die in der Sclirift-
sprache yokaliseh anlauten, in der Umgangssprache jedoch noch
häufig (namentlich bei den niederen V(jlksklassen) ein W vorgesetzt
erhalten; man hört vielfach wokno statt okno (Fenster), wopice statt
opice (Affe), wosel statt osel (P^sel), wen, wona, wono statt on, on:i.
ono (er, sie, es); ja selbst jin pj^^ennainen kann man diese Erscheinung
beobachten (so beii»t ein Ort bei i'rag Oischan, aber auch Wolscban).
Ein anderer, nicht uninteressanter Beleg für den scharfen Ge^rensatz
von Schrift- und Umgangssprache ist die allgemeine Anreileforin;
^vy* und ,.[w|ony", soviel wie ^Ihr" und „Sie", hört mau noch
immer nebeneinander; trotzdem die Grammatik „ony" verwirft, ver-
mag sich das „vy^ nur sehr schwer einzubttrgem').
Dem letzteren Moment ist zwar keine Gelegenheit geboten, steh
in der Gaunersprache irgendwie zu äufiem; aber in Verbindung mit
den andern trSgt es vielleicht zur Charakterisierung der Sprache bei
Übrigens hat die deutsche Sprache zwei^ Lehnwörter ans dem
Tschechischen; das eine ist Dolch (tulich), das andere ist das Wort
Halunke, welches auf das tschechische hol^ (nackt) zurttckgefOhrt
wird und ursprünglich zur Bezeichnung eines nackten, in Lumpen
gehüllten Bettlers diente; diese Worte führe ich deshalb hier an. weil
sie Belege für Umformung einerseits und Bedeutungsändening anderer-
seits beim Entlehnen sind. Auch die Gaunersprache bat bekanntlich
derartige Umformungen und Bedeutungsänderungen aufzuweisen, z R.
diene als Beleg einer Metathesis ^tuleriseb" für protestantisch, worin
das Wort ,,lutherisch'' deutlich zum Ausdruck kouniit, oder „ab-
machayen" für „abmachen*', ein geradezu klassisches Beispiel einer
1) Vgl. ÜroiJ iu dit'sciu Arcliiv. U. Bd. Ö. 309.
2) In manchen OymnaBien, namentlich in Österreich, wird bd der Lektüre
Homers auf die Ausspruche dos .-' noch Gewicht gelegt.
3) V. Jheriug, Der Zweck im Itecht (2. Bd . rt. Aufl., \A'\p7.\g IS9«. S 716,
Anmerkuug) erklärt diese Erscheinung aus den Bezieliungen zu den Deutecbeo.
4) Weuigsteus meines Wissens dürften kaum mehr sein.
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TsdiechoslawiBchcs in der Gamienprache.
283
Worterweiterung (Augmentativ, vgl. Freistädter Glossar ^Rosch ab-
machayen" — enthaupten); als Belege für Bedcutungsänderungen
diene der Uinweis auf ^Sehvvimnies'^ (Fiscb), „Jauche'' (Suppe).
Derartige Worte der Gaunersprache stehen zu den Beirriffen, die sie
bezeichnen, inhaltlich in den verschiedensten Beziehungen. Die häu-
figste ist wohl die der frivolen Umdeutung (harniherzige Schwester
= Freimädchen), gemeinsamen Eigenschaft (Jauche = Suppe: tertium
couipiirationis: Flüssigkeit, Feuchte, Nässe), Haupttätigkeit illanimer-
ächlag Schmied), Zweckbestimmung (Wärmling = Ofen), Uniache
und Wirkung (profit über die Achsel machen — Lumpensammeln).
Diesen Enehemuiigen muß mxk bei üntennohung der Frage, inwie-
fern tm fremdes Idiom die Gannerspraebe beeittflolM hat, Bechnnng
getragen werden.
Anf diese Weise fioden wir, daß anfier den bereits er-
wähnten W5rtem noeb folgende Worte der Gaunersprache anf die
tachechisehe Sprache sich znrfiokfQhren lassen:
Bacas, Schafhirte; im Tschechischen bedeutet „bäöa" (c = tsch) [Ober-J
Schäfer.
Baranyi, Lamm; das tschechische „heran" bedeutet Widder; Lamm
bd0t jfberanec^
BMioOf Hahn ; dieses Wort bat Ähnlichkeit mit ,|baiant^ (i — französ. j),
Fasan.
Battnm, Prfigel, Stock. Das tschechische ^batob'^bedentet Prügel, Knflttel.
Ghova, Hand; wohl stammverwandt mit dem tschechischen „chpyati^i
bewahren, anf den HSnden tragen, „cboratel", Bewahrer.
Dess (FH)0} neun; im Tschechischen beißt nenn „derdt**, wihrend
„dcssot*' zehn bedeutet.
Dris (FlI), drei; tschechisch: „tii".
Ducbo, Geist; dasselbe bedeutet das tschechische Wort „dach".
Harr (FH) Berg; vielleicht aus dem tschechischen „hora" (Berg) ent-
standen, wofür auch das gaunerische Wort „horind" (Berg) spricht.
Hazika, Kock; das tschechische „hazuka'^ bedeutet Ifraaenrock, aber
auch Kutte, Münchskleid.
Ilorind (FE), Berge; s. harr (FH).
Hussek, Knabe; im Tschechischen heißt „hus(a)" (Jans.
Jaro, Ei ; im Tschechischen heilit ,jjaro" Frühling (vgl. Ca« i<:, a. a. 0.
S. :m.).
Kleba (FH); Brot; tschechisch: „cbleb, chleba'^, Brot.
1) (Ell) = Gaunerglossar der Freistädter Handsdiiift (henuugcgeben tod
H. Groß in früheren Binden dieses AichivB).
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284
XIV. Loaman
EUdi, Schlüssel; im Tschechischen heißt Schlüssel „kllc".
Koasy, Sense; im Tschechischen „kosa'', Sense.
Krabl, Krael (FH), Kaiser; im TschechiBchen heißt „kräl" Köaig^.
Knno^ Wurm; du tseheoUsdie Wort Jkmi/* bedeutet Hftliniiiff.
Lanka, Wieee; twbeobiaob: ,,loiika (Fluni Inka)'' Wieae.
Maa^ FleiBcb; taebeobiacb : „maao^ Fleiaeb (TgL taiAtf a. a. 0., S. 306>;
damit snaammenblngend nuMengeR», Fleiiober; jedoch im Tsehe-
diiecben beifit Fleischer „«eoifk".
Holiroi Blei; dieses Weil dfixfte dnidi Voraetenng eines M vor dns
tscheobisebe ,^loyo^ das ebenfUls Blei bedeute!^ entstanden sein.
' Mueinaw, ich muß; tscbecbisob: „muslm'S ich muß.
Narodos, Freund ; Stammwort das tschechische „n&rod^ Nation; „niux^
domil", Volksfreund.
Nasado, der Erschlagene; im Tschechischen gibt es eine Bedewendnog^
^oasadati ziva", soviel wie: den Rais wahren.
Nowi, Wahrsager; „novy" (tschechisch) beißt neu.
Olejis, Öl; tschechisch: ..olej'^ Öl.
Ozel, fauler Gauner; tschechisch: „osel". EseL
Pelisi, Gefahr; tschechisch: „pele^", Höhle.
Pachulke'), Knecht, ungebildeter ordinärer Mensch; tschechisch: „pa-
cholek", Knecht
Phubo, Nabel; im Tschechischen heißt Nabel „pupek".
Plamena, Blasebalg; tschechisch: „plamen** oder „plamena", Flamme.
Plasto^ Leinwand; tscheebisch: ^Üino^ Leinwand.
Poro (FH), Kuh; „porod'* (tscbecbiscb), Oebnrt
Prosto, Bauer; tscjiecbisch : „prosto'^, schlechtweg; ,;prosty", gemein, ein-
fach, schlich^ aber anch einfiUtig („verbanert^) (vgl. ttü^f a. a. 0.*
Bäk, G^fer, Spdobel; tscheebisch: i,iak'', Krebs (vgl Öad£, a. a. 0.,
S. 307.).
Trast, Furcht; tschechisch: „trest", Strafe.
Ves, Wald; tschechisch: „ves", Dorf (der Wald heißt les).
Zad (FH), Seite; tschechisch: „z&da", Bücken, Bückseite,
Hinterteil.
Zilah, Kraft; tschechisch: „sfla", Kraft
Sobliefilich sei es gestattet^ ein Verzeichnis von Wörtern hier
anzuschließen, die viel in der Prager Verbrecherwelt gebraucht werden;
1) Schütze in diesem Archiv, 12. Bd. S. 81.
Telel, Tier;
Telentos, Kalb;
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TscfaediOBlawisdies in der €hiiuierq[mche.
886
damit sei keineswegs gesagt, daß sich ihre Anwendung auf Prag he-
schränkt. Da sie jedoch im Grol) sehen Vokabulare nicht aufge-
nommen sind, will ich sie mitteilen und, da die Mehrzahl tschecliisehen
Ursprungs ist, glauhe ich, sie an dieser Stelle mitteilen zu können.
Ba^o, Ziganenstummel.
Chandina, Zündlu'ilzel.
<'inihen (tschiniben^ schreiben.
Fong, Feuer.
Hulit, rauchen; vielleicht mit dem tschechischen „hui" (Stock) verwandt
.Tiskra, Feuer; eigentUch Funke; vgl. „Funke"* und ^fong'*.
Kuia, Dunkelhaft, Fasttag, Disziplinarstrafe,
l^idengero I
Latinger ( Ka^ft»™» Verteidiger.
Motak, ein einem Gefangenen zugeschmuggelter Brief.
<->(II( jt, aufheben j eigentlich ausgießen.
Pakler, Kirche.
Pare^, Kirche; eigentlich „paiez", Baumstumpf.
Pireskerice, Polizeiaufsicht.
Po^ta, eigentlich Post; im Verkehr der Sträflinge versteht man darunter
die Übermittlung eines ao mem (aus dem StiSfliiigskleide heraus-
gerissenen) Faden befestigten und irgendwie (z. B. doioh Speichel)
entsprechend besehwerten ZfindhOlzcbens ans einer höher gelegenen
in eine daninter befindliebe Zelle.
Pur, Feder, soyiel „wie poi^.
Sehellenger 1
Schillinger | Gendarm.
Sfdlo, Speirhaken; dgentUeb Siti, Wohnsitz.
^tliiha, Visite, ZeHeninspektion; im Tsebeehisohen beißt f^tatA*"
stöbern, stirlen. ^
Ves, Wald; gleichbedeutend mit „v€8** (ves wird „wesch" gesprochen).
Zatlonkat, leugnen, die Antwort Terweigem; eigentlich yerBchbigen.
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XV.
Unlautere
MaDipulationen im Geschäfts- und YerkelirslebeD.
BeehtHmüctUcMit Haas B«diiieiek«rt in Mfinohen.
Mit dem Oedanken des Gesetz ^i^ebers, ni<)^'liclist umfassende Ge-
setze zu schaffen, und schädliche Ausschreitunp:en des Geschäfts- und
Verkehrslebens zu verhindern, wctliifern die Gedanken der durch das
Gesetz zunächst Betroffenen, dieses ireschickt zu umg:ehen, sei es, dal»
sie die vom Gesetz gewährten Vorteile üb* r die Maben in Anspruch
nehmen, sei es. duH sie in sfichkundipT Wi isc ihrem Opfer von einer
unt,'eschützten Seite beikommen und sich die j^leichen Vorteile sichern,
dereu Verschaffung bei normalen Verhältnissen mit Strafe gesühnt
würde. Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens und die Überzeugung,
dftß man bei genauer Kenntma Geaetae diese am eihestea unge-
Btcalt zn umgehen yermag, haben Tiel dazu beigetragen, den nner-
erfahrenen oder wenigstena „gesetseannkandigen" Hitmenachen atrafloa
betrogen und aasbeuten zu können. Unter diesen UmstSnden war
der Gesetzgeber schon wiederholt gezwungen, solchen auftauchenden
Neuerungen in der geschäftsmäßigen Hintergehung der Ifitmenscfaen
eneigisch entgegenzutreten , dabd aber erkennend, wie adiwieiig es
oft ist, der Findigkeit und dem Seharfoinne des modernen Betrügers
und Schwindlers Herr zu werden, was aus den mehrfachen Abände-
rungen der in Frage kommenden Gesetze klar ersichtlich ist Es sei
hier erinnert an die Wuchergesetze ($$ 301, 302 R.-St.-G.-B. aus dem
Jahre 1870, 302a bis 3o2d 1. c. aus dem Jahre 1S8(>, § 302e I.e.
aus dem Jahre 18*.)3). Ferner kommt hier in Betracht die Ersetzung
der {^4} "281 bis 283 1. c. über betrügerischen Hankerott durch die neuen
einuehenderen Strafbestimniung«'n der Konkursoninung vom ](). Mai
l'^HS; ferner das <Mst't/,, betreffend die Hcstnifung der Entziehung
elektrischer Arbeit vom 'J, April 1900. Die Wandlungen, nelclie da>
auch hierher gehörige (iesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wett-
bewerbs vom 27. Mai ISIIG noch wird erleben müssen, sind ebenso
sicher, wie unübersehbar. Abgesehen A on dieser nicht erachöpfendeo
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UnUiiitOTe Han^uUtionen Im Gescfa&fts- und Yerkehnleben. 287
Auf Zählung; sei scliliertlicli noch erinnert an die ^roBe Mannii^fultijirkeit
(1er bei der Pieclitsj)rechung zuta;;e p'tretenen Kasuistik des be.
trü«rorisclien (leschäfts- und Verkelirslehens. Der erfinderische (ieist
(l«^r modernen Schwindler, die sicli auf Kosten ihrer unerfahrenen
Mitmensclien den Kampf ums Dasein mö^liclist leiclit zu machen
suchen, läßt sich durch solche ihm weit nachhinkenden Gesetzes-
neuerungen keineswegs entmntigeii. Bis der Gesetzgeber zu der Er-
kenntnis gelangt, daß solche Oeschiftskniffe eigentlich strafbare Be*
trttgereien seien, die aber mangels zntreffender Gesetzesbestimmnngen
nach dem Grundsätze nnlla poena sine lege poenali vorlSufig noch
ungesfihnt bleiben müssen, sind die Geschäftskniffe größtenteils auch
schon so veraltet, so abgebraucht, daß der Lebensk&nstler selbst von
einer weiteren Verwertung Abstand nimmt und nenersonnene Tricks
an seinen Ojifem erprobt. Sind also solche oft nur vorübergehend
auftauchende beträgerisohe Geschäftskniffe nicht durch strafrechtliche
Gesetze zu verfolg:en, auch mit Hdfe der Gesetzgebung: kaum auszn-
rotten, so lälH sich hier nur durch Präventivmaßregeln Abhilfe schaffen,
<lio in erster Linie bezwecken sollen, den liedrohten und unerfahrenen
Laien wie auch den Kriminalisten auf solche moderne Oeseliäftskniffe
aufmerksam zu tnaclien, zumal ja bei näherer T ntorsuchun;; ein ener-
gisches Entiregcntnten oft nützlich sein oder einr untemominene
Ötrafverfolirun«: mitunter Aussicht auf Erfolg haben wird.
Im nu( li>tt li( iulen sei die Sehilderung einiger mir bekannt ge-
wordener unlauterer Geschäftspraktiken gestattet.
1. Ein Schuldner wird auf den Betrag von lOOt) Mk. eingeklagt.
Durch sanen Anwalt Iftßt er den Einwand geltend machen, daß ihm
die Schuld auf ein Jahr gestundet sei. Resultat: Vertagung oder
Beweisbeschluß. Inzwischen klagt ein Freund des Schuldners diesen
vereinbarungsgemäß ebenfalls auf den Betrag von tOOO Hk. em.
Bezfiglich dieser 1000 Mk. wird Versäumnisurteil erwirkt, das nach
14 Tagen rechtskräftig wird. Es erfolgt Ere^fändung auf 1000 Mk.
beim Schuldner. Die berechtigte (erste) Klage wird dem Kläger zu-
gesprochen, worauf Na ch i)fändung unter dem Werte erfolgt
Bei der alsbald stattfindenden Zwangsversteigerung erhält der „Ge-
schäftsfreund" alles, während der berechtigte K läger mit seinem
Ford erungsbet rage durchfällt. Der Freund zahlt nun den „ge-
retteten' Betrag \on looo Mark wieder an den Schuldner zurück.
< üinstigenfalls läl>t sich in diesem Ealle, der übrigens aus der
hiesiurn ( ierichtspraxis stammt, mit Hilfe der Staatsanwaltschaft noch
etwa- ern ieiit n, aber bis man von dem unlauteren Charakter dieser
Mauipulation Kcnntniö erlangt, wird es meistens zu spät sein. ISchliuim
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288
XV. SCUNEICKKKT
wSre es auch ffir den ReobtsaDwalt, der ohne wdtere PrÜfimg der
Sachlage einem solchen betrflgerisohen Voigeben seine Hilfe darbSte.
2. Unter den Tftndlern (TrSdlem) herrscht die eigenartige Ge*
sobliftsnsance, som Zwecke der Emelnng eines anßerordentlioh nie-
drigen Kaufpreises bei amtlichen Versteigemngen von Pfandobjekten
eine Art ^stille Gesellsdiaft" zu gründen, welche auf die ihnen gQn-
stigste Regulierung des niedrigsten und höchsten Angebots bedacht
sind, um nachher den dadurch erzielten Ciewinn untereinander zu ver-
teilen. Diese Geschäftsusance ist unter dem Namen „Kippe machen'"
hier bekannt, wie auch die Einträglichkeit dieser eigennützigen Mani-
pulation bekannt ist, dafi sie aber strafbar ist, wird kaum behauptet
werden können'). Sicher ist nur, daü der gepfändete Schuldner den
Schaden tragen mui^.
3. Ein weiterer Fall aus der hiesigen Geschäftswelt. Ein Allein-
inhaber eines Privatdetektivinstiluts steht seit einiger Zeit unter
Polizeiaufsicht. Dieser weil) nun seiner Nebenstrafe einen ihm
vorteilhaften Wert dadurch beizulegen, dali er in den Gescbäftsem-
pfehlungen sein Institut folgendermafien kennzeichnet: ^"S. N., PriTat-
detektivinstitnt in M., unter direkter Anfsicht der Landes-
polizei''. Ob sich diese Firma mehr zur Eintragung in das Handels-
register als zur üntersagnng durdi die Polizeibehörde eignet, wird
meines Eraohtens nicht schwer zu entscheiden sein.
4. der durch ein Zdtongsinserat eme Wohnung, ein mSbliertes
Zimmer oder dne Hil&kraft für den Haushalt oder das Geecbift
suchte erbittet unter einer in dem Inserat näher bezeichneten Chiffre
postlagernde Offerten. B., der in der gleichen Lage ist wie A,
holt, durch das Inserat aufmerksam gemacht, die eingelaufenen
postlagemden Offertschreiben ab und trifft seine Wahl. Während
B. 80 die Insertionsgebühren erspart hat, ist A. vielleicht um die irün-
stigsten Angebote l)e(rogen. Der Mügliclikeit eines solchen unred-
lichen Vorgebens kann man aber dadurch entgegentreten, dal) man
die erbetenen Offerten bei der Exi)e(liti()n der betreffenden Zeitung
hinterlegen lälU, die ja dem Inserenten in der Regel eine Karte aus-
stellt, deren Besitz allein zur Abholung der hinterlegten Briefe be-
rechtiget. Die PostansLalten werden aber solche N'ergünstigungen nicht
gewahren können, da sie für postlagernde Briefe jede Veraot-
wortung abl^en.
5. Hdchst bedenklich 7om sozialen Standpunkt aus ist das Vor*
gehen gewisser Frauenspersonen, welche die Vorteile unserer neaeo
1) Zi vi 1 rechtlich iet oine derartige Abmach uug, als „gcgeu die guten Sitten
veratofiend" (f 188, Ab«. 1 B.-6.-B.), zwcifelloB niebtig.
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Unlanteie Hairipiilttionen im QeidiUts- und VerkdinlebeiL d89
A Ii ment enge setze in einer höchst gewissenlosen Weise ansnützen
und aus der Erlanfjung: von zahlreichen Alinionton für ihre unehe-
lichen Kinder geradezu ein Gewerbe machen. Ket litsanwalt 11 ose n-
l)erg (Bonn) weist in einem Aufsatze m der „Deutschen Juristen-
Zeitung", Nr. 9 des If. Jahrganges, S. 221, auch auf die schädlichen
Wirkungen des § 1708 des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche
Reich hin und macht auf die Zunahme der Meineide in dem früheren
Geltungsgebiet des Code civil aufmcrksjim. Mit einer merkwürdigen
Gelehrigkeit, sagt Bosen berg a. a. 0., haben sich gewisse Mädchen
die neue Geseteesbestiinmiing zanntze gemacht, womit die Tatsache
im Zuflammenhang stehe, daß für manche Ftenenspeisonen die Auf-
hebung des Art 340 Code dvil geradezu ein Ansporn geworden sei,
sieh einem nnzttchtigen Lebenswandel zu rageben; nach der Theorie
vom kleineren Übel sei daher eine dem Art 340 Oode civil analoge
VoiBchrift den §$ 1708 ff. 6.6.6. unbedingt vorzosiehen.
6. Jedem Kriminalisten dttrfte das einträgliche GeschSit der sogen.
^Engelmacherinnen'* bekannt sein, die gegen ein „entsprechendes**
Nährgeld neugeborene uneheliche Kinder in Pflege nehmen und nach
einiger Zeit der unehelichen Mutter die „traurige m aber selhstverstÄnd-
lich erwartete Nachricht von dem .sanften** Ablel)en des Säuglings
zukomnien lassen. Weniger bekannt wird aber sein, dali dieses Ge-
schäft auch eheliehc Mü(t<T aus den niedii;j'stt'n Volksschichten an
ihren eigenen Kindern l)es(tr^^en. Durch ilire notdürftige Vermögens-
lage sind sie gezwungen, baUl nach der Geburt ilires Säuglings wieder
<lie Arbelt MulM-rhalb des Hauses aufzunehmen, ohne das neugeborene
Kind einer Wärterin gegen Entgelt oder ihren ebenfalls der Arbeit
nachgehenden erwachsenen Kindern überlassen zu können. Ein Tränk-
lein, bereitet ans dem Samen der Mohnköpfe oder ans anderen leicht
zu beschaffenden Schlaf mittehiy bewirkt ebenso einen langanhaltenden
Schlaf des Säuglings, als er auch dessen Tod langsam nnd sicher
herbeifahrt Das angestellte Wehklagen ttber den so erfolgten Tod
des Kindes Ififit den Gedanken an eine absichtliche Wegsohaffnng
des listigen flberzähligen Kindes kaum anfkonmien. Aber anffiüllen
muß es» wenn eine solche Matter, 'die schon einige Kinder groß ge-
zogen hat, keinen ihrer Säuglinge mehr Aber das Sfinglingsalter
hinansbringt Wie schwer wird bei dem langsamen Absterben eines
so ernährten Neugeborenen, der erklärlicherweise jeder ärztlichen
Hilfe entbehren muli, Belastungsmaterial zu sammeln oder eine Be-
strafung der Mutter herbeizuführen sein, weil die Ernährung neu-
geborener Kinder ja nicht überwacht wird und die Dunmdieit und Un-
erfahrenheit der über den Verlust ihres Kindes ganz ^untröstlichen'^
Archiv (iir Kriminalnnthropologie. XI II. 19
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290 X7. Suiutnmuaw, Ualantoe Maaipiilatioiiem im Qeschift» tt. Vefkehraleben.
Mutter jedes Bewußtsein ihrer verbrecherischen Eingriffe ausza-
ßchlielicn scheinen !
7. Ein hiesiger Cafe- und Konditoreibesitzer nützte — es war im
vergangenen Sommer — auf ebenso originelle wie tadelnswerte Weise
menwMdie Schwachen — die liebe und BSfeisacht — za seinem Vor-
teil aofly ind^ er programmftßig anonyme Briefe an junge Ehegatten
aebrieb, worin ein |,aDfriobtiger Mensohenfreond^ im Veriianen den
■ einen Ehegatten vor der Trenlorigkeit des anderen warnte; um sieb
davon llberzengen m können, müsae er nur an gewissen Tagen in das
näher bezeichnete Gafö kommen. Der Stundenplan war gut eingetdhi
damit es keine Kollisionea gftbe. Es soll, wie hiesige Blätter mitteilten,
in jenes sonst so vereinsamte C&U bald reges Leben eingezogen sein.
Daß bei dem vergeblichen^ langen Warten nicht* wraig ventehrt werden
mußte, hatte sich der schlaue Geschäftsmann schon ausgerechnet.
Auch ließ er es nicht an weiteren anonymen Ermunterun^sschreib«!
an die bisher veri;el)lic)i wartende Ehehälfte fehlen, einmal müsse sie ja
doch dahinter kiminien. Da sali eines Ta^es ein Herr in jenem Cafö
sinnend vor Heineiu anonymen P>rief, und das pal) seinem Nachbarn —
nach den Grundsätzen der Ideenassoziation — Veranlassung sein ^ähn-
liches" Geheimnis preiszup'ben. Aufkh'irunir fol^^te auf Aufklärung;,
und gar bald erkannte der findige Geschäftsmana den tiefen Ernst des
„Grubengrabens".
Damit sei für diesmal die An&Shhmg und Schilderung bemer-
kenswerter unlauterer llampulationen abgeseblossen. Es erübrigt mir
nur noeh der Hinweis auf weitere hierher gehörige, aber schon ander-
weitig besproohene unlautere Cteaebaftakniffe^ s. B. bei der gesohäfts-
mäßigen Ausübung des Gedankenlesens, des Spiritismus (Arehiy XII,
343 ff.)} heim Baritäten- und Kunstaaohenbelrug (Groß* Hdboh. 1 U. E
S. 729 ff.), bei Fälschungen von Urkunden, Legitimationspapieren und
behördlichen Stempeln (Archiv I, 26 ff., VIII, iff., XII, 175ff), bei
flÜSchungen von Waren und alten Waffen (Archiv I, 183 ff., VII, ift).
beim Spielbetru«,^ (Groß' Handbuch f. U.-&. & 722), beim Herdebetmg
(ebenda S. 70aff.).
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Kleinere MltteüimgeE.
Von P. Näcke.
1.
H clierzigenswerte Worte eines Ver}»esspn on. In dorn soeben
erscliienenen, <iu8f;ezeiclmeten, und für Juristen. Mediziner und l'svolmlo^'en
gleich wicliUgen (V.) Jahrbuche für sexuelle Zwischenatofen usw. (Spohr,
Ldpsigr 1908) hat Profenor Karseh gans eingehend das Leben des sonst
^anz unbekannten Handelsmanns nnd Potzmachers Heinrich Hössli aus
(Manis (17S1 — ISdl) «rpfroben. Dei-seMie war walirscheinlicli f'in Homo-
sexueller, Autodidakt und schrieb ein zweibändiges, hervorragendes Werk : Eros,
worin er als erster der Nenseit die Homosexnalitit verteidigt. Daraus
werden nun viele Proben gegeben, die z. T. wirklich großartig sind, besonders
wenn man ilir (laniaiige Zoit und den emfacben Verfasser bedenkt. Einige
Stellen daraus iiiiitrcn zu Nutz und Frommen der Leacr liifrin l'latz fiiiden
und sie geuialiueu uns immer wieder von neuem, auf neue Ideen nicht zu
stolz sein, da sie nnr zu hinfig sich schon frahw vorfanden. Nidits fOhrt
mehr zur Tieseheidenhttt, als das Studium der aOgemeinen — and der
alten Fachlitoratnr. Hören wir .dso jetzt unseren alten Hössli'):
„Wir stehen uns licim Sudien itnnior selbst ini Wejre!" — Es gibt
einen religiösen, einen politischen, einen bittUcheu Fauiitismus. — Wir liegen
errt in den Wehen fttr wahrhaft menschliche Sitten nnd Gesetze. — Ge-
setze ohne Wissensdiaft sind Henker «dmo Obrigkeit. — Wir sind vielleicht
zn uriheidniseli , um finznsclien , dal', wir kein einziges I-^ter weniger als
die Heiden haben. — Im t>anien, im K< rn, im Embryo ist der ganze Mensch;
wir können nichts in solchen hineinbringen, nur sich entwickeki lassen das
In Ihm VefsehloBBene, nnd wenn schon viel, das hi flun ist, zur Verkrttpplnng
nötigen, ersticken und nicht aufleben lassen, es dodi nicht tilgen. — Es ist
in unserer nnd jeder Zeit nicht genug das, was wahr, was recht, was schön
ist, zu studieren, man muß auch, es ist noch wichtiger, das, was unrecht,
was TTnwahriieit, was befleckt nnd entstellt ist, erforsdien, entbQllen wollen^
nm eine beasm Menschheit sn werden. — Weder übersehen, noch ver-
achten, weder entstellen, noch verdammen soll der Mensch etwas an seiner
Schöpfung — nur kennen, leiten, erziehen und dahin stellen, wo seine
Endzwecke sichtbai- werden können. Nur der Wahnmensch sagt zum
Bmder: das ist nicht deine Natur, weil sie die meoie nicht ist, Sllnde ist die
denuge, wefl sie meme nicht ist . . . — Der Gesetzgeber mnß jede vor-
1) Aus seinem Werke: Eros, und im Jahrbuche auf S. 516 ss. stehend.
19*
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292
Kleinere Mittciluugen.
handene wirkJicbe Natnr, die der GeseUschaft g^lhrlicbe Handlongw be*
^elien kfinnto. wissen, beachten, (Inrolischauen, unter das Gesetz stellen; aber
da« Gesetz darf nicht den Menschen auflieben , darf nicht I0{?en und darf
keiue Naturerscliemung als Niclttnatur erklären, um sie verfolgen zu
können .... — Wer ein mit Bhit gefftrbtee Sjunenkom anf den Bmeh-
feldent lies Guten aufer>\eckt, der arbeitet im Garten und Vertram n (i itti-s
an der Menschheit. — Der wahrhaft erleuchtete Mensch aber denkt und
fühlt für alles Gefühl, für .dies liecht, für alle Wahrheit, für jedes (Ge-
schöpf, der blinde liulbuieasch nur für sich selbst. — Die Erfoi-schuug der
meoMlilidien Natur ist flberall eb ebenso heiliges als verfolgtes Werk. —
Der Griechen Behandlung der Mfinneiliebe erOfbiet den mSnneriiebenden
Naturen ebenso ein sittliches Ileilifrtnm — vne sie und wir in der Ehe
fUr die Liebe der beiden Gescldechter eines ei'öffnet haben. — Natur-
wnrzeln haben alle Verbrechen; Gut und Habe besitzen wollen ist Natur,
Zoni und Badie sind Natnr, in der awdgesehleditiiehen liebe sind die
Wurzeln zahlloser Verbreclien und zaldloser Tugenden und großen Hand-
lungen . . . Der Lasterhafteste kann die Frauen und der 'J'n^cndhafteste
die Männer lieben. Die Erde^ die Geschichte ist dieser Erweise voll \ keine
liebe ist an sieh Tagend oder Lastw, so wenig als Wollen und SeDiBibe-
stimnumg , »
Der angebliche Infantilismus, das geringere Gehirnge-
wicht und die gerinj^erc somatische Variabilität des Weibes.
Nachdem M öl) i US, den ich vei*schiedener Analojrien halher den ^deutschen
Lombrusü' nennen mödite, was sicherlich nur ein zweifelhafter Elirentitel
ist, das Sdilagwort des „ physiologischen SfharfBmnB** des Weibes in die
Menge geworfen und in unkritischen Köpfen damit viel UnbeQ angeriehtrt
hat, nachdem ferner Lombroso niclit aufhört von der gerinj;eren anato-
mischen Variatiunsfähi},'^keit der Frau j^'c^enüber dem Manne zu reden, folg-
lich von ihrer geiingereu Zahl vuu Entartungszeicheu, obgleich ich dies,
auf Qnind genaner üntersnehungen entschieden bestritt*), hat soeben der
nngftmrfn luitlsclie und genaue Anthropologe Giuffrida-Ruggeri m
diesen zwei wichtif^en Dingen djis Wort ergriffen, freilicli in einer Arbeit,
die einen andern Zweck verfolgt-). Nach ilim ist die Frau anatomisch
durdiaus niclit mfantiler gebaut, als der Mann. Das Himgewicht der Er-
wadisenen ist freilidi relativ gering«* als das des Mannes gMeher GrOße; das
hängt aber von ihrer gerinj^cren Tätigkeit ab, welche wledenim durch eine
geringere Masse von Muskeln und Knociien bedingt ist und folf^lich dui"cli
die ihnen vorstehenden trophischen und muskulösen Hirnzentren. Das Him-
gewicht' ist, im Mittel, 12,3 IVos. kleiner ab das des Mannes, dafttr aber
die Muskeln nnd die Knocben un 30 Fh>B. Nadi den geoaneD Daten
1) NScke, Untcrsnchunfj von 16 Frauenschädeln, danmtcr sokfae VOO
12 Verbrecherinnen usw. Archiv f. IVvcliiarrie. tSO.S. 2ö. Bd. Heft 1.
2) Giuffridu-iiuggeri, Cousiderazioni autrupologiclic sull' iuluntiliümo e
condosioni rehttive all' origine delle varietä mnane. Kwidtwe Zoologioo Kaliano,
anno XIV. 1908. No. 4—5.
2.
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Kl6io6ira HitteiliiBgQD.
293
von Urnen ist das S t i rnli i i n der Frau relativ grRßer als das des
Muuueä, dalier die seokreclite Stuu mit deu vorstehenden Stii'uböckeru. Das
geringere Gewidit deB Seitenlappens — eotqtrediaid dtf geringeran Hmkel-
ontA\ icklun<; - erzeugt den weniger hohen und mehr platten SefaideL
Endlich der relativ jrrölM're Iliuterhauptlappen und das Kleinhirn machen
das Hinterhaupt vorspringender. Was sagen nun Möbius usw. dazu, daß
das Vorderhim der Frau gröl&er ist, wo man doch weiii, daß dies beim
«genflidieii Deokoi wahnchdnlieh am meieten betoligt ist? Wuhwehem»
lieh sind auch die Nervenf:isem bei der Frau feiner. Wenn also bisher
die geistigen und künstlerischen Leistungen der Frau siclier hinter denen
der Männer zurückstehen, so ist das anders zu ei'kiären, als Möbius will,
leb gehe hier meht idQier danmf tan. Hervorheben wollte idi nur, daß olnger
Umstuid aleo anatomiBA aeher nicht begründet ist Bezflglieh der immer
angeführten geringeren anatomischen Variationsfälligkeit des Wdbes, so be«
streiten dies entschieden viele, z. Ii, Pearson, Oiuffrida und sogar
Frassetto — ein Anhänger LombrososI — findet den ächädei bei der Frau
variabler ak beim Manne. Nodi mehr tritt dafOr Manovrrier ein >). Der
Schiuli, den auch ( • i uf f rida zieht, ist der, daß folgüdi die Frau auch mehr
Stigmata aufweisen muH, als der Mann, nicht weniger (was
Gin ff rida milde eine ,,ungenaue Behauptung'* nennt). Wenn ich selbst,
wie gesagt, bei meiueu Untei-suuliungcu hier uiclit mein- Stigmata, als bei
den HSnneni fand, so doch nidit weniger« Nor sind aie^ dem graafleren
Körperbau entsprechend, weoiger liervortretend als dwk Ginffrida macht
endlich ininicr wieder von neuem darauf aufmerksam, wie vorsichtig
man mit dem Worte: Kückschlag und Inf anti lisnius sein muiJ.
Vieles ist nur Schein, wofür Giuffrida Beispiele gibt Diese vorzügliche
Arbeit von Ginf frida wird aber sieher ebensowenig Lombroso ond sraie
Schule beeinfhissen , N\ie die anderen von Manovrrier, Pearson osw.
Theorie-Fanatiker sind eben nicht zu belehren!
3.
Voruntersuchung in Abyssinien. In einem interessanten Artikel
erfüllt der itaUenisdie Arzt de Gastro daß zum Auffinden von Dieben,
ganz jungen Männern, die nodi kein Weib berflhrten, ans besonderai
Famihen, hypnotische Getränke verabreicht werden: Im somnambolen Zn-
stande laufen sie nun herum, bis an den Ort des Verbrechens, ahmen die
Gesten des Täters bei der Tat nach und bezeichnen ihn dem lUcliter, der
sofort die Strafe eintreten läßt. Man nennt sie: lieba-sda — IKebssncher.
Das ist aber nicht etwa ein Gottesurteil, da solches in Abyssinien nicht
existiert. Es handelt sich vielmehr um eine «Pharmakotherapie" des Ver-
brechens, wie \'erfasser es nennt. Merkwürdig ist auch die Sitte^ daß ein
1) Den Lombroso nur einen „uülUigcu''i Anthropologen nennt, er, der ihm
weder an Kritik noch an Ctenanigfcdt der ünteiwidrangen die Schohrianoi
lösen konnte I
2) De r.istro, Malati, medid e tniffatori in Abisainia. Archivio di
psychiatria etc. 19U3. p. 351.
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KlebMTO HitteUangciL
Verbrecber, wenn es ihm gelingt, in eine Kirche ein/.utreten and die Qlocke
ertODen zu lassen, gesichert kt, so lange er im Beiligtum weilt Beim Ver-
lassen desselben gdit aflerffings adn Aaylreeht verioren. Yei^iiftarngBlkne
sind Hiebt aelten.
4.
Spiritistischer Schwindel. Das famose „Blumenmedium Kothe"
ist gründlich abgeführt und für einige Zeit unsdiädlich gemacht worden.
Damit hat aber natfirßch der Olanbe an den Spiritiamna keinen Todeaatoß
erhalten. Eher das Gegoitdl! Die amie Rothe ist eine 3färtyrerin geworden!
Der Fanatismus der spiritistischen (icmoiiHlo ist so £?ron, dal* nichts ihr
Dogma erschüttert Sogar bei Gebildeten und Gelehrten, und das ist das
IVanrige! Kehrt dodi z. B. regelmäßig in Lombroao'a „Ardiivio £
pndiiatria etc.'' eine Kubrik: ,,il medianismo'^ wieder, wo haarsträubende
Din-re nis ahsohit sidiortrestellto Tatsachen fjcfrohen werden. Wie es aber
tiamil hcschaffen ist, lial wiederum neulich Moll') klassisch nachgewiesen.
Seit wenigstens 11 Jahren spukt in Italien eine gcfälirliches Individuum,
eine gewisse fVan Enaapia Palladino herum; gefährlicli, wdl aie bereits
einen groCen Teil des italienischen Adels und eine lleilie ereter Gelehrter
ZQ flliinbigen bekehrt lint. Dal\ oberflächliche Bc(il)aclitor, wie Lombroso,
der immer mehr zu einer %v issenscliaftliclien ,.<|iiantite negügcable*' herab-
sinkt, zuerst darauf hineinfallen, versteht sich von selbst. Moll hat nun
nadi ^genem Angehauen ihren Hanpttridc anfgedeekt, der darin besteht, ihre
unter Kontrolle stehenden Hände und Füße durch geschickte Ablenkung
der Aufmerksamkeit in der Dunkelheit zu liefrcien und damit in bekannter
Weise zu „arbeiten". Moll macht wohl die richtige Bemerkung, dal) zur Ent-
larvung solchen Schwindels Gelehrte, wie Psychater, Naturwissenschaftler usw.,
nieht die geeigneten Antorititen amd, sondern nnr die Tnaehenapieler,
bei denen ja die Ven^'ertung der Ablenkung der Aufmerksamkeit oft w icb-
tiger ist. als die Fingerfertigkeit. Auch die folgenden Sfitze von Moll sind
nnr gutzubeil.'en : „Es ist ja gar nichts dagegen zu sagen, wenn jemand an
Gdster oder an eine beaondare psychiadie Kraft ^lanben wül, daa iat
Glaubenssache, wie eon Dogma. Nur soll man hier nicht das Wort Wiaaen-
schaft brauchen, man soll nicht Dinge für wissenschaftlich bewiesen hin-
stellen, solange man nicht unter zwingenden Beobachtungen beob.achtet . . .
blieb für mich als Wunder nur eines übrig, nämlich der Um-
stand, daß große Gelehrte solch frechen, dnrehaichtigen
Sehwindel auf unbekannte Kraft zurückführen'^. Das sieht man
auch an ernsteren Celehrten. wie Lombroso ist, z. B. Dttolenglii, dessen
neues IJuch: „J.a suggestione c le facultfi psicliiolie occulte etc." Lom-
broso in seinem Archive (4. lieft S. 505j uublülirlich bespricht. Er glaubt
an Gedankenftbertragungen. Seine Beweiae scheinen nadi dem R^erat
keine stringenden zu sein. Bisher sind selbst die Aufsehen erregenden
Experimente von T{ i dt c t selir angezweifelt worden. 0 1 1 ol en gh i glaubt an
das, wenn auch nur selt« ne Vorkommen, von „Ahnungen** und ^Hellsehen".
Bisher hat noch kein einziger Fall aber einer strengen Kritik standge-
1) Moll, Das »Medium*' Eusapia PaUadino. Dratsche med. Wochenschr.
1903. Nr. 29.
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Kleinere IDtteilimgan.
296
halten. Ottoion frlii erlaubt fornor an ^Exteriorisation"' von Empfinilunsren
und Bewegungen; ebenfalls wiasenscbaftlidi noch nicht bewiesene Dinge.
Auch soll eB nintellektaelle medlaiiiBliBdie PhlnomcDe* geben, wonadi s. B.
Kinder von 5 Monaten schraibeo kOnnen, oder eine Person stenograpliiwen,
die ee nicht gelerat hatte! „Da Boll mir doch einer einen Stordi braten."
wird der Horliner mit Hecht saj^en! Ottolenfrhi behauptet weiter, dal')
durch krituiuelle Suggeetionea sogar Ehrliche (quasi onesti), besonders wenn
[rie Bomnambnl, hysteriseh oder epileptisch sint^ Verbrechen begeh«! kftnnen.
Bisher ist aber noch nie ein wirklicher Fall Yon snggerieiten Verbrectien
publiziert worden, alles sin«l nur I^aboratoriumsversuche gewesen ! Man sieht
also auch, wjiö man von Ottolen^'hi zu halten hat, den freilieh i^oru-
broso auf den Sdiild hebt, da er einer seiner strengsten Anhänger ist,
was aehon von vornherein deaaen Kiitikahigkeit in TerdSefatigem Liäte er>
aoheinen lassen mnß.
5.
Schreckliche Folgen eines fanatischen Kurpf uschertums.
In einer Notiz der Archives d*anthropologie erfminelle nsw., 1903. 8. 524,
lese ich soeben, daß in Appleton (Staat Wisconsin) ein Kurpfnaoher nnd
entscliiedener Impfge^rner die Harmlosigkeit des I'ockenjriftes demonstrieren
wollte und zu diesem Zwecke sich die Hände mit solchem beschmierte und
SO während 8 Tage von Stadt zu Stadt zog. Die Folge war der Aus-
bmch einer heftigen Pocken-Epidemie in der ganxen ümgegend. Die darflber
mit Recht aufgebrachte Menge wollte den Elenden lynchen, fand ihn aber
nicht zu Hause, verbrannte sein Haus und zerstörte das Mobiliar. Schon
neulich in einer kleinen Mitteilung; über ..F'anatismu.s"' iiabe ich auf das Ge-
fährliche des Fanatismus in jeglicher Gestalt hingewiesen. Zu den gefälir-
liehaten gehören natttitteh die Knipfnaehw, die freiHeh wahrsdieinlich nur
zum gerinp^ten Teile, wie z. B. im obigen Falle, edite Fanatiker sind.
Meist nämlich sind es ganz ^•■eineine Schwindler. Ebenso gefährlich ist aber
auch der Fanatismus des i'ublikums fär irgendeine angeblich sichere Heil-
methode. Niemand wird je erfahren, wie viel ungezälilte Opfer das Kneipp-
verfohren in nnd Mifieriialb WOiriahofen, wte viele Vegetarianer, Lah-
mannianer usw. sich so selbst zu Tode kuriert haben oder kuriert haben
lassen. Alle Warnungen sind aber leider in den Wind gesprochen und
jedes Volk wird zu jeder Zeit seine Fanatiker haben (resp.
Sehwindler), die die andern verfuhren oder deh verfuhren lassen. Die
Menge von Schwindel und Fanatismus wird wahrseheinlieh,
gerade so wie von Verbrechen im allgemeinen, sich gleich
bleiben, nur dalJ die Art und Weise wechseltl Djis 18. Jahr-
hundert hatte einen Cagliostro, das 19. eine Spitzeder und jetzt im
20. erleben wir eben die Tragikomödie der „großen*' Therese.
6.
Ein amerikanischer Blaubart Nach einer Mitteilung in den
Arehives d'anthropologie criminelle etc., 1903 S. 527, ist ein gewisser Alfied
Knapp in Amerika einer lieihe von Mordtaten an Mädchen nnd seinen beiden
Fraaen angeklagt und zum Tode verurteilt worden. Mit gröüter liuhe und
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Kleinere MittuiluuKeu*
sdieiifilichem Cynisiniui gab er aUes zn und beaehrieb genan die Alt und Wdae,
wie er beim Erwürgen mit seinen Händen vorpng, rühmte sich hierbei
speziell seiner besonderen (Teschicklichkeit und erklärte vor dem (Je-
schworeneu: „Ich versichere iSie, daü ich nicht weiii; warum idi diese
FVaneo getötet habe; Uik hatte keiDen Gnmd ea an ton, aber eine nnwlder*
atdifidie Haeht trieb midi, aie an erwür^^en, und ich konnte dieser Ver-
suchung,' nicht ^^ideretehen." Aus der Notiz geht nicht hervor, ob irgend-
ein sexuelles Moment vorlag. \*on irgendwelchen Körperverletzungen :i la
Jack the ripper wird nicht berichtet, aucli nicht von Ausübung des Bei-
schlafB. Dagegen spricht ediOD, daß aeine swei FVaaen, gegen die er gar
nichts hatte, ihm gleiclifalls zum Opfer fielen. Verdächtig ist nur, dalJ es
sirli um das andere ({eschleclit handelte und teilweise wm Mädchen. Eß
möclite also doch vielleicht, wenn auch nur im UnterbewulUseiii. eine geschlecht-
liche Kegung mit im Spiele sein. Auf alle Fälle hätte das Individuum genau
pqrdiiaMMh nntenndit werden aoUoi. Hier olme weiterea eine „Hordmono-
manie'^ anzunehmen, ist sehr bedenklicli, da ein einzeln dastehender Trieb
zum Tött ii 1. sehr selten ist, 2. noch seltener zur Ausführung kommt, also
meLst unterdrückt werden kann, und 3. sich wohl nur bei Entarteten oder
Geisteskranken finden dttrfte.
7.
Vorsicht bei Hyp<itlicsen. In meiner kürzlichen Hesprechun^r des
Woltmanuschen Huches iilit r politisr-ln' Antlirojioloirie (diese Ztschr. 12. Bd.
8. 346) habe icli wieder von neuem darauf aufmerksam gemacht, wie man in
der Wiaaenaehaft ▼orrichtig in der Behandlung der Hx'potfaeeen aein mnß^ wedhe
freüieh stets einen groOen henrialiaehen Wert lia])cn werden. Sobald
dieser Notbehelf in den ITHnden des Forschers als echte,
wahre Münze behandelt wird, ist es um die Wi.ssenschaftlicli-
keit getan! Das zeigt sich nameuthcii bei allen Theorie- Fanatikern ä la
LombroBO, Wileer, Ammon naw. Die letzteren wissen angeblieh
gaoa genau, daß der Eddtypos de,s Menschen nur der Langkopf ist, und
hier wieder nur der Germane, da (5 der Arier nur im Norden Europas ent-
stand, die alten Schädel dort direkte \' orfahren der alten Germanen sind usw.
Ffir sie ist Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ohne weiterea Wahr-
heit und immer tiefer veiierai aie aieh in FhantaatereieB. Deahalb iat ea
gut, wenn sie von Zeit zu Zeit eine gehöri^.'^c Lektion erhalten, die bei
ihnen allerdings nicht lange anhält. S<i hatte auf dem letzten Anthro-
pologen-Kongresse zu Wonns (iyu3) Wils er bezüglich alter Schädel ge-
naue EinteOnngen gemacht, wobei er allerdings glftnaend abfiel* Der Ana-
tom und Anthropolog Klaatach, der immer mehr zu einer der enrten
Größen auf diesem Gebiete auasuwachsen scheint, erklärte sicli sehr ener-
gisch, zugleidi im Namen der andern, gegen eine solche Art, Wissenschaft
zu treiben. Eine gröUere und verdientere Niederlage eines Gelehrten kann
man aieh kaum denken! Kurz voiher hatte der berttfamfte Ranke erkiiri^
daß schon die alten German« ii • ine Mischraaae geweaen aden und die jetaigeu
Schweden nach den neuesten 1 lUtersuchungcti nur zu 10 IVoz. den gernin
nischen Typus darböten; alles llmständo. die einige viclireliebte Theten
Wilsers und anderer Kassenfanatikcr wescniUch einschränken mußten.
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XVL
Das Leben der Waiideraniieii.
Von
Hans Ostwald, Groli-Lichtcrfelde.
Wenn yon einer Beseitignng der Wanderbettelei die Bede ist, so
wird tnent eben naeh den Ursaeben der £nebeimuig gefragt werden
mflsBen; denn nur, wer ibre ürsaeben kennt, wird Ue erfolgreicb be-
kämpfen und beseitigen können, das aber dürfte wohl jeder Krimi-
nalist, jeder Soziologe und Volks Wirtschaftler schon eingesehen haben,
daß die Wanderbettelei nicbt allein mit dem Trieb zur Faulheit zu-
sammenhängt, daU ihr zn verecbiedenen Zeiten ganz venebiedener
Umfang, auch ganz verschiedene TTrsachcn haben muß.
Auf der Landstraße finden wir vor allem den Menschen, der in
seinem Gewerbe Schiffbruch gelitten. Heutzutage kann so ein Un-
glücklicher in ein anderes Gewerbe übergehen, wenn das andere Ge-
Anmerkanf des HeranBir^bers. loh ^nbe, daß der vonteheiide
AufiMts in die so überaus wichtige Fnge der Vagnbundn^e mehr Klärung
briiifrou Mrird, als viole tliooretische Kntrtcntntren , da "Icr Herr Vrrfassor die
Sache aus eigener AnHchuuung kennt Wir Krimiuaiiäteu sprechen leider über
•0 vieles, was wir nur ans der Schilderung anderer kennen, und mOasen der
Natur der Sache nach wohl so vwgehm; whnd niia aber Gelegenheit geboten,
eine uns wichtige Ere>cheinung von einem verläßlichen Mann geschildert zu be-
kommen, der sie aus eigener Wahrnehmung Itennt, so nehmen wir dies dankbar
entgegen.
Der Berr Verfasser Ist nach seinen dgenen Mitteilungen der Sohn einee
unbemittelten Berliner Schmiedes, erlernte das Goldschmiedhandwerk, aibeltete
einige Jahre in Berlin und wtinle arbeitslos». Dieser Tiiistand und der Drang,
die Welt zu sehen, trieb ilin auf die Wanderschaft. Als «anner Reisender" sah
er Deutschland, bekuui ub und zu Arbeit, handelte mit Guldsachen, lebte als
Statist, als Reporter und wieder als „Reisender*^. Was er sah und erlebte,
notierte w und wurde nach und nach Schriftsteller, heute schon von bekanntem
Namen. Als s(»|{lier lebt er heute in firoß I.ichterfelde bei Berlin, allf .Taliro
drängt es ihn aber wie<Ier, wenigstens für einige Wochen — auf die Liandbtraljet
Seinen Stoff kennt er also. H. Groß.
AieUv fSr KriBiBalutbrapoloal*. Zill. 20
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298
XVI. Ostwald
werbe nocli aufnaliiiu'fiilii|; ist und ihn \ t-rwritni kann. Kann es ihn
aber nicht verwerten, vermag er die ^'efordt rhu 'I>eistun^en nicbt zu
erfüllen, ist das Cicwerbe mit Arheit.skiiiften reichlich versehen —
dann gibt es für ihn nichts weiter als die Landstraße.
Das gilt besonders von jenen alten oder alleinstehenden, anfier-
dem Ton den teohniach oder sittlich, also etwa in pnnkto Alkohol
schwächeren Lenten. Arbeitsonfähig und sie zwar nicht Aber sie
werden doch snerst entlassen, sobald die Bestellnngen sich Termindeni.
Eigentlich dienten sie ja nur als Notbehelt Annenreohtliche Unter-
statznng erhalten sie nicht^ da sie ja noch bis zu einem gewissen
Grade leistnngsfiUiig sind. Kredit genießen sie meist nicht — oder
nur in ganz beschrftnktem Maße. Sie können also nicht am Orte
bleiben. Sie müssen schleunigst einen anderen Platz aufsuche an
dem sie vielleicht noch gebraucht werden können. Da sie von vorne-
herein mittellos waren oder es bald geworden sind, bleibt diesen Ele-
menten bald nichts als die I^ndstraße und das Betteln von Tür zu Tür.
Zu diesen Repnientern von Seliiildlosen stoßen jene, die nicht
am Orte bleiben wollen, weil sie sieh nicht in Schulden ven^pinnen
möchten - selbst wenn sie die Aussieht haben, später wieder in Arbeit
zu kommen. Aber sie ^n licn liclx r hinaus in Wind und Wetter, leben
heute gut, hunjucrn niorpn, .schlafen in ekriliaftcn Betten, in Ställen,
mal auch in den besseren Herbergen zur Ileiniut, .Alt hen immer unter
strenger polizeilicher Kontrolle — bleiben aber dafür frei von allen
Verpflichtungen, die jeden, der im Orte geblieben und auf Kredit Ihs
zum Wiederbeginn der Arbeit gelebt hat, wie eine Domenhecke um-
geben, ihm ein Aufsteigen, eine Zuknnft versperren und ihn nicbt
seines gegenwärtigeni arbeitsreichen Lebens froh werden lassen.
Diese Art von Wanderzwang ist in industriellen und auch in
handwerkerlichen Berufen vorhanden. Neben ihm wirkt noch ein
idedler Wanderzwang: die Notwendigkeit, daß der Arbeiter in andern
Stfidten, an andern Orten seinen Beruf vervollkommne und außerdem
M incni Rildungsdrange, dem er oft ;renng nur durcb Veränderung
des Aufenthaltsortes genügen kann, Nahrung zuführe. Zum ideellen
Wanderzwang gehört auch jenes durcb Streikes hervorgerufene Wan-
dern, das meist von jungen Leuten geübt wird, die auf diese Weise
den Ort der Streiks entlasten wollen. Man mag darüber denken wie
man will. Jedenfalls: das Aufgelx n des Arbeitsortes hat bei der heu-
tigen Uige des Arbeitsniarkles imnu r » twas Ilrroisclics au sich. Das
wenigstens sollte denen zugute gereeiiiiet wciih ii, die zugunsten ihrer
Kameraden, zugunsten der Lebenshaltung des Volkes, ins Ungewisse
hinaubwanderten oder noch hinausvvanderu werden.
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Das Leben der Wandenrmeii.
299
Wie weit außerhalb dieser ideellen Notw( iKli<;keiteD die Lage
des Arbeitsmarktes zu den verschiedenen Jahreszeiten, ganz unab-
häniriir von den großen Krisen, die arbeitende Bevülkerunir zum Wan-
dern nütij^t, zeipt eine Statistik, die in den Jaliren 18i>5 und 1S96
in dem oberbadiscben Gebiet der VerpCleguogsstatioaeji aufgenommen
worden ist.
t'her das Wandern der einzelnen Gruppen zu den verschiedenen
Jahreszeiten wird angegeben.
Die Schlosser, Mechaniker u. dgl. (im weiteren Sinne wohl
„Fabrikarbeiter^) sind das ganze Jahr hindurch sehr zahlreioh auf der
Wanderschaft; im Monat Jnni sogar 17,5 Pros, aller Wanderer; auch
die eigentlichen Fabrikarbeiter haben eine starke Frequenz, die im
Februar und MSrz 9,4 Pros, erreiebt^ dagegen im Dezember auf 4,1 Proz.
hecabsinkt Die Bicker, HflUer und Konditoren sind in den Monaten
März bis Juli am zahlreichsten (bis zu 10,7 Proz.) yertreten und nur
im Januar und September ist ein merklicher Rückgang zu konsta-
tieren. Die Schreiner und Glaser steigen im September auf 10,5 Proz.,
während im Dezember, Januar und April der Prozentsatz etwa die
Hälfte hiervon beträgt Interessant ist die Beteiligung der Schneider,
die in der flauen Zeit, im Monat August, bis auf 13,3 Proz. anwächst,
während sie im Dezember, April und Mai wenig über 3 Proz. aus-
macht Küfer und Bierbrauer sind am wenigsten vertreten im August
mit 2,4 l'ru/.., am stärksten im März mit Proz. Das Baubandwerk,
Maurer, Zimmcrleute und Stt inhauer, sind in der Saison von März
bis Dezember nur ganz schwach vertreten, oft nicht einmal mit 1 Proz.,
und nur von DezemlxT bis März wächst ihre Zald bis zu 9 Proz.,
solange eben die Arbeit ruht. Ebenso beinerkcii.swert ist die ^ietei-
ligung der Knechte und Tagelöhner; bis zur Winterszeit machen solche
7—8 Proz. ans, dagegen von Mai bis Dezember kaum 3 Proz., im
Juni und Juli sogar nur Proz. Die Maler sind im Dezember mit
8,5 Proz, vertreten, dagegen im April, Mai und Juni nicht einmal mit
V* Proz.
Diese Statistik zeigt deutlich, wie eng das Wandern mit dem
Angebot oder dem AufhQren der Arbeitsgelegenheit zusammenhängt;
zugleich deutet sie an, dal) die Landstraßen im Winter viel mehr von
wanderndem Volk belaufen werden, als im SommiT. Es ist ein
schwerer Irrtum, anzunehmen, dali die wandernde Bevölkerung im
Winter ohne Ausnahme zur Großstadt walzt, um dort sirli s in Asylen
und W ärmehallen wohl sein zu lassen. Die Statistiken der Verpfleg-
stationen und der Herbergen malen ein ganz ander Bihl. Die Her-
bergen webseu m den Wintermonaten stets cme höhere Zalil von
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800
XVL OSTWAIO
.Schlafnächten auf. Das kann nicht nur daran lieg:en, dali die Iler-
berp-n der Grolistädte überfüllt sind, während die" Herberten der
Kleinstädte leer stehen. In Wirklichkeit sind die Provinzherbergen
im Winter ebenfalls stark in Anspruch genommen. Und wenn auch
im Juni, in wannen Sommertagen, maocb ein Walzbruder „plattmacht^,
im Freien nfiebtigt, wenn auch dieser und jener das Sohlafgeld in
der Heiberge spart — es bleibt doeh die Tatsaebe bestehen, daß im
Winter außer großstidtischen Asylen nnd WSnnehallen aneh die klein*
stftdtiBchen nnd ttndlicben Verpflegongsstationen nnd sonstigen be-
böidliehen UnteiknnfiaBtellen draußen in der ProTinx beeondera staik
in Anspraeh g«nomm«at werden.
Im Winter müssen eben viele Betriebe feiern, die an das Wetter
gebunden sind. Aber nicht nur deren Arbeiter Yerlieren im Winter
ihre Aufträge. Für eine Anzabl yon Industrien und Arbeitszweigen
bringt der Weihnachtsmann nur einen leeren Arbeitstisch — und den
Kündigungszettel. So vor allom in der Modewaren-, in der Luxus-
indue^trie und vielen von den Geschäften, die fttr den Gescbenktiach
oder für die Bekleidung arbeiten.
Außer diesen periodisch arbeitslos werdenden Massen über-
sehwenuiien jetzt jene Arbeitskräfte die I^andstraHen, die von dem
allgemeinen schlechten Geschäftsgang brotlos gemacht wurden. Wäh-
rend sich bei den an den Zentralverein für Arbeitsnachweis ange-
schlossenen Arbeitsnachweisen im Jahre 19üü auf 100 angebotene
Stellen 117 Stellensncbende meldeten, ergab das Jahr 1901 auf 100
angebotene Stellen 163 Gesaohe. Und der Juli 1902, dieser sonst zu
den Renaten gebörende, in denen am wenigsten SteUengesnofae ▼er*
liegen, braehto ebenfalls auf 100 offene Steilen 163,7 Arbeiisnehende.
Das bedeutet, daß das letzte Jahr nur eine gewisse Steigerung der
Arbeitslosigkeit gebradbt hat
Daß diese zahlreiehen Omppen, die ja in solchen Zeiten nicht
nur von einer Stelle, sondern von allen Industrie» und Arbeitsstätten
gleichmäßig abgestoßen weden, tatsächlich zu einem guten Teil tou
der Unruhe gepackt werden und ins Wandern geraten, ihre letzte
Zufluclit auf der Landstraße Buchen, ist selbstverständlich. Was für
eine Lebensweise, welche Gewohnheiten sie annehmen, will ich kurz
skizzieren :
Gewöhnlich marschieren die Wanderer täglich drei bis 4 Stunden.
Das ist auch wohl genug, wenn es tagaus, tagein wochenlang
hintereinander geschieht. Von Menschen, die längere Zeit unter-
wegs sind, ist nicht mehr zu verlangen. Einzelne Wanderhurseben
marschieren wohl auch hier und da sechs bis acht Stunden. Das
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Das Leben der Wanderumen.
801
sind aber Gewaltsleistungen, Ausnahmeleistun^n aus irgendwelchen
Gründen — weil im Bestininmnji^sort Arbeit oder Geldmittel oder ähn-
liche wichtige Dinp:e erwartet werden; ältere Wandersieute hüten sich
vor solchen Gewaltsmärschen, die zuviel Kraft verbrauchen und auch
leicht zu Entzündungen führen. Jüngere machen Bchon eher sulche
Bravourstücke.
So muß denn der Wandernde mit seiner hauptsächliehstrn Kraft
äußerst sparsam sein. Er hat ja nicht nur von Ort zu Ort zu laufen.
Er niuü in dem nach dem Wandern erreichten Ort sich auch uuch
seinen LebenBunterfaall beeebnffen, nch ein Einkommen besorgen.
Wenn man rem Einkommen der annen „Beisenden'' sprieht^ so
kann man selbstverständlidi nnr das meinen, was sie sieh znsammen-
sehanen nnd was sie hier nnd dort an staadieher und Gemeinde-
nnteistQtznng bekommoi, sowie was sie Ton der Gewerksohaft oder
▼on der Innung beriehen. Die slaallichen Untetsttttoungen bestehen
meist in sogenannten Verpflegungen; d. h. der Anfragmide erhält
nach grUndliehw Legitimierung gewohnlieh eine Abendsuppe mit Brot,
ein Nachtlager und Moigenkaffee. Auch die einzelnen Gemeinden
gewähren meist Verpflegung, wofür aber fast immer eine drei- bis
fünfstündige Arbeit verlangt wird. Manchmal besteht diese im Gras-
zupfen auf dem Marktplatz, ein andermal im Chausaeesteine karren
oder im winterlichen Schneeschippen u. dg), mehr.
Es fällt nun natürlich keinem Walzbruder ein, sich dabei müde
zu arbeiten, denn dann liat er ja keine Kraft nielir zum Weiterwandern.
Daraus ergibt sich, dab häufig die Kosten der Beaufsu-liti,i;ung, über-
haupt der ganzen Arbeitseinrichtung, durchaus nicht dem Ergebnis
der geschehenen Ix'istungen entsprechen.
Was nun die Art dieser Verpflegungen betrifft, so kann man im
ganzen wohl damit zufrieden sein, denn die Suppe und das .Brot sind
meist genießbar und aneh ausreiehendi natflilieh den Verhältnissen
entspreehend. F&r den andern Teil des Tages muß man sich darum
immer nocii die Lebensmittel zusammenfeehten. SeUeehter ergeht es
den armen Beisenden in den StSdten, in denen sie GelduntenstOtaung
bekommen. Diese reicht uAmlieh meist gerade nnr f&r ein Naoht-
lagw, allenfalls auch noch zu einem Morgenkaffee, wenn man das
seltene Glück hat, ein äußerst billipres Nachtquartier zu finden, so
etwa für 20—30 Pfg. In Lübeck bekam ich 40 Pfg. als Stadtge-
scbenk. Es wird mir wohl keiner beweisen können, daß man damit
einen Tag über seinen vollständigen Lebensunterhalt zu bestreiten
vermag. Man ist also auf das Fechten angewiesen, man niübte denn
einen Bückhait an Verwandten haben. Sonst aber genUgt auch das
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802 XVL OsTWALD
Tnniinirs«:('sc'lit'nk nicht, nni sicli eini^^e Ta^e in der Ornnstadt zu «t-
nährcn. Die Berliner (Joldsclimiedeinniinp ixcwälirt eine einmalige
rnttTstüt/uiii: von 1,50 Mk., die Duisburj^er Schläciiterinnunpi; öl» Pf^;.
So selnvankt die nrölte drs (Icsehenkes je naeli dem Reielituni und
den anderen vorliegenden \ erhältnissen. Also niuB man fechten, um
etwaige Arheitssgelegenheit abwarten zu können. Dann klappert man
zuerst die Buden ab (d. h. die Werkstätten und Geschäfte eines
Faches). Da gibf s denn hier einen bis zweif anch wobi fünf Pfennig,
dort zehn Pfennig; der Ertrag dieser Sammlnng dfiifte aber kaum
einen täglichen Dnichschnitt von 50 Vtg, flberstagen. Das aUes reicht
ja dann fOr einige Tage, wenn man ökonomisch yennlagt ist und
alle Mittel zu Bäte zieht
Aber ich weiß auch ganz genan, was man nnterwega venehren
nnd verbrauchen kann, wenn man jnng ist nnd tQchtig darauf los-
marschiert Als ich im Oktober 1894 meine erste Walze machte^ fraß
mir manches liebe Mal der Hunger im Magen, trotzdem ich von meinen
Eltern unterstützt wurde. Warmes Mittagessen gönnte ich mir viel-
leicht die Woche zweimal, sonst aber lebte ich nur von Brot und
Wurst oder Käse. Ja, ich weili so^^nr manche Tsi^e, wo ich weiter
nichts hatte als ein Stück Scliwarzhrot, und ich es dennoch nicht
fertig brachte, irgendwo um ein wenifr Essen anzusprechen, l^is mau
dazu kommt, müssen schon alle anderen Aussichten verloren sein.
Im besten Falle kann man mit allem nur die notwendigsten Be-
dürfnisse befriedigen; recht satt ist man selten. Besser ergeht es den
Schlächtern und Bäckern. Der junge Schlächtergeselle, mit dem ich
von Duisburg ging, bekam unterwegs Ton den vielen Schlachte-
meistecn, bei denen er ansprach, insgesamt ein halbes Pfund Wurst
außerdem hatte er an barem Gelde etwa dreißig Pfennig bekommen.
Das alles in noch nicht drei Stunden.
Wie armselig kam ich mir als Goldschmied dagegen vort Kaum,
daß ich in mittleren Städten, wo ich TieUeieht gOnstigstenfallfl drei bis
ffinf Goldschmiede fand, zwanzig bis dreißig Pfennig herausschlagen
konnte. An manchen Tagen hatte ich gar nichts; und namentlich
erging es mir so auf meiner Tour am Rhein, wo ich zwar in Köln
an einem Vormittage 2,35 Mk. zusammenbrachte, aber auch nur in*
folge von Empfehlungen an ansehnliche Firmen. Sonst ist man am
Rhein nicht so freigebig gegen arme Reisende,
Neben diesen sich auf so simple Weise ernährenden Wander-
burschen findet man novh eine Reihe von professionellen Hettlern.
Da sind erstens die Kriijijtel, die aus ihrem Oebrechen mehr (Kier
weniger ein Uescliäft machen oder machen müssen, wie jenes junge
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Das Lebeo der Waadenmea.
SOS
Mädchen, das icli in Fritdlieini hei Schneideinülil traf. Es hatte in einer
lläcksehiiatichine einen Füll verloren; zu unwissend, sich die gesetzliche
UuterstützuDg zu verschaffen, irrte sie auf den Dörfern herum. Niemand
trat da oben im Ssttiehen DeutBobland, jenseits der Oder, für sie «in.
Dann wieder gibt es Briefbettler. Das smd meist benmterge-
kommene Kauflente, Stodenteo, Sehanspieler — überbaupt jene Klassen
und Bemfe, die irgendwie mit der „Intelligenz'^ in Berübrung ge-
kommen sind. Sie verfOgen meist Ober ein^ Beihe wertvoller Adressen,
die sie sieb mit der Zeit in Teracbiedenen Stidten anfgezeiebnet baben
und die sie einander verkaufen. In ibre Klasse gehören aueb jene
Bettler, die durch Zeitungsnotizen und Inserate sich ein mehr oder
wenigur auskömmliches Lotten verschaffen. Und dann dazu die
Schnorrer, die jüdischen Bettler, die aus dem armen Osten, «ns Posen,
Schlesien, Polen und Rußland kommen und ihre Glaubensgenossen im
westlichen und mittleren Deutschland brandschatzen. Sie i^eheii
vor, von unglücklichen (Jenieinden oder Familien abf^escliickt zu sein,
sind es auch häufig, denn wenn auch nicht immer ein L'nglück über
sie hereino:ebrochen, so tobt in Kußland doch soviel Willkür, daß man
manches ^^lauhen muß, was die Schnorrer vorhriniren.
Zu ihnen kommen die Frauen, denen der Mann gestorhen oder
krank sein soll — manchmal auch ist. Auch Frauen, die mit kranken
Kindern herumziehen, leben vom Wanderhettel. Unter ihnen sind jene
Elemente zu finden, die mit gemieteten Kindern reisen oder die
Kinder gar zu Krüppeln maehen. Das sind jedoeh SpezialittteUi mit
denen das Dentsobe Beieb nur noeh in sdnen nnkultiviertestm Landes-
teilen und in einzelnen gar zu wiiren IndustriebesiriEen zu reobnen
bat Solcbe Ausbrfiebe von Verkommeabeit und Bobeit sind sebr
selten — und sie sind aueb nur da mögUcb, wo ganz besondere
sebauderbafte^ wirtsebafUiebe Zustände henscbeo, wo es eines ganz
besonderen Aufwandes von Unglftok bedarf, um sieb das zum Leben
Nötige zu erringen. Hierhin wären auob jene Kreise zu rechnen, die
sich durch sogenannte ßettlerzinken verständigen. Das sind flüchtig
an Zäune, Hausecken, Türen oder ßäume angezeichnete „Zinken**.
Oft ist es eine geöffnete Hand, die andeutet, daß an dem Orte Freigebig-
keit herrscht; meistens aber bedeutet ein Kreis, daß der Anklopfende
bare Münze erhält. Ein Kreuz bedeutet, dal^ der Wohnunfr.sinhaher
nichts jj^ibt und ein Säbel oder ein Bajonett 8aji;t dem Laiul^tn icher :
hier ist die Polizei nicht ji^ut auf arme Reisende zu s[(reelieii. Diese
,,Zinken"sprache hat noch eine Reihe anderer Zeichen '). Doch sind
1) Vfjl. H. (iroli, llaiKU.ucli fiir rntersuchaogsricbtor, 3. AufL, Ö.2G4ii.2ö&,
wo diese Zeichen riclitig abgebildet sind.
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XVL OnwAJ»
dieB nngefülir die wichtigsten und •i:ebräuchlich8ten. Sie sind aach
nur einer Minderzahl des fahrenden Volkes bekannt, vor allen den g:e-
wohnheitsmäßigen Tipplern. Die Mehrzahl der Wanderer versteht
nicht, sie zu gebrauchen und beschränkt sich auf die Mitteilung
guten Bettclorte von Mund zu Mund.
Jene, die sich Ins zur Organisation und Orientierunf,-- durch Bettler-
zinken entwickelt haben, gehören meist zum Stamm des Bettlcrtunis.
Sie liaben in der Xähe der Großstädte oder der Industriebezirke ihre
festen Sitze, in denen .sie, wie die Wäscheroller von Köpenick, einer
bestimmten, sich auf einige Tage in der Woche erstreckende Tätigkeit
nachgehen, die übrigen Tage der Woche jedoch die Umgebung der
Grofisladt oder die Indnstrieorte abfeohten, in deren wirrem, «nl Tag
and Naoht zugeeefanittenem Leben sie nor eehwer als BetÜer sn er-
kennen sind.
In manohen reieheren lAndetriohen befinden rieh fthnliche Zentral-
punkte mit Shnlichem Stammpnbliknm. In ihnen sind Topfflicker,
Korbmaeher, Schereneehleüer die feete Maaae, die aioh hier nnd da
auch mit dem Bettel besehäftigt Im llbrigen aber setzt sich das
I^fatcrial der Pranen aus äußerlich kräftigen, breitschulterigen Umd-
arbeitern zusammen, die jedooh innerlich schwach sind und den Ver-
suchungen des Wanderlebens nieht widerstehen können. Sind sie in
festen Händen, so halten sie sich wohl zur Not. In gefährlicherer
Stellung können sie den Verlockungen der ersten I^hnzahlung nichts
entgegenstellen. Zu ihnen stoßen Männer, die nicht so breitschultrig
sind: Beamte, Sciireilier, Kauflente, Menschen, die meist liestraft sind
und darum in ihrem Berufe nieht weiterkommen und auch wohl die
Anforderungen des Berufes nicht erfüllen können. Dazu kommen
Handwerker, mehr oder weniger verbrauchte oder niclit verwendbare
Menschen. Es sind oft sehr tüchtige Arbeiter, die jedoch zu selb-
ständig geworden sind und die kein Handwerksmeister, der ja doch
gern ein „Uorr^' sein will, mehr beschäftigt. Andere haben nidit ans-
gelemt, zu wenig gelernt, viele sind aneh zu sehwflehlieb, körpeiüdi
oder geistig. Hit der Bettelei ernähren sie sieh gerade notdürftig.
Jedenfalls ist die Art ihrer Emährang, die mehr oder weniger
den grSßten WiUkttrtiehkeiten nnd Sohwaaknngen miterworfen isl^
nicht geeignet, die Mehrzahl der Wanderer gesnndheitlioh besonders
widerstandfiUiig zn machen. Auch das Unterkunftswesen — die Meh^
zahl der Wanderer muß auch heute noch in schlechten Herbergen,
Stilieni auf Pritschen oder im Stroh übernachten, wohl gar in den
duDStigen, übelriechoiden AuCenthaltsräumen der Herbergen oderVer-
pflegnngsstationen einen kümmerlichen Schlaf suchen — ist nicht ge-
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Da> Leben der WandenimeD.
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eignet, das Wandervolk als den Trä^rcr von Oosundlieit und Kraft
erscheinen zu lassen. In was für widri;;e Zustände liahc ich auf
meinen Wanderungen selicn müssen! Es kann niclit Zweck dieser
Schrift sein, das darzustellen. Konnte ich es doch kainn durcliLTcifend
in meinen) Roman „Vagabunden^' 'j tun, der sich nur mit bchilderung
des I^ndstreicher- und Wanderlebens befaJU.
Tatsächlich ist ein Aufenthalt in vielen der Herbergen nur mög-
lich, wenn der QemiO einer gewiagen Qnanülit SohnapB die Sinne
ein wenig abgeetampft bat. Nnn will icb nnd kann leb nidit sagen,
daß die Wanderer ansnabmalos Trinker sind. Unter 20 bis 30, mit
denen ich dnrebBohnittlich anaammen schlief war meist nnr ein wnrk<
lieh Betrunkener. Orgien, wie sie so oft ans Pennen geschildert
werden, wie sie dort jeden Abend sich ereignen sollen, smd in Wirk-
lichkeit sehr sdten. Meist fehlt den armen Reisenden doch das Geld
dazn — wenn auch unter ihnen sieh hier und da einzelne finden,
die wirklich jeden Tag schier unerhörte Einnahmen haben, wie so
mancher Kaufmann und so mancher Wanderer jüdischen Glanbens.
Unter diesen jüdischen Bettlern ist übrigens ziendich häufig die etwas
komisehe Figur des Vaters zu treffen, der für seine Tochter eine Aus^
Steuer zusammenschnont.
Diese Aristokraten des I^ndstreichertums leiden natürlich weniger
unter der Unbill des Wanderns. Für die anderen ist jedoch häufig die
Wanderzeit wie eine sie langsam aber sicher zermahleude Mühle.
Man betrachte nur ihre Gesundbeitsverhältnisse, ihre Gesundheitspflege'.
Ich fand überall Einrichtungen in den Herbergen, die nur primitiven
Ansprachen in betreff der Beinlichkeit genügen; aber höhere, und
wirklich berechtigte Anforderungen darf man nicht stellen. Wasch-
geiegenheiten sind ttberall Torhanden und wurden auch stets benutzt
Ich wenigstens bemerkte unter fast allen Beisekameraden emen einiger-
maßen ausgeprügten Hang zu mindestens oberflSohlicher Beinlichkeit
Doch gehört gewiß für viele ein gut Teil Überwindungskiaft dasu,
in Betten zu schlafen, in denen wahmdiefailich schon oft genug vorher
Leute mit Krankheiten und Gebresten behaftet, übernachtet haben.
Frisch bezogen können die Betten niobt jede Nacht werden. Das
l&ßt der Etat der Herbergen nicht zu.
Was nützt da die dürftige, allmorgentliche Gesichts- und Hände-
reinigungV Dazu nun trägt jeder Kunde einen Taschenkamm und
ein .Stück Seife als gänzlich unentbehrlich l»ei sich. Bei vielen ist
dies mit dem, was sie an Kleidung auf dem Körper tragen, auüer
1) Bcrlm lUOU. Veriag Bruao Casairer.
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XVL OSTWAU)
eintMii r^tt'ts vorhandenen Taschennies.ser und verscliietleiuii I^'jjriti-
iiijitioiisj);i|)ien-n das einzige Eijxeiituiu. Denn ein Ranzel, oder das
Irülierc Fellei.sen, das man häufig auf zwei Hiidern mit einem JStock
vor sich herschob, ist gar nicht mehr üblich. Das wird als über-
flüssig und liiudemd betrachtet. Daraus ergibt sich aber, dali auch
niemand mehr Wäsche bei sich führt, als er auf dem Leibe hat Das
mag im Sommer gehen, wo jeder Gelegenheit findet, ein Freibad zu
nehmen und seine UnterwSsohe einer grflndlichen Beinigung zn nnter-
ziehen, indem er sie im ersten besten QewSsser wisoht und wartet,
bis die Sonnenstrahlen sie getrocknet haben. Im Winter jedoch sind
die Verhältnisse nach dieser Seite sehr tnuuige; allenfalls kann so
ein armer Teufel durch ein Geschenk in die Lage Tersetzt werden,
seine schmutzige Wäsche gegen reine einzutauschen, sonst .
Wo aber derartige Zuständi» lierrschen, ist es selbstverständlich,
daß sich Ungeziefer und Hautkrankheiten entwickeln. In den Her-
bergen, besonders in den Herbergen zur Heimat, wird zwar streng
darauf geachtet, daii niemand Ungeziefer an sich hat. Ein verlauster
Kerl wird einfach hinausgewiesen; in den Herbergen zur Heimat muß
er im Keller auf llolzpritscben nächtigen, wenn sie vorhanden sind.
Oft aber fehlen sie. Das veranlalU viele zu grülkrer Vorsicht, andererseits
aber die Kunden, bei denen schon Ungeziefer vorhanden, dazu, andere
Orte wie Herbergen zum Xachtcjuartier aufzusuchen. Hier sind sie
aber noch gefährlicherem ausgesetzt und gehen noch schneller zugninde.
Bedenkt man dazu, daß die wenigsten dieser Verkommenen im-
stande sind, sich gehörig zu nähren, so begreift man, daß ein unge-
heuerer Prozentsatz von ihnen bald yollkommen aufgerieben ist. Wie
oft habe ich es mit angesehen (und auch mitgemacht), daß sich mdne
Genossen in der Herberge eine Tasse Kaffee fOr fünf Pfennig und für
ebensoTiel Brot kauften. Das war die Mittagsmahlzeit, die bis zum
Abendbrot vorhalten mußte, wo ihr dann eme zweite, gleichartige
folgte. So speisten sogar alte LBadstraßen-VetenuDen ; z. B. in Doisbiifg
ein 40jShriger, starkgebauter Mann, der seit yier Jahren außer Stellung
war und wegen eines kurzen Armes auch gar keine Aussichten bei
den augenblicklichen Verhältnissen hat, irgendwo unterzukommen. £r
kannte gewiß alle Wege und Schliche, „kloppte'^ schon seit zwei
Jahren die Umgegend ab und war, wie er erzählte, trotzdem genötigt,
sehr oft derartige Mahlzeiten zu halten. Außer ihm taten von /elm
Anwesenden drei das gleiche. Es waren alles ältere, gesetzte Männer,
die dann verzweifelt sich ihre Verhältnisse klagten. Mensehen, die ire-
wöhnt sind, regelmäßig zu leben, müssen bei dem .Mangel an warmen,
ausgiebig nahrhafteu Speisen zuerst an Lebenswillen verlieren, vor
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Das LebeD der Wandenumen.
807
allem an Betätif^un^^drang. Die Emährunjr von blol»eni Ikot, das sie
nieist nur haben, läßt sie ersclilaffen und gleicbf^ültip: werden; oder
aber sie verfallen dem Solinai»s«rennli. Sind sie nur jirleielii^ülti^, so
werden sie fast ausnabmlos von einer zerstörenden, unbeilbartu Krank-
heit ergriffen; Schwindsucht ist die am stärksten auftretende. Werden
diese Kranken auf den Stiafien oder in den Heibergen anfgefnnden,
80 bringt man sie in ein Spital, wo sie eelteii wieder hergestellt
werden. Ihre körperlichen Kiilfle sind schon sn sehr erschöpft , nm
sotehe Angriffe aushalten zu können.
In den SpitSlem werden die Knuden ebenfalls so behandelt, wie
die anderen Kianken. Ich lernte einen kennen, der einmal 14 Tage
in einem Klosterspital zogebracht Er hatte sich die Füße wund ge-
laufen nnd da wnrde er von einem Klosterbnider zurückgehalten, als
er nach genossenem Mittagsmalil, das stets dreißig Handwerksbursclien
vom Kloster verabreicht wird, davonhumpeln wollte. Man hatte ihn
gut behandelt; er sehnte sich aber dennoch hinaus, da er ja hoffte,
draußen bald wieder Arbeit zu bekommen.
In einer Ijeriint r Herberge schlief ich neben einem Bäckerge-
sellen, der fortwährend hustete. Icli fragte ihn, ob er denn krank sei.
„Das Schlimmste habe ich schon hinter mir," meint(> er. ,,Ich
war bnistkrank, da bin ich vor Weihnachten ins Cliarlnttenhur^^er
Krankenbaus. Fünf Wochen w ar ich drin, gerade in den i cicrtagen."
„Hat man dich denn aufgenommen so ohne Mittel?*'
„Das muß man doch — in Beilin ist's ja schwer; aber man hafs
aneh außerhalb sehr gut loh hatte immer sehr fernes Essen nnd
täglich ein paar Glas Wein. Da bin ich ganz gut Ober die gefähr-
lichste Zeit hinweggekommen.**
Nur einer von allen, mit denen ich zusammenkam, wollte
ins Spital. Das war ein 19jähriger Offenbacher Schriftsetzer, mit
dem ich in Lübeck m dem Gasthaus Quartier machte, in dem viele
Gewerkschaftsmitglieder einzukehren pflegen. Der Offenbacher war
auf der Landstraße im Dunkeln gefallen und hatte sich das rechte
Knie wund geschlagen.
Nun, der war noch jung; bei älteren Leuten dagegen war kein
Hang vorhanden, sich im Spital aufzufriseben. Ihnen ging die Frei-
heit über alles, boten sich ihnen auch weiter keine sinnlichen (Genüsse
wie eine Prise Tabak, oder ab und zu ein Schnapt^. Andere Lebens-
freuden kennt der Wandernde nicht. Der Umgang mit Frauen ist
ihm nicht beschieden. Auch ist dem echten eingefleij^chten Land-
streicher das Weil) gleichgültig, er ist „darüberhinaus'*; während die
jüngeren, noch uiit dem Leben reclinendeu Elemente vor allem auf
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XVL 0STWA1J>
B^gelnng ihm ErwobBTeriiiltiiiaBe hoffen. Das liegt Urnen nfther,
ab der Umgang mit Frauen. Bei Bolehen aber, die in der Nfthe
ibies dreißigsten Jahres sind, henneht die Keigong, sieh einer weib-
lidien Gefilhrtin anznsehfiefien, die in der Knndeospraehe den sdidnen
Kamen ^Tippelschickse'' führt An der mecklenborgischen Qrenze
bei Perieberg traf ich ein Paar. Sie hatten ihr ganses Besitztum in
einer Eiste l>ei sich, die sie abwecheeind trugen. Das etwa 26jährige
Fkanenzimmer erzählte mir, dali sie aus Westpreußen nach Berlin ge-
kommen sei und als Kasnererin sich ernährt habe. Dann sei sie krajüc
fj^eworden; als sie aus dem Krankenhaus kam, hätte sie so unansehn-
lich au8p;eschen , daß niemand sie in sein Geschäft nelinien wollte.
Schlielilich mußte sie ins Asyl gehen und dort habe sie ihren „Männe"
keimt'n ^'clernt. Nun hätten sie sich beide auf die Strümpfe gemacht:
^Vielleicht haben wir unterwegs mehr Glück!"
Diese hatte unstreitig noch bessere Seiten an sich. Sie hielt sich
und ihren Hegleiter sauber, ihre Kleidung war vielfach geflickt, aber
nicht zerrissen. Auch war sie augenscheinlich nur durch Unglück zu
diesem Waadeileben gekommen, während alle anderen Tippelschioksen
die ieh sonst kennen lernte^ die ausgeprägteste Faulheit nnd UnflUiig-
kdt, oder die Forefat Tor der Sittenpolizei anf die Landstraße ge-
trieben hatte, im Gegensats za den minnlidien Kunden, bei denen
mdst ganz andere GrOnde Yorlagen. Die Tippelschicksen bilden die
unterste Stnfe der Proetitnierten. Sie sind inneiiioh Tielmehr hemnter-
gekommen als der älteste Gewohnheitsknnde, Es ist alles bei ihnen
außer Band und Band. Damm gibt sich anch keiner gerne mit
ihnen ab.
In dem mäßig großen Zimmer der Duisburger Herberge saßen
an einem Nachmittage außer mir noch fünf Kunden um den eisernen
Ofen, unter ihnen auch der schon erwähnte Einarmige, der außer
diesem Geburtsfehler schön und kräftig gewachsen war. Sie hatten
sich ihre Leiden geklagt und kamen nun auf die Tippelschickscn zu
spreclien. Der Einarmige erzählte, daß er am vorhergehenden Tilge
sechs dieser Weiber in der Krefelder Herberge getroffen; sie waren
noch ziemlich .junge, frische Dinger. Eine, ein tolles, blondes Mädel,
habe ihm den Vorschlag gemacht, mit ihm zusammen zu gehen. Er
sei aber nicht darauf eingegangen: „Na, ja, wenn man mit so'n Weü)
geht, hat man gleich für zwei zu sorgen. Die sind zu faul nnd
machen einem nur Schererden. Wenn der Gendarm die siehl^ hat er
Witterung nnd man ist geliefertf* (er meinte damit, daß er dann bettebi
gehen mflsse; wihrend er in den Häusern sei, stehe das MSddien
draußen hemm, der Gendarm sehe sie^ und wüßte sofort, daß anch
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Das Leben der Wandenurmen.
80»
der Kunde nicht weit sei; er warte bis der kommt nnd verhafte
beide). — „Was ansereins schon nach'n Frauenzimmer fragt. — War
ja'n ganz hübscfies Mädel — aber — ah!" er beweg'te heftif;: seinen
Arnisturnpf auf und nieder und nahm mit der linken Hand eine Phs^
die ihm ein ehemaHj^er Bäckermeister hinhielt
Diese weiblichen Kunden schlierten sich mit Vorliebe I^iermännern
oder anderen derartiji^n Tauten an. Diese nehmen sie auch mitunter
gerne mit, da sie als Paar sich oft besser stehen, wie wenn sie allein
leiernd wandern. Hinter Schwerin ging ich ein Stück mit einem
solchen Paar. Der alte Leiermann gab seine Begleiterin für sein
„Pflegekind'' am Sie sind in den Gasthöfen nnd Heri>eig6n irgend-
welchen männüeben DienstpeiBonen gefällig und erleichtem so ihren
Eamenden das Fortkommen. Manehmal entspinnt sich nnter ihnen ein
danendes Verhihnis, hSufig jedoch halten es die Weiber nieht lange
bei einem ans nnd wechsdn ihren „Mann**.
Wiederum ziehen sie anch zn swei nnd drei singend nnd musi-
zierend umher. In Mittel-, Sttd- und West-Deutschland findet man
noch öfter solche Trupps, die jede Mease, jeden Markt bereisen.
Außer daß sie gegen Personen, von denen sie abhängig, gefällig sind,
sind sie von jedem für eine Kleinigkeit käuflich. Da sie aber fast
stets ansteckende Krankheiten an sich haben, so ist man gegen sie vor-
sichtig. Ein frülierer Arbeitskollege von mir erzählte: Er war etwas
angeheitert von einer Beerdigung von Britz gekommen. In der Nahe
des Tempelhofer Feldes traf er eine Tinpelscliickse, die sich ihm an-
bot. Er nahm wahr, dal» sie vollständig durchkrankt sei. Wütend
darüber schlug er sie, wa.s sie sieh ruhig gefallen liel», Sie wimmerte
nur um ein Almosen, das er ihr sciiließiicli gab. Er fragte sie, warum
sie nicht ins Krankenhaus gehe. „Ich will nicht ins Krankenhaus —
schenk' mir doch bloß etwas — ich kann ja nicht ins Krankenhaus —
ich fürchte mich ja so —
Die Furcht vor dem Krankenhaus, vor derSittenpolizei treibt ebenso-
Yid Mädchen auf die Landstraße, wie die Faulheit und Unföhigkeit
Auch die nicht zu bezwingende Leidenschaft zum Wandern bringt
manches Hädchoi auf die Landstraße. Selten jedoch trifft man solche,
die ans dem Großstadtleben auf die Wanderschaft gekommen sind.
Die meisten Tippelschicksen sind ehemalige Dienstmftdchen, die dem
Bauern wegen zu schlechter Behandlung oder wegen zu dürftiger Kost
w^gelaufen sind. Manches entlaufene Mäddien gerät in die Tippelei,
weil es auf dem Wege zur nächsten Stadt, wo es vielleicht ein anstän-
diges Unterkommen gefunden hätte, einem schlechten Kerl in die Hände
fiel In der Umgegend von Halle stieß ich auf zwei Tippelbrüder, die
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310 XVL OtrwALO
gieli's mit t iiirin junir< n Fraii<'nzimnior hinter einem Buschwerk bequem
gemaclit liattm. Ilcimlicii erzülilten sie mir, sie hätten da.s Mädchen in
der Nähr von I^randenburi: ^ troffen. Sit- seien drei Kunden. Während
einer (\\v noUvriKhire Pickch-i fEsseni heransehaffte, hielten sie das
Mädelien fest. Später, in Frankfurt a. O,, kam der eine dieser Tippel-
brüder morgens in die Herberge zur Ueiniat. Er hatte plattgemacht
(im Freien geschlafen) und erzählte, während er aich aofwärmtei mit
Behagen: „Ja, die KteiBet . . . . Bb Berlin haben wir sie milgeadileift.
£b war 'ne feine Eiste, — wur m sn Vieren. Aber dann in Botin
haben wir ee yerioren!** In seinem yerBchmitst ISobelnden Qencht las
ich, daß sie das HSdchen mit Absicht in der großen Stadt yerloren
halten.
Dieses MSdchen schien ans einer sSehsiBehen Industriesegend za
stammen. Im allgemeinen gehen Fabrikmädchen selten anf die Walze.
Wo aber die Prostitution nicljts Rechtes einbringt, im Erzgebirge, in
den Webeldistrikten des Eulengebirges und ähnlichen armen Bezirken,
kann man oft größere Gruppen wandernder Mädchen finden. Iiier
und da misclien sich auch andere P>xemplare unter sie, wie jene ge-
schiedene Gattin eines TJeheimrats, die ich im Xetzcbruch traf. Sie
schwelgte zügellos im Fusel und hatte das letzte Schamgefühl verloren.
Liebschaften und Schnaps h.itten sie S(» heruntergebracht. \ ou diesen
weiblichen Wanderern kann man auch sagen, dal» sie schwerlich einen
Unterschied zwischen mein und dein kennen, den männlichen Wanderern
wird das im ganzen zu unrecht nachgesagt. P. Göhre sagt in seinem
Werk: „Dreieinhalb Monat Fabrikarbeiter," das gewiß viel Richtiges
enth<y daß man kein Messer, überhaupt nicht das Geringste in der
Herberge liegen lassoi darf, es wfiide sofort gemanat Ich vergaß
eines Morgens meine Brieftasche in einem Dfissddorfer Gasthof, in dem
anßer Fielen Kunden auch anderes fahrendes Volk| Akrobaten, Jahr
markts-Bndenbesitzer und -Händler yerkehrten. Ich hatte die lederne
Tasche abends ins Bett genommen, nnter das Kopfkissen gelegt nnd
sie dort liegen lassen. Erst nach dem Kaffeetrinken bemerkte ich dss
nnd eilte rasch nach dem Schlafzimmer, wo die anderen vier Kunden,
Iltere Leute, noch beim Ankleiden wan n. Die Brieftasche war unter dem
Kissen hervorgerutsdi^ lag also offen da, aber niemand hatte de berührt,
trotzdem Brieftaschen immer eine gesuchte Beute sein sollen, wegen der
wichtigen Papiere, die sie enthalten. Von nun an stellte ich häufi?
Proben an, liel^ Sachen unlteaufsiclitiirt, schickte andere Kunden mit
gridieren < i eidstücken zu kleinen Einkäufen — aber es ist mir nie etwa^^
abhanden gekommen: ich hatte augenselieinlich Glück darin. Spitz-
buben gibt es eben weniger unter den Kunden und armen Keiseodeo,
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Das Lcbco der Wandenumen.
811
als man f^laiibt. Der pclite Verbrecher glaubt mehr zu i>c\n als der
Kunde. Der Kunde dünkt .sieh wieder über den \'('rbri'( her iThaben.
Trotzdem nähern sicli bt'ide mancbmal in ibren Aiiscliaunnirt n.
Dal') das WandorlclM'ii (Vw sittlielien Anscliaiinnupn zcrsttirt, die
jeder von der Scliulc und andertMii rnttTrielit niithekomuu n hat, ist
natürlich, (hi ja keini-r mehr wie die Kunden täffheb, ja stündHcb erfährt,
wie wenig das christliche Menschentanii das gepredigt, wirklich auch
gelebt wird. Doeb nur in AnsnalmiefiUleD wird sich der Wandernde
gegen tiefere Bechtsregeln vergehen nnd zwar nur Yon der Leidenschaft
getrieben (hierauf wären die SittlicbkeitSTerbrecben zn setzen, die stark
sinnliche Naturen begehen, wenn sie zu langer Enthaltsamkeit geswnngen
waren), oder wenn es sich um Nahrung, also um den Erhaltungstrieb
handelt
Wirkliche Verbrecher findet man wenig auf der Landstraße. Denen
ist dcis Wanderleben zu beschwerlich. Gewiß, viele der Wandemden
sind ächon bestraft. Aber wir wissen ja selbst, wie leicht man p^egen
das Gesetz verstoßen kann. Und nun so ein Mittelloser! Würde er
nicht betteln, so würde er Selbstmord durch Hunger begehen: Strafbar
ist er also auf alle Fälle. Ich aber niTtchte, daß man das P.etteln
des Mittellosen bricbstens als straffreien Mundraul) ansieht. Was beute
als Arbeitssebeu lK <traft wird, ist dun liaus \\ illkiirlicb. Ist die Ari)eits-
fsebeu nicht oft erst anerzogen worden? Dureb i rzwunirene Arbeifs-
iosi^i;keitV Auirenblicklicli sind ja unsere sozialen Verbältuisse der-
artig, dal» mancher, der nicht robust oder p'witzt ^^ennj:: i*^t, an er-
zwun^^eneni Wandern zu-runde geht. Auch das heutige Unterstützungs-
und Abhilfenwesen, wie ich es schon kurz skizziert habe und wie es
ausführlicher in meinem Buch „Die Bekämpfung der Landstreicherei^^
Stuttgart 1903 dargestellt ist, kann nicht ausreichend wirken. Innungen
und Gewerkschaften können nur für einzelne sorgen. Die Gemeinden
aber, die ja alle zur Unterstützung augenblicklich Bedürftiger ver-
pflichtet sind, können meist nicht gezwungen werden, ihrer gesetzlichen
Pflicht nachzukommen. Geben sie aus eigenem Antriebe die gesetzliche
Unterstützung, so kann es ihnen wie jener kleinen Gemeinde ergehn, die
in wenigen Wintermonaten 1400 Mk. zu solchem Zweck verbrauchte und
daran fast verblutete, während große Städte sich gar nicht um die
Wandernden kümmern. Auch die Vereine gegen Verarmung und
Bettelei, die Verpflegun};sstationen mit ihrem harten Wander- und
Arbeitszwang und die Arheiterkolonien. in denen Wanderarme eine
letzte Zuflucht finden sollen, in denen sie aber bei schwerster Arbeit
nicbt einmal die Kost des ^'enieinen Soldaten erhalten, alle die jrut^re-
uieiutcn Einhchtungen mit ihrer hartherzigen, mcnsciieu- und lebens-
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312
XVL Ostwald
fremden Ausführung ihrer Grundsätze sind nur ein dürftiger Notbehelf
und nicht geeignet, die Wanderarmenfrage zu lösen. Bei Krisen haben
sie stets versagt. Sie stehen eben mit den QfundiinftGheii te Wanderei,
mit den wiitBchafdiohen Beuehnngen und mit dem so notwendigen
Trieb ans Fabrik, Kontor nnd WecfcstiUt in die erfrisohende und
die Angen Sffnende Katnr sn flflehten, nioht in iigendwelcher Ver>
bindnng. Aneh mit Notatandsarbeiten, wie sie Dresden, z. B. in Winter
1802—03 mit 100000 Mk. begonnen h$t, ist der gesamten Arbeitslosig-
keit niobt beiznkommen. Das alles sind anzuerkennende, aber kleine
Mittel. Daß aber die Mittel nicht etwa in einer Verschärfung der
Strafgesetze bestehen dürfen, bat das Versagen der Strafanstalt^ in
erzieherischer Hinsicht bewiesen. Trotzdem die 2jahl der Erstbe-
strafungen ganz wesentlich während der Zeit des wirtschaftlichen
Aufschwungs fiel, stie»: die Strafbarkeit doch von 1862 bis 181)9,
nämlich von Kiio bis auf 1236 bei 1 00 000 Einwohnern. Die Be-
straften wurden gar nicht gebessert, durchaus nicht abgeschreckf,
sondern sie waren nun durch die Schule des Verbrechertums, durch
die KorreklioDshäuser, (iefün^^nisse, Zuchthäuser, durch diese eine ge-
wisse Art von Zwangs-Verbrccherklubs bildende Institute gegangen
und befähigt worden zu weiteren Übertretungen der (iesetze.
Es liegt also in der Macht der Gesellschaft, die Zahl der Ver-
brecher zu vermindern, die Erstbestrafungen zu Terfaindern. Auf welche
Weise dies zn geschehen hat, bewies der wirtsehalUiehe Anbehwnng:
er gab denen Arbeit, die sonst vielleicht znm erstenmal die SehweOe
einer Strafanstalt bitten flbeisebreiten müssen.
Wie notwendig es ist, Arbeit su beschaffen, wie hart und ver-
kehrt es isl^ sn venirteilen wegen Arbeitslosigkeit, sei hier noch ein-
mal durch die Eigebnisse der Erhebungen Aber die im Jahre 1900 im
Großherzogtum Hessen erfolgten Bestrafungen wegen Betteln und
Landstreicherei festgestellt. Die Zahl der auf Grund des § 361 Nr. 3
und 4 des Reichsstrafgesetzbuidies reditskräftig ergangenen Be-
strafungen beträgt 1442. Auf die einzelnen Monate und Jabreszeileii
verteilen sich die Bestrafungen wie folgt:
Mutiat absolute Zahlen Durchscliiiitt täglich.
Januar 220 0,15
Juni ...... S3 2,77
November .... 175 5,83
Laissjen schondiese einzelnen Monatszahbjn erkennen, daü die meisten
Bebtrafungea wegen Landistreichens untl Jk'ttelei in den Winternionaten
November bis März vorkommen, so geht dies noch deutlicher aus folgen*
der Übersicht der einzelnen Jabrzeiten hervor. Es wurden bestraft im
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Das Leben der Wauderarmen. 318
Winter 1899/1900 Deiember— Febnuur 479 5,32
Frühliog 1900 Hän— Mai 334 3,63
Sommer 1900 Juni— August 259 2,82
Herbst 1900 Septembei^Noyember 331 8,04
In den seehs Jahren 1895 bis 1900 betrog die Zahl der Be-
Btrafongen im Grofibefsogtom:
1895 1896 1897 1898 1899 1900
2583 2244 1968 1658 1267 1442
Auf 100000 Eiawohner kam die folgende Ansahl Bestntfungen:
1895 1696 1897 1898 1899 1900
21,96 21,49 18,49 15,60 11,82 12,95
Die Zahlen 1895 -1900 vervollständigen das Bild, ans dem sich
der Ziisammenhanir zwischen Wirtschaftskonjunktur und Landstreicherei
ergibt. Wie in jedem einzelnen Jahre die Arbeitslosigkeitsmonate ein
Steigen der Strafziffern bewirken, so zeigt sich in einer p-rd^eren lieihe
von Jahren der Einfluli der fetten und mageren Julire mit unveikenn.
barer Deutlichkeit in einem Sinken und Anschwellen der Kriuiinalitäi-
Diese Zahlen widerlegen geradezu die Behauptung, daß Widerwille
gegen geregelte Arbeit die naupt(juelle der I^ndstreicher und Bettelei
bilden, znmal es im Winter kein Vergnügen ist, die Landstraße zu
freqnentieren. Es ist die Not der ArbeitBlosigkeit, die diese Ärmsten
hinausstößt; und wer die landstreichera beseitigen will, der muß die
wirtsehafdiche £ziBtens der arbeitenden Bevdlkemng sichern, anstatt
die Opfer des Elends durch drakonische Strafen zu züchtigen.
Geben die Zahlen der Erhebungen eigentlich schon die Gewißheit,-
daß da wirklich Arbeitswillige verurtdlt werden, daß also wirklich eine
Arheitsbereitscliaft vorhanden ist, so ergibt sie sich auch aus der Tat-
sache, daß im Winter den Arbeiterkoionien soviel Menschen zuströmen^
trotzdem sie dort gewiß nicht auf Rosen gebettet sind. Die große
Mehrzahl der Kolonisten muß Meliorationsarbeiten forst- und landwirt-
schaftlicher Art bei jeder Witterung verrichten und dabei vielmehr
Schweil» veri;ielM:n , als der mit Einsperrung Bestrafte, ja selbst als
der Zuchtliäusler. Dazu wird die strenge Hausordnung befolgt, kein
Schnaps getrunken, liie Leibeshaltnng, T^igerstatt, Kost usw. ist selbst
nach Angabe der leitenden l*ersönliehkeiten kaum eine bessere als in
den Strafanstalten, besonders, wenn die viel härtere Arbeit dazu ge-
nommen wird. Und der Eintritt ist, wie der Austritt treiwillig! Wenn
trotzdem eine solche große Zahl in die Kolonien drängen — und unter
ihnen sehr viel Betrsfte — so ist es klar, daß -es sich nur darum
handeln kann, die Menschen nicht auf die Landstraße zu stoßen, sie
nicht erst oder immer wieder schuldig werden zu lassen.
Arabhr fflr KitataiIuthiopcil«gl«.-XUI. 21
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Das Leben der Wandenumeu.
815
JSeiten ^gewünschten, an Zwangsasyle erinnernden Wanderarbeitsstiitteo.
Die sollen ein Mittelding zwischen Verpflegungsstation und Arbeiter-
kolonie werden. Das leidige unnfttie Waocteni Ton Station zu Stati<Mi
würden sie beseitigen. Doch dfiifle niemand damit einrentanden sein,
jeden Mitldlosai in dne Anstalt anzosperren, nnr dämm, weil keine
passende Arbeit fOr ihn vorhanden ist Die WanderarbeitBstitte w&e,
wenn der Aufenthalt in ihr em freiwilliger win, ein Fortschritt^ so'
aber würde sie den Polizeiorganen eine sonderbare Macht einrftomen.
Aneh die Hoorkolonisation duroh Wandeianne ist eine polizistiache
Utopie. Was bat der Mittellose verbrochen, um, womöglich auf Lebens-
zeit, in Sumpf und Moor deportiert zu werden?
Der Wanderarmenfrage muß wohl auf anderen Wegen beizu-
kommen sein. Das Wandern darf nicht zerstört, verboten werden. Es
muß ermöglicht, es muß or^'anisiert werden. Ist es doch unter ge-
wissen Umständen ein wunderbares Allheilmittel. Die arbeitende Be-
völkerung hat oft genug keine anderen HiUlungs- und Lehrjahre, als
. die Wanderzeit. Dit' Wanderjahre sind dem Arbeiter das, was die
Studienjahre den akademischen Berufen. Ich halt^ das Wandern für
o'-'e Notwendigkeit
Doch müüte es von seinen Schäden und Abgründen befreit werden.
, In welcher Weise das zu geschehen hätte, haben die Gewerk-
^fiMfeRen mit ihrer Beise- and AxbeUakfleiinntenlitsang gezeigt Über
d'-^ne nnd Aber weitere Fragen des Untersttttznngs- und Abhilfewesens
^«ichtet mein Buch „Die Bekftm|»fnng der LAndstreicheiei^ ans>
iBhriieh. Hier ist wohl nicht der PlatZ) das zu erOrtem. Es könnte
nur gründlich geschehen. Nicht in einigen Zeilen.
JedenfoUs glanbe ich, daß ans dieser Bichtnng die Beseitigang
der Wanderbettelei zu erwarten ist Die Arbeiterorganisationen werden
ja nicht alles allein erreichen. Doch was die Gewerkschaften allein
in ihrem Kreise leisten, das wird das große Beich in seinem auch
leisten können — wenn dazu alle gemeinsam wiikoi: die Arbeiter-
bewegung mit ihrem vorbildlichen ünterstützungswesen, die christ^
lieben Kreise mit ihrem Wohltun, die Verwaltungsbehörden mit ihren
Anstalten usw. usw. Von einer ^^^/iurichtung alU'in ist nicht alles Heil
zu erwarten. Es ist eben alles nötig: ein gutgeregeltes llerbergswesen,
eine Art Arbeiterkolonie für Unheilbare, Reichsarbeitslosen Versicherung
und auch eine Art Wanderarbeitsstätte, die gewissermaßen den lieil-
austallen der Invaliditätsversieherung gleichen mülite.
Erst, wenn das alles da is^ wird man mit ßecht fragen können:
Wer ist wegen Bettebs zu besliafen?
21»
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xvn.
Die KoUektiyaiiBBtelliiDg der PoUzeibetadrden aof der
8t8dteaii88telliing in Dresden.
Von
k. k. Gerich tftsekretär Priedr. Paul, Olinutz.
(Mit 16 Abbildangvn im Text und Tafel L U.)
Die Frage, ob die Polizeibehörde ab aolcbe an einer AuesteUiiDS^
als Anaatellerin sieh beteiligen kOane and dfirfe, wnide bereits vor
eiaigen Jahren in Wien von dem dortigen PohzeipiftridiBni gelegent-
lieh der damals yeianstalteten Wohlfshrlsansstelhmg in glllckliehsif* '
nnd wie die spXtere Zeit zeigte^ aneh in erfolgreichster Weise gt!"
Die Neaheit dn YerBnchesy sowie die snwazteode Haltnng eines T
der mafigebenden Faktoten yeranlafite die Aussteller das Geboten^ . . -
Besncbcni anziehend zu machen und so wurde denn in einem sepa-
raten Pavillon, der Tendenz unci dem Räume nach deutlich gescuieden
in einer Abteilnng durch eine Reihe von Bildern künstlerischer Aus-
führung dem Publikum allegorisch und idealisiert die vielseitige
Tätigkeit der modernen Polizei „auf dem Gebiete der Wohlfahrt" vor-
geführt, wobei auch einic;e liistorische und lokale Erinneningen mit
verkörpert wurden, wiilirend m einer anschließenden Abteilung die
eigentliche Kriminalpolizei mit ihren Behelfen, inssbesondere aber die
soeben in Wien einjreführte Bertillonai^e, sowie die photo<^raphischen
Aufnahmen nach Bertillon in sehr anerkennen:<werter Weise zur Schau-
stellung kamen. Nebenbei waren tecliniscbt' Belielfe und Ausrüstungen,
sowie auch bemerkenswerte (legenstände, an oder mit welchen Ver-
brechen Ycrübt worden waren, wie man äie damals eben bei Behörden
nnd InstitBlen Torfand (da Kriminalmnsenm bestand damals mir beim
Landesgeriobte in Qmz) ausgestellt Wenn die Ausstdhing auch dem
Zwecke dienen solltCi das Publikum im eigentlichsten Sinne des Wortes
zu gewinnen, was wohl gerade in Wien sehr nahe lag, so wurde
dieses Ziel wohl nicht erreicht, die breiten Schichten des PubKkums
brachten dem künstlerischen Teil der Ausstellung, so bemerkenswert
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Archiv für Kriminalanthropolo^ie und Kriminalistik. Bd. XIII.
I • • • i •
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KoUektivauöätclluug ü. i'ulueibeiiüi-deu a. d. ätädtoauäMtelluug iu Dresden. 317
er war, wenig lotereaae entgegen t ^ Hanptinlereflse konsentrierte
sich in den RSnmen, wo die Antbropometrie in wohlgebildeten
Fignien sowie die Photographie, nicht minder auch die ans Ter*
scbiedenm bekannten großen Strafsachen lierriilirenden Gegenstände
das Interesse dauernd fesselten. Es wiederholte sicli die Tatsache,
da£^ das IHiblikum den Kitzel eines gewissen Gruselus sehr gerne
sucht und empfindet und mit Vorliebe seine Aufmerksamkeit Dingen
zuwendet^ die mit der Kriniinaljustiz eng zusammenhängen.
Redeutende Praktiker und Theoretiker lial)en daher das Publikum
in mehr oder weniger geschiekter und erfolgreicher Weise zur Mit-
arbeit herangezogen, ja ich habe irelegentiicli der zu besj)rechenden
Ausstellung geradezu einen Tvpus kennen gelernt, den man mir sehr
zutreffend als den des ^Kriniinalamateurs" bezeichnete.
Bei dem hohen Interesse, mit dem das Publikum sich mit der
Tätigkeit der Kriminalpolizei befaßt, ist es wohl naheliegend, daU
anch das Urteil der Öffentlichkeit ttber die Tätigkeit der Krinünal-
polisei immer mehr an Gewicht gewinnt und nachdem nun dmnal
mit der Darlegung der Mittel, mit denen die Polizei arbeitet, ein glfiok-
Hoher nnd erfolgbrlng«ider Anfang gemacht worden ist, kann eine
Ansstellnng der Polizeibehörde als eine Art Prüfung vor dem Forum
der Öffentlichkeit angesehen werden.
Der Endzweck, das höchste Ziel, das die Behörde in ihren Be-
mühungen anstreben kann, ist die Achtung des Publikums, anfg^ut
auf der Uberzeugung von ihrer Tüchtigkeit
Wenn die Aussteller in Dresden diesen Zweck angestrebt haben,
dann haben sie ihn voll erreicht, Fach- und Laienkreise sind einig in
der Anerkennung des Gebotenen and die Erfolge dieser Schaustellung
werden gewil'» nicht ausbleiben.
Der offene Kampf gegen das Verbrechen, den ich so oft betont,
wird um so gröljere Erfolge bringen, je weiter die Kenntnis jener
Hilfsmittel dringen wird, deren sidi die Polizei zu bedienen i)flegt, die
Verfeinerung des Verbrechertums niub dann auch wieder einen weiteren
Fortschritt im Gefolge haben, denn auch hier bedeutet Stillstand —
Rückschritt
An der Ausstellnng selbst, wdohe in dem westliidien Anbau
des Hauptgebiudes in genügenden Blnmen bei sehönstem Obeitioht
untergebracht ist, haben sich unter dem bekannten, recht zutreffen-
den Motto: Quis? quid? ubi? quibus anzflüs? cur? quomodo? quando?
beteiligt, das Grofihensoglich badiache Minislerium des Innern, die
Herzogliche PoUzeidiiektion Braunschweig, die Pofizeiduektion BieaMn,
das Polizeiamt Chemnitz, die Königliche Polizeidirektion Dresden, die
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818
XVIL Paüi.
Polizeibehörde Hamburg, das Großherzoglicli hessische Ministerium
des Innern, das Polizeiaint I>eipzig und die Köni^fliche Polizeidiroktion
MfincheOi bedauerlicherweise fehlt Berlin, dessen fjurichtungeQ gewiß
mit besonderem Interesse verfolgt worden wären.
Für den Fachmann ist der Totalcindruck, den die Ausstellunjj^
auf den Besucher macht, kurz mit den Worten lirzeidmet: «Kampf der
Anthropometrie gegen die Daktyloskopie, Darstellung des technischen
Dienstes und der angewandten Kriminalistik."
Bei der Besprechung diene die nachfolgende Planskizze zum
Verständnis.
KoüMimssMmg
Messierfahrpn^
1=
iizr
Dttsdto
Lmpzig
□
Fig. 1.
Historisch bemerkenswert ist die von der Polizeibehörde zu Ham-
burg ausgestellte Reproduktion eines griechisoben Steckbriefes^ erlassen
am 10. Jnni 196 n. Ch. in Alexandrien, sdne Übersetzung in deatscher
Sprache lautet:
^Im Jahre 25 am 16 Epiphi.
Ein junger Sklave des Aristogenes, des Sohnes des ChiysippuSy
des I>eputierten aus Alabanda, ist in Alexandrien entlaufen, namens
Xermon, alias Neilos, ein geborener Syrier ans Bambyke, ungefähr
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KoUektiTaaMtelliiog d. PoliidbehSrden a. d. Stldteanwtelhisfr In Dreaden. 819
18 Jahre alt^ mittlerer GrOße, bartlos, mit geraden Beinen, im Kinn ein
Grübchen, an der linken Seite der Nase eine linsenförmige Warze,
eine Narbe über dem linken Mundwinkel, an der rechten Handwurzel
mit barbarischen Buchstaben tätowiert. Er tviif^i einen (Uirtel, dessen
Inhalt 3 Minen 10 Drachmen gemünzten Goldes, einen sill)ernen King,
auf dem eine Sulbflasche und Schabeisen dargestellt sind, auf dem
Körper eine Chlamys und ein Schurzfell. Wer ihn zurückbringt, erhält
2 Talente und 3000 Drachmen, wer seinen Aufenthalt verrät, erhält,
wenn derselbe an einem heiligen Orte ist, 1 Talent und 2000 Draclnnen,
wenn bei einem zahlungsunfähigen und gerichtlich belangbaren
Manne ist, 3 Talente 5000 Drachmen, Anzeige gütigst bei dem Beamten
des Strategen zn entatten.
Hit ihm entbnfen ial Bion, der Sidare mm Hofbeamten enter
KlasBe^ nnteEBetzt, bieitBobiiltrig, mit kiSftig entwickelten Beinen, Augen
grünlich.
Er trog, als er entlief, eine Tnnika nnd dnen kleinen Sklaren-
mantel, ein Fianenkofferchen im Werte Yon 6 Talenten 5000
Drachmen.
Wer ihn znrfickbringt, erhält dieselbe Snmme, wie für den (Angeaa,
Anzeige anoh ilber diekn bei dem Beamten des Strategen m er-
statten."
Das Schriftstück ist um so interessanter, als es sich in seiner
Textierung gar nicht von ähnlichen Kundmachungen unserer Be-
hörden unterscheidet, zudem sind besondere KörptTinerkuiale zur
Sicherstellung der Identität sehr zweckiiiiiltig angeführt, die Belohnung
war sehr hoch, ein Talent entspricht einem Betrage von ca. 4700 Mark,
ein Talent hatte tio Minen, eine Mine 100 Drachmen. Das Inter-
essanteste an dem Schriftstück ist aber, daß es auch die Abbildungen
der entwendeten Gegenstände enthält, ein dem Erfolge sehr nützlicher
Umstand, der neuestens bei den Behörden die gebührende Beachtung
findet
Geschichtlich bemerkenswert nnd von besonderem Intetease smd
femer in der Abteilung des Polizeiamtes Leipzig die Originalnrkunden
des Magistrats gegen den Betrug im Baachwerk vom 5. Oktober 1594,
die Herbergeordnnng vom 8. Hai 1599, die Gasthansordnnng Tom
Montag nach Margarete 1543, die Kntscherordnnng vom 16. Jnni 1687,
die Verordnung tlber dffenHches WafCentragen vom 14. Mai 1545 usw.
Den Mittelpunkt des Interesses bildet die Kollektivausstellung der
Bertillonage, eine Gruppe von 10 Personen, welche die Abnahme der
Armspannweite, des Kopfmaßes, der Unterarmlänge und des Fuß-
mafies zur Darstellung bringen.
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820
XVII. Paul
Die lelK-nsirroßen, naturgetreu nachgebildeten Figuren sind schon
durch den Mittoliranp: hindurch sichtbar und lenken den Strom der
Besucher sofort in die lUiume der Polizei. Die eindrucksvolle Ornpj)e
der Bertillona^'c ist aber mehr als Schaustück, sie ist das Grabdenk-
mal des Rertillonschen Systems als solchen, zum mindesten der
Bertillonsclu'n Körperniessun-i: als Registerbehelf. Die großen Ver-
dienste Bertiilona auf dem (lebiete der Identifizierung haben eine
gn^l'it' Sclimälcrung durch seine unglückliche Fntervention im DreyfuiJ-
Trozeli erfahren und Bertillon selbst erlebt den Triumph einer inter-
nationalen Regelung der Berfcilloiiage nicht mehr. Das Interesse wendet
ndb mit Beeht der Identifiaamiig tooh Abnabme der Papillarlinien-
abdrücke zu.
Die Gruppe wirkt dureb ibre OrOße^ und mit Befriedigung wendet
neb jeder Benicbar, Ton dem gelini§;eii Mentor im Kittel dee MeB-
beamten über das Wesen der Antbropometrie belebrt za den anderen
Annteilungsobjekten, weldie schon einer geoaneien Betiacbtnog ge-
würdigt werden wollen. Wir finden vor allem in der reebten Seiten-
niscbe dne Wdtttbersichtskarte Uber die Verbreitung der zwei vor-
züglichsten Systeme der Identifizierung nach Bertillon und nach (^nger-
abdrücken. In Europa, Amerika und in Asien gibt es noch Gebiete,
in welchen keines dieser Systeme in Anwendung ist, Australien wird
ganz, Nordamerika zum grol\en Teile, dann Afrika, Asien und zu-
letzt Europa der Daktyloskopie dienstbar.
Ein sehr helriircnde Zusammenstellung bildet die Aneinandcr-
reiliunir aus verschiedenen Ländern eingelaJigter anthroponietrischer
Meiikarten derselben Person mit l'hotographie, besonders deutlich
tritt auch hier die Verschiedenheit des en face Bildes nach Alter-
Tracht und selbst nach Herkunft des Bildes zutage, während dem
Eingeweihten die Linien des Profils überall die überzeugenden Be-
weise der Identität liefern. Unter der nebenan befindlichen Zusammen-
stellung von Meßkarten der verscbiedenslen L&nder liefern Obinesen,
Bossen, Türken, Inder, Argentimer und eine Algieronn bemerkenswerte
T^rpen.
Die Nebenwand ftUlt ein Glaskasten, weleber tax linken Hilfie
die Einrichtung einer alphabetisoben und der antbropometiisohen
Beglstntnr Bertillons enthalt, w&hrend zu beiden Seiten des Kastens
die yerschiedenen Abkürzungen, auch nach libidera geordnet in Tier
Tabellen sehr übersichtlich angebracht sind.
Wir sind damit schon zum Teil in das Gebiet der Darstellung
<ler l nterriclitsbehelfe zur Erlernung der Antbropometrie gelangt,
d&m die anschiieüende Wand enthält in recht gelungenen G^psretiefen
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KoUektirftiMBtellaiig d. Polisefbehfirdea a. d. Stidtetniatelliuig in Dresden. 821
die wesentlichen Fomen des Kopfes und der Gesiobtslinien und außer-
dem 12 der horvomgendsten diaiakteristiscben Olirformen.
Der korrespondierende Kaum vis k vis enthält die weiteren Bebelfe
zum antbropometriseben Unterricht, vor allem ein riesenhaftes Ohr,
dessen einzelne nach Bertillon untorschiedenen Tcilo in verschiedenen
Farben aus^reführt, dem Schüler gleich drastische Beh'hrun^i: bieten.
Zum Studium der Hand- und Fulimessunj; dienen skelettierte
Teile diej^er Kxtn'rnitäten, zur Erklärung des Kopfmai>es ein Schädel,
während ein ver<;rör)erter Augapfel die Beschreibung der Augenfarbe
und di«^ Einteilung des Iris vermitteln hilft.
Ditjse Lchrniittel sind umgeben von acht sehr sauber ausgeführten
Skizzen der Vorder- und Rückseiten des Kopfes, des Rückens, der
Arme und der Hände, an welchen gleichzeitig die Art der Aafioabme
der besonderen Kennseiehen eriftutert ist. Den Schluß der Unter-
riehtsbebelfe bildet in dieser Nische eine Zusammenstellnng yon je
sw^ Fällen yon Identität der Person trotz Unäbnliehkeit der Bilder
and von Nichtidentititt der Person trotz Ähnliehkeit der Bilder. Die
Abbildungen sind in Lebensgroße ausgefahrt, und yerdienen nicht nur
wegen der sehr gut getroffienen Wahl, sondern auch wegen ihrer teoh-
nisoh bemerkenswerten Ausführung hervorgehoben zu werden.
Wir lenken nun uns^ Schritte in den Raum, wo die Daktylo-
skopie ihre Geheimnisse enthüllt Der Gebrauch der Fingerabdrücke,
in China und im Orient (bei uns in Bosnien) seit urdenklichen Zeiten
als Unterschrift, hat Sir William Herrschel als administrativer Chef
in Indien in der ersten Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts veran-
lagt, der Tjindessitte entgegenkommend, den Abdruck des Zeigefingers
zu Identifizierungszwecken zu benutzen. Francis Oal ton ') hat die
Sache wissenschaftlich auf eine reale Bavsis gestellt und die Möglichkeit
der Registrierung durch Abnahme von Fingerabdrückeu nachgewiesen.
Zahllos waren die Forscher auf diesem (iebiete, ich hebe nur
einen hervor, der die Sache mit dem Namen bezeichnet, der jetzt be-
liebt geworden ist, sein Werk benennt sich: „Conferenzia sobre el
sistema Dactyloscopico — dada en la Bibliotheca publica de U Plato,
per Juan Vucetieh, Gef e de la ofidna de fEsladiBtica e Identificaoion
de la Policia de la Ployineia de Buenos-Aires.'* La Pinta.
Bertillon hat unstreitig yon den Bestrebungen der Engländer
auf diesem Gebiete frühzeitig Kenntnis gebab^ denn im Oktober 1893
war schon yom englischen Homedepsrtement ein Komitee dngeselzt
worden, welches die Aufgabe hatte, die in England zur Zeit bestehende
1) Finger^Priats. Macmiilan, And A eomp., Loodon.
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822
XVIL Paoi.
Methode der Registrierung von Verbrechern zu prüfen, das anthropo-
metrische System Bert'illons zu studieren und Vorschläge über die
Verwendbarkeit der Finfrorabdrücke zu gleichen Zwecken zu erstatten.
Das Komitee war auch bei Bertillon in Paris, und es ist be-
merkenswert, dal» ungefähr um dieselbe Zeit Bertillon auf seinen
Messkarten Abdrücke der Finger der rechten Hand vorschrieb. Hätte
damals Bertillon sich entschlossen, alle zehn Fingerabdrücke des
Individuums aufzunehmen, so wäre zweifelsohne der Erfolg auch
weiter an seine Fahnen geheftet geblieben.
Das Komitee unter dem Vorsitze von Charles Edward
Troup, Esq. rom Home'Qffiee erkUMe die zur Zeit in Eoglaad be-
standene H^ode der Begietriening ungenügend. In Hinsicht der
Bertillonage erklärte aber das Komitee dieses System für England
nieht annehmbar, da nnmSglich nach «iglischen Begriffen der Polizei
em so gewaltiger Eingriff in die Reohtasphire des einaehien gestaltet
werden könne, wie es die Körpermessung mit sich bringe, das
Komitee entschied sich somit für die Annahme des Fingerabdnick-
qrstemee oder sagen wir, fOr die Daktyloskopie.
Weniger glücklich war man in England in der Reform der Photo-
graphie, denn es ist, wie ich schon mehrfach^ insbesondere in meinem
Handbuch der kriminalistischen Photographie nachwies, ein unbestreit-
bares Verdienst Bertillons, daß er Profil- und Enface-Bild getrennt
und scharf zur Darstellung bringt, denn die englische Methode mit
dem Spiegel muß schon aus teclinischen Gründen als fehlerhaft und
vollkommen unverlälMich entschieden verurteilt werden. Im Jahre 1894
wurden naeli dem Vorschlag des Komitees Aufnahmen von Signale-
ments nach einem gemischten System angeordnet, das Haupti)ureau
sollte in London m Scotlaud-Yard nahe Charmg-Cross sein und sollten
nur Signalements aus den Gefängnissen aufgenommen werden. Zum
HanptbnrettDcbef wurde Dr. IL Anderson , Assistent oonimissioner
of police, zum Konsulenten Dr. med. Georg Gerson bestellt^ und
1895 sollte das ganze im Gang sein.
Schließlich wurde das System der Ungerabdrilekenach £. K.Henry,
Polizdkommissär der hauptstädtischen Polizei in London, eingeffihit
Das System konnte in England um so eher Boden ftnsen, als dort
die Tätigkeit Galtons schon seit vielen Jahren bekannt war und als
selbst in der Gesellschaft das Deuten der Fingerlinien als Sport getrieben
wird. Neuerlich geschieht dies auch in Paris, seit Dr. För6') in der
1) F6r6, Note snr Ica plia de fleadon de la pateie de Ui main. Comp. read, dee
B^anoee de la Soc; de biol. de Paris 1900. — Hontro moi ton doigt, je te dind
qui tn ee.
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Kdlekthrtontdluiig d. PdiieibehfirdMi a. d. StSdtetnaMdlniig in Dresden. 823
Biologischen Oesellschaft die Mitteilung machte, daß angeblich mit
der Feinheit der Linien, mit der Feinheit des Musters, auch die
Intelligenz des Besitzers höher zu stellen ist Das System von
Heniy ist dargoeleUt in seinem Werk mit dem Titel: Classification
and uses of finger prints. By E. K. Henry, C. S. J. London, printed
for Iiis Majestys stationeiy Office, bey George Hontledge & sons
Ltd. l'JOl. 2. Aufla<?e.
Ich scliieke diese Ausfühnin«?en zum Verständnis des nach-
folgenden voraus und bemerke, daß die Abliandlunr,' über Daktylo-
skopie im 12. Bande S. III ff. einen Auszu^^ aus diesem Werke dar-
stellt, auf den im naclifolfrenden Bezu^ freiiominen werden wolle.
Die Daktyloskopie ist als Registrier- und Idt'ulifizierungsmethode vor-
zttglich geeignet. Die Abnahme der Abdrücke erfordert keine In-
stnimente, also keine besonderen Auslagen, die ZufiUligkeiten folsch
funktionierender Instrumente und Fehlerquellen der Messenden sind
auageschieden. Die auf einer Karte abgedruckten Fingerabdrucke
lassen sich jederzeit auf ihre Bichtigkeit prOfen, ohney wie bei dem
Messen, das Individuum zur Hand haben zu mfissen, die Abdrücke
mtlssen nur deutlicb sem, die Abdrücke selbst gestatten schon Toli-
kommen Tcrlfißlicbes Urteil über Identität und Nicbtidentitit
Die Polizddirektion in Dresden widmet der Daktyloskopie einen
eigenen Baum. An der Stirnwand zu oberst findet sieh in sehr ge»
lungener drastischer Darstellung die Handfläche einer Hand mit ihren
markanten Furchen und Linien, darunter die Vergrößerung einer
daktyloskopischen Karte „Slips". Neben diesen Abbildungen befindet
sich, von links beginnend, die Darstellung der vier verschiedenen
Muster (Irr Finircrlinien und zwar i'ogcn, BeliU-ift'. ( >uirl iWirbcli und
zusammengesetztes Muster (Komjiosite;, die markanten Linien durch
rote Farbe drastisch hervorgehoben.
Die Erzeugung der Abdrücke, das sogenannte Rollen wird von
zwei Figuren in Xaturgnilie dargestellt, und es gewinnt oft mitten
unter den Besuchern den Anschein, als ob Personen lebend an der Be-
lehrung des unermüdlich fragenden Publikums teilnehmen würden.
Die Erzeugung der Abdrücke der Finger und die Vomahme des
Kontrollabdruckes mit den geschlossenen Fingern ist durch lebens-
große Photographie faBIich erläutert.
Interesse findet der Gipsabguß einer Hohlhand, deren Linien
besonders deutlich zum Ausdruck kommen, während als Gegenstück
eine Vergrößerung des Vorganges, wie die Luden in den Schleifen
gezahlt werden, ebenfalls vergrößert, angebracht ist
Während dem Eintretenden zur linken Hand eine schöne Kollek-
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824
xvn. paox.
tion von zn "Roklamezweckon naclijroniachtom Papiergeld sog^enannte
Blüten den Besehauer fesselt, zei^'t eine Zusammenstellung von Briefen
den sogenannten Sehatzgräbersclnvindel, zu deutscli, die Wahrheit des
Surichwortps, die Dummen werden nicht alle. Vereinzelte Personen
erhalten nändieh aus Spanien Briefe, in welchen der Schreiber unter
der abenteuerlichsten Schilderung seiner überstandenen Kriegsgefangen-
scfaaft in Tunis oder iihnlich dem Empfänger mitteilt, er sei in Kenntnis
eines irgendwo vergrabenen Schatzes von unennelilichem Werte, zu
dessen Hebung er nur Qeld benötige, welches er eben in Spanien, um
Aidbehen za ▼enmeidfiii, m«lit besehaffen kOnne. Die Briefe zitieNn
dann den Adresaaten snmeiat an entlegene Orte und enden mit einer
Anffoidening an einen beedmmten Ort Geld m senden mit dem der
Betroffene immer bineinfiUli (Vergl dieeea Arohir Bd. lY. S. 81.)
An der Unkaseitigen Wand des Banmea befindet sieh eine inter-
eieante ZnaammensteUnng von EaaBeneinbreoherwerkaengen and Be-
standteilen erbrochener Kästen.
Diese dffenttiobe Schaustellung ist um so bemerkenswerter, als man
neb noch Tor wenigen Jahren scheute deiarligea öffentlich zu zeigen,
indem man es mit dem Sprichworto bielt, „man zeige den Dieben den
Weg". Der kriminalische Fachmann weiß aber, daß es ganz andere
Quellen der Belehrung gibt, die den Unterricht suchenden Verbrecher
weit gründlicher für seinen Benif vorbereiten, als eine Ausstellung,
die er kaum besuchen dürfte: wenn man aber derartige Oei^enstiinde
ausstellt, informiert man große Schichten des Publikums, der einzelne
spielt gerne und oft den Geheimpolizisten und schon das zufällige
Entdecken »solcher Werkzeuge durch Ijiien bei Verdächtigen kommt
und schafft tatsächlich oft den grüßten Nutzen. Dem Getriebe der
Großstadt mehr entrückt ist das mittlere Tableau; welches den t ang
und die Erlegung des Wildes auf verbotene Art durch Vogelsteller,
Sohlingenleger und BanbsebtUien anm Gegenstande hat
In dem unterhalb dieses Tableaus angebmehten Glassehnnk
fesseln yor allem das Interesse die verschiedenen Beste des Aher-
gisnbens» die im Volke nooh immer leben.
Unter anderem ein ndt Blut beschmierter Zettel, im Oeldtlsdhöhen
getragen, mit der Teuf elsverschreibnng : ich yenchreibe midi von heute
ab in Gewalt um Beichtum zu besitzen und ergebe mich allem —
den -25. Juli L. L. Teufel, Teufel, Teufel, komme, komme. —
Da finden ^ich auch Päckchen mit Kräutern gefüllt, die ein
spekulativer Kopf ^gegen verhextes Vieh an der Stalltüre anzubringen",
das Stück zu 3 Mk., verkaufte; Bleche mit eingeritzter Schrift, Bibel*
Sprüche und ein Totenkopf, den eme Zigeunerin beim Wahrsagen
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KoUektivaasstelluug d. Polizoibebördcn a. d. StädteausateUung in Dresden. 325
]>eDiitite, um ibien AaBsprficlieik mehr Glauben nad offenbar aneh
mehr Honorar za nehern.
Hienm reiheii sieh interessante Kassiber, die den Gefangenen
die Korrespondens mit der Anfienwelt vermitteln, hierzu diente ein
BriUenfuttöal im Boofcfirmel, ein eingenfihtes Stttek I/anwand nsw«
Ans dtm Beiefae des Betrugs bleibt niebt ohne Interesse ein
skelettierter Ocbsenkopf von einem Sdiiacbtneb, das zur Versteaerung,
um die Behörde zu täuschen und um nur eine geringere Gebühr ent-
richten zu müssen, als Stier anj^emeldet wurde, zu welchem Zwecke
in den Kiefer aus einem Kalbskopfe zwei Milchzähne eingesetzt worden
waren. Falsche Würfel, auf verschiedene Art gezeichnete Karten, eine
Anzahl der häufigsten Oaunerzinken, falsche Münzen füllen den Kasten,
in welchem uns noch eine mit Röntgenstrahlen verpackt ])hoto-
graphierte Höllenmascliine, die an die Adresse des Polizeipräsidenten
irelangte und als verdächtig photographiert wurde, besonders auffällt.
Diese \'erwendung der Röntgenstraslen, die schon bei Zollämtern zur
Prüfung des Inhaltes von Packsendungen viel Anwendung findet,
bietet einen Hiciurtn Sehutz gegen die (Jefabren der Höllenmaschinen,
vorausgesetzt, dal) man die Sendungen schon als verdächtig beanstandet.
Sehr belehrend wirken Proben von Schnitten mit schartigen Mesaem
und die Untersuchung ihrer Spuren auf GipsbllSeken zum Nachweise
boshafter Beschädigung von Bäumen. Von historischem Interesse ist
ein Steckbrief, mit welchem Bichard Wagner in Eberhards Polizei^
anzeiger Bd. XXXVI vom 11. Juni 1853 I. A.652, verfolgt wird, der^
selbe lautet:
„Wagner, Richard, ehemaliger KapeUmeister aus Dresden, einer
der hervorragendsten Anbänger der Umstnrzpartei, welcher wegen
Teilnahme an der R« v(tlution in Dresden im November IS 10 f Bd. XX VIU
S. 220 und Bd. XXXII S. 306) steckbrieflich verfolgt wird, soll dem
Vernehmen nach beabsichtigen, sich von Zürich ans, woselbst er sich
gegenwärtig aufhält, nach Deutschland zu begeben.
Hehufs seiner Ilabhaftwerdung wird ein Porträt Wagners, der im
Betretungsfallo an das königliche Stadtgericht in Dresden abzuliefern
sein dürfte, liiir bei «gefügt.**
Viel iM'acbtet ist auch eine Kollektion falscher ?teni])el, bekannt-
lich ein»' Industrie, dit,- in (iefangenen- und Arbcit.sliiiusrrn hiiihl, genug
Schaden anrichtet und leider noch wenig bekämpft wird. \on Inter-
esse ist auch das Modell eines Zellenwagens im Volksmunde der grüne
Wagen genannt. Der Wagen dient zum Transport der Gefemgeuen;
die Einrichtung ist dadurch bemerkenswert, daß der ttberwaehende
Gensdarm bei der Türe sitzt, ein Baum für renitente Individuen T0^
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388
XVIL Paix
banden i^t und somit allen Anfordemngeii Mitaproohen iatf die mui an
ein soIcIh's Fuhrwerk stellen kann.
In iiliniieher Weise bietet eine Nachbildung einer Reihe von Zellen
aus dem Zellengefän^nis der Polizeidirektion einen anschaulichen und
übersichtlichen Einblick in diese dort bestehenden Einriclitun^en.
Dem Eintretenden fallen zur rechten Hand sofort drei ^roRe Tafeln
in die Augen, welche angewandte Fälle der Daktyloskopie zum Gegen-
Btande haben.
Der Mittelfall behandelt Fingenibdrückef die bei einem Morde
anf einem wdfien Tiaebtach zurückgeblieben waren.
Die andern Fllle betreffen beide denselben TMer, weleher in emem
Zwisebeniaom von 2 Jabien je einen Elnbrncbsdiebetabl in einem
nnd demselben Kaffeehanse Terübte, wo er das eine Mal die Sporen
adner reohten Hand auf dem SpSegel der Kredenz, die er zu eibreohen
anchte^ znrftekließ, während er m der glddien Abriebt das niehstfol-
gende Mal seine von gebranntem Ziuikat besehmutzten Finger der lin-
ken Hand auf dem Aufschreibebneb der Kassiererin, daa anf dem
Tische lag, abdrückte, welche Spuren in beiden Fällen zur Überwei-
sung des Täters ftthrteo.
Die Orig^nalspuren sowie auch die Fingerabdrucke sind auf den
Tafeln in starker Vergrößerung abgebildet und ist insbesondere durch
Hezugniilinie auf die (.bereinstimmungen in den Abdrücken deutlich
deren Identität nachgewiesen.
Wird erwogen, dnl) in einem bestimmten Straffall zumeist aucli
nur ein bestimmter Kreis von Personen in Verdacht kommt, so ist
es an der Hand solcher lie weisstücke mitunter möglich, den allenfalls
schon registrierten Täter selbst auf Grund der daktyloskopischen
Registratur aufzufinden.
Von besonderem Werte aber ist es, daß man mitunter durch Ab-
nahme der Fingerabdrfieke yerdichtiger Personen sofort einen TeQ
von Personen mit Bestimmtbeit als unbeteiligt ausschalten kann.
Diese in die Augen fallenden Tafeln finden eme inteiessante Er-
gfnsnng durch die unterhalb derselben in dem Glaskasten ansgestelllen
Versuche latente^ unwillkürlich binterhissene Abdrücke Ton Hand- nnd
Fnßflfteben auf 6la% Papier usw. sidhtbar an madiea. Wer hat nieht
schon zu seinem Verdruß auf den blanken Teilen einer Kasse die
rostigen Papillarlinienahdriicke eines schwitzenden Fingers bemerkt,
wem fiel es nicht auf, dafi ein Versuch, den heißen Lampenzylinder
zu richten, die Spuren unserer Fingerlinien am Zylinder aufwies,
welche Hausfrau bat sich nicht schon über die Dienerschaft beklagt,
die nicht imstande sei, reine Trinkgläser auf den Tisch zu stellen.
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KoUeküvausfttciluiig Polizeibehörden a. d. Städteaussteliung in Dresden. • 32 7
Ich verweise auf das 2. Heft des Bandeii woselbst nadi An-
gaben des Dr. Groß das Siebtimrmacben latenter Fingerabdrileke des
weiteren behandelt ist. Ich halte diese Daistdlnngen der sichtbar
gttnacbten AbdrCLoke in verschiedenen Farben fOr die weitere öffent-
lidikdt sehr nfitzlichf da eme Menge von Laien in der Sache belehrt,
sehr Idcht in die Lage kommen kSnnen, in einem vorkommenden
FsUe voifindliche Abdrücke für die Behöide zn erhalten nnd vor
Zerstörong zu schützen.
Sehr belehrend und geschickt eizeugt, befinden sich in (hm er-
wähntoi Kasten Abdrücke von unbekleideten Händen und Füßen,
abgenommen mit Gips, Schwefel, Paiaffini Wachs, ja selbst von Ab-
drücken in Schnee und Mehl.
Ein Abklatsch einer Felsspitze und wieder zusammengesetztes
^ erl)ranntes Pa|)ier zeugen von besonderer Geschicklichkeit und Ge-
duld des Arbeiters.
Von jrleicliem Fleifie zei^^en zwei plastische Terraindarstellungen
eines Tatortes, die eine nach dem Nagelsystem (eingeschlagene Niigel
zeigen die Coten an, welche bei Ausfüllung des lUiumes zwischen den
Nägeln die obere Fläche bestimmen), die andere nach Art der Mili-
tärkarten nach dem Flattensystem (geschnittene Pappscheiben den
einzehien HShenschichten entsprechend anf^nandergelegt).
Den Kasten zieren noch Kommissionstaschai und ein Besteck znr
Erzeugung von Papillarlinienabdrücken, sehr zweckmäßige Anrieb-
tnngen, deren Brauchbarkeit die BehSrde jedenfalls selbst erprobt hat.
Das Besteck ffir daktyloskopische Aufnahmen ist gewiß zeitgemüß
es wSre selbst der Fall zn denken, daß das euizelne Organ im Besitz
eines oder mehrerer Fmgerabdrücke eines Individunm, bei Betretnng
sofort Versuche anstellen wollte, nm sich sofort von der Richtigkeit
des Verdachtes zu überzeugen, was ja, „wie der Praktiker zugeben
wird*^, in der größten Zahl der Fülle sofort spruchreif eruierbar sein wird.
Wir nehmen Abschied von dem interessanten Raum, nicht ohne
mit Überraschung eine Tafel eingesehen zu haben, auf welcher die
seltensten Legitimationspapiere in scheinbar frapi)ant echtem Kleide als
Fälschungen ausgestellt sind, ein Beweis, daß viel mehr falsche Doku-
mente im Umlaut sich befinden, als die bezüglichen Behörden anzu-
nehmen geneigt sind.
Bevor wir uns dem gegenüberliegt inU-n lüiuini' zuwenden, den
die Polizeibehörde von Hamburg ausfüllt, verweilen wir ein wenig
im Zwischengange, woselbst durch proportioneile Darstellung der Größe
eines Schutzmannes die 2iahl der Beamten der Polizei und durch Dar-
stellung eines Sackes der Aufwand für die föcherheitspoliiei der Stadt
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328
XVU. Vavu
Dresden seit dem Jahre 1853 bis 1903 reeht augenCSUig dargestellt
ist Die Kosten, sa denen die Stadt flberdieB einen Beitiag leistete,
betrugen 1853 143768 M. und sind 1903 anf 647 457 beaw. 2 248 475 M.
gestiegen, während 1853 eine ZaU Yon 301 Beamten den Dienst ver-
sahen, nahm das Jahr 1903 schon deren 1040 in Ansprach. Die
Ursache dieser Steigemng stellen zwei weitere Tafeln dar, welehe
dnieh Abbildung einer prozentuell gewählten Anzahl von Personen
reeht anschaulich die Zunahme der Bevölkeron^^, andererseits karto-
graphiseb den Wachstum dos Weichbildes von Dresden in dem Zeit-
räume von 1853 bis 1903 darstellen. Während die Bevölkcrung-s-
ziffer für lSr>:i zu 105 300 Personen durch 5 Männer und ein Kind
dargestellt werden konnte, mußten zu der Darstellung für da«
Jahr 1903 schon 21 Männer und ein Jüngling gewählt werden, es
hat sich also in dem Zeitraum von 50 Jahren die Bevölkerung fast
verfünffacht, eine Tatsache, die auch die zur Schau gestellten Adreli-
bücher schon nach ihrem Umfange erkennen lassen.
Wir schreiten in den gegenüherliegenden Kaum, aus dem uns das
Wappen der freien Hansestadt Hamburg entgegenleuchtet- Welcher
Fachmann kennt nicht die Polizeibehörde der Hansestadt Hamburg,
wer beneidete nieht die BehOide^ weldie Ton dem dnnohte?ollen Senat
für ihre rUhmlicfaen tonangebenden Bestrebungen anf dem Gebiete der
krinunalistiBohen Photographie eine namhafte Jahresdotalion besieht?
Wie Tielseitig ist nieht die Tätigkeit dieser PoUseibehördei die am Tore
von Enropa, Asien nnd Afrika gelegeni sehr oft Gelegenheit findet, die
schwierigsten Amtshandhrngen voiEnnehmen, die mit Leuten aller
Zonen zu arbeiten hat, die ein Emporium des Welthandels Gelogenhett
find( t. unmittelbar mit den VerbrechergrQfien yon England und Amerika
ihre Kräfte erfolgreich zu messen?
Und interessant ist es, diesen Kampf in der Nähe amsUBeheO, die
dem bureaukratischen Wesen fremde, mehr den Bedürfnissen eines Kon-
tors angepaßte Oescliäftsordnung, ja schon der beständig ohne Auf-
sicht dem einzelnen frei zu^^iinirliclie Aufzug im htadthause, bei dem
kein Unfall sich ereignet, zeigen, dali man hier mit Ausnützung aller
Mittel auf die einfachste Art bestrebt ist, groüe Erfolge zu erzielen.
Aber nicht allein der kühle \'erstand herrscht in den liäumen des
Stadthauses, auch das Herz schlägt den Hamburgern am rechten
Fleck und der gev^'innende \'erkehr des Chefs mit dem eifrigen
Untergebenen sind nicht zum geringsten die Faktoren, die große Er-
folge zeitigen und den Ruf der Behörde begründen helfen.
Dies mnflte Tontusgeschickt werden, um die Ausstellung der Ham-
burger au Terstehen. Am Eingang fiUlt uns eine Anzahl ron ^kten
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Kollektivausstellung d. Polizeibehörden a. <l. Städtcaufistollun^? in Dresden. 329
auf, welche Personen darstellen, deren Identität nicht feststeht und
üher deren Herkunft aus dem Publikum Nachrichten erwünscht sind.
Im Räume selbst fällt uns das eigenartige der Verhältnisse sofort
auf. Zwei nette naturgetreue Nachbildungen einer Dampfbarkasse und
eines Motorbootes, mit welchen die Kriminalpolizei im Hafen den Dienst
versieht, gestatten dem Beschauer, im Verein mit einer Photographie
der ganzen Poli-
zeiflotte, sich eine
Vorstellung zu
schaffen über die-
sen interessanten
Teil des Dienstes.
Zu den ange-
nehmsten Erinne-
rungen der Gaste
in Hamburg zählt
eine Fahrt im Mo-
torboot der Kri-
minalpolizei in
Gesellschaft des
liebenswürdigen
Hafenkapitäns.
Daneben be-
findet sich ein
Apparat zur Auf-
nahme von Lei-
chen usw. aus der
Vogelperspektive,
welcher bei der
Polizeibehörde in
Hamburgzu aller-
erst zu diesem
Zwecke in Ver-
wendung kam
und neben anderen Vorteilen jene monströsen Aufnahmen verhindert,
die mitunter in den Münchner Fliegenden zum Spott der Amateure
Fig. 2.
Die Abbildung
zeigt
die Anwendung dieses Apparates
erscheinen,
nach einem Hamburger Bild.
Über die Ausdehnung des Polizeigebietes und die Einteilung des
Dienstes erteilt Belehrung ein großer Plan. Die dem Dienste selbst
dienenden Behelfe als Ilandschriftensammlung, Oeneralkartenregister,
AiciÜT fdr Krimkoalsntbropototsic. Xlil.
•)•>
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880
XVQ. Paul
Vcrbn cluTiill)!!!!!, S|)it/iia!iM ii\ tTzcielinisse, eine verkleinerte antliropa-
nietriselie Registratur ( ntliultcn für den Fachmann eine Fülle intereü-
Banter Details, dir an Ort und Stelle studiert sein wollen.
llerv(irzuli< l)i Ii >iiul die Falindungshiiclier, die alle S Wochen neu
gedruckt und an jedem Werktag mit den die Änderungen enthaltenden
Tekturen versehen werden.
Sehr zweckmäßig, jedenfalls zwe^mülMger als die Zwangsjacke,
die schon manches Unheil angerichtet, erscheint mir das ausgestellte
Zwangslager, eme mannsbrdte und ebensolange Kiste, in der das
betreffende Individuum dnreh Riemen festgehalten und am Hemm-
schlagen natnrgeraäfi gehindert ist Hambnig vollsiebt die Todes-
strafe durch Guillotinieren und die aosgestdlte Guillotine versinnlicht
den traurigen Vorgang, wfihrend in dem Drehgestell des Baumes
sich die Al)hildun<2;en der
T< »teninasken Justifizierter fin-
den. Die Stirnwand ziert das
Stadthaus mit Abhildungen
und seiner Tnnmräunie, wel-
ches aber schon lanj:e nicht
mehr für die Bedürfnisse der
l\»lizei zureicht, im Glaskas-
ten unterhalb befinden sich
►Schlielizcuge, Handfessel, sehr
hübsch erzeugte Spuren von
Händen und Füßen, Nach-
bildungen von Einbrecher-
werkzeugen, ein handliches Besteck eines EmbrecheriKQnigs und eine
sehr lehrreiche Sammlung von Blutspuren auf Holz, Papier usw.
Ein photographisches Binode^ dessen Verwendung nebenan sicht-
bar ist, verdient besonders erwShnt zu werden, nachdem mit dem-
selben eine Bahe von Personen (am Turf usw.) photographiert wurden,
deren Bilder die Behörde sich einst nicht so leicht bescliaffen konnte.
Unter den aus^n >t( lht n Mordwerkzeugen fällt insbesondere ein
in der Aui:e!i;::ej:end durchstoliener Sehädelteil auf mit einem Sonnen-
schirm, durch dessen beschlagenes Ende der Besitzer des Schädels
ums Leben kam, eine drastische Warnung: für manchen Besucher der
AusstelI^nL^ der die lasterhafte Oewobnheit bat, mit dem wa«,'erechten
►Schirm unter dem Arm in den Straüen zur beständigen Gefahr für
seine Mitliür^^er zu wand« In.
An rh r anstoln ndeii Seitenwand finden sich sämtliche Abzeiclien
der Polizeibediensteten und zwei Bilder der Mannschaften, auf dem
Fi«. 8.
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Kollektivausstellung d. Polizoibcliördcu a. d. Städteausstollung in Dresden. 331
daranter befindliclien Längstisch das Modell eines Reproduktions-
sclirankes mit Tagesmappcn für 6 Monate. Ein Nationalitätenrefi^ister
des Meldeamtes und verschiedene andere Behelfe des inneren Dienstes,
unter denen insbesondere ein Verzeichnis sämtlicher Dienstherrschaften
mit deren Namen und der bei denselben bedienstet gewesenen Personen
sehr gute Dienste leisten dürfte.
In den Tafeln der Drehgestelle finden Hamburger Fuhrwerke,
Richtschwerter, die mittelalterlichen Strafmittel, als Schandpfahl, Rad
usw. photographische
Darstellung.
Belehrend sind ins-
besondere einige Tatbe-
standsaufnahmen, unter
anderem den neben-
stehend abgebildeter
Kasseneinbruch, Abbil-
dungen von Herbergen,
Tätowierungen, Rönt-
genaufnahmen sowie
ein alter Haftbefehl aus
dem Jahre 1 105.
Wir kehren nun-
mehr in den Uaupt-
rauni der Dresdner Aus-
stellung zurück , um
dort das auf dem (to-
biete der Kriminalistik
und des praktischen
Dienstes Gebotene zu
besehen. Die wesent-
lichsten Dienste leistet Yig. 4.
der Polizei die Mithilfe
des Publikums, welche auch in der Ausstellung in anschaulichster
Weise durch zwei Kästen in Anspruch genommen wird, die sich in
dem linken Nebenraume neben der Kollektivgruppe befinden. Der eine
Kasten enthält gefundene Gegenstände, von denen die Polizei Ursache
hat anzunehmen, daß sie mit einem Verbrechen zusammenhängen
und trägt die Unterschrift: Wem gehört dies?, während der zweite
Kasten mit der Überschrift: Wer weiß etwas V Photographien und
Steckbriefe von Personen enthält, deren Identität oder Habhaftwerdung
der Polizei besonders am Herzen liegt; diese erbittet hierüber Mit-
22*
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333
XVII. Paol
teilun^'cn aus dem Publikum. Es ist pnviß am Platze, j^erade an
dieser Stelle den» ^'rriltert'n Pui)likum die Kenntnis einer Einrichtung
zu vermitteln, die schon oft ihre Probe bestanden hat.
Um aber nicht wieder auf einem Umwege diese Abteilung auf-
suchen zu müssen, wollen wir hier unsere Aufmerksamkeit einem
Schranke zuwenden, der die Überschrift trii^jt: Hilfsmittel der modernen
Kriminalpolizei.
Naehdem der Inhalt fttr yerscliiedeiie FMhkraiM beeonderas loler-
esse haben durfte, will ieh es mir nieht Tenagen, ihn, wenn aoeh
nnr flflehtig, zn besprechen.
Zu obeiBt befinden eich die eogenanntiea KategorienkJtoten, in
wdehen die Verbrecher nach ihrem Metier geordnet sind, eodann alphap
betiaeh geordnete Bogisterfcarten xnm Verbrechemibnm, wetters eine
Handschriftensammlung nach Verbreoherkategorien geordo^
Eine Reihe Ton Bllcheni, deren Aufschriften dem Fachmann ge-
nügen werden, um zu erkoinen, welchen Vorteil und welche &folge
der Inhalt zu bringen Termag. Dieselben lauten : Tauf namenverzeichnis,
Spitznamenverzeichnis, Verzeichnisse der aus den Strafanstalten ent-
lassenen, in die Strafanstalten eingelieferten und aus den Strafanstalten
beurlaubten Personen. Verzeichnis internationaler Verbrecher, Samm-
lung kriminalistisch interessanter Zeitungsausschnitte, Verzeichnis der
Kennzeichen der unter Polizeiaufsicht stehenden Personen, der ört-
lichen Gaunersprache, der Spezialitäten, der Falsifikate (Metall- und
Papiergeld), der deutschen Konsulate und Gesandtschaften, der aus-
wärtigen Polizeibehörden, der Arzte, der Ilebammen, der wund-
ärztlichen Hilfsstellen der Sanitätswachen , der Bankgeschäfte, der
Theater, Varietes nnd Singspielhallen, der Hotels, der Öffentlichen
Tanzlokale, der Gasthänaer nnd Herbergen, der Scfaankbetiiebe
mit weiblicher Bedienung, der Gesinde- nnd SteUenvermittfer, der
Hindler und Trödler, der Stempebchneider, der Pftuidlaher, der
Uhrmaoher nnd Goldarbeiter, der Fahrradhändler nnd der Antiqni-
tiUenhändler.
Weiter finden wir eine Sammlung der einkommenden Spfthbtttter,
die uns nicht minder interessiert, und zwar:
United States of Amerika : The Detective. Bayer. Zentralpolizei-
bhitt, München. Deutsches Fahndungsblatt , Berlin. Elsaß - rx)tbr.
Polizeianzeiger, Straßburg. Fahndungsblatt des Kgl. Württembergschen
I^indjägerkorps, Stuttgart. Internationales Kriminalpolizeiblatt, Mainz.
Königl. preuß. Zentral|)olizeiblatt, Berlin. Königl. sUchs. Oendarnierie-
blatt. Prager Polizeianzei^^^er. Wiener Zentralimlizeibiatt. Züricherischer
Polizeianzeiger. Londoner lllustrated Circulares.
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Kollektivausstellung d. Polizeibehörden a. d. Städteausstcllung in Dresden. 333
Femer finden sich Diebstahlsregister. Kästen enthaltend Karten-
verzeichnisse über gestohlene Uhren, Goldsachen und Fahrräder, liierzu
Verzeichnisse der Namen, der Straßen der gestohlenen und bekannt
gegebenen und der gestohlenen ^und nicht]bekannt'gegebenen Gegen-
stände.
Weiters eine Anzahl von Kästchen, enthaltend Sammlungen
von Siegelmarken und Stempelabdrücken von Staatsbehörden, Kirchen
und Schulen, Städten, Gemein-
den und Gutöbezirken, Samm-
lungen postfertig adressierter
Briefumschläge für eilige Post-
sendungen und zwar: Turnus
A für Polizeibehörden Kreis-
und Obergendarmen in Sachsen
und Turnus B für die größeren
sächsischen und hauptstädti-
schen Behörden Deutschlands
einschließlich der Hafenstädte.
Endlich Turnus C für die
größten Polizeibehörden des In-
und Auslandes.
An diese Behelfe schließt
sich eine reichhaltige Hand-
bibliothek für die Bedürfnisse
der Behörde, welche Krimina-
listik im weitesten Sinne zum
Gegenstand hat und aus aller
Herren liinder sich rekrutiert.
Benierkenswerterweise
schließt sich an diese Bibliothek
streng wissenschaftlichen und
dienstlichen Inhalts eine Samm-
lung von Werken der Roman- 5-
literatur.
Es ist nur zu billigen, daß man einerseits trachtet, die seltenen
freien Stunden der Beamten in dieser Weise zu kürzen, aber die Sache
hat noch einen tieferen Sinn und Nutzen. Der mit Absicht und Sorg-
falt gewählte Inhalt der Bibliothek ist eine Art guter, theoretischer
Vorschule und Schablone für den Beamten, dem die Aufgabe zufällt,
dem Täter einer l.'beltat nachzuforschen. Die mehr als gewöhnliche
Phantasie mancher Kriminalschriftsteller regt auch die Phantasie des
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884
XVIL FAVh
Li'^ers an und die l'hpltaten unserer Zeit, niclit selten der über-
schwenglichsten l'liantasie entsprungen, finden so entsprechend einge-
weihte und erfahrene Ilächer.
Im aiifltoBendeii Baume finden wir eine sehr zweckmäl^ige Kon-
struktion des Berti Hon sehen AnfhahmeatalileBy der sieb insbesondere
dadnioh anszeiebnetf daß der Sessel fest mit dem drehbaren Boden-
brett yeriranden ist, das dnreb eine^''^mit dem Fofie des Operateors
zu bewegende Klinke
in der riebtigen Stel-
lang festgehalten wird.
Der beigegebene photo-
giaphisehe Apparat
(Fig. 5) jEeichnet sich
vor dem sonst f&r die-
sen Zweck erzeugten
besonders durch eine
solidere Konstruktion
aus.
Dem Zwecke recht
entsprechend präsen-
tiert sich hier auch ein
Stativ zur Aufnahme
aus der Vogelperspek-
tive (Fig. 6), welches
sieb von ähnlichen Eon-
stmktionen froherer
Zeiten banptsSehfich
durch sebe Einfachheit
und Leiehtigkeit aus-
zeichnet
Die wesentliche
Verbesserung besteht
darin y daß die einzel-
nen Füße, bohl in ihrem Inneren, die Verlängerung zu verBchieben ge-
statten, während der Unterteil an seiner Außenseite mit gerieften, guli-
eisemcn Auftritten versehen, bequem die Besteigung, gerade wie auf
einer (allerdings viel schwereren) Leiter gestattet. Ein Apparat zu
selbem Zwecke findet sich in der korresjHtndierenden Ecke vis-ä-vis
allein, nach Art einer Doppelleiter konstruiert, nimmt er schon so
viel Raum in Anspnich, dal« wir, gute N'erwendbarkeit vorausgesetzt,
dem ersten Apparat wohl den Vorzug einräumen müssen.
Fig. 6.
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KoUektivauastelluug d. Polizcibdiürdeo a. d. ätädtcuu&ätellung m Dretidoa. 335
Eine hfiufig Torkommeode Aufgabe der Polizei, lOst eine kleine,
unsobeinbare Vonrichtong.
Eb handelt sich der Behörde sehr oft dämm, eine Zusammen-
stellmig Ton Werkzeugen, Schlttssehi oder anderen mitunter kleinen
Gegenständen lasch zu photographieren, wegen der Raum- und Geld-
enparois ist es aneh notwendig, die einzelnen Gegenstände entsprechend
zu gruppieren.
Bisher half man
sich damit, daß man
die einzelnen Gegen-
stände mit Faden
oder Draht auf eiiuT
Fläche befi'sti^'tf und
so photographierte.
Allein dies er-
fordert Zeit, die man
nicht immer zur Ver-
ffiguDg hatiroddann
macht sich auch der
Umstand unange-
nehm bemerkbar,daß
die kleinen und mehr
oder weniger hohen
Gegenstände Schat-
ten werfen, die das
Erken n en d er (1 egen-
stände . besonders
wenn Abzüge auf
Bronisilbcrpapior er-
zeugt werden, unge-
mein erschweren.
Diesem Uhel-
stande hilft eine
einfache Vorrich-
tung ah.
Die Gegenstände werden auf eine durchsichtige Glasplatte gelegt,
unter welcher gegen dieselbe unter Ab^ geneigt, sich eine weiße Fläche
befindet Anf diese Art wird das Licht auch von unten nach oben
reflektiert und die mfihelos nach freier Wahl und rasch auf der Glas-
platte gruppierten Gegenstände können ohne weiteres ohne Schatten
durch den Apparat aufgenommen werden, der an einer senkrecht an-
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336
XVII. Paui.
Flg. S.
gebrachten leiste verschiebbar anjj^ebracht ist. Die abgebildete Vor-
richtung (Fig. 8) dient diesem Zwecke ').
Das Menschen-
und Tierhaar,
welches in der
Kriminalistik
schon wegen der
Bestimmbarkeit
seiner Provenienz
eine bedeutende
Rolle spielt, ist
an der anstoßen-
den Wand durch
eine Reihe von
transparenten
vergrößerten Bil-
dern dargestellt,
während eine
Darstellung des
Dresdner Fuhrwerkes im öffent-
lichen Verkehr mit einem Stadt-
|)lan den Hintergrund der photo-
graphischen Apparate bildet
Ein Teil der Besucher wid-
met sich der Besichtigung der
hier aufgestellten Bioskope, wel-
che Darstellungen von Tatbe-
standsiiufnahmen und ähnlicher
(Jegenstände enthalten, während
ein anderer Teil den Kriminal-
aniateuren zuhört, die in mehr
oder weniger richtiger Beschrei-
bung den Zuhörern die Bedeu-
tung von Bildern erläutern,
welche an der dritten Wand
des Raumes, unter der Auf-
schrift : Photographie im Dienste
der Polizei, angebracht sind.
• Ii Die plipii licsprochcnen App.nnitc sind von ilcr Firma Aktieugcscllacliaft
für IMidtograplilK-lu' lU-darfsartikel vormals llüttit,' Sohn in Dresden erzeugt
iiud au.sgc»tellt wordcu und köjinen bestens enipfublcn werden.
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KoUekdTaiiMteUing d. PoUseibehSideQ a. d. StidtenNtellitiig in Dieaden. 887
Wir finden Aufnalniien von Personen, die im Freien unbemerkt
für Zwecke der Polizei pboto^raj)hiert wurden. So z. B. ein Taschen-
dieb während einer Auktion (Fifr.O). Es kann beispielsweise jemand den
Verkehr mit einer bestimmten Person, seine Anwesenheit an hestinim-
tera Orte leugnen und kann gegebenenfalls, durch eine mittelst eigener
hierzu vorhandener Apparate und die mit denselben hergestellte Photo-
graphie dokumentarisch überwiesen werden. Eine redit ÜBlale Ge-
Bchichte stellt ein unter den obigen Bildern angebrachtes Bild dar.
In einem Hanse wnrde ein Einbmeh TerUbt, znfiUlig hatte der Wirt
nngeftbr nm dieselbe Zeit sein Gescbift mit seinem vor das Haas
getretenen Penonale photographieren lassen nnd znfiUligerweise fiel
der Polizei anf diesem Bilde «fie Photographie eines Mannes aafi der
gewiß nicht zufällig anwesend war, nachdem bald herauskam , dafi
er für seinen, der Polizei bekannten Genossen den Aufpasser ge-
macht hatte. Unterhalb dieser Photographie finden sich Anklänge an
den berüchtigten Prozeii Dreyfuß, eine drastische Mahnung an Sach-
verständige, sich jederzeit nur streng mit den Original ien selbst zu
befassen fdas berüchtigte Bordereau wurde den Mitgliedern des Kriegs-
gerichtes nur in Photographie vorgewiesen), das Beispiel einer Brief-
fälschung auf photographisclieni Wege.
Aus einem Briefe gleichgültigen Inhaltes sind Worte, welche zur
ZusaniHH iistellung einer Mitteilung kürzeren Inhaltes genügen, heraus-
geschnitten worden, (Die herausgeschnittenen Worte sind schwarz
ausgefüllt ! und wurden in Form einer Karte zu einer neuen Mitteilung
vorbereitet, welche natürlich mit dem Inhalte des Briefes, wegen der
willkürlich ausgewählten Worte nichte gemeui hat
(Die dem Brief entnommenen Worte sind anf schwarzem Gmnde
dargestellt, nm dieselben drastisch hervorznheben.)
Wurd nnn diese Karte mit den zn einem neuen Inhalte verwen-
deten Worten pbotographierl^ nnd werden, was leicht geschehen kann,
durch Betonche die Spuren des Ausschneidens zerstört, so liegt eine
Photographie absolut echter Schrifizflge vor, welche der Schreiber
selbst anerkennen muß^ wiewohl er der festen Überzeugung ist, eine
Karte dieses Inhaltes nicht geschrieben zuhaben. Wir finden weiter
die Abbildungen des photographischen Ateliers der Polizeibehörde,
Aufnalmien nach Berti Hon und nach dem englischen System mit
Spiegel, Aufnahmen von laichen und einige der musterhaften Bilder
aus den Werken Berti 1 Ions,
Weiter eine Reihe von Bildern, darstellend erbroelHMie Kassen
und Tatl)estandsaufnahmen, Vergrölterungen echter und duri'li das
Fenster nachgefahrener Schriftzüge, eine vergröberte Urkunden-
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338
XVII. l'AUL
fälschunj::. Die Art dos Xfiehweises^eines Holzdiebstahlea durch Über-
einstimnmnj^ der Photo^^raphien^der Jahresringe des im Walde stehen
;j^ehliehenen Ilolzstaninies und des beim Täter j^efundenen Ab-
schnittes, sowie die Thoto^^raphic eines fehlerhaften Schuhes mit
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KoUektiTaoaiteOiiiig d. PoliieibeliÖTdeii a. d. SOdtMOflatelliuig in Drasden. 889
Fig. 11. Teil einer ecliten Unton*chiift
Fig. 12. Die durcb NachziefaeD duidis Fenster geflUsdite Untmdnift.
Flg. IS. Zittern infulgoiliobeu Alten.
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340
XVII. Paul
der von diesem erzeugten Fußspur, die zur ÜberfUlirung des Täters
gedient hat.
In der rechtsseitigen Seiten-
nisclie findet sich eine Darstellunfi:
einer eigentüniUchen Geheim-
schrift, die des Interesses wegen,
das sie fand, des Breiteren be-
sprochen werden soll.
Dem berüchtigten Intriguen-
spiele der französischen Uöfe war
es ganz angemessen, daß der Mi-
nister der auswärtigen Angelegen-
heiten unter Ludwig XVI., Graf
von Vergennes, eine eigene Schrift
einführte, um den Überbringer
selbst gleichsam durch einen Urias-
brief dem Empfänger auszuliefern.
Der nichtsahnende russische
Kurier z. B., der vom französi-
schen Gesandten eine Empfehlung
an den französischen Ilof mitnahm,
Fig. N.
BaumstAmm, im Walde stehen geblieben.
Sehulisohle i>hot. Fig. 15. Spur der Schuhsolilc als Spiegelbild.
Überreichte mit dieser Empfelilungskarte gleichzeitig eine vollkommen
orientierende Mitteilung des französischen Gesandten in Petersburg
über die Eigenschaften des Überbringers und den Zweck seiner Reise.
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KoU«ktiyaii«tenaiig d. PolkeibebSiclen a. d. StldteMMteUaag in Drosdeo. 341
£8 waren zwei Scbriften im Gebrauch, eine dekorative und eine
chiffrierte.
Bei (h'T dekorativen spielten vor allem die i^arbeu eine ßoUe, zu-
nächst bedeudet:
1. weiß = Portufi^al, 4. ^^elb == England,
2. rot = Spanien, 5. ^rün = Ilolland,
3. blau = Frankreich, 6. grau = Sardinien,
swei Farben, die erste oben, die zweite unten, bedeuteten:
7. weifi-rot
8. „ -blan
9. „ -gelb
10. „ •grttai
11. „ -gran
12. rot-weiß
13. „-blau
14. „ .gelb,
15. „ -grOn,
16. „ -gran,
17. blau-weiß
■rot
18.
19.
20.
21. ^ -j^rau
22. gelh-weil)
' Parma,
Modena,
Venedig,
Genna,
' Lacca,
Florenz,
Kirchenstaat,
Sizilien,
Schweiz,
Mainz,
Trier,
Köln,
Bülin-cn,
Pfal/hayem,
Sachsen,
23. gelb-rot Hannover
24. „ -grün — ^ das Laad eines
25. gelb-gian das Land eines
katbolisehen BeiehefOnten
26. grUn-weiß das Land eines
evangdisohen Beichsfürsten,
27. grün-rot = eine Reichsstadt,
28. , -blau Dänemark,
29. „ -gelb «= Schweden,
30. priln-irran = Rußland,
31. grün- weiß Polon,
32. -rot = Türkei.
33. grau-blau == Osterreich,
34. „ -gelb =^ l'ngarn,
35. „ -grün = österr. Idolen.
= l'reulten,
Die erste Farbe links dir zweite rechts:
36. weiß-rot = östKiederlande, 39. weiß grün — Tirol,
37. „ -Man —ItaHoi, 40. „ gran — iYofderOsterreteb.
38. „ -gelb »Mihren,
Nach der Farbe des Bildes kam in BetraeM seine Einfessnng,
welche der Mode jener Zeit angepaßt, sich ans allerlei allerdings be-
dentang87ollen Schnörkeln zusammensetzte.
Die Eintonng gab Auskunft Über ftnßere Merkmale und Ver-
hättnisse des Vorzeigers. Bis zu 25 Jahren war die Einfassung rund)
bis 30 Jahren oval, bis 45 achteckig, bis 55 sechseckig, bis 00 qua-
drati.sch, über 60 rechteckig. Den Wuchs zeigten gerade oder gewirbelte
Linien der Einfassung an, wobei insbesondere auch die Entfernung der
Linien voneinander bedeutungsvoll war.
Eine schöne und große Person wurde durch weit ab.stehende
wellenförmige Linien bezeieimet. die Größe durch gerade Linien, Mittel-
statur und sc'lumen Wuchs bezeichneten eng aneinanderi^efügte wellen-
förmige Linien, Mittelstatur mit schlechtem Wuchs enge gerade Linien,
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842 XVU. Paul
eine kleine und wolilfrewaelisene Fij^ur wurde durch eng aneinander
gesetzte wellenförmige Linien, kleine Figur endlich mit schlechtem
Wuchs durch enge gerade Linien bezeichnet
Einen Buckel bezeicbnete ein wÜlkfirUcber Zug nach dar Seite
unter der Ein&ssnng; Lahmheit ein betiebiges Zeichen Aber der Mitte
der Einfassnng.
Die GeeichtBzilge fanden ibreBeschieibnng in der Mitte desOberteUes
der Einfassung. Eine Rose bedeutete schön und freundlich, eine Tulpe
schön und emsthaft, eine Sonnenblume leidlich schön, aber frenndlich,
eine Narzisse mittelmäßig schon und em:>tliaft, ein Satj-rkopf garstig
aber freundlichi endlich ein gehörnter Widderko])f liälMieh und emsthaft
Einen Augenfebier zeigte ein einfacher oder doppelter Punkt ttt>er
den (iesichtszeichen an.
War der Beschriebene verheiratet, dann schlang sich von oben
bis unten um die Einfassung ein Band, welches bei Lediir^'n fehlte.
Den Reulituni bezeiclineten 12 um die Einfassung; verteilte Knüpfe,
viel Knöpfo /.»i^'teii eini^'es Verniüjrcn an, während das Fehlen der
Knöpfe überhaupt auf Armut des Htschriebcnen hinwiesen.
Trug der Beschriebene eine I'errücke, dann kam in die Mitte der
Einfassung von oben eine Muscliel, fehlte diese, dann trug der Be-
schriebene noch sein eigenes Ilaar.
Auch die Abaidit der fidae fimd ihren Ausdruck in der Einfossnng.
Handelte es sich um eine Heirat, dann war das Band nur um die
HUfte der Einfassung geschlungen, Bewerbung um ein geisfliches Amt
wurde durch einen klonen Kreis oder eine Null an der Mitte der
unteren länfassung, Bewerbung um ZiTildienste durch 2 kldne
Kreise swischen den Einfassungslinien su beiden Seiten des Gesichts-
zeichens ausgedrückt
4 kleine Kreise symmetrisch zwischen den Einfassungslinien
bedeuteten, daß der Beschriebene Kriegsdienste suchte.
Wecbselgeschäfte wurden durch 6, Vergnügungsreisen durch
8 Kreise ausgedrückt
TLnndelte es sich um kaufmännische Spekulationen, sovertratdie
Stelle dvjä Kreises (beim geistlichen Amte ein Oval.
fSelehrsiimkeit, Wissenschaft und Kunst bezeichneten 2 Ovale zu
beiden Seiten des Oesiclitszciehens.
In gleicher Wi ise Ik deuteten \ Ovale eine Erbschaft, () Ovale
einen Besuch bei Verwandten oder Freunden, 8 Ovale Staatsgeschäfte.
War die Absiebt unbekannt, dann blieben .auch die Zeichen fort.
Die Unterscheidungszeichen deuteten die Religionen, so zwar daß
ein Kolon (:) den Katholiken, Semikolon 0) den Lutheraner, Tunkt (.) den
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Kollektivansstellting d PolizoibebGrden tu d. Stldtcaoutellimg in Dresden. 843
Naturalisten, Koninia (,) den Reformierten, (i»'(hinken8trich ( — ) den
Juden, kein Zeichen den Atheisten kennzciclinotcn.
Ein Zeichen unter detn Namen diente zur An*rnh<> des Clianikters.
So wurde Einsielit mit dtm Zeichen ^ , Einfult dureli einen
Strich, Narrheit durch ^}§§§§, Leiclitsinn aher durcli eine
Wellenlinie hezcichnet. Waren dem Scliluli/.ciclien zwei Gänsefülichen
(.,) hei^efii^t, so l)edeutete dies Ehrlichkeit, Ehrliehe und Redlichkeit,
wurde das Zeichen verdoppelt so war es für Verschwiegenheit
gehraucht
Fand eich &ber dem Seblnßzeichen ein liegender oo so war damit
ein Hang zur Betrügerei bezeichnet
Ein Punkt über dem Schlußzeichen bezeichnete den Spieler
. ; ^ ein Punkt unter demselben ' — s ' den Verlobten, ein Strich
jedoch den Trinker ^>r?^^. Kenntnisse wurden durch Zahlen ans-
gedrückt: 1 bedeutete Theologie,
2 g Jurisprudenz,
3 » ArzDeiwissenschaft,
4 n Naturkunde,
5 „ Staatskunde,
6 ^ Mathematik,
7 S|»raclienkunde,
b bedeutete ^^chriftstcllerci,
9 „ mechanische Künste
0 ^ ^rcrin^'C Kenntnisse
in irjrendcincr Wissenschaft. Mehrfache Kenntnisse wurden durch
Nebeneinanderreihen der Zahlen ausgedrückt, wobei links immer die
tieferen Kenntnisse zu stehen kamen. Ist die Gesamtzahl mit dem
Zeichen . ^ . hervorg^oben, dann bezdchnet dies weaentÜdie
Kenntnisse der angeführten Wissenschaften oder Künste.
Tafel II zagt eine solche Karte.
Vorzdger des Papieres ist Engländer (gelbe Farbe), 35 Jahre alt
<ninde Einfassung), Ton großer Natur (Einfossnngslinien sind weit von-
«inander), schSn gewachsen (Einfassungslinien wellenförmig), 8ch5n
von Angesicht aber ernsthaft (oben in der Einfassung der Tulpe), ver-
heiratet (die Einfassung ist umwunden), sehr reich (12 Knöpfe am
Oval), tiSgt Perücke (die Muschel über der Tulpe), reist als Gelehrter
um seine Kenntnisse zu erweitem (oben seitlich von Tulpe zwei
Ovale), ist evangelischer Konfession (hinter dem Namen ein Semi-
kolon), besitzt viele Kenntnisse (unter dem Namen das Zeichen der
Einsicht), ist redlich (zwei ( Jiinsefür>cheM über den Zeichen der Ein-
«icbt)^ verschwiegen ^das Zeichen der iuusicht zu beiden Seiten mit
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344
XVa Paol
Striclien), lieht da« Spid lüher (h'iu Schlußzeichen ein Punkt), ist in
der Jurispriitleuz und in der Ölaatswinseubchaft erfahren (ohen links
die Zahl 25, nachdem 2 zuerst, besser Jurist als Staatsmann), und
besitzt gründtiebe Bildung (was durch das Zeidien der Eiosiobt unter
der Zahl 25 angedeutet ist).
Nachdem bei Anwendimg dicBer Methode sich viele Schwierig-
keitea ergaben, die Karten gedruckt oder geatocheai werden mnfiteo,
nm nicht anfbiUend su sein, so nahm der Graf bald ein nenea Systeni
zu Hilfe^ ,,die chiffiieite Polizeischrift*.
Hier bedeutete der Buchstabe N. die Statur und wurde anschei-
nend als Abbreviatur für Nr. in die linke obere Ecke gesetzt, indem
die Größe des Buchstabens die Größe der Statur zum Ausdruck brachte.
Nr. bedeutet unbekannter Statur.
Wird das N durch zwei Striche durchquert, dann hat man es
mit einer verheirateten Person zu tun, ist das unbekannt, dann fügt
man ein o an Xo, wird dies bloß vermuteti dann kommen noch die
zwei Querstriche hinzu.
Eine VW'llenlinie unter dem N bezeichnet den Perückenträger,
bedeutet ei^^enes Haar, ein fehlendes Zeichen läßt die be-
zügliche Frage unentschieden.
Die Landeszugehörigkeit wird durch Zahlen nach dem oben auf-
gestellten Schema angedeutet, die Zahlen von lü ab dicht aneinander.
In Hinsicht des Alters bedeutet:
1 ein Alter bis 25 Jahre
3 = = 35 c
4 s s 40 5
h ' ' 45 s
6 i = ^ 50 s
7 5 c - 55 =
8 s 5 s 60 *
9 5 s über 60 s
Innere und äui^ere Eigenschaften bringt ein Zahlenbmch snm
Ausdruck, der sowohl im Nenner wie im Zähler 4 Ziffern hat.
Innere Eiijenschaften verrät der Zähler, äußere der Nenner.
Im Zähler bedeutet an Stelle der Tausender die Geisteskraft
und zwar 5 od. 9 viel Einsicht, 2 od. 6 wenig Einsicht, 3 od. 7 dumm,
4 od. 8 närrisch. 1 unbekannt.
An Stelle der Hunderter die Sinnesart 1 od. 3 od. 5 od. 7 auch^9
— leichtfertig, 2, 4, ü od. b gesetzt, 0 unbekannt
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KollektiTaaaatellaiig d. PolizeibelidrdeD a. d. Stidteausatelliuig in Dfeaden. 346
An Stelle der Zehner die ilauptleidenschaften 4, 7 od. 5 verliebt,
3, 8 od. 1 tmnksüchti^', 2, 0 od. 9 dem Spiel ergeben, 0 unbekannt.
An Stelle der ESner die VenDdgenirerhältiiisse, 1, 3 od. 6 reich,
4, 7 od. 5 nicht arm, 2, 8 od. 9 9xm, 0 unbekMiit.
Im Nenner an Stelle der Tausender den Wncha, 5 eohOn, 9 od
2 schlecht gewachsen, 6 od. 3 schief, 7 od. 4 bncklig, 8 lahm, 0 nn-
bekannt
An Stelle der Hunderter die Gesichtsbildnng 1, 7 od. 9 schOn, 5
od. 6 mittelmäßig, 2 od. 3 häßlich, 4 od. 8 einSngig, 0 nniwkannt
An Stelle der Zehner Mienen und Geberden 1 od. 8 £rBiiiidli<A,
7 od. 4 ernsthaft, 5 od. 8 stohs, 2 od. 6 betrübt, 9 unbedeutend, 0 un-
bekannt.
An Stelle der Einer die Absicht der Reise, 2 Hehrat, 5 Zivil-
dienste, 1 Kriegsdienste, 7 Wechsel- oder Handelsgeschäfte, 4 Ver-
gnü^'unirsreisen, 9 Erbschaftsreisen, 3 Besuch bei Verwandten, 0 Reise
in geheimen Aiifträ<:en, S Reise als Gelehrter, 0 aus unbekannten
Motiven. Zu Itemerken ist, daii für jede Eigenschaft immer nur eine
Zahl genommen wird, die aber gewechselt werden kann.
Der Stand der Person wird ebenfalls durch Zahlen angedeutet:
1 bezeichDet geistlichen Stand,
2 s den Soldaten,
3 s s Ktinstler,
4 5 5 Kaufmann,
5 ; s Schauspieler,
6 5 5 Privatbeamten,
7 s s Staatsbeamten,
8 i ! Privatmann ohne Stellung,
9 s = Werber.
Die Kenntnisse erfahren ihren Ausdruck durch die bei der deko-
rativen Schrift erwähnten Zahlen.
Verschwi^lfenheit zeigt man durch zwei Gänsefüßchen an, welche
die Zahlen der Landsmannschaft, des Alters, des Standes und der
Ken ntni sse ei n sch 1 iel »en .
Eine gewellte kurze Linie unter dem Namen der Person bezeichnet
Ehrliehkeit und Redliehkeit, sind diese Eigenschaften zweifelhaft, dann
tritt an die Stelle des gewellten Striches ein gerader Stricii, den Betrüger
kennzeichnet eine unter dem ganzen Namen verlaufende Wellenlinie.
Die Religion kommt wie bei der dekorativen Schrift zum Ausdruck.
Das Zeichen v — unter die Kenntnisse und Stand beseich*
nenden Ziffern gesetzt bedeutet Wahrheitsliebe.
Aickir fir KriaiaalMithniiologi«. XIU 2S
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846 Xm Pacl
Was unbrkatint ist. wird durch oinon HorizODtai8tricb| durch eine
Null oder durch eini^ro Punkte anj^edcutct.
bemerkenswert in Hinsicht der Anordnunp: der Zahlen war noch,
dal'» links fht raldisch rechts) die Zahlen der IvcibescrölW, des Ehe-
biindes und -lalires, daneben die Ziffern der Heimat un<l des Alters,
dann die in Bruchform angeordnete Geisteskraft, Sinnesart, Hauptleiden-
schaft, Vermögen, Leibeswnchfl^ Genehtsbildang, Miene, Gebärden und
Absicht der Beise zu stehen kommen.
ScblieOliob stand in der Mitte der Karte der Käme des Über-
bringers bezw. des Besitzen und gleich hinter dem Nenner das Reli-
RECOMMANDE A MONSIEVR LE COMTE DE
VERGL'\ME$ P^R LE COMTE DE RIAMCOURT
AnBAS3ADEl'R DE FRANCE A l^iCOUK
DE PETEK^BOUaa.
¥ig, 16.
Die Torstehende Karte entziffert nachstehende Legende: Herrltiedr.
Yon Springthal ist groß von Person, das N ist groß, unbestimmt ob
ledig oder verheiratet, denn nach dem N steht eine 0, wahrschein-
lich ledig, da die Querstriche durch das N fehlen, trägt eine Perfickei
die wellenförmige Linie unter dem N, ist aus FfÜsbayem, 20—7, ist
zwischen 50-55 Jahre alt, der 7 in der letzten Zahl, verschwiegen,
d» im die Zahlen sind „ — eingescidossen, besitzt viel Einsicht, 5 im
Zähler, ist <re^t tzt, 4 im Zähler, ein Spieler, 6 im Zähler, nicht arm,
7 im Zäider, schön gewachsen, 5 im Nenner, mittelmäßig schön von
Angesicht, G im Nenner, von ernsthafter Miene, 7 im Nenner, suclit
Krio^dienste, 1 im Nenner, versteht KStiiatskunde, 5 rechts, Mathe-
matik 0 reehts und Sprachen 7 reclds, ist .Soldat. 2 rechts, kennt die
Wahrheit, unter den Zahlen der Kenntnisse und des Standes — - — ,
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KollektivMustelliiiig d. PoHieibehSrdeii «. d. BtidteMmtellnng In Dresden. 847
ist Kalholik, hinter dem Namen ein Kolon^ und ein Betrüger, der
Name ist mit - unteratriohen.
SchlieUlieb findet noch ein widitiger Teil des Dienstes seine
Darstellung-, indem in sehr nett ^ehidtenen Miniaturnachbildunfren die
Einriclitunfjen des hauptstädtischen Meldeamtes, der Evidenz- und \'ip:i-
lantenbureaus mit photoii^raphisehen Abbildungen der Tnnenniunic der
betreffenden Stelleu reclits und links vom Einj^ang-e in «len Hauptraum
anfrebracbt sind. In dem anstoßenden Ilaunie bat auüer den bereits
ernälinten Urkunden das Polizeiamt in Leipzig eine Darstellung der
Innenräume des Polizeigebäudes, zwei Bilder, darstellend die Unifor-
mierung der Polizei, und bemerkenswerter weise auch eine Photo*
graphie zur AnasteUnng gebracht, welelie die Terwendnng der Hunde
im PolizeidieDflk feetatelh.
Die AasBteUiiDg yer7oll8tliidigcn PUtaM» des Stadtgebietes, des
AmtshaiueBy des Batshantes, sowie eme Zosammenatelhiiig der weseot-
liehen Bebelfe der Potizeibehöide.
Denselben Baum fttUt anoh die Ansstellnng des PoHieiamtes
Chemnitz, welches eine Abbildung der Geeamtmannschaft, Bewaffnung
Schließzeuge, Beförderungsmittel, eine Anzahl historischer Urkunden
nicht minder einen Stadtplan und in mehreren Photographicen den
Dienstbetrieb im QeCangenenbanse und in einer Polizeiwache zur Dar-
stellung bringt.
Erwähnenswert insbesondere das Modell eines Gefangenenwagens
für 9 vollkommen isoliert unterzubringende Gefangene^ die sich wäh-
rend des Transportes nicht besprechen können, während bemerkens-
wertervveise während der Fahrt der Regleitniann mit dem Kutscher
durch ein Sprachrohr verkeliren kann. Die sehr zweckmäßige Ein-
richtung ist patentamtlich geschützt.
Nach Abfassung dieses Berichtes will ich mich auch nicht der
Beantwortung der Frage entziehen, die mir Tielseitig vorgelegt wurde,
ob denn diese Ansstellnng wiiklieh Geld nnd Mfihe lohnen mid ob
sie einen Erfolg bringen werde.
Knuy ich kann die Frage sofort mit einem entschiedenen nnd
fiberzengten Ja beantworten. Die Ausstellung ist Tor allem ein
sprechender Erfolg des nnermfldlichen Vorkämpfers auf dem Gebiete
der Kriminalistik, der Kenner des Groß sehen Handbuches wird
darüber bei Besueh der Ausstellung nicht einen Augenblick im Zweifel
gewesen sein, denn es ist hier klar dargelegt, daß manche Anregung
der Theorie in der Praxis erfolgreich auf fruchtbaren Boden üeL
Ich verfolge seit mehr als einem Dezennium die Entwicklung auf
diesem Gebiete und kann behaupten, daß gerade in den letzten fünf
23»
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948 XVII. Paul» KoUektiTMusteUoiig der Polisoibeböidai usw.
Jahren der Fortschritt in der exakten Arheit sowohl bei der PoHzoi
wie bei (Jericht ein bedeutender ist. Wesentlichen Anstoß zum Fort-
schreiten gaben der antbroponjetrische Kongreß in Berlin und die Aus-
stellung der Polizei in Wien und nun bat gewiß auch die Ausstellung
in Dr^en einen gewaltigen Impuls gegeben, welcher sieh snnSchat
«nf dem Gebiete der Daktjrloskopie zeigen wbrd. Aber aofieidein wird
80 DMiicbeBi was wir bier nur ab YerBaehasHIok aehen, in Kfine als
praktiaeh eiprobter Fall anm Nutzen der Qeaamtheit gcObt, denn alle
Beamten des BeaaortB ffiblen mit Stolz die Aneikeanong, die ibnen
das Pnblilnim zollt, ate iat ibnen ein Anapom zn wetleier erapiiefi-
lieber IMgkeit
Und noch eines nnd nicht das kleinste Moment iat ea» daa den
wesentlichen Nutzen bringt; die Behörden führen Neuemngen spontan
nieht ein, es müssen zuvor immer riele vorarbeiten, sie mfiasen daa
branchbare oft auf den verschiedensten Gebieten des Wissens zusam-
mensuchen nnd in verwendbare Formen kleiden; das venirsacht aber
Mühe und AH)f'it, allein alle Behörden verfügen über viele pflichteifrige
Beamte, welche einen Ehrgeiz darein setzen, durch solche Kleinarbeit
das große Ganze zu fördern. Die gelehrigen Schüler des Meisters
Groß mehren sich. Die einzelnen Mitarbeiterfinden reichen Lohn in
den Erfolgen der Behörde. Auch diesen Umstand will ich hervor-
heben, er ist die beste Gewähr für den Erfolg; die Ausstellung wird
auch in dieser Hinsicht eine mächtige Anregung gegeben haben; das
Bestreben, hinter den anderen nicht zurückzubleiben, wird bei dem
Einzelnen nnd aomit aneh bei den B^Orden die böebste Vollendung
enstrebenawert machen und mit der VenroUkommnnng der Biniieb-
tnngen zum Schutze dea fihizelnen wird auch daa Anaehen der Be-
hörde ateigen.
Damm anf Wiedersehen bd der niobrten boffentlieb internatio-
nalen AnaateUungt
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xvm
Zam FaUe auf 8. 320 im XU. Bd.
Ton
JEL aroIlB.
«Nil noTi sab sole" isl doch richtig. Hein verehrter Kollege
Haberda in Wien hat die Güte, darauf aufmerksam zn machen, daß
in der Tat ein ihnlicher iUl verOffentBeht wnide.
Lebrnn teilt in den Annales de la Soci6t6 de med. leg. de
Belgiqne 1899 Bd. XI p. 9 u. ff. mit: Eine Mutter trat mit der An-
zeige auf, ein Mann habe ihre fünfjährige Tochter in seine Wohnung
gelockt, sie ausgezogen, aufs Bett gelegt und dann Ton einem männ-
lichen Affen gebrauchen lassen. Während er den Affen mit einer
Hand am Halse hielt, brachte fr dessen Penis in die Vulva des ^liid-
chens. Dies wiederholte er soluii'^o, bis der gelehrifre Affe den Kuitut.
seihst ausübte. Indessen soll der Mann zugesehen und inasturliierl
haben. Das Mädclien wurde gehchtsärztüch untersucht, das Ergeb-
nis war ein negatives.
Die Sache führte zu keiner Anklai^e, weil die Aussagen des
Kindes hierzu nicht für ausreichend erachtet wurden.
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XIX
Forensißch-psycliiatrisch-psychologische Randglossen zum
Prozesse Dippold, iDsbesondere über Sadlsmns.
Medisimdnt Dr. P. NIoke in Hobtttoabiiqr.
Anfang: Oktober 1903 spielte sich in Bayreuth ein Prozel'i ab, der
allenvärts die tiefste Entrüstunf? hervorrief. Ein 24 jähriger Student der
Rechte, namens DippoUl, hatte zwei ihm zur Erziehung übergebene
Knaben von 1 3 und 1 A Jalircn längere Zeit hindurch auf das Furcht-
barste geprügelt, gc(iuält und auf alle Art mißhandelt, so dal) der jüngere
an den erlittenen Hcseliädigungen starb. Der Übeltäter ward zu
8 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust verurteilt.
Die Wogen der sittlichen Empörung gingen hoch, nicht bloß bei
den Zuhörern der gerichtlicheil Yerliandlungen, sondern in der ge-
samten Pnese und hierbei ist von Laien viel'Bichtiges gesagt worden.
Fttr den F^chologen ist der Prozeß fut fiberall interessant und er
demonstriert gerade sehr gut gewisse Tatsachen, die nnr sn leieht ttbe^
sehen werden; andererseits deekt er mancheilei SchSden anl So
monstrOs aber auch der Prozeß ist, so dürfte er doch in nnserer schnell
lebenden ZeÜ^ die fortwiihrend durch nene Eindrücke in Atem gehalten
wird, sehr bald vergessen werdm, mag er auch in seiner Art wahr'
scheinlich einzig dastehen. Es wäre also nnr wenig verlockend, den-
selben quasi psychologisch paraph rasieren zu wollen. Um dies in der
richtigen Weise tun zu können, müljtc man außerdem wenigstens das
ganze Aktenmaterial vor sich haben oder doch die stenographischen
Berichte der rierichtsverhandlungen. während man jetzt nur auf die
Zeitungsberichte angewiesen ist. Und bekannt ist ja, dal) diese
durchaus nicht immer zuverlässig sind und in verschie-
denen Referaten sogar nicht selten sich direkt wider-
sprechen. Will man also die nötige Vorsicht üben, so darf man nur
die Tatsachen und Äuberungen 'als wahr hernehmen, die in den
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Foreodacb'psydiiatttodi-pqrdiologiBdie Randi^oBaen sum Ptozcsm Dippold. 861
HanptblSttern iimner wiederkehren. Die Schlüsse werden also stets
reserviert sein niü8s«'n.
Anders steht es al)er. wenn man von den Personen möglichst
absieht und nur gewisse Tutsachen zum Ausgangs[)unktc aligemeiner
Betrachtungen nimmt, die teils alte Lehren, möglichst im nenem Ge-
wände, bestfitigen, teils wenig bekannte oder gar unbekannte Bahnen
aufzeigen sollen. Dies scheint mir ein sehr nützlicher Weg zu sein
und ich will ihn beschreiten. Im folgenden sind daher bis auf einen
alle Namen onterdrfickt worden.
Unser Hanptinteieefle erfordert narariiob der Angeklagte Dippold
selbst Hier handelt es sich um zwei Fragen: 1. Ist er geisteskrank
gewesen? nnd 2. war er ein Sadist? eine iVage, die sich soju^nr dem
Laien aufdrängte. Erst eine Beantwortung derselben wird die Zorech-
nnngsfähigkeit und die Strafhühe resp. die Art der Unterbringung
des Beklagten ergeben. Hier also haben wir vollkommrae Gelegen-
heit, allgemeine forense Gesichtspunkte zu entwickeln.
Ad 1. War Dippold geisteskrank? Der Direktor der Kreisirrenan-
stalt zu Bayreuth, Dr. Kraussold, hat ihn in seiner Anstalt beobachtet
und für geisti«^ gesund erkUirt. Leider ist nicht ^esa^'t, wie laui^e
lleat in der Anstalt j;ebliebeu ist. b Wochen dürfte das Minimum
sein, welches die Beobachtungszeit in einer Irrenanstalt
betrag;! !! sollte. In gewissen verwickelten I ülK n aber, wie im vor-
stehenden, ist die Zeitdauer zu kurz. Jedenfalls ist die Beobachtung
in einer Irrenanstalt unendlich viel besser, alsdieblofien
mehrfachen Besuche des Experten im Gefängnisse. Daher
sollte m den dazu geeigneten Fillen das Gericht stets den ersteren
Modus einschlagen. Schon deshalb wäre ein Adnex an der Strafanstalt
für ure Verbrecher sehr erwUnscfat Ein anderweites Korrelat, das
ich wiederholt Öfter betonte, ist aber auch, daß bei jedem Kapital-
▼erbrechen — eüi solches liegt bei Dippold yot — sowie in
allen Fällen von sexuellen Delikten und bei außergewöhnlichen Hand-
lungen und Motiven ex officio die psychiatrische Expertise
angeordnet werden sollte. Freilieh wäre es am besten, dieselbe
auf alle Verbrecher überhaupt auszudehnen, was jedoch leider, an den
Kosten und andern Umständen scheiternd, eine bloße Ttopie ist und
wohl sicher Ideiben wird. i e 1 1 e i c h t k «i n n t e man noch die
Greise, etwa von TO Jahren ab, der Expertise unter werf en ,
wie zuerst We I len her g h in Amsterdam 1 901 vorsehluir. Bez. der Frauen
ist endlich bei jedem Ver^'ehen auf eine Koinzidenz mit der Menstruation,
eventuell mit dem klimakterischen WU-r zu achten, was in concreto
der Psychiater am besten betreffs ihrer \\ ertigkeit beurteilen könnte.
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352
XIX. Näcke
Die bloße Beobachtung ist aber noch nicht genügend.
Heutzutage kann verlangt werden, daß diese auch durch eine
genaue kriniinalanthropologische Untersuchung ergänzt
werde, weshalb vom Experten durchaus Kenntnisse auf diesem
speziellen Gebiete zu verlangen sind; leider fehlt dies freilich noch
sehr! Es ist also nur, wie ich ausdrücklich früher') schon her-
vorhob, eine Erweiterung der psychiatrischen Expertise, da für mich
und andere, z. B. auch v. Kraff t-Ebing, die Kriminalanthro-
pologie keine für sich bestehende Wissenschaft darstellt, sondern nur
eine Hilfswissenschaft der forensen Psychiatric. Als
solche kann sie aber gerade in zweifelhaften Fällen erkleckliche Dienste
leisten; diejenigen, welche sie unterschätzen, zeigen eben, daß ihnen
hierin die nötige große Erfahrung abgeht. Über den Wert der Ent-
artungszeichen überhaupt habe ich speziell wiederholt mich geäußert *)
und sicherlich denselben nicht überschätzt. Er ist stets nur ein relativer,
ein Index, daß wahrscheinlich etwas nicht im Lote ist. Dieser soll
zu weiteren, namentlich psychologisch-psychiatrischen Untersuchungen
auffordern, besonders, wenn es sich um sogenannte „funktionelle''
Stigmata handelt, die viel wichtiger sind, als die somatischen.
Ob nun eine so geartete Untersuchung bei Dippold stattfand, ist nicht
gesagt Sie hätte vielleicht einiges ergeben, da es einmal heißt, Dippold
sei blaß und unschön erschienen, der reinste Verbrechertypus. Ge-
häufte, sehr zerstreute somatische Stigmen, besonders wichtiger Art
und wiederum namentlich am Kopfe, würden eine geistige Minder-
wertigkeit bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich gemacht haben,
die freilich wieder erst psychiatrisch festzustellen ist Denn einerseits
beweist Fehlen von Degenerationszeichen, besonders äußerlichen, noch
nicht Fehlen von Entartung, ebenso wie andererseits Stigmen ohne
Degeneration einmal da sein können. Zu vergessen ist auch nicht,
daß es ,,innere" sein können (siehe meine Arbeit hierüber) oder daß
endlich die Entartung sich erst später im Leben zeigen kann, also
latent schon bestand, daß endlich ohne jede Anlage und ohne jedes
Stigma die Entartung später durch Krankheit, Sturz auf den Kopf,
Alkoholismus usw. erworben sein kann.
1} Näcke, a kriminalanthropologische Themen usw. Dies Archiv. fL Bd.
a. u. 4. Heft. 1901.
2) Derselbe, Die »of^cnanntcn äußeren Degeuerationszeichen bei der pro-
gressiven Paralyse usw. Allgcm. Zeitschr. f. Psych Bd. 1899; femer: Einige
„innere" somatische Degeuerationszeichcn usw. Ebenda. öS. Bd. 1902; ferner:
La valeur de» t^ignes de (K'gem'rescence dans lY'tudc des maladies mentale:«,
Anuales mödico-psychologiques etc. 1891, und noch in andern Arbeiten.
Foreo8i8ch-pftycfautii8cfa-p8ycholo|(iiGfaeRandgloaMn mm Proseise Dif^ld. 3&3
Aber mit den vorstehenden Untersuch un^'cn, zu denen,
womöglich, speziell psychologisch-experimentelle mittels
TestBUBw. berangezogen werden sollten, iat die Unteranobnng
noch lange nicht abgeachloflaen. Es heißt da znn8ch8t genau die
Anamnese nnd den indiTidnellen Lebensgang des Verbrechen eigrttnden.
Wie weit enteres beiDippold geschehen is^ weiß ich nicht; die Zeitungen
schweigen hierüber. FÖr die Beurteilung des Falles ist es ja klar, daß
es Ton großer Bedeutung ist ob erbliche Belastung durch SdbstiDord,
Trunksucht, Schlagfluß, Nerven- und Oeisteskrankbeiten bei einem der
Eltern oder beiden oder bei den Großeltern vorliegt oder nicht, in zweiter
Linie bei den Kollateralen, in dritter in der Deszendenz. Die Fran-
zosen rechnen unter die belastenden Momente aber auch noch Schwind«
sucht, den Zuckerham und die ..rheumatische Diathese'^ (Gicht nament-
lich), was seinen ernten Grund zu haben scheint.
Iiier ist niclit der Ort, auf die Schwierigkeit des Begriffs: Erblich-
keit und alle dieselbe betreffenden Fragen einzugehen el)enso\venig
auf die fundamentale Frage, inwieweit in concreto ein Kausiilitäts-
verhältnis oder eine blobe Koinzidenz vorliegt. Immer wird die
erl)liche Belastung ihre Wichtigkeit behalten. Die Erfor-
schung des Lebensgangs wird namentlich an die Kinder-
jakre anzuknüpfen haben, und nicht am wenigsten bez.
der Vita sexnalis, deren Wurzeln häufig bis hierher zu Terfolgen
sind. Aber auch die Charakterkeime des spüteren Menschen sind hier
meist schon gegeben und schließlich ist der Mensch nur das Kind,
dessen angeborene Kenne sich weiter entwickelt und Tor allem an das
Milieu adaptiert haben. Der Kern des OharakterB bleibt hierbei unbe-
rtthrt In den Zeitungen erfahren wir nichts von Dippold als Kind.
Da er sich als ein ganz verlogener, grausamer und hocbmütiger Mensch
und lIoh]koj)f zeigte, wird man wohl ohne großes Risiko diese Eigen-
schaften als schon früher bestehend ansehen müssen. Auf der Schule
und als Student soll er oft zugeschlagen haben. Wichtig ist das Ver-
hältnis zu Eltern und Geschwistern, auch zu den Tieren. Wieder er-
fahren wir nichts hierüber, ebensowenig wie von der Art der Studien
und dem Umfange seines Wissens. Er wird als Kohlkopf bezeichnet
und wjir wahrscheinlich trotz seiner gewandten Rede intellektuell nicht
hervorragend'-'). Auf der Universität lebte er liederlich, trieb sich mit
1) NeaerdittgB bdiandelte £. Schwalbe diee vonfi^di in seiner Axbelt:
Das Problem der Vererbang in der Paäiologie. Uilndiener med. Wodienichr.
1903. Nr. 37 u. 3S.
2) Beides deckt sit h oft nicht Auf der Schule war ich mehrere Jahre mit
einem riesig redegewandten Knaben zusammen, der aber als sehr dumm galt»
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354
ZIX. Kien
Dirnen herum, trotzdem er Bräutigam war und yergeudete des Geld,
das Ihm sem Schwiegervater gelieben hatte. Freeh henahm er sieb
bei den Vechaadlangcn, noch mehr beim Tnmsport, zeigte keine Spar
Ton Rene und erachien auch durch das Verdikt nicht gebrochen.
Auf die forchtbaren Mißhandlungen, die er den ihm anvertrauten
Knaben sntetl werden Uefi| ward schon Mher hingewiesen, ebenso daß
Momente vorlagen, die den Sadismus wahrscheinlich machten, was wir
gleich berühren werden. Alle diese und andere Momente ließen ihn
dem Dr. Eranssold zwar als «geistig minderwertig% trotsdem aber
zurechnungsfähig erklären.
War Dippold Sadist so lautet nnsere zweite Hauptfrage. Ein
Hauptpunkt fehlt hier vollkommen: die Kenntnis seiner Vita sexnalis,
besonders l)ozüfi:Iich ihres Anfangs und der weiteren Entwicklung.
In den Zeitungen ist nichts hiervon zu lesen, doch hielt ihn Dr. Kraus-
sold für einen Sadisten. (!er.ide bei Eniirning dieser wichtigen
Punkte ist man meist nur un die subjektiven Angaben des Gefragten
gebunden, da nur selten anderweite vorliegen. Daher die grolie Ge-
fahr bei sexual-pathologischen Untersuchungen, das Opfer
von Schwindlern, bewulUen oder unbewulUen Lügnern zu
werden, eme Gefahr, der sogar, wie man sich erzählt, v. Krafft-
Ebing hie und da erlag. Man kann hier also bei Erhebung der
Anamnese nicht vorsichtig genug sein! Bei Dippold wfire kaum Sieherea
zu erfahren gewesen, weil er sich als ein duräi und durch verlogenes
Subjekt erwies. Wichtig wire es — und man stände hier wenigstens
anf dem Boden des Tatsächlichen — , wenn Genaneres Aber seinen
Geschlechtsverkehr mit den Dirnen bekannt geworden wäre. Ist er
Sadist gewesen, so hätte sich hier die beste Gelegenheit dasn geboten,
da gerade, wie man weiß, Sadismus im Verkehr mit pnellis publicis,
namentlich in den Bordellen großer Städte, etwas sehr Gewöhnliches
ist und alle, namentlich die feinem, mehr oder weniger darauf
eingerichtet sind. Manches, was bei Dippold den Zeitongniacb-
spSter jedoch eiu bckamiter Uborbürgermeister wurde. Möglich, dali der «Knoten
rlB" , und die Intdligenz spSter nmahm , dodi ist dies Bdten. Dagegen Icuia
praktteebe TQditigkeit bestehen, wie hier. Ihnlicfaee adieint dnigennafien sndi
bei Ganilictta i]vr F;ill ■rowcscn zn sein.
1) I>('r N.iine kommt bi-kanntlich vom Manjuis lU- Sado lior. der in sfiiuM*
„Justine" und „Juiiette'* »eine Phantasie furnilich in sadistischen Akten .iller Art
schwelgen UOt Ob er danadi wirklich gehandelt hat, ist nadi Lacasaagne
nnd andern doch noch nicht so si< in i . «la zw ar viih» Prozesse gegen ihn ange>
strengt wurden, wciiiir ^^icheres alu r dalM-i lu'iaiis kam. Eni enhurfr, Sadismus
und Masochismus (Wicsltaden . Bergmann, IWl), diiickt sich reserviert über ihn
aus, hält ihn aber für schwer entartet.
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Forentiseb-iMiydiiatritdi-iMy^^ologische Randglonen som PMoMse Dippold. 356
richten nach sich zei^e, sprach allerdings für ein Bestehen dieser
sexuellen Perversion. Das f;rausanie Zuschlaj^'en mit allerlei Stöcken,
bis das Blut erschien, das Erfinden iiinner neiuT (^»iialen für die armen
Knaben, besonders aber das Sichweiden an raffiniert ausfredachten
Seelenschnierzen lej^en diese Vermutung sehr nahe. Dippold lälit bis-
weilen den einen Knaljtn den andern schlafen, bringt den einen
dazu, die schculiliclisten Dinf^e von sich, die nie geschehen waren,
an die Eltern zu berichten und sucht auf alle Art und Weise sie in
ihren eigenen, sowie in fremden Augen zu demütigen. Sie sollen
Tor allem glauben, da5 sie starke Onamaten, B<Miiit seliwere Sünder sind,
was ihm einen scheinbaren Grund für weitere Hißhandlnngen an die
Hand gibt Sogar nachts wacht er oft auf — offenbar aneh dn
ner?(taeB Symptom! — und mißhandelt wieder auf andere Weise
die armen Kleinen, denn anoh bei der Gransamkeit gilt das: yariatio
deleetat
Hier muß ich noch einiiro wichtige Bonerknngen Uber Onanie ein-
flechten. Dippold glaubte^ die Jungen seien Onanisten, weil sie
manchmal geistig ganz verwirrt, sehr zerstreut und oft momentan geistes-
abwosond gewesen seien. Der Vater weist entrüstet solches als unmög-
lich zurück, weil die Knaben blühend nuscresehen hätten, mit frischem
Gesichte und leuchtenden Au^^en. Ähnliches beliaui>ten auch sogar
Arzte. Die Sache liegt nun vielmehr so. Man nnil» seltene, niäliige
und sehr häufig ausgeübte (niehruials täglich) Onanie scharf unter-
scheiden. Bei dt n 2 ersten Arten wird vorher I)estehende8, blühendes
Aussehen und knabeiiliaftes, frisches Wesen, bei negativem Befunde
am (jliede, bleiben. Bei sehr häufigeuj Abusus allerdings könnte
aber wohl einmal starke Abmagerung, Nervosität eintreten und sich ein
sehenee Wesen usw. zeigen, vor allem aberEntzfindungserscheinungen,
Einrisse, Ausfluß am Penis. Hier Uegt jedoch meist die umgekehrte
Kausalität vor: weil das Kmd nervISs, schlecht genährt usw. ist, ona-
niert es. Merken wir das also, daß es fflr Onanie kein absolut
sicheres Zeichen gibt; nur Verdachtsmomente. Denn selbst
die entzündlichen Erscheinungen am Gliede usw. könnten anderswo
herrflhren. Endlich wird der Nachteil der Onanie sehr
fibertrieben. Ob wirklich daraus Nerven- oder Geistes-
krankheiten entstehen, wie manche glauben, ist mehr als
zweifelhaft. Nur ein Kranker onaniert frenetisch, nie ein
Gesunder. Letzterer gibt es auch meist bald auf 0*
1) Sielio hitriilter nieino eingehenden Betrachtungen in: Die scxuelleo Perver-
dtiten in der Irienanstait. Wiener klin. Randschan. 1899. Nr. 27—30.
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366
XIX. Nlcn
Was aber nirgends erwähnt ist, ist der Umstand, ob Dippold bei
seinen gemeinsamen Züchtigungen usw. Erektionen mit Samenergofi
hatte oder omnieite. Bnteies hSttea Jungen Bchwerlicb sehen
können, wohl aber letzteres und doeh sagt der ftberiebende Knabe tot
dem Fomm nichts hierflber ans. Ob Dippold darüber befragt wurde,
weiß ich nicht Bei seiner LOgenhafÜgkeit wire aber anf die Aussagen
nichts zu geben gewesen, wohl aber wenn man ihn, ohne ihm nftheree
ansndenten, nach seinen Trftnmen gefragt hStte^ welche in sweif el-
haften Füllen sicher das beste Diagnostiknm anf perverse
Gescblechtsbetätignngen sind, da sie dieselben bis in die
feinsten Details hinein sn geben pflegen, nota bene aber nur,
wo solche Perversionen angeboren sind'). Femer ist hierbei
nicht ein Traum maßgebend, sondern nur eine Reihe solcher, da auch
hier bisweilen „Kontrnst-Träuine'" vorzukoTiimen scheinen, wenigstens
wurden solche bei Ilett rosexuelleii beobachtet. Auljerdem können bei
gewissen sexuellen Zwisclicnstufon homo- mit heterosexuellen Träumen,
bei angeborener Konil)ii)ation von Sadismus und Masochisnius auch
sadistische und masochistische Träume, eventuell sogar noch mit
homosexueller Färbung usw. auftreten.
Könnte nicht aber bei Dippold auch Homosexualität oder homo-
sexueller Sadismus vorgelegen haben? Ob Reat homosexuell beanlagt
war, wissen wir mcht Daß er viel mit Dirnen Terkelirte, spricht
eher dagegen, da der „echte* Urning einen horror feminae hat, trotzdem
könnte es ans Terschiedenen ürsachen einmal geschehen oder bei
psychischer Hermaphrodisie dar Fall sem. Wir erfahren, daß Dippold
die Jnngen öfter mit herau^esogenem Hemde hemmlaufen Heß, sich
Tor ihnen sans gtae beim Baden entblößte^ sie wiederholt heizte und
kQßte, sie nachts, anch tags mehrmals unzüchtig berührte*), sie selbst
bis auf das Klosett verfolgte, mit ihnen in einem gemeinsamen Bette
schlief und sie wiederholt auf die Hinterbacken schlug, anch auf die
Genitalien. Das klingt allerdings höchst verdächtig! Das wOrde
sehr für Homosexualität sprechen, obgleich der echte Ilomo-
sexuelle gerade mit Knaben sich gewöhnlich nicht ab-
gibt. Wir erfaliren nicht, ob Dijiiiohi bei diesen unzüchtigen
Handlungen Samenergul) mit oder ohne Erektion hatte. Sehr eigen-
tümlich berührt es, daß Dippold die Jungen schlägt, weil sie angeblich
1) Siehe hierfiber Nteke; Probleme auf dem Gebiete der HomoeexmlitSt
Allgcm. Zcitscbr. f. I'sydi. ii^^w 59. Bd., und: Die fornuiBohe Bedentang der
Trftuue. T^ios Archiv. IU\. S. 1
2) Mäcke, Probleme auf dem Gebiete der UomosexualiUU. Allgem. Zeitschr.
f. 59. Bd. 1002.
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Fonodsch'pBydiUitHech'piij'cbologische BandgloBsen zum ProBease IMppold. 367
jrcheinie Ju^^urKisüiulen trieben, die er an ihnen selbst dann oft aus-
führte. Man könnte saj^en, es geschähe, um ihnen Sclinierzen zu
bereiten — darüber kla^rten die Jungen iil)er nie und nur einmal soll
er sie blutig manustupiert haben — oder sie in ihren eigenen Augen
lierabzusetzen, also ans sadistischem Triebe, oder gar, um ihnen das
ODanieren anzugewöhnen, was noch teuflischer wSre. Nfther aber
liegt hier die Annahme rdner homosezaeller Handinngen Yor. Diese
stehen den Mißhandlungen köiperlioher und seetisoher Art allerdings
sehr nach, so daß man an sadistische luFenrion wohl su denken hJitte^
wobei das Mißhandeb dem Dippold mehr Vergnfilgen bereitete als
bloße homosexuelle Praktiken und zur geschlechtlichen Befriedigung
all^ schon genügten.
Da es aber für den Begriff der Zurechnungsfähigkeit von
höchster Bedeutung ist, zu wiBsen, ob Sadismus mit oder
ohne Homosexualität besteht und in welchem Grade, ob
er angeboren oder erworben ist, so sollte in solchen schwie-
rigen Fällen, wie der vorlieijende, stets ein spezieller Sach-
verstän di^^er in diesen Fragen angegangen werden, wjis
leider nicht geschehen ist. Als solche wären z. H. Moli in Berlin
oder V. Sc hrenck- Notzing in München zu hören gewesen, wie sie
denn ja oft genug für ihre speziellen Fächer vernommen werden.
Der gewöhnliche Psychiater und Gerichtsarzt kann es
nicht, da das Gebiet der sexuellen Pathologie eben schon zu groß
ist und nur Ton wenigen beherrscht wird.
Und hiermit kommen wir auf das schwierige Kapitel der so
wichtigen Zurechnungsfilhigkeit zu sprechen. Es fragt sich also in
einem unserem obigen ähnlichen Falle zunächst: besteht eine sexuelle
Penrenion oder nicht? und welche? Freilich hätte man noch
die Vorfrage zu stellen: Kommt dieee allein für sich, ohne weitere
krankhafte Symptome Tor? Die meisten Autoren ?emeineii dies»
vor allem v. Kraf f t-Ebing, der ihr sogar eine schwer degenerative
Bedeutung beimißt, während Moll reserviert sich ausspridit; und wohl
mit Becht, soweit es sich um angeborene Zustände handelt In bezug
auf Homosexualität glauben dagegen neuerdings andere — ich gehöre
ebenfalls darunter') — , daß sie auch bei ganz normalen Indi-
viduen (in der gewöhnlichen Variationsbreite normal) existieren luuin.
1) Moll (Untennehniigeii Aber die Libido sexiialis, Berlin 1897/98, 1. Bd.)
hält es für einon Fdiler nnd Intom, wenn ein itrimlpieller Untencbied zwiedieo
anpel>orcncn und erwurbcncn Zuständen gemacht wird. Ich kann ihm hierin
nicht Kccht avhvu , da /. H. /.Asiachen echter Penrenion und Pseodu-Perveruon
ein riesiger L ntcmhicU besteht.
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368
XIX. Nackb
Das vMi' Erfordernis wird also sein, festzustellen, ob die Perversion,
(Sadismus usw. I angehören oder erworben ist. Das ist durchaus nicht
iniuier leicht zu entscheiden, bisweilen so^ar unmöglich, da wir über
die intime Vita sexualis des Betreffenden 8o oft nur weni^; unterrichtet
sind und, wie schon früher jresa^;t, nicht ohne weiteres den Aussagen
trauen dürfen. Namentlich bei Unf^ebildeten sind die Schwierij^keiten
oft große. Haben wir alj>T die Perversion bis in die Jugend hineiu
verfolgen können, besonders aber sie stets in gleicher Art in den
Träumen wiederkehren sehen, so sind wir berechtigt, sie als angeboren,
besser gesagt: eingeboren, «umsehen. Aber Boa6s greifen m alleriei
Reizen, um die gesunkene Potens m heben, so nndh sehr gewöhnlich
zum Sadismus. Da solche Praktiken in Bordellen anflerordeotlioli
▼erbreitet sind, so ist kanm anzunehmen, daß es hier nur ein-
geboreae Sadiiien sind, da diese in ausgeprtgter Form wohl nur
sehen sich finden. Die Mehrzahl d&rften vielmehr den alten Wfist-
lingen angehören, und wirklich sind es meist ältere Leute. Nun wSte
es freilich nicht undenkbar, daß es sich hier eventuell auch um
tardiveFälle von Badismususw. handelt, ähnlich wiev. Krafft-
Ebing uns die tardive Inversion kennen lehrte. Dann würde
man zunächst verlaniü::en müssen, dab der normale Koitus auf die
gewöhnlichen Reize hin unmöglich wäre. Das trifft allerdings auch
bei vielen l{ou('*s zu; sollten sie deshalb tardive Sadisten sein? Hier
sehe ich keine andere Entscheidun^^smöj^lichkeit, als
wiederum seriale Träume zu beachten. Ein tardiver Sadist
wird nur noch sadistisch träumen, während er es vorher nicht tat.
Ob tatsächlich solche Fälle bekannt wurden, weiü ich freilich nicht.
Wir nehmen nun an, daü es feststeht, der Beat sei ein echter,
eingeborener Sadist .Wir haben dann zwei weüere Fragen uns Toiam»
legen. 1. Ist er sexuell hyperSsthetisch, und 2. kann er leicht^ schwer
oder gar nicht seinen abnormen Geschlechtstrieb und damit dessen
Befriedigung unterdrAcken? Die mosten Autoren, namentÜch Kraf f t-
EbingO) nehmen, an, daß immer eme erhQhte sexuelle Beizbaikeit
besteht, während HolP) das nur als häufiger denn sonst angibt
Bez. der Homosexualität scheint dies aber doch noch sehr fraglich.
Wir sind hier leider wieder auf bloße subjektive An<;aben an*
gewiesen und nur die Vertrauenswürdigkeit der betreffenden Person,
namentlich sehr häufige Träume der speziellen perversen Art; kann
1) Krafft>£bing, Psychop«diia sexasUs usw. Über Momelle Pervenion.
DeutMshe Klinik am Amgango dos 20. Jabrirandertsi. 1901. Urbui u. Sdiwaiun-
berg, Wien.
2) Moll, Uuiersuchuiigou übor dio Libido sexualis. 1. Bd. Beriiu lätfT/Vb.
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FofenaiBch'P^cliiitriBcfa-iwydiologtoohe Baadgloiseo sam Progt«ne Dippold. 369
ans gewisse Anhaltspunkte geben. Objektive Beweise sind schwer
beizubringen. Vieles Schlagen z. B. braucht bei Sadismus noch nicht
ohne weiteres für sexuelle Hyporästhcsit' zu spri-ciicn. Wohl würde
dies dagegen häufig darnach eintretende (Onanie oder Koitus l)ekunden,
doch wären alleinige Erektionen usw. nieist nicht wahrnehmbar. Dann
mülUe man sich vor allem erst darüber ei nen, was „häufig"
oder „selten", „groß" oder „gering" usw. bedeutet. Der
Geschlechtstrieb, auch der normalste, ist quantitativ auberordentlich
verschieden; das gilt sehr wahrscheinlich auch von dem perversen.
Die zweite Frage nach der Unterdrückbarkeit des normalen
oder perrersen GesohlechtstriebesO ist womöglich noch
schwieriger zn beantworten. Das hfingt ganz yom Individanm,
seiner Bildung, sdner moiaUschen Widentandsfthigkeit, der Stfiike
der Libido usw. ab. Das Hauptmoment, wie bei jedem Cha-
rakter, bleibt das endogene, angeborene. CSeteris paribns
wild der Gebildete leichter den Trieb, auch den perversen, be-
herrschen kQnnen, der moralisch Hochstehende besser als der Ti^-
Stebende usw. Wir sind also hier in der Hauptsache leider wieder nur
auf subjektive Angaben beschränkt, da eine Tat als solche nodi nicht
darauf schliefen läßt, ob das Motiv dazu ein objektiv zwingendes war
oder nicht. Wenn freilich dasselbe DeHkt sehr häufig, in gleicher
Art und Wiise und mit bosondcrtT Vehemenz gcscliieht, auch trotz
aller Bcleiirung, Bestrafung oline Keue, so wird man allerdings auf
einen schwer, vielleicht sogar nicht zu unterdrückenden Geschlechts-
trieb schlit Ih ii dürfen, brstmdrrs w t iin vorher eine Art von größerem
sexuellem Kausch von andern konstatiert wurde, was man ja
öfters sogar bei normalem Geschlechtstriebe sieht Ist man zu
dieser Überzeugung gekommen, so wird man den Täter für ver-
mindert znrechnungstthig erklären müssen; eventnelli wenn weitere
gröbere StSrongen in der Psyche nachweisbar sein sollten, für nn-
znrecbnnngsfiibig, sonst dagegen, d. h. wo der Trieb nnterdrfickbar
war, f&r znrechnungsfiUiig, besonders wenn der Geist normal er-
Bchdnen sollte^ nnd stets natürlich bei erworbenen Fttlen bei Wüst-
lingen. Normale P^che dürfte aber, wie gesagt, nur selten Torhanden
1) Moll (Libido soxnalis) niniintdie [JnuntcrdrQckbarkeit des perversen Triebcsi
nur für einii^e ITillo an, an«loroi-seit!* aiioli bei nonnalor Liliido. Dn^ hliust alle^
davon ab, ob der uomiale oder perverttc Trieb stark oder scliwacti ist. Die
Unoiiterdr&ekbarkeit der pervcreen Libido Ist allerdings nadi Holl hiofig, alao
wohl liänfiger als normal, offenbar, weil »ie dort im allgemeinen sürker ist
Trotzdem f>.:\jxt Moll, daH bei ^vielen, Ja den mdaten Leoton* (noimden) die
Libido eine elementare Macht habe.
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XIX. NiGKB
üL-iu, und 80 ist die genaue Feststellung des ganzen geistig'« n
Benehmens sehr wichtig. Sie könnte an sich schon Tenninderte
oder fehlende Zurechnungsfälligkeit bedingen.
Die Art des sexuellen Vorgehens würde hierbei eben-
falls in das Gewicht fallen, da sie für größere und gerin^tTt*
Perversion sprechen würde. Ceteris paribus wird, je mehr der nor-
male Koitus oder sein eventuelles und schlechteres A(|UivaleiU. die
Onanie, zur Befriedigung der Libido aufgegeben wird, die l'erveraion
eine schlimmere, die reizbare Schwäche des ganzen Nervensystem eine
größere sein. Abnorm ist ja stets der Reiz, der wieder sehr verschieden
sein kann und zwar bleibend oder wechselnd. Wenn darauf aber nicht
d«r KoilDS, niebt einmal Onanie erfolgt, sondern sehon blofie Erdctioii
zur BeMedigung genügt, ja sogar nor Samenabgang ohne Erektion,
so wftre eine absteigende EntwieUnngsreihe gegeben* Die tiefste
Stnfe des Sadismns wfiide dann erreicht^ wenn die gransamen Hand-
lungen dendieh gesohleehtliche BeCriedignng venohaffen, ohne daß
aber Erektion oder nur Samenabgang erfolgt
Die Art des sexuelloi Vorgehens kann dabei auf allen diesen
Stufen gleich sein, im allgemeinen ist sie wohl aber schlimtner, gian-
samer mit zunehmender reizbarer Schwäche. Der Unistand dagegen,
daß bei gewöhnlichem Sadismus statt an Frsnen an Knaben, wie in
unserem Fall, die Tat geschah, wird nur wenig in die Wagschale
fallen, da die Knaben, außer wo es sich um homosexuellen Sadismus
handelt, eben nur Surrogat für das andere Geschk'cht sind. Der homo-
sexuelle Sadismus — anscheinend viel seltener als der heterosexuelle
und viel häufiger l)ei Männern — kann wieder — theoretisch wenig-
stens — mehrere Unterarten darbieten. Der häufigste Fall dürfte der
sein, dal'i die geschlechtliche Erregung mit nachfolgender Befriedigung
erst auf sadistische Reize hin erfolgt. Oder es besteht daneben reine
Homosexualität, d. h. es findet der Keiz schon im Anblicke oder Um-
gange mit gleichgeschlechtlichen Individuen statt, daneben aber zu-
gleich die vorige Form. Dieser Fall scheint mir im Falle Dippold
vorzuliegen. Oder es besteht Homosexualität neben hetero-sexuellem
Sadismus (auch, faute de mieuz, an Knaben), dies wSre nur bei ge-
wissen sexuellen Zwischenstufen, \m Hennaphrodisie^ denkbar. Oder
zu gnter Letzt könnte es sieh auch nur um Psendo-Homosexnalittt
bandeln, d. h. heterosexuellen Sadismus und pseudo-homosexnelle Hand-
lungen. Bevor man jedoch von Sadismus überhaupt sprechen kani^
muß dieser erst bewiesen sein. Denn der homosexuelle oder lietsro»
sexuelle Sadismus könnte nur vorgetäuscht werden, die Prügel ahio nur
Ausfluli von Grausamkeit oder einer speziellen iiacundia sein. Ob diese
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Foreiuuach'peycbiatrisch-peychologiBdie Randglofleen zum ProzesBe Dippold. 361
verscbicdcDcn Formen des homosexuellen Sadismus alle beobachtet sind,
weiß ich nicht Theoietiscb sind sie jedenfallB mQglkli. Eme interes-
sante Nebenfrage wSie die, ob SadkmiB bänfiger «b Homosenalitit
ist leb glaube es kaum, doeb kommen Yon Sadisten gewöbnlieh nnr
die ZOT Kenntnis, wdcbe kriminell belangt weiden. Bei allen ver-
sehiedenen Arten von Sadismus fiberbaupt wäre aucb nocb das Zeit-
Terbfiltnis zwiscben dem Delikte und der gesebleohtlichen Befriedigung
ins Auge zu Isssen. Das entere kann nitanlich yor, während oder
nach der letzteren eintr^n. Im 3. Falle ist es dann kein eigentlicher
Sadismus mehr, sondern nur Ausfluß hüchBtor Wollust, die in allerlei
Grausamkeitsarten sich kundgibt; im 2. Falle wenigstens öfters.
Endlich wäre nocli des sogenannten „ideellen Sadismus" (eventuell
auch homosexuellen) zu ^cedenken, der nur in Gedanken oder Träumen
auftritt, aber zu keiner Tat führt, ^vohI stets mit Ejakulation, Pollution
resp. Onanie verbunden und der „ideellgeistigen Onanie" ^gleichzustellen
ist. Dieser dürfte nicht als End-, sondern als Anfangsglied der
sadistischen Entwicklungsreihe anzusehen sein, somit als geringster
Grad, als leichteste Störung.
Es fragt sich endlich, ob nicht jede Grausamkeit über-
haupt eine mindestens unbewußt sexuelle, sadistische
Wurzel hat. Der enge Zusammenhang von Grausamkeit und Wollust
ist ja längst bekannt, ebenso daß sadistiBche Andeutungen scihon im
normalen Liebes- und Geschlecbtsleben gar nicbt so selten sind,
wie z. B. der Bi0 beim Eufi^ das Stoßen beim Koitus usw. Madame
Lambert sagte scbon: Tamour se nounit de larmes (F6r6). Da nun
ein, gewisser Hang zur Grausamkeit jedem eignet, besonders Kindern,
80 wird man vielleiobt aueh eine geringe sadistisobe (wie
auob masocbistische) Neigung als normal bezeichnen dür-
f en*). Später bricht diese angeborene Grausamkeit oft wieder durch, be-
sonders leicht bei Ungebildeten, z. B. bei Stier- und Bingkämpfen, Hin-
1t In l(Ms»'ii Anklänf^en tritt diese manehiual f;aiiz unerwartet zutage. Ich
habe z. B. an mir äelb»t einige Male liei Scboieraäußeruugen meiner Kiuder einen
leiebten Kitsei zum Lachen verq>urt, alao «ine «paradoxe" Regung, die ich
tarn Ten aiwriiliadi erkliien mSchte, ans der unüten AaaoBiation von Freude am
Sehmerz bei andcni. So hatte auch ein Gebtlieher beim Regrähnis-r iii< r ge-
liebten Mutter mit dem Lachen zu kämpfen. J)amit Ist aber tlic >rha(li'iifreude
nicht zu \ erweehselu, uoeh das uuwillkürhche Lriidieii, z. B. bei ehiem komischen
Falle efaiea andern. Obiges, paredozea Veriialten ist wohl aber kanm den B/ogt-
nannten ]Muradoxen mimiscben Äußerungen bei Geisteskranken an die Seite zu
M'tzen. M «>iin / H. ein .Molancholiki i- tl er tiefes iiim-iv!* Leid empfindet. ir»clielf «»der
eiu euphurihclier l'aralytiker usw. eine weinerliche Miene aufsteckt, ErciguibäC, diu
immerhin selten genug sind.
AnkiT nr EriBüBtlaathfopokti«. XUI. 24
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362
XIX. Nacks
ricbtungcD, und sicher empfinden hierbei auch manche unbewofit einen
seznellen Beiz, bisweilen sogar bewußt, wie z. B. F6r^ *) zeigen konnte.
Wir sehen also, wie wichtig die Entseheidung, ob wirklieh
Dippold Sadist gewesen ist oder nicht, fQr die FYage der Znreohnnngs-
ftb^eit gewesen wSre. Der Leser mOge daher den huigen Ezknrs
über Sadismus, der zugleich als Paradigma für dnscbttgige ünter-
snchnngen dienen sollte, entschuldigen. Die Sache ist es wohl wert;
da der Sadismus zwdfeUos kriminell die wichtigste sexuelle Perversion
ist — man denke nur an di« Mädchenstecher, Lustmörder, Nekro-
philen, an manche Fälle von Unzucht — ^ mit dem Ma^sochismus zu-
gleich als „Grundform psychosexueller Perversion" (v. Kiafft>£bing)
— erscheint und sop:ar physiologische Wurzeln treibt.
Wenn nun aber Dippold kein Sadist mit oder ohne Homosexualität
war — der Beweis hierfür ist leider im Prozesse nicht ^'oliefert
worden — was war er dannV Ein normaler, j^emeiner Verbn-eher,
ein IrnT, ein Entarteter oder ein sop^enannter moralisch Sclnvaeh
sinnij^ery Eine Psychose ist nach der psyehiatrisciien Untersuchung:
sicher atiszuschlieUen. Manches dagefren spricht dafür, daß er ein
Entarteter, ein sogenannter D(?g6ner^^ superieur, und zwar mehr dafür,
als daß er völlig normal war. Wir haben früher schon auffallende
C9iaiakterzüge an ihm wahrgenommen. Aueh die Aussagen des künf-
tigen SchwiegenrateiB und anderer Zeugen braten sehr TOPdichti^,
noch mehr aber sein krasser Egoismus, seine liederliche LebensfAbmug,
sein in vielen Beziehungen ethischer Defekt usw. WahrscbeiDKch
würden auch! gröbere unharmonische Ausbildungen der Gdstesflhig-
keiten zutage getreten sein. Aber erst, wenn labile Gemütszuslinde,
große Reizbarkeit, gar Auftreten zu gewissen Zeiten von Impulsionen,
Sinnt'stäusehunf,'en. Wahnideen, wenn auch rudimentärer Art, ja hie
und da kurze Erregtbeits- oder Verwirrtheitszustände bestanden hätten,
gewöhnlich im Vereine mit deutliehen Entartungserscheinungen aller
Art, bei erblicher Belastung, wäre die Diagnose gesichert^. Ob hier-
1) Fere, 1^ sadbuie aoz courees de taureaux. Revue de medecinc. 1900.
No. 8. DieMT Antor bemerkt mit Recht, daS gerade Bhit die nmehmeiide Gnih
samkett Idcht weckt, wie man «las /.. ß. bei Stieridfallpfen »ieht. AnderereeUs
wirkt aber wieder die rate l'arhc <U> Bluts »oxnell crro;;!'!!»! (11. El Ii a) und des-
lialb ui^hciucu uiaocfae feine Dinicn im ruleu Hemde, öiebe Näcke: Un cas
de f£tiebteme de aoulicra etc. Bulletin de bt soci^ti de Midecine mentale de
Belgiqne. 1694. Damit wSre wieder die Cberleitang von Qranflamlcelt (Blnt) nur
Wollust gegeben. Die rote Farbe wird nlmlich ab Erinnerung an das Blut,
d. Ii. al><) als Atavisinu!« ^^(Mlcutet (Ellltt Gioffrida-ßaggeri), waa mir
iuimurliiu ^clir külm ersclieiuL
2j Uierbd will ich jedoch nidit verachwcigen, daß der Begriff des Ent-
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Foi«iiaiBdi-i»yditotri8eh«p«]rdiolog^Bohe BandgkMaen nun Pratiesse Dippold. 863
von bei D. etwas beobachtet wurde, ist nicht ^a-sa^^t. Idi kann /,. Z.
also nur vermuten, daß er degeneriert war. Dann ist er zunäeh>t ein
geistic: Minderwertiger, wie ihn Dr. KrauBSold auch bezeichnete.
An siel) kann ein solcher freilich zurechnungsfähig sein, aber auch
nur vermindert zurechnunpsfähig, besonders wenn sich wirklich ange-
borener Sadismus usw. damit verbindet. Die Zurechnungsfähigkeit
aber, wie es der Gutachter tut, hauptsächlich darauf su begründen,
daß Beklagter sich] stundenlang gut vertddigt^ ist meiner Annobt nach
gewagt, da ein solcher sehr gut bes. einer spesieUen Tat, wie einer
sexQcäen z. R, yermindert zureohnungsfiihig nsw. hätte seiiiL kSnnen
und man andererseits sogar Paranoiker stundenlang ohne den gering-
sten lApsns sprechen hSren kann. Bekannt ist ja anch, wie mfüniert
oft manche Schwachsinnige, Hysteriker und andere sicth herausreden
und so leicht als ganz zurechnungsfähig imponieren. Geistige Voll-
Wertigkeit ist bei Dippold wohl sicher auszuschließen. Also ist er
auch kein ^normaler'' Verbrecher, da durchaus nicht alle Ver-
brecher deutlich psychisch minderwertig und Kranke sind,
wieLombroso und seine Schule behaupten. Ja es fragt
sich, ob überhaui)t das Gros der Verbrecher es sind, wenn
man die normale Variationsbreite der „Normalen" nicht zu eng falit.
Jede geistige ]\I in der Wertigkeit an sich müßte zwar einen gewissen Grad
von verminderter Zurechnungafähigkeit bedingen, doch von wo ab soll
dies beginnen? Wollen wir gar dieselbe in Prozenten ausdrücken,
wie schon vorgeschlagen wurde? Mau soll jed«'nfalls die ver-
minderte Zureciinungsfähigkeit nicht zu weit fassen, weil
sonst die unzähligen geistig leicht Minderwertigen in und
auBerkalb des Gefängnisses alle darunter fallen würden.
Dann hätten manche Juristen mit der Behauptung Recht, daß die
Psychiater alle Verbrecher dem Forum entziehen mSchten. Ist endlich
Dippold du ethisch Schwachsinniger? Die meisten Deutschen
wollen von einer ,yMoral insanity** mit Recht nichts wissen
und ich habe wiederholt im gleichen Sinne mich ausgesprochen d. h.
gegen eine spezielle Krankhettsform dieses Namens, charakterisiert
durch alleinigen oder yorwiegenden ethischen Defekt auf Tcrschiedenen
arteten, dos Di'gi'nr'n' sup^riciir ein etwas «'liuanki'mUr, uImi bi» zu cinoin go-
wisdeu (irsidc »ubjektivur i&U Ja, manche wollen davuu überhaupt nichts wissen,
X. B. Rflband (Auomunz et d^finerfe, Keviio de peycfauitrie «tCi 1903. No. 1).
Extenso ist die Definition nnd der Wert der «erblichen Beiaetung" noch vielfach
zweifelhaft.
Ii Ik'S')n(kM-!i /.ulotzt in meiner Monographie. Über die aogenannte Moral
iusauity. Bergmauu, Wiesbaden 1902.
24*
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364
XIX. Mäcke
Qebieten bei sonstiger Intekdieit der Psyche, spenell der Intelligenz.
AUe FUle sogenannten Schwachsinns lassen sidi nibnlich, meine ich,
ohne Zwang in die 3 folgenden Hanptgruppen unterbringen: 1. die
der leicht Imbezillen — die größte Masse; 2. die der sogenannten
D^gOn^r^s sapericurs, die nächstgrößere Menge, und endlich 3. die
kleine Rubrik der leicht periodisch Irrsinnigen, In die 1. Abteilung
gehören auch die vielen Fälle abgelaufener Dementia praecox (Jugend-
irresein mit schnellem Ausgang in Schwachsinn), wie sie besonders
unter den Vagabunden und Bettlern so häufii,^ sind. Oh wirklich Fälle
einer „echten" Moral insanity in oben definierteni Sinne vorkommen,
ist mehr als fmglich, bisher jedeufalls einwandfrei noch nicht nach-
gewiesen worden '), Wollte man den Dippold also als „moralisch
Schwachsinnigen" bezeichnen, so würde man ihn am besten dann in
die Rubrik der Entarteten unterbringen, wie es scheint. Geistig
minderwertig sind alle 3 Gruppen der sogenannten Moral
insanity, dooh kann diese Minderwertigkeit in einigen
Fällen so leioht sein, daß wir ruhig die Znrechnungs-
ffthigkeit aussprechen dftrfen. Hier entscheidet also
der Grad der Minderwertigkeit Auch aosgesprochen Geiste»-
kranke kdnnen ethisch depravieit sein, aber diese Fälle sind Yon
?omberein anssnscfaUefien, wie beim Sadismns usw. diigenigeo, wo
die sexuelle Perversion durch eine Psychose oder ihr nahestehende
Zustlnde, wie z. B. Zwangsideen, bedingt ist.
Wir sehen also wohl ohne Fehler an Dippold einen geistig
Minderwertigen, wahrscheinlich einen echten Entarteten, der folglich
nicht ein in gewöhnlicher Variationsbreite normaler Verbrecher ist
Ob nun der Grad der Entartung usw. so groß ist, daß man eine ver-
minderte Zurechnung aussprechen niUHte, kann ich ohne Akten und
Untersuchiin«; des Hetrefieuden natürlich nicht sagen. Hier würde
aber das Bestehen von angeborenem Sadismus die Wagschale nach
dieser Richtung hin von vornherein sinken lassen, deshalb wäre eben
die Feststellung desselben so wichtig «rewesen. Das Ganze macht
mir aber doch den Eindruck, als oh da» i'athulogische in Dippold so
vorwiegt, daß das Urteil einer verminderten Zurechnungsfähigkeit viel-
leicbt geiechtfeitigt gewesen wäre.
Das Gericht hat jedenfalls, auf Grund der positiyen Verneinung
denelben seitens des 1. SacfayerstSndigen bei seinem ürteile, diese nicht
1) Auch ilvv iiriH'-»ti' Fall von Pcnta, den Prii-ster und Monier l'otcnza
betreffend (lüvista lueuäile di p»ichiatriu fureuso etc. 19i)ä. p. 325), ist absolut
kam MlGher, da die KntfkloBigkeit, Suggestibilitlt, LeiclitgUabfgkelt usw. duch-
ans gegen intakte Intdiigenz eprechen.
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Foreusisch-psychiatriach-psychologische Kaudgiu^seu zum Pruzeü^c Dippuld. 365
mit angezogen, sondern wohl neben der geistigen Hinderwertigkeit
als Grand zu einer geringeren Bestrafang spfiier in der Person des
1. Staatsanwaltes angegeben, Dippold sei nicht vorbestraft nnd noeb
jung. Bei solchen Sobenfiliohkeiten aber, wie der Tiler sie aosfllhrte,
spielen meiner Meinung nach beide Gründe absolut keine Bolle.
Ebenso wenig ist bei der Niederträchtigkeit der Handlungen trotz
beider Gründe an die Möglichkeit einer Beue und Besserung zu
glauben. Dies um so weniger, wenn das Ganze, wie ich glaube, mehr
minder der Ausfluß eines solchen pathologischen Geisteszustandes
ist, der ein»» vennindcrtc Zurechnungsfähigkeit bedingen dürfte und
nur so wäre die geringere Strafe 7u hegrilndcn gewesen. Ganz abzu-
weisen ist es aber, wenn dor Vert* idigor für seinen Klienten statt Zucht-
haus das Gefängnis dekretiert wissen will, weil jener ein gebildeter
Mann sei. Das Unigekelirte sollte vielmehr stattfinden: Ein Gebil-
deter sollte ceteris |Kirihus stets härter zu bestrafen sein,
weil man von ilim mehr Hemmungen der Triebe verlangen
kann, als vom Ungebildeten. Denn die größere Bildung, bessere
Erziehung, ist sicher dazu angetan, eine Menge von Hemmnngsmotiven
zu entwickeln und einzupflaaaea, die normaliler auch, bis zu einem
gewissen Grade wenigstens, wirksam werden.
Daß das große Publikum, ebenso manche Juristen, bei der Un-
kenntnis der Sachlage das Urteil zu mild foad, ist leicht begreiflich.
Nicht ganz ohne Unrecht frug dne Zeitung, wie es denn komme, daß
man einen Mörder töte, den Dippold aber so mild behandele, da doch
jener dem letzteren gegenüht r lange nicht so grausam verfuhr. In
der Tat quält ja selbst der kalte Mörder sein Opfer nur sehr selten,
während Dippold das seinige langsam und raffiniert dem Ende zu-
führte, mag er dabei selbst nicht den Tod eines derselben bezweckt
hal)en. Für solche Scheusale wäre noch der Tod fast zu gut und
sie münten, wne die Wucherer bei Dante, in den untersten Teil des
Höllentrichters kommen I Das wären solche seltene Ausnahmsfälle,
wo in meinen Augen das Todesurteil ausgesprochen und ausgeführt
werden kr>nnte In unserem Falle liegt aber die Sache, wie gesagt,
doch anders.
Noch einen Moment will ich heim Urteilsspruche verweilen. Wie
wir schon an unserem Falle sahen, liegt öfters die Frage der Zu-
rechnungsfähigkeit so verwickelt, daß nur die genaueste Kenntnis der
1) Nücke. (Jedankcn eines Medizinen* filtor die Todei^strafe. Die*» Archiv.
9. Bd. Heft M 11.4. I!t02. und zur Abwehr eines An,t,'riffs seitens Lolisinfr;^,
meine kleine Mitteilung: Nochmuls: l'ru und cuutra Tudesätrafe. Ebenda.
11. Bd. & 288.
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866
XIX. NlOKB
Psychiatrie, große Erfahrung und psychologisches Wissen hier einen
Leitstern abgeben kann, der freilich auch kein untrüglicher ist, da in
schwierigen füllen die SadiM r^^tündigen sich so oft widersprechen.
Im Prozesse Dippold würde ich z. Ii. vielleicht für verminderte Zu-
rechnungsfähigkeit mich ausgesprochen hal)en. Es ist nun, da alle
obigen Voraussetzungen beim gewöhnliclien Richter ganz oder doch
zum grül')ten Teile fehlen — von den Geschworenen natürlich ganz
zu schweigen! — widersinnig, dali der Richter über die
Zurechn ungsfäliigkeit urteile. Das hat er Ex perten al lei n
zu überlassen und nur dem Gutachten derselben sich zu
fUgen, resp. ein Obergutachten einzuholen, nie aber es zu
yerwerfen. Ihm steht dann nur die UrteiUkündung zu.
Es Tenehllgt dahei nicht viel, wie ich glanbe^ daß das psychiafariscfae
Gutachten weniger exakt ist als eine experimentelle Demonstration,
weshalh Pelman neuerdings (siehe Bef. in der „Folitisch-anthro-
pologisdien Bevue" 1903, Nr. 7, & 592) den SachTerstindigen nur die
Bolle des technischen Beraters dnräumen wUl. Selbst bei der weniger
exakten Psychiatrie ist der Irrenant doch imma noch unendlich
sachverständiger als der Bichter und manche ErankheitsfiUle lassen
sich einfach dem Richter nicht ohne weiteres demonstrieren.
Dies alles habe ich seinerzeit ausführlich behandelt, und so manche
Psychiater sind der gleichen Meinung, trotzdem die Mehrzahl der-
selben entgegengesetzter Ansicht sind, wie wohl alle Richter auch, deren
Gründe ich wolil kenne. Ich werde seincrzt it die Frage nochmals aus-
führlich bcliandfln und bemerke hier nur, dai» obige Forderung,
die seit ni eh reren J ali ren in Portugal erfüllt ist, sich dort
brillant bewährt und auch die Richter l)efriedifrt. die natürlich erst
sich dagegen sträubten. Der beste Beweis also, dali diese Idee nicht
bloli theoretisch richtig erscheint, sondern praktisch gut durchführbar
ist! Ich bin aber noch ^veiter gegangen und habe verlangt, dal) der
Experte sich zugleich darüber auszusprechen habe, wo-
hin der Reat am besten unterzubriugen sei; dies konnte
der Bichter dann der ausführenden Behörde aktlich mittelen. Für
irre Verbrecher kommt natOrlich nur die Irrenanstalt, eventuell eine
Iirenstation an äner Strafanstalt in Ftage. Was soll aber mit dem
Entarteten, yermindert Zurechnungsfähigen werden? F0rihn
paßt weder die Irrenanstalt noch das GefSngnis. Ein Mittelding
zwischen beiden wire am besten. So lange es solche Anstalten aber
1) ^'üekü, Richter uud Saclivcrstäudiger. Dies Archiv. S.Bd. l.a.2.H. 1899.
2) Juli o de Mattos, Ob Alienados hob tribunaeB. voLIL (Qnleitong.)
Lisboft 1908.
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ForennBeh'pejrdiiatriadi-iMydiolof^sehe RandgloMen nun Pmceaae Dippold. 867
nicht ;:il»t, wird es namentlich vom Charakter und der Gemein -
«Gefährlichkeit ahliäiij;en, ol) die I rrenanstalt oder das Ge-
fängnis vorzuziehen ist'), l^ei stark depra\ierteni Charakter und
ausgesprochener Genieingefälirhehkeit käme nur das Gefängnis, resp.
dessen Irrenstation in P'rage. Das gilt also auch für Dippold. Zu-
gleich aher wäre für solche Subjekte, wie er, ein StrafmaÜ
überhaupt nicht auszusprechen, buudem die Intemiening so
lange aaamdehneii, ab die GemeiDgefiLbrlichkeit usw. anhfilt, also
eventuell bis zum Tode. Ist Pippold wirklich ein eingeborener Sadist,
so wird er es sehr wahrscheinlich immer bleiben nnd ffir die Mit-
menschen somit eine beständige Gefahr bilden. Ist er aber nur vor-
wiegend ethisch verkfimmert, so wäre schon eher die Hoffnung zu
hegen, daß mit dem Alter die bösen TriebCi die zur Untat führten,
sich soweit abstumpfen, daß der Täter später einmal noch in der
Außenwelt ohne Schaden für andere leben kann.
Docli wenden wir uns jetzt vom angeklagten Dippold zu seinem
noch üherlebenden 13' 2 jährigen Opfer. Er wird als prächtiger und
trotz der vielfachen Mißhandlungen gesund aussehender Junge ge-
schildert und er und sein Bruder sind im ganzen gut beleumundet.
Ausgezeichnet sind seine Antworten, kurz, i)rägnant, nie sieh wider-
sprechend. Alles was er sagt, trägt den Stempel der Waiirheit und
wenn er für sieh und seinen toten Bruder jedes Ausüben der Onanie
bestreitet, so ist ihm gewil» darin zu glauben. So vorsichtig man
bei Aussagen von Kindern in foro sein mult, so darf man
doch nicht hierin zu weit gehen. Kinder im Alter von zehn
Jahren ab etwa, besonders Knaben, sind sehr oft durch-
aus vertrauenswlirdig und nicht selten ausgezeichnete
Beobachter. Ja sogar unter noch Jfingeren findet man solche. Bei
den Mädchen dagegen spielt die Suggestion stets eine
große Bolle, daher sind ihre Aussagen namentlich beiün-
Sittlichkeitsdelikten skeptischer aufzunehmen. Die Aus-
sagen vieler Kinder sind sicher oft viel richtiger, vertrauenswürdiger,
als die der meisten erwachsenen Zeugen, besonders unter den Unge-
bildeten, wie man das namentlich bei Schwurgericbtssitzungen sattsam
zu beobachten Gelegenheit hat.
Eine wichtige Vorbedingung aber wird es sein, wie es
auch im Prozesse Dijipold mit Kecht geschah, das Kind nicht in
Gegenwart des Angeklagten oder seiner Eltern zu ver-
1) Alle dic»c Frng'eii hal>e ich iiiisfrihrlich in meiner Muno^raiiliie: Die
Unterbringung ;:::ri-t4 -kranker Verbrecher, Marfaold, Halle 1902, behandelt; küner
in venchieücneu audci-eu Arbeiten.
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868
XIZ. NlCKB
nehmen, tia dann SufTf^estion, namentlich durch P'urclit, störend ein-
wirkt. Am besten würde man diese um^^ehen, wenn man das Kind
nur vom Untersuehnni^srichter auf seiner Expedition vernehmen lieHr.
doch dies ist des iiff entliehen Verfahrens halber wohl kaum mrtf^licli.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die bedauernswerten Eltern.
Vor Gericht machten beide einen durehaus günstigen Eindruck. Die
gesamte Praie hSH ihnen jedocb, wobt nicht mit ünfechl^ tot, daft
sie in der Wahl des Hanslehrara zn wenig Vorncht walten UeOen und
anf keinen Fall ihre Kinder aof so lange Zeit einem Fremden allein
bitten ttbeihusen sollen, besonders da ihnen Klagen Aber Mißband-
Inngen der Knaben in Ohren gekommen warto. Freilißh hatten sie
einen „berrorragenden" Peycbiater Berlins — wie der Verteidiger
sa^ — hingesohickt^ nm diese Oerttohte im Verein mit dem Schwager
der Knaben za nntersnehen. Vielleicht war es ihr Hausarzt, jedenfalls
ist der Herr aber weder als praktischer, noch als wissenscbaftlicher
Psychiater bekannt, also als solcher nicht „hervorragend", wohl aber
durch Arbeiten auf dem Gebiete der Hypnose und Oehirnanatomie. Sollte
aber ein Psychiater oderNeurolopre als solcher freschickt werden, so hätten
gerade in Herlin, wo die Eltern wohnten, jranz andere Twente zur Ver
fügung gestanden. Der als Zeuge auftretende Abgesandte behauptet
nun, er sei gar nicht geschickt worden, um die Minhaiulhmg^cn fest-
zustellen und die Jungen zu untersuchen. Selbst wenn dies so wäre,
dann hätte er aus eigenem Antriebe als Arzt es tun sollen, da er ja
wußte, daß es sich um Mißhandlungen bandelte. Er scheint dies
auch vorgehabt zu haben, da er sieb, wie es heißt, von einer Unter-
snchnng dnreh den Redefluß Dippolds abhalten Keß, der ihn so zu
umgarnen verstand, daß er, der Arzt» den Dippold den Eltern gegen-
über spftter als „geradezu idealen Menschen^ hinstellte, womit er sieh
unsterblich blamiert bat Weniger schon erlag der Suggestion sein Be-
gleiter, der da sagt, Dippold sei entweder ein idealer Mensch oder ein
gemeiner Schurke. Das Auftreten des Srztlichen Zeugen mit sdner auf-
dringlichen Schwatzbaftigkeit war ein ungünstiges und der Vorsitzende
mußte ihn ermahnen, bei der Sache zu bleiben. FttrZeugen, nament-
lich aber für Experte, ist es eine Hauptsache, knrz sich zn
fassen und nicht vom Thema abzuspringen, besonders vor
Geschworenen. Kürze und Klarheit allein sind überzeugend, Länge
und Abschweifunjr wirken nur lähmend! Bei Ungebildeten ist leider
das erstere nicht allzu oft anzutreffen, wie schon allein die weit-
schweifigen und die TTanjitsache oft irar nicht berührenden Aussagen
so häufig bekuaden. Von Gebildeteu kann und muß man es aber
iordera I
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ForandMb-pBycbiatrisch-pnyohologiache Randglosgen sam Pronne Dippold. 869
Ich will hier nicht weiter berühren, daß ein junger, unerfahrener
Student, noch dazu des Rechtes, meist nicht ein g:eeigQeter Erzieher
sein dürfte, daß dazu ein älterer, erfahrener Pädagoge besser gewesen
wäre. Daß die Eltern dem Lehrer ein mäßipres Züclitijrnnp^recht ein-
geräumt hatten, war richtig. Sie konnten nicht winsen, daß er es
mißbrauchen würde. Das wäre aber unnir»<;lieh fjewesen . wenn er
stets in der Nähe der Eltern j^^ewesen, oder ilini eine vertraiienswürdif^e
Person heij^e^'eben worden wäre. Gesund heitsrücivsicliten für die
Knaben bildeten allenlin^'s aueli einen (Irund für ein Entfernen <ier-
selben aus ih r Grolistadt, und es hätte sieh nur ^;efra;it, oh es nicht
trotzdem geratener gewesen wäre, die Jungen zu Hause zu behalten,
zumal eine gute ärztliche Behandlung bei schwachen Kindern auch
in der Großstadt sehr §^t möglich ist Jedenfalls gewährt die game
Sache -interesBante Einblicke in gewisse Familien- nnd Erziehnngsrer-
hältnisse. EigentOmlich bertthrt es, daß der Staatsanwalt sich der
Eltern in langer Bede sehr annimmt als ob sie die dgentlioheii An-
geklagten gewesen wSren; man gewinnt fast den Eindnick des: qni
s'excnse, s'accnse.
Ein wichtiger Pnnkt im ganzen Prozesse ist das Zfichtignngsieeht.
Manche wollen dies abschaffen, aber eine mäßige Züchtigung zur
rechten Zeit und am rechten Orte kann nur von Vorteil
sein. Das alte Wort: 'O in] daffeig dvO-gtaftog oi raidevErat gilt
nicht nur für das spätere Leben, sondern vor allem für die Schule.
Nicht wenifreraber auch für das Gefäng:nis, besonders
bei M i n d er i ä hr if^en, die meist nichts anderes fdrcliten als Prügel.
l«'h halte es daher für falsche Humanität, wenn neuerdinfj^H so viele
die disziplinelle Prügelstrafe für die Gefan^^enen ab/;esehafft wissen
wollen. Die praktischen Engländer wissen sehr <?iit, warum sie dieselbe
biÜM'lialten I Doeli muß hier natürlich auch das: ne nimis gelten. Wohl
weiß ich selir i;ut, (hiß man oft mit Güte weiter kommt und daß es
Lehrer ijibt, die fast nie schlafen. Dies hän^^t aber nielit nur vom
Charakter und dem pädagogischen Geschicke derselben ab, sondern
anch vom Materiale. Es gibt gnte nnd sehlechte Jahrgänge in den
Schnlen nnd bisweilen yerdirbt em einziger Bnbe die ganze Klasse.
Hier kann dann nur das Bacnlnm helfen. Dies ist besondeiB notwendig
in Großstftdten, wo namentlich die Kinder von Sozialdemokraten frech
auftreten, oft schon zu Hause zum Ungehorsam gegen die Lehrer
angehalten werden und in dem Verhalten des Vaters einen steten Bück-
halt finden, der hei der geringsten auch noch so gerechten Züchtigung
des Kindes sofort mit Strafantrag droht. Mit Becbt hat man daher
das Züchtignngsrecht den Lehrern belassen, wenn auch eingeschränkt.
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370
XIX. NXCKB
Auf der andeieii Seite ist allerdings nicht zu verkeDnen, daß es so
manche jähzornige Lehrer gibt, die bei der geringrsten Gelegenheit
lossclilagen. Diese haben schon ihren Beruf verfehlt. Hei andern
:ct'n miifi man bei häufiger Züchtigung, namentlich auf ent-
blölileni Hinterteile, an die immerhin seltene Möglich keil eines be-
stehenden Sadismus denken, wie z. B. bei Dippold. Daher geht
an alle Eltern die ernste Ermah nung, auch das Verhältni?»
ihrer Kinder zum Hauslehrer oder zur douvernaute stets
im Auge zu bell alten, da nicht so selten unzüchtige Praktiken
verschiedener Art hier sich entwickeln. Namentlich gilt dies bei. der
HomoaexiialitiU. Aber daa viele Schlag hat noch ^ne andere Schatten-
seite. Wiederholt, zuletzt eindringlich durch MolP) wird darauf hin-
gewiesen, daß durch solche Züchtigungen, namentlich auf
den Hintern, der Geachlechtstrieb sieb frUher als normal
e ntwiokeln nnd bei dazu beanlagten Kindern sogar peryera
werden und bleiben kann. Ein klassisches Beispiel hiefflr bietet
Rousseau^), bei dem sich als Kind durch Schläge auf den Hintern
seitens einer Frau Masochismus entwickelte, wie er das in seinen „Be*
keuntnissen'* auseinandersetzt Geschehen solche Züchtigungen von
andern, z. H. Knaben, so kennen letztere, die Zuschauer, unter Um-
ständen sexuell erregt werden usw., natürlich nur bei besonderer Anlage ' i.
Schlielilich haben wir noch kurz das Publikum und die Presse
in ihrem Verhalten zum Prozesse Dipjiold uns etwas näher anzusehen.
Die Zuhörer waren schon während der Verhandlungen lief erregt
und nach Schlul^ des Prozesses nahmen sie und zugezogene andere
eine so drohende Haltung vor dem Gerichtstore an, dal) man nicht
wagte, den Angeklagten gleicii überführen zu lassen. Ahnliche iSzeneu
wiederholten sich duiin iteiiu Transpurt D.s in Bamberg, Nürnberg usw.
Sehr richtig bemerkt eine Zeitung: nur ein einziger aus dem Volke
hätte anzo&ngen branehen nnd alle wären sichor fibor ßm Unseligen
hergefalleo. Wir sehen also, daß sogar bei uns unter Umständen
die Möglichkeit des Lynchens vorliegt, hier weniger als
bloßer Akt der Grausamkeit, sondern als echter Ausfluß des irre-
geleiteten Gerechtigkeitsgeftthlsy während es ach beim amerikanischen
Lynchen fast nur um Bassenhaß (gegen Neger), selten um bloße
t) ^Itill, über eine Meiiig beachtete (tofahr der Pn'igJ'lstrafc l>ei Kimlem.
Zeitschr. f. pä(la;j:<»iri^clie l'sychol. usw. 3. Jahrg., aucli Bloch: Beitrage zur Atiu-
lügie der rsychopathia sexualis. 2. Teil. Dobru, Dresden VMS.
2) Siebe F6r£: I/hutinct Bezuel etc. Alcan, Paris 1899.
3) Siehe Krafft-Ebing, Psychopatbia aexnalia. lt. Aull Enke, Stutt-
gart 1901.
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Foreosisdi-psycbittitodiiMychologisdie Bandglo«sen tun ^anmo DippoKL 371
(terecbtip:kcit, vm Habg:i6r usw. bandelt. leb bin darauf in einer kleinen
Mitteilung') seinerzeit zu sprechen crekoninicn und Spitzkn-') hat
namentlich das amerikanische Lynchen klar beleuchtet. Die Psvcho-
logie der Volksmasse ist eben eine andere^ als die des
Einzelnen. Es bandelt sieb hier nicbt, wie einige ganz richtig
bemerken, um bloße Addierung gewisser Neigungen, Anti-
pathien usw.. so ndern zn frleieh um qualitative Änderungen.
Vor allem sinkt sofort das ethische Niveau, und jeder Krieg, jede
Krise usw. ISßt nnr zn leicht erkennen, wie sehr der Einzelne etbuob
höher steht, als die kompakte blasse, die Nation. Das macht eben
das Volk, die Menire. in ihren Ausbrüchen so unberechenbar und <je-
fäbrlicb' Diese ist vor alhni leiclit sug^estionabel, mehr als das
Kind. Die Vernunft schwei^^ bald und nur das Gemüt arbeitet vor-
wiegend. Ist letzteres in Walinng geraten — nnd das gescbiebt Bobneller
oder lan^^samer — , s(t i^leiclit dir Menge einem Pulverbß* Der ge-
rinp;ste Funken l)rinjrt dasselbe zur Exi)losion. Daher die ungeheuere
Verantw ort 1 i (■ Ii k eit der Partei fü Ii re r und Volksredner. Die
Menge ist quasi eine plastische Masse, aus der sich, je nach
Umetfinden, Gutes nnd tfösez maoben läßt, ancb nocb in nn>
serer Zeit Wir rind zwar stolz darauf, daß die Zeit der Hexen- und
Ketzerverbrennungen vorbei ist und doeli k"mnten wnlirsdit inlieh auch
jetzt noch solche stattfinden, natürlieli nur an {rewis.stn Orten. Auch
Judenverfolgungen treten noch bisweilen auf, der Religions- und neuer-
dings der Nationalbaß ist vielfacb noch tief eingewurzelt, und wenn
CS anginire, würde mau sicher zu Religionskriegen genug Massen er-
halten. Was für Zündstoff angesammelt ist, sieht man in alb^n fanati-
sierten Massen-*), besonders der Chauvinisten, der Sozialdemokraten,
Anarchisten nsw. Auch heute kann hier bei geeigneter Gelegenheit
<las Unglaublichste geschehen. Immerhin scheinen mit fort-
schreitender Ziv ilisatioii (loch die blutigen Instinkte des
Volks,:ranzen sich verrin^n rt zu haben, wie «lie Zahl der
gewalttätigen Verbrecher überhaupt, während die andern Ver-
brecben: IHebfltahlt besonders aber Betrug und ünterscblagung, zu-
nehmen. So wird sich zwar die verbrecherische Psvebe
der Quantität nach scheinbar trotz fortschreitender Bildung
;ileiehbleiben, aber ihre Qualität hat sieh ^'eändert; das
Verbrechertum ist milder, weniger blutig geworden; das
ist bereits ein großer Vorteil und wfirde an sieb allein schon
ffir den Wert der Zivilisation sprechen. Mit den Masseninstinkten
scheint es sich glücklieliorweise irleieherweise zn vorhalten. Rtets aber
wird bez. der \ olksnien;,a', wenn fanatisieit, trotzdem bchillers Wort
.«»ich bestätigen: „Wehe, wenn sie losgelassen"*!
1) Näcke. La l»» te humaini'. Diei^cs Archiv. 10. Bd. t. u. 2. Heft.
R p i t / k a , Stati»ti»cbes Qber das Lynchen in Mordamerika. Dieses Archiv.
11. Hd. r>. IIA.
31 Man denke nur an dio Haltaog des englischen Vuikcs während des
Burcnkrieges oder an die Exzesse der Tsclicchen usw. Und so gnȟ ist dio
Macht der Suggestion, daß auch die meisten Gebildeten sich ihr nicht ganz zu
entziehen vermögen.
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872 XIX. MXcKB, Foreoaiadi'iwyohologiBdi-fwgrehiatriMhe BandgloMeD «sw.
Die Presse endlicli hat in den» l'ro/.osso Dippold im jranzen eine
durchaus würdige Kolie gespielt und ist vor allem auf Sexualpatho-
logisches im allgemeineB nicht näher ein^e^aDgeo. Dies g^ehl^rf
nnr in Fachblätter, nie in Tageszeitungen, die auch von
Frauen, Mädchen und Unmündip'n «relesen werden und durch solche
Exkurse nur vcr-riftend wirken kr»nnt n. Mit tiefem BcMlauern sieht man
aber, daß es leider auch eine poruo^raphische Presse gibt, die stets
gute Geschäfte macht nnd daß so^ einige Bnchhandhingen und Anti-
quariate mit Vorliehe Bücher mit sexuellem Inhalte, veifilhrorischeni
Umschla^j: und oft lasziven BiUlern unter der Firma von wissenscliaft-
liciien Werken verkaufen und herausdrehen, die h'ider vorzü^hcli irehen.
Das meiste ist Schund, doch gibt es sicher darunter wertvolle Ar-
beiten« die nnr dem Gelehrten sugftnglich sein sollten. Aber wie
ist dies zu ermöglichen? Die Presse soll die Sittlichkeit
direkt oder indirekt nie schädigten und das gutj^eleitete
Volksj^ewissen repräsentieren. Insofern hat der Redakteur ein
heiliges Amt zu verwalten. Sie soll ohne Ansehen der Person und
mSg^cbst objektiv die Schäden des sozialen Lebens aufdecken, immer
wieder auf die wunden Punkte hinweisen nnd Vorschläge zur Besserunir
tun. Sie kann so mächtitr die Volksstimmung: in ihrem
guten Teile nicht nur aufzeigen, sondern auch leiten, er-
ziehen und derart indirekt an der Gesetzgebung mit
arbeiten. Man fänp^t auch hei uns allmählich an, die Wichtigkdt
der Prosse als zivihsatorischen Faktor anzuerkennen, obgleich wir von
Amerika hierin sehr beschämt werden, wo die Preiimänner nicht nur
eine der wichtigsten sozialen Stellungen einnehmen — höher als die
der Offiziere — , sondern zu allen mdglichen Ehren- und Staatsämtem
zugezogen werden. Hoffentlich geschieht dies auch dereinst bei uns.
Der deutsclie Michel ist ja bekanntlich langsam, trottet gern hinter-
her, macht dafür aber seine Sache meist um so gründlicher.
Nachtrag bei der Korrektur. Ausgezeichnet feine Beob-
achtungen über Sadismus und Masochisrous finden sich bei Onstav
Naumann (Geschlecht und Kunst, Leipzig, Ilaessel, 1899). Nament-
lich sieht man hier gut, wie weit das Sadistische in das Normale
hineinreicht, wie wir nach v. Krafft-Ebing fast alle auch mehr
oder weniger Fetischisten sind. Die Liebe, sa^t Verf., ist ihrem
Oharakter nach nicht liebenswürdig, sondern hemseh und .„der lie-
bende empfindet psychisch erhöhte Wollust, indem er die Geliebte
quälf^. Einen stark sadistischen Zug zeigt der (leschlecht^akt vieler
Tiere. \ erf. giht weiter die verschiedenen Erklärungen für die so
überaus seltene Kombination von Sadismus und Masochismus in einer
Person. Es handelt sich hier, wie ich glaube, um psychischen Henna-
phroditismus, oder: die eine Perversion ist angeboren, die andere er-
worben. Heide dürften schwerlich gleichzeitig angeboren sein. In
kühner Weise erl^lickt endlich Verf. in ganzen ZeitabschuiUen einen
sadistischen Zug (im kaiserlichen Rom), oder einen masochistischen
(jetzt) oder einen gemischten. AUe solche lietraehtnngen k la Nordau
smd aber sehr der Kritik ausgesetzt und schwer zu beweisen.
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Besprechiiageii.
BQcherbesprechungen von üans Groß.
1.
Die Grenzen der Z ur oe h nu ngsf iihi j;k ei t und die K r iniinal a ii th ro-
pologie. Für Juristen, Ärzte und gebildete Laien dargestellt von
Dr. Hans Karella, mit 20 Illiutratioiien. Hallea.d.8. Gebaaei^
Sehwetsefakesciie Driickeid und Verlag m. b. H.
Die Schrift sei dazu bestimmt, das gebildete Publikum mit der
8chwieri;j:on Frage bekannt zu niaclien, die als CJrenzproblerae der Lehre
von der Zureclmung zu bezeichnen seien. In der Tat bespricht Verfasaer
die Aufgaben der gerichtlichen Psychiatrie, die Anomalien des Gesdiieehto-
gcfnhls, impolrives nnd vnbewvMes Handeln nsw. — aber der Haupttdl
des Buches befaßt sich mit der Lehre Lonibrosos, und diese zu verteidigen
und von ihr zu retten, was zu retten ist, dürfte wohl auch der Hauptzweck
des Buciies sein. Ich habe vor vielen Jahren irgendwo erklärt, Kurella sei
der beste existiereiide Kenner der Lehren Lombrosos; diesen Ans^ndi
wiederhole ich auch heute und füge bei: wer sicli Ober Lonibroso kurz,
klar und völlig erschöpfend orientieren will, der lese das hiermit angezeigte
Buch Kurollas, bfj^ser kann der genannte Zweck nicht erreicht werden.
Die Verteidigung Lumbrosus durch Kurella ist ausgezeichnet gut geführt
nnd da zu ihren Gunsten wiederholt schdnbar schlagende nnd bestediend
aussehende Argumentationen vorgeführt werden, so möchte ich mieh mit
Kurella in derselben Weise auseinandei-setzen, wie ich es vor einem
Dutzend Voll Jaliren ') mit Loniln itsu getan habe. Wenn ich Lom-
brosos l^ehren bespreche, so kann ich dies nur vom Standpunkte des Juristen
ans tun; als Jurist habe ieh weder die Exakthdt der Untersueliangen Lom-
brosos, noch die Gültigkeit semer Folgerangen, nocli deren anatomische nnd
anthroiiolngisclie lliclitigkeit zu untei-suclien, wohl aber darf ich zusehen, wie
die Metluide Lom brosos lieschaffeii ist, welche Grundlagen er sich zurecht-
gelegt hat, und mit welcher Logik er seine Folgerungen zieht — Kein
Hensdi, der die Hsnptb^iriffe der Biologie kennt, xwdfelt daran, daß es
Atavismus gnbt, da wir seine ErsehttnuDgen bei Tieren und Pflanzen oft
genug iiecltachten können, und wer je gefunden hat. dall jemand nicht seinen
Elteni; sondern einem seiner Großeltern älmelt, hat damit behauptet, daß es
Atavinmusy Rfteksdiläge, gibt; es Ist aneh Mer, dafi boMm Rüdndiilge
auf viele Generationen, anf ganae Epoehen snrfl^gehen können.
1; In der ersten Auflage mciiie!> „Handbuch für UnttTSttCkongsrichter".
2) Terf. nimmt den Juristen gcgenfiber eine eigentftmliche Stellung ein und
da er von ilmi n l»loß Bruck, Stcinuietz und Vargha zu kennen scheint, und z. B.
V. Liszt und seine ,,.Iunfrdeufsclu' Knininalistenschule" völlig ignoriert, so ist
CS begreiflich, wenn er luitunter zu Ausfällen gegen dio Juristen gelangt (z. B.
S. 31 letzte, S. 96 erste Zeilen).
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374
Bosprecbungeu.
Kein HeiuMsii Ew^dt weiter daran, daß es llbelreranlagte, von Gebnit
aus zum Bösen Innneigende Menschen f^hty und daß geistige Degeneration
liänfijjT mit kfiriK'iliclien Minhildungs/.ri^'lun cinlicip^lie ; der erste, der vor
tauscntlen von Jaliren sa^'to: .Hütet euch vor den (lezeichneten'', wur
eigentlich auch der erste, der die Bedeutung der Degenerationsstigiueu er-
kannt hat Also aneh das fet niehts Nenes and der moderne KriminaliBt
weiß gut, daß auch hier das Kausalitä(s])nnzip maßgebend ist, daß jeder
Mensch mit einer ^fwisscn Anzahl ;_'utt'r odor srliloditer Anlagen von Natur
aus versehen ist, und dall auf diese Anlagen Kultur und da-s ihn um
gebende Milieu wirken muß, im guten oder im schlechten Sinne. Sein
Handeln ist die Wirlrang dieser UraMhen.
Also: diese drei Momente: Atavismus, Stigmen und Veranlagung
existieren und sind längst bekannt, aber ihren von T.onibroso be
haupteten Zusammenhang: Stigmen bedeuten die Veranlagung und
sind Ergebnisse des Atavismus — hat Lombroso nicht bewiesen, und das
wird aiMh, wenigstens mit d«t Mitteln von heute und der n>dwtem ZtH,
niemand beweisen können. Und Lombrosos Argumentation liegt eigent-
lich in der Doppelbodeutung eines Schlag- und Titclw(»rtcs: Deliriueute natu.
In der einen Bedeutung heißt es: Der verbreclierische Mensch wird als
soleber geboren — er bringt seine bOsen Anlagen sdion von Katar aas mit
sidi, Kaltar kann bessern, Miiieu mai^kieren, aber seine Anlage behält er.
In diesem Sinne nehmen wir Modernen, als ehrliche Deterministen,
den Dclinciuente nato voll und ganz an. Aber Lombroso hat in diese
Worte noch einen zweiten Sinn gebracht, etwa dahin: »Der Verbrecher
wird mit seinen Stigmen, die ihn als Vwbredier kennseiehnen, geborai;
nicht als ob die böse Veranlagong die Stigmen erzeugte, oder diese jene,
sondern: wir müssen annelimen fsa^rt Lo m broso) dal» e.s etwim Drittps. un<
Unbekanntes gibt, welches s(twühl die böse Veranlagung; als die Sti;.'nH'n
erzeugt, es ist also eines ein Kennzeicbeu für das Vorhandensein des auderen.
Den Delinqaente nato in diesem Sinne lehnen wir abor als angeblidi be-
wiesen entschieden ab.
Vor allem will es schon im allgemeinen schwer vereinbar erscheinen,
daß sich gewisse Anlagen mit so grob sinnliclien Erschdnungen vereinen
sollen; wir können uns allerdings denken, daß ein arges Struma mit dem
biOden Verstände ebes Kretins xnsammenhSngt, weil die monstrOse Ober-
wucherung eines Organs die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen kann —
aber daß verbnclit rlsclie Aida;ro etwa nnt verkrüppelten Zehen zusammen-
hängen soll, wollen wir ohne Beweis uiclit glauben, und diesen Beweis hat
uns Lombroso nidit geliefert
Quod erat demonstrandum : Der Verbrecher besitzt von Gebnrt aus an
sdnem Körjjcr Stigmen. Diese Aufgabe zerfällt aber wieder in zwei Beweise:
1. Der Verhreclier hat diese Sti;-anen in einem sehr grolien Prozentsatz.
2. Der Nicht\ erbrecher hat diese Stigmen gar nicht oder weuigstens
in «nem anffallend geringen Prozentsatz.
Werden nicht beide Bewdse geführt, so wäre bloß einer von ihn«!
völlig belanglos: denn kommen Sti^'men bei Verbrechern und Nielitvcr-
brechern in nicht sehr \ erschieden hohem Prozeutsatz, ungefähr gleichmäßig
vor, so liegt nichts Merkwürdiges vor.
Wir wollen nnn die Tätsaofae beiseite lassen, daß die nroseatBÜBe,
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Bcsprecliuiigen.
• 375
die Lombroso von seinen Verbrechern bietet, kdne hohen sind: 41, 19,
11, 16, 9, 8. 13 Pros. usw. — das tHiui keine imponierenden Zahlen, sie
lassen nnr VermntunL'en zu, wenn vei-seluedene Feliler(|uelien nn'renotninen
werden: tnit l'clilertnieilen beweist man alter nicht. Wir wollen nun von
ilieäeu Uüriiii^eu Zalileu abgehen und die MeÜiodti Lombrosos betrachten.
TheoreMi, und wenn er korrekt vorgehen wollte^ maßte Lombroso
sagen: ,,Ich teile mein Material ein in Verbrecher und Nicht Ver-
brecher — ich finde be! ei-steren x Pro/,., bei letzteren y Pr«>z.** Könnte
Lombroso so s] »rechen, so wäre die Beweisführung einwandfrei, so kann
er aber, wie die ratsacben liegen, durdmoe nieht reden — er darf ehrlicher-
WMse nur sagen: „ich vergl«efae Eingesperrte und Nicbteingesperrte'^
— d;ui ist ;iber etwa.s voUstündig anderes und wissenschaftlich gleichglUtig.
Voreret: die Untersuehung Eingesperrter interessiert uns nicht, die
Untersuchung von Verbrechern ist aber lieute um so weniger möglich,
als niemand von uns sagen kann, was wur nnter einem Verbredier ver-
stehen; wir wissen ungefähr, was em Verbrechen ist^ nicht aber, wann einer
Verbrecher wird. Was mul» er begangen haben - wi»- oft — unter
welchen UtnstUndcn - ans welchen Motiven V um \'erl>reclier zu sein, Ver
Inecher im öinnc der Ivrintiuaianthropologie, nicht im Sinne einzelner Para-
graphen. Sehen wir dnmal su, wen Lombroso alles unter seinen „ESn-
geqierrtcn" fand: einen immerliin nicht zu vernachlUssigenden Prozentsatz
ungerecht Verurteilter; — dann solclic. die im nicht nachzuweisenden, aber
doch \orhandenem Uauscli schwere \ erbrechen begingen; — Wilddiebe,
deren .iagdlust nicht schlechtei' war, als die huber Herren, und die uiclit
bereifen wollten , daß das Wild auf ihren Aekem nicht ihnen gehört; —
Twente, in inÜcrotar Not stahlen; — die untei-schlugen, nm hnngenide
Kinder zu nähren; — Ijcute, die im gorechtesten Zorn einen erschlugen:
— politische V erbreciier; — Duellanten, oder einen, der falscli geschworen
hat, um die Ehre dner Frau zu retten — die alle hat Lombroso ge-
messen, verzeichnet und z. B. mit hoher Crista frontalis interna behaftet ge-
funden oder auch nicht waren das Verbrecher? Eingesperrt waren
sie. Verbrecher aber nicht, und die Notizen Lombrosos wurden
durch sie konfus gemaclit
Nun sehen wur uns das Vergleichsmaterial an, die „Frden*'. Abgesehen
davon, daß wir auch hier oft Verglddunial^ \ on Schädeln aus Sammlungen,
von der Anatomie, ans iJeinhiuisem angeführt finden, also von Schädeln,
von denen niemand wei''i. ob ihre Träger Mörder oder ehrliclie Ixiute
waren, abgesehen davou, wie steht es mit den „frei Herumgehenden" V
dürfen wir sie den „Nichtverbrediem^ gleidistdlen? nnter ihnen befinden
sich vor allem solche, die schon bestraft wurden, die dos Lombroso
nicht gesai^f haben, und die er vielleicht vor einigen Jahren oder Tagen
als „Verbreciiei-achädel" gemessen hätte. Dann solche, die ülier kurz oder
lang ein Verbreeben begehen werden, die schon alle Anlagen und den Sinn
fttr Verbredien beeitzoi, und nur noch keinen AnlaO hatten, dasselbe zu
begehen. Dann alle, die Verbrechen begangen haben aber nicht erwischt
oder nniicliti;; freigesj)rochen wurden; eudlich die ungeheure Zahl derer,
die als Diebe, liäuber, Betrüger, ülörder, NotzUcIiter gestraft worden wären,
wenn sie nicht zufällig in wohlhabenden Verhältnissen wären und nicht zu
atehlen, rauben, morden brauchten. Kriminalanthropologiseh sind
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376 H
Buäprccliiuigeii.
alle die OesanDten Verbreeber, oll hondertmat mehr all die im
Qefftngnis befindlidien, aber sie hatten ein Verbrechen nicht nOtig, worden
nicht einpesperrt und somit als „Elirliclio" vennwwen iin«i gezählt.
Man wird vielleidtt fragen, ub sicli der Vorgang nicht exakter gestalten
ließe; man könnte ja in den Oefängniaeen blolt die zweifellosen" Ver^
breefaer untersuchen und alle anderen beiseite laasen. Aber wer wttU, was
ein „zweifollosor*' VcrbreclH r ist? Wie subjektiv und individuell würde
das ausfallen und wer kennt alle Motive und Gründe und vorausg-efjangene
Umstände auch beim ,^weifelio6eäteu" Mörder? WUlite man alles, so
wttrde man den „nidikwen MOrder^ Tidleieht sofort ron der Liste der Yer-
bredier streidien nnd sagen : Eingesperrt ja — Verbreeber nein*'.
Ebenso könnte man ja etwa bei den Kontrollmessungen der „Ehr-
lichen** nur wirklieh „zweifellos Klirlielie" nehmen ? Wer ist ehrlich I Wir
Wullen tun, wie der Zöllner im Tempel, der rückwärts stand, an die Brust
Uopfte nnd spradi: ^enr sei mir armen Sflnder gnidig". Wer von nns
weifi, ob er nicht ein INeb gewoidoB wäre, w enn er es nOtig gehabt hätte,
ob er nicht einen erschlüge, wenn er im höchsten Zoni wäre? Wir alle
wären vielleicht Delinquenti nati, wenn uns die Verhältnisse zu Fall ge-
bracht hätten.
So wie es bente gestaltet Toiliegt» ist Lombrosos Katerial für daa,
was er beweisen will, unbrauchbar. Wenn wir einmal wissen^ was rai Ver-
breelier ist. wenn man die Erdbewohner reinlieh in zwei I^ager teilen kann:
Verbrecher und Niehtverbrecher — dann mag Lombroso messen, zählen
und vergleichen — was er heate mißt, zfihlt nnd vergleicht, das beweist nicht
dasy was er beweisen will, es ist in dieser Riohtang wissenechaftfich wertioa.
Wir wissen, was wir Lombroso an Anregung, an Ideen und Pro-
blemen zu verdanken haben, aber der I>elin(|uente nato in seinem Sinn
läßt sich auch dmcii die, ich wiederhole : geradezu glänzende Verteidigungs-
sohrift Karellas nicht halten.
2.
Strafrechtliche Abhandlangen. Begründet von Prof. Dr. Hana
Benneke. Heft 39: Die Staatsverleuradung (§ 131 R.St.G.B.).
Von Paul Kiedingcr, lieferendar in Breslau. Sohletter, Breslau.
Das im Gcäcty. nicht sehr khir j;efalite Delikt hat schon oft zu Zweifeln
Anlaß gegeben^ es wird auch iu den Leiirbüclieru und ivommentaren ver-
schieden genug behandelt. Es war daher ehie dankenswerte Arbeit, daß
Verf. cüe dierfalls in fhige kommenden Momente grOndfieh nnd mit genaner
Ltteratarverwertong aar Besprechang gebracht hiU.
Druekfelüerberichtlgiiiig*
Sclincickert, Zur Psyeliologie der Zeugenaussagen, Archiv XllI, HeftS:
8. l'JS, Zeile 14 von oben muU ob beißen: Juristen, suirt Juristem.
S. 19S, s 3 c unten « * • : heule, äUtt Leute.
S. 200, « 7 • oben « • • : ihn, statt ihm.
S.202, « 2 • unten * * » : Sicherheitsorgane, statt —oigene.
Uniek TOR J.B.Hirio]if*ld In Leipddg.
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